Hans-Christian Schmidt DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG

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Hans-Christian Schmidt
DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG: VOM ZWEITEN DASEIN DER
WIENER SCHULE IN DER SCHULE
Einer, der den Einspruch von Theodor Warner und Theodor
W. Adorno gegen die geschichtsblinde musische Erziehungs­
werkelei beherzt beim musikpädagogischen Wort nahm; einer
dem es in den sechziger Jahren einleuchtete, daß Neue
Musik ihr Daseinsrecht im schulischen Musikunterricht
haben müsse, dieser eine ~ gemeint ist Michael Alt - hat­
te damals schon (ich sollte genauer sagen: hatte damals
noch) die freimütige Ehrlichkeit, seine didaktische und
methodische Ratlosigkeit einzugestehen im Falle der Zwölf
tonmusik:
"Denn die moderne Musik ist nicht repräsentativ, son­
dern in einem bisher ungeahnten Maße subversiv. Sie
fühlt sich dazu aufgerufen, die Spannung zwischen der
Freiheit des künstlerischen Schaffens und dem sozialen
Druck der Gesellschaft durchzuhalten mit immer verän­
derten Mitteln. Sie versteht sich also als Restdomäne
der Freiheit, in der freie,■unendliche Betätigung mög­
lich bleiben m u ß . Sie will nicht steckenbleiben in
erstarrten Formen, sonst geht sie ihrer Funktion als
'Entlastung' (A.Gehlen) vom alles und alle überwäl­
tigenden Sozialdruck verlustig. Dieser wesentliche
und unaufhebbare Widerspruch kann auch musikpädago.
gisch nicht aufgelöst werden; er macht die jeweils
neueste Musik unerreichbar. Aber diese neue Rolle der
Musik muß ins Bewußtsein gehoben werden" (Alt, 1968,
29) .
Ich widerstehe der Versuchung, Michael Alt zu fragen, ob
es nicht gerade die Neue Musik war, die sich der Funktion
vom überwältigenden Sozialdruck zu entlasten, sukzessive
verweigert hat; ich frage ihn statt dess'en, wie weit er
dem sogenannten musikalisch Neuen erlaube, dem didak­
tischen Zugriff sich gefügig zu machen. Er antwortet:
"Solange dieser Meinungsstreit währt, kommt es für
den Musiklehrer darauf a n , aus dem Bereich der Neuen
Musik nur das in die Lehre einzubeziehen, was inzwi­
schen gesicherter Besitz ist; so etwa der Zwölfton"
(a.a.O., 57).
Die Sprache verrät den pädagogischen Besitzerstolz: "der
Zwölfton" als ein Kürzel für Schönbergs "Methode der Kom­
position mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen" sig­
nalisiert griffige Handhabbarkeit auf dem Niveau etablier
ter Gebrauchsgüter wie etwa dem des "Kammertons", des
"Sinustons 11 oder des "Leittons". Indessen ist es mit der
vorschnellen Gleichsetzung "'kompositorischer Zwölf ton =
musikdidaktischer Umgangston" doch nicht so weit her,
w i e 1s den Anschein hat, weil - so die Befürchtung Michael
Alts - das eigentlich Neue an der Neuen Musik in der Wir­
kung weit dahinter zurückbleibe:
"So kommt es, daß die Zwölftonmusik noch außerhalb
des Horizontes der Schule steht. Noch ist es nicht ge­
lungen, diesen neuen musikalischen Komplex didaktisch
in den Griff zu bekommen und zu methodisieren, ob­
gleich Jelineks Zwölfton-Elementarwerke, W.Fortners
1Madrigale 1 u.a. mit dieser Absicht geschrieben wur­
den . Man wird nach dem 1Altern' der Neuen Musik nicht
daran vorbeikommen, gangbare Wege zur Zwölftonmusik
und darüber hinaus zur seriellen Musik überhaupt, al­
so zum Werkschaffen Schönbergs, A.Weberns und ihrer
Nachfolger, zu entwickeln. Das Machbare an dieser Tech­
nik lädt geradezu dazu ein, im Experimentieren mit
seriellen Elementen bei der GehörerZiehung und der
Improvisation das Hören der repräsentativen Werke die­
ser Kunstrichtungen vorzubereiten" (a.a.O., 23o).
"... nach dem Altern der Neuen Musik ..." - sollte hier
einer nach dem Muster gedacht haben: "Es gibt vieles zu
tun, warten w i r 1s ab"? Sicher ist bei aller Michael Altsehen Unsicherheit seine Idee von der "Machbarkeit", die
sich seiner Vorstellung nach zu Elementarübungen "ver.
dichten" könnte:
"Damit würde man endlich zu einer Elementarisierung
der neuen und neuesten Musik Vordringen, wenn auch
die Formelemente nur als propäde;utische Übungen zum
Verständnis der neuen Materialordnungen zu entfalten
wären. Jedenfalls könnten so die elementaren Grund­
begriffe Zwölfton, serielle Musik, 'Struktur' und
'Klangraum', aber auch das Neuartige am Kompositions.
Vorgang ... in Übungen übersetzt werden, mit denen
diese neuen Klang- und Formelemente in die musika.
Irische Vo.rstellungswe.lt gelangten. Der Weg von hier
zum Verstehen der neuesten Musik ist dann nicht näher
und nicht weiter als der von den überlieferten Ele­
mentarübungen zum überlieferten Kunstwerk. Das wäre
eine Aufgabe für die junge Generation der Musiker­
zieher, die aus ihrer Zeitgenossenschaft heraus dazu
berufen ist" (a.a.O., 28).
Michael Alts Widersprüche sind unüberhörbar: einerseits
sei das, was er "Zwölfton" nennt, inzwischen gesicherter
Besitz, andererseits stehe die Zwölftonmusik noch außer­
halb des Horizonts von Schule; einerseits ist seine grund­
sätzliche didaktische Vorstellung an der Geschichtlich­
keit und am Kunstcharakter von Musik orientiert, anderer­
117
seits empfiehlt er eine Elementarisierung von neuer Musik
nach dem alten Muster "Vom Volkslied zur Symphonie". Und
fügt, dieser erfahrene Fuchs, sogleich lächelnd hinzu,
daß der Weg vom Element zum Verstehen der neuesten Musik
nicht näher und nicht weiter sei als der von den über­
lieferten Elementarübungen zum überlieferten Kunstwerk.
Und überhaupt sei das die Aufgabe der jüngeren Musiker­
zieher-Generation . Womit diese den schwarzen ZwölftonPeter zugeschoben bekam. Wir werden sehen, was sie mit
ihm anzufangen wußte. Michael Alt jedenfalls löste das
12-Ton-Problem im Unterricht auf nonchalante Weise: von
414 Seiten seiner "Musikkunde in Beispielen für Gymnasien",
genannt "Das musikalische Kunstwerk", widmet er diesem
Kapitel ganze drei Seiten, eingeleitet mit der lapidaren
Feststellung:
"Schönberg entwickelte aus seinen bisherigen Kompo­
sitionen die Gesetze der Zwölftontechnik" (31967, 373).
Folgen die üblichen Erklärungen, was eine Reihe sei und
wie man ihre Grundgestalt zur Umkehrung, zum Krebs und
zur Krebsumkehrung verwandeln könne• Folgen drei ThemenIncipits: a) Schönbergs Orchestervariationen op.31 (5
Takte), b) Schönbergs Violinkonzert (3 Takte), c) Schön­
bergs Kleine Suite o p .25 (3 Takte). Folgt die erleich­
terte Feststellung:
"Auf vielfache Weise wurde versucht, das starre Regel­
werk des Schönbergsehen Zwölftons aufzulockern" (a.a .
0., 375).
Das belegen 7 Takte aus Liebermanns Oper "Penelope", 2
Takte aus Benzes "Variationen für Klavier" und 2 Takte
aus Fortners "Fantasie über b-a-c-h". Den Schluß dieses
Zwölfton-Geschwindmarsches macht Ernst Kreneks Klavier­
stück op. 83,4 "The Moon Rises", ein unkommentiertes
Notenbeispiel.
Fazit: Michael Alt läßt die Zwölfton-Kartoffei sehr schnell
fallen. Immerhin war ihm klar, daß sie heiß ist. Und mit
den versprochenen Elementarisierungen hat er den lesenden
Lehrer gottlob verschont.
Ähnlich nüchtern, immerhin aber reichhaltiger das Infor­
mationsangebot im 3.Band des Musikwerks für Schulen "Die
"Garbe" -(31961) . Es wartet mit einem kurzgefaßten SchönbergLebenslauf, mit Auszügen aus dessen Harmonielehre, Ganzton- und Quartenakkorde betreffend, und einer dreiviertel­
seitigen Erklärung auf, was die Zwölftontechni'k sei. Ihre
Weisheit gipfelt in der lakonischen Feststellung:
"Diese Reihe kann kontrapunktisch durch Umkehrung,
Krebs oder Umkehrung des Krebses abgeändert werden
(Modi, Variationstechnik). Die Reihe ist das Gesetz
für' die gesamte Komposition" (a.a.O., 644) .
118
Der Testfall fürs Reihenabzählverfahren ist der Walzer
aus den "Fünf Klavierstücken" op.23, wo j ede Note sorg­
sam durchnumeriert ist und wo es im Kommentar abschlie­
ßend viel- und nichtssagend heißt:
"Die vorliegende Komposition ist dem Charakter eines
Walzers entsprechend leicht verständlich,.gliedert
sich deutlich in Abschnitte, die, z.T. wenig variiert,
wiederholt werden, vermeidet aber bis auf die 4taktige
melodische Eingangsperiode meist symmetrischen Aufbau;
auch fällt der Beginn der musikalischen Phrasen oft
nicht mit dem Beginn der Reihe zusammen, ein Beispiel
für den Kontrapunkt von Expression und Kon st rukt iv ität" (a.a.O., 648).
Wehe dem Lehrer, dessen Schüler nach diesem "Kontrapunkt
von Expression und Konstruktivität" übers bloße Abschmekken solcher Sprachhülsen hinaus mit einem "Wo?" und "War­
um? " fragen. Vielleicht verwiese er sie auf jenen Text
an gleicher Stelle, wo Fragen nach dem Sinn und nach der
Hörbarkeit von Reihenkompositionen gestellt werden. Doch
stammen sie - Ironie des Schicksals eines langen Meinungs­
streits - aus dem 22. Kapitel des "Doktor Faustus" von
Thomas Mann. Schönberg würde vermutlich getobt haben,
hätte er lesen müssen, daß der syphilitische Leverkühn
nun auch noch, wo er ihm doch schon den Erfinder-Primat
streitig gemacht ha t , den musikpädagogischen Nachlaßver­
walter spielen darf.
Michael Alt und seine Hoffnung auf die jüngere Generation
von Musikerziehern. Bleiben wir bei solchen Unterrichts­
werken für den schulischen Musikunterricht, die sich aufs
Informieren beschränken. Blättern wir in solchen, die sich
aufs Beschränken beschränken, z.B. in "Musik aktuell"
(^1978). Im 6 . Kapitel, "Im Konzert" genannt, schlingern
die Themen wähl- und ziellos durchs Gelände mit Unter­
titeln wie "Mozart als Konzertunternehmer", "Musiklieb­
haber", "Das Mannheimer Orchester", "Über das Dirigieren",
"Das Concerto grosso", "Das Solokonzert", "Was ist eine
Sinfonie?" (man erfährt 1 s auf knapp einer Textseite),
"Fuge - sinfonisch" usw. Das tanzende Schifflein schrammt
denn auch ganz kurz am 12-Ton-Ufer vorbei, wo Weberns
op.21 mit Thema und anderthalb Variationen verlegen grüßen.
Eine Seite Partiturbild und etliche Fragen dazu:
"1. Wir untersuchen die Intervallfolge der Reihe vorund rückwärts. Nach welchem Gesetz ist die Reihe an­
gelegt? Inwiefern weicht die Klarinettenstimme von
der Reihe ab?
2. In der I.Variation, Violinstimme, beginnt die Reihe
mit dem Ton c. Man sagt, sie ist um eine Quinte abwärts
transponiert. Erscheint die Reihe auch in anderen Stim­
men?" (a.a.O., 181f).
Die Reihe als Gesetz und ein Klarinetten-Dissident. Er­
scheint die Reihe denn nun nochmal oder nicht? Der Leser
wird's nicht erfahren, denn statt der Antworten kommen
schon die "Sinfonien mit Vokalmusik" als neues Thema:
Bartok husch-husch und Dvorak mit einer Notenzeile. Musik
pädagogisches Daumenkino, neuere Musik in vierzehn Tagen,
Webern als Einseiten-Anekdote. Hat er ja auch gar nicht
besser verdient: wer in derart aphoristischer Kürze kom­
ponierend sich ausdrückt, den ereilt das Schicksal der
Angemessenheit. Indessen geht es Schönberg im Lehrbuch
"Sequenzen" nicht anders, eher noch verächtlicher. Breit
ausgewalzt der Lernkomplex 4b: "Tonhöhe". Vorbei die Zei­
ten der Dur-Tonleiter, denn
"diese Reduzierung und Verengung der Tonhöhenwahrnehmung ... ist in einem modernen, allgemeinbildenden
Musikunterricht nicht mehr zu verantworten" (1972,
4.2.2.) .
Verantwortet wird hingegen der Anfang beim Sinuston, der
Fortgang über Grund- und Obertöne, Geräusche, Cluster,
Klangbänder. Wir lernen, daß Wasserfälle hoch und tief,
Springbrunnen mittelhoch und GartenSchläuche mit schar­
fem Strahl sehr hoch klingen. Später die Klangfülle bei
Haydn und Mendelssohn, dann eine Drittelseite Schönberg:
"Das Hauptthema der Kämmersinfonie op.9 (komponiert
19o6) von Arnold Schönberg besteht aus sechs aufstei­
genden Tönen, wobei sich zwischen allen Tönen der Ton­
höhenabstand (das Intervall) einer Quart befindet. Da­
durch entsteht ein 'atonales' Gebilde; Die Töne lassen
sich nicht mehr auf einen gemeinsamen Grundton bezie­
hen .
In der Originalgestalt steigt das Thema raketenartig
nach oben ..." (Sequenzen, 1972, 4.2.28).
Weiter g eht 1 s zu Jimi Hendrix, zu Beethoven, zu Globokar.
Alle haben sie Tonhöhen komponiert, mal rauf, mal runter,
diqhter und dünner, mal springend, mal gleitend. Wir lan­
den, wen wundert's , bei der Maultrommel und ihrem Ton­
höhenreichtum. So kommt denn Schönberg (Webern kommt gar
nicht vor) auch in den Zeitquantitäten reichlich kümmer­
lich w e g : beigelegt sind den "Sequenzen" insgesamt 29
Stunden 25 Minuten Klangbeispiele auf Tonband. Für Schön­
berg blieben ganze 87 Sekunden, das entspricht einem Pro­
zentanteil von 0 . 0 8 . Moped-, Staubsauger- und Preßluft­
hammergeräusche kosten eben ihren Preis. Mit 8 '46 ' ' steht
dagegen Alban Berg prächtig da (=o.5%) : der 5.Satz seiner
"Lyrischen Suite" für Streichquartett erscheint vollstän­
dig im Noten- und Klangbild. Warum? Weil sich hier die
Unterscheidungen zwischen "laut - leise", "schnell - lang
sam", "geringe Veränderungen - große Kontraste" und "wech
selnd
konstant" treffen lassen. Kommentar zum 5.Satz:
"Das Trio hebt sich beim ersten Mal schroffer von den
umliegenden Scherzo-Teilen ab als beim zweiten M a l .
Die Gliederung des Satzes ist sehr sinnfällig. Des­
halb kann man im Unterricht mit dem Abhören des voll­
ständigen Satzes beginnen. Die Höraufgabe zielt dann
auf die Gliederung im großen. Dabei können verbale
und graphische Beschreibung sinnvolle Unterstützung
leisten ..." (a.a.O., 5.57).
Ein Schüler, dem die "Sequenzen" die einzige musiktheoretische und musikhistorische Erfahrungsquelle wären,
müßte demnach Schönberg für einen Quarten-Bastler, Berg
für einen Gliederungs-Spezialisten und Webern für nicht
existent halten. So es um die leicht zu unterscheidenden
Tempo- oder Lautstärkenmerkmale geht, frage ich mich,
warum man um Himmelswillen einen 15-jährigen Hauptschüler
durch das Gestrüpp von alterierten Dreiklängen, Mischto­
nalitäten und durch die motivisch-rhythmischen Vertrackt­
heiten eines Bergschen Streichquartettsatzes scheucht;
wären da die Musik-Collagen von Eiskunstläufern nicht
bessere Trainingsfelder? Denn um das begründungslose
Formhören geht es bei diesem Streichquartettsatz, um
nichts sonst.
Michael Alt und seine Hoffnung auf die jüngere Generation
von Musikerziehern. Unter der Kapitelüberschrift "Musik
im Konzertsaal" befaßt sich das "Lehrbuch der Musik" Band
3 (1972, 44ff.) mit dem Violinkonzert von Alban Berg, kom.
mentarlos eingerahmt von Bachs 2.Brandenburgischem Konzert
und dem Klarinettenkonzert A-Dur von Mozart (KV 622). Der
Erklärungsansatz folgt dem Muster der gängigen Schulana.
lyses vorg€5stellt werden die hauptsächlichen Themen (die
Reihe, die Volksweise, der Choral), die Formschemata der
einzelnen Sätze, die thematischen Verwandtschaften nebst
einigen Notentextzitaten. Und weiter g e h t 's zu Mozart.
Im unmittelbaren Anschluß an Bach fällt das Stichwort
"Reihe" und daß sie aus 8 Terzen und 3 Ganztonschritten
aufgebaut sei (a.a.O., 44). Soll heißen: dieses Konzert
ist seines historischen Kontextes gänzlich beraubt,* die
Individualität des Bergschen Reihendenkens bleibt ohne
den Bezug zum Reihenverständnis Schönbergscher Prägung
außen vor; ausgeklammert bleiben obendrein die vielfachen
Beziehungen zwischen Soloinstrument und orchestralem Satz
in ihren Verflechtungen, wie sie ohne Kenntnis des 2.
Klavierkonzerts von Brahms ohnehin unverständlich blieben.
Statt dessen bieten die Herausgeber einen anderen Kontext
a n : den des Aufführungsortes. Und der ist derart unspezi­
fisch, daß man Bergs Violinkonzert ohne weiteres austauschen könnte gegen das 3 .Klavierkonzert von Rachmaninow
oder das Gitarrenkonzert von Villa-Lobos. Warum es gerade
121
dieses Konzert nach Bach und witzigerweise vor Mozart
sein mußte, in welcher Weise es - wenn man denn schon
nach ahistorischen Prinzipien Ausschau halten will - das
"Prinzip des Konzertierens" (wie es S.42 programmatisch
tönt) in besonderer, des Erwähnens würdiger Form einlöst,
bleibt dunkel. War Berg ein Prinzipieller, oder war er
es nicht? Sprach Michael Alt noch mutig-ängstlich vom
"Zwölfton", so findet das Reihendenken hier, wo es be­
reits seine historischen Voraussetzungen synthetisiert,
indem es die Schönbergsehe Rigidität umgeht, bereits kei­
ne Erwähnung mehr. Die Erleichterung darüber, daß sie
sich der Tonalität verschwistert und obendrein mit dem
"Andenken eines Engels" gleichsam vermenschlicht, hat
musikdidaktischen Tritt gefaßt.
Indessen sollte, vor allem mit Blick auf erlebnisbetonte,
in der Pubertät befangene Jugendliche der Weg zu diesem
Konzert, das in gleich zweifacher Hinsicht die Bedeutung
eines Requiems hat, nicht vorschnell abqualifiziert wer­
den . Im 2.Band des UnterrichtsWerks "Resonanzen" für die
Sekundarstufe I fangen die Autoren das jugendliche In­
teresse eben nicht über eine ins Tonale gewendete 12Ton-Reihe ein, sondern über den Choral "Es ist genug",
über die doppelte biographische Bedeutung, über die sub­
jektive Betroffenheit auf Seiten des Komponisten und da­
mit auch auf Seiten des jugendlichen Hörers. Nicht unge­
schickt , den Choral zunächst singen und seine ungewöhn­
liche Diatonik sozusagen körperlich erfahren zu lassen
in Verbindung mit einem Text, wo es u.a. heißt "Mein
Jesus kommt: nun gute Nacht; o Welt, ich fahr ins Himmelshausi Ich fahre sicher hin mit Frieden .
Bergs Violin­
konzert als ein Dokument einer sehr persönlichen existen­
tiellen Not? Warum nicht, wenn sich diesem Grundgedanken
die Analyse strikt anverwandelt und wenn der mehrfach an
sich selbst erfahrene Choral sowie die biographisch ge­
tönten Verweise, etwa in Form eines Ländler-Zitats, gleich­
sam zum roten Faden, zur Hör- und Verstehenshilfe werden,
Doch leider bleiben die Autoren bereits im Ansatz dieses
erlebensbetonten Zugangs stecken, verheddern sich dann
doch alsbald in einer Diskussion der 12-Ton-Reihe und
ihrer Permutationsmöglichkeiten und landen schließlich
dort, wo sie alle landen: beim Aufstellen einer gra­
phischen Hörpartitur, will sagen: bei einer formalen Be­
wältigung dieses Werkes. Vorbei und vergessen das sehr
persönliche "Es ist genug"; vertan die Möglichkeit, neuere
Musik durch die Trauer des schreibenden Subjekts hindurch
zu begreifen. Wie wenig den Autoren übrigens an diesem
erlebensbetonten Zugang gelegen war, zeigt auch hier wie­
der der inhaltliche Kontext: das Berg-Violinkonzert folgt
nach einem Hornkonzert von Haydn (es ging also wieder
122
mal ums konzertante "Prinzip") und leitet über zur Dis­
kussion der Beliebtheitsränge von Komponistennamen auf
Programmen des öffentlichen Musiklebens mit der stolzen
Feststellung:
"Zu den am meisten aufgeführten Werken gehören die
Symphonien Beethovens" (Resonanzen Bd,2, 19 75, 67).
Michael Alt und seine Hoffnung auf die jüngere Generation
von Musikerziehern. Sie tritt im Lehrwerk "Musik um uns"
für die Klassenstufe 11-13 als Generation von schulmeister
liehen Pedanten in Erscheinung. Nach dem dort üblichen
Muster "Regel und Anwendung" hat der lesende Schüler zu­
nächst einmal das Regelsystem zu verkraften: der Kompo­
nist bringt die zwölf Töne in eine bestimmte Reihe, kehrt
sie um, bastelt einen Krebs, transponiert die Reihe usw.
Folgen Beispiele aus der Klaviersuite op.25 als Anwen­
dungsfälle, wobei sich die - um ein Wort von Ehrenforth
aufzugreifen - "dodekaphonischen Suchtrupps" mit Fleiß
auf die Pirsch begeben und tüchtig durchnumeriert haben.
Bleibt als nicht numeriertes Trainingsfeld das MenuettTrio : hier soll selbst geknobelt werden nach alter Suchrätselmanier "Wo steckt der Jäger?". Bevor es dann hurtig
zu Hindemiths "Ludus tonalis" weitergeht, noch schnell
einige Aufträge;
"Vergleichen Sie das Schema mit dem Notenbeispiel und
den Modi, und kennzeichnen Sie die Bögen des Schemas
mit R, RT , U„ Urp, usw. Charakterisieren Sie die Art
der Mehrstimmigkeit in Menuett und Trio" (Musik um uns,
1978, lo9).
Webern ergeht es wenig später ganz ähnlich. "Struktur und
Strukturgruppen" heißen die Zauberworte in der Analyse
des Streichquartetts op.5, und die Analyse des Konzerts
op.24 besteht aus einer verwirrenden Fülle von Notenbei.
spielfetzen, Kreisen, Pfeilen, ausgezählten Reihen und
reduzierten Dauern, Artikulationen sowie Farben, alles
in Schaubilder übertragen und sehr schön anzusehen. Ich
wage, weil der Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen
ist, zu bezweifeln, ob die Zahlen- und Tabellenakrabat.i'k
das bezeugt, was eingangs der Konzert-Analyse behauptet
wird s
"Es liegt eine 3-Ton-Reihe vor, die durch 12-Tönigkeit
in größeren Zusammenhang gebracht wird. Die 12-TonReihe stiftet Proportionierung höheren Grades" (a.a.
0. , 154) .
Sie stiftet vor allem kein Verständnis dafür, warum ein
Komponist im Jahr 1934 so und nicht anders komponiert;
gestiftet wird dagegen - jenseits aller individuellen
und historischen Notwendigkeit - ein anderes Verständnis:
daß nämlich eines auf das andere folgte. Im Klartext:
lückenlos reiht sich in diesem Schulbuch Messiaens "Mode
1 23
de valeurs et d 1 intensites" an das Webern-Konzert op.24,
elegant verkleistert mit der folgenden Textmodulation;
"Es ist erstaunlich treffsicher und höchst sinnvoll,
diese Kompositionstechnik in eine Zeit zu transplan­
tieren, für die gleichgestellte Durchorganisation al­
ler Gebiete der Musik wesentlich wird" (a.a.O., 155).
Wie mag sich der Komplex 12-Ton-Musik bei einem Schüler
wohl abbilden? Vermutlich als Gleichsetzung "12-Ton-Musi'k=
Zahlenkolonnen = Gesetz und Regel = Liniendiagramme =
eine Ordnung, die stets als eine 1höhere 1 angepriesen
wird". Schönberg und Webern müsse man zu Leibe rücken
mit Bleistift, Zählwerk und Kurvenlineal; ihre Musik kön­
ne man besser in Tabellen übersetzen denn hörend erschlie­
ßen . Oder aber - und das halte ich für noch verwegener schlicht selber und möglicherweise besser machen. Denn
was Michael Alt einst im Hinblick auf "Elementarisierung"
des Denkens von Neuer Musik überlegte, ist in derzeitiger
Schulbuchlandschaft auf fruchtbaren Boden gefallen und
treibt bunte Blüten. Recht schüchtern noch nimmt sich der
scheue Versuch im Opus "Ton und Taste" (1975, 148) au s ,
wo im Kapitel "Musikalische Formen" (Unterkapitel "Motiv")
zwischen dem Lied "Spißi spaßi Kasperladi" und einem Mozart-Menuett acht Takte aus einem 12-tönigen Andante von
Hans Jelinek sich verstecken, ohne daß erkennbar wäre,
wie und warum sie dorthin geraten sind. Ist eine Klasse
schon so gutmütig, den Kasperladi-Nonsens fraglos zu er­
tragen, so sollten die paar Takte 12~Ton~Wunderlichkeiten
wohl ebenso klaglos toleriert werden, zumal man auf den
übrigen 3 28 Seiten damit dann nicht mehr behelligt wird.
Aber es gibt bessere Möglichkeiten, der 12-Ton-Musik den
Giftzahn zu ziehen, eben durch die Methode der Elementari­
sierung. Der 2.Band des "Lehrbuchs der Musik" (1972, 2of„)
druckt einen 12-Ton-Walzer von Finn Mortensen ab und läßt
nach gehabter Manier zunächst einmal die Reihe suchen und
finden. Feststellung;;
"Eine solche Reihe, in der alle 12 Töne; unseres Systems
verkommen, nennen die Musiker eine Zwölftonreihe" (a.
a.O., 2 1 ) ,
Und ist erst einmal auf leichtem Wege der Finder-Stolz
befriedigt, so läßt Erfinder-Ehrgeiz leicht sich wecken:
"Hier eine weitere Zwölftonreihe. Numeriere ihre Töne
und überprüfe, ob keine Note (Taste) vergessen worden
ist:
(folgt eine neutral notierte Reihe)
Erarbeitet mit dieser Reihe folgendes kleines Solo­
stück ;
1. Schreibe die Reihe dreimal hintereinander in Dein
Notenheft. Spiele sie vorher mehrmals auf einem In­
strument . ..
1 24
2. Setze die so entstandene Tonfolge in einen 4/4Takt und verwende dabei folgende Notenwerte (Halbe,
Viertel, Achtel). Dabei darfst Du keine Note auslassen
und nach Möglichkeit auch keine Note wiederholen.
Sieh Dir noch einmal den Walzer von Finn Mortensen an.
Du findest kleine Zahlen in den Noten. Was werden Sie
bedeuten?" (a.a.O., 2 1 ).
Ähnliche Gestaltungsübungen peilt auch das Lehrbuch "Mu­
sik um uns" (Klassenstufe 7~lo) a n . Wieder ist der Walzer
aus o p .23 dran, wieder wird fleißig gezählt und genummert
und geprüft und nach ReihenVerarbeitungen geforscht. Der
Aufgabenkatalog gipfelt schließlich in der Anweisung:
"Wir versuchen eine Zwölfton-Gruppenimprovisation"
(a.a.O., 241).
Wie diese vonstatten gehen soll, verrät nicht der Schüler­
band, sondern das Lehrerbegleitheft: man erfinde eine
Reihe, verteile j eden Ton auf einen Mitspieler, der dann
dran ist, wenn sein Reihenton drankommt ("Jeder Schüler
kennt seinen Vorder- und Hinter - 1T o n '") , das rhythmische
Nacheinander erfolge bei der Improvisation frei, gewandtere
Schüler dürften oktavversetzen, mehrere Reihentöne könnten
zu Akkorden zusammengefaßt werden etc., alles nach dem
Motto: Das bißchen Zwölftonmusik machen wir uns selber.
Dodekaphonie in Heimbauweise. Nicht auszuschließen, daß
diese "Improvisation" dann ebenso bizarr klingt wie der
Schönberg-Walzer. Das liegt dann eben an diesem komischen
12-Ton-System.
Die gleiche 12-Ton~Heimwerker-Methode in "Resonanzen" Bd.2
(1975, 33) s
"Komponiert selbst ein Zwölftonstück, z.B. mit Hilfe
von Klingenden Stäben.
Stellt zwölf verschiedene Klingende Stäbe in einer
Grundreihe nebeneinander.
Spielt die Zwölftonreihe in gleichmäßigen Tonlängen.
Rhythmisiert die Grundreihe, so daß ein Thema ent­
steht .
Verändert diese Tonfolge durch Tonwiederholungen und
Oktavversetzungen, wie sie in der Zwölftontechnik er­
laubt sind usw." (a.a.O., 33).
Dieses "Zwölftonmusik ist, wenn man ..."-Verfahren hat
sich in schulischer Praxis zur üblen Gewohnheit etabliert.
In der Referendarausbildung, bei Abiturprüfungen und
schriftlichen Musiktests sind Aufgabenstellungen wie folgt
üblich:
"Erfinden Sie eine 12-Ton-Reihe. Verarbeiten Sie diese
Reihe zu einem Thema. Stellen Sie die Modi auf. Schrei­
ben Sie eine dreistimmige, 12-tönige Invention und be­
nutzen Sie dabei die Reihe nebst ihren Modi sowohl hori­
zontal wie vertikal!"
125
Niemandem fiele bei, ein Gleiches auch vom Palestrinaoder Bach-Stil abzuleiten; niemand würde auf die Idee
kommen, ein Rondo in Haydn-Manier komponieren zu lassen.
Nur diese unselige Erfindung dieses Arnold Schönberg und
seiner Schüler taugt in besonderer Weise dazu, auf einer
elementaren Ebene unzählige Male kopiert und zur Anwen­
dung gebracht zu werden. Die Verhältnisse sind hier ja
auch besonders günstig: bis 12 zählen kann j eder, und
keinen brauchen die Ängste vor Quintparallelen zu plagen.
Es hat den Anschein, als seien das pedantische Nachzäh­
len oder die ebenso pedantischen Reihen-Erfindungsübungen
der einzige Weg, sich einem rätselhaften Komponisten zu
nähern, indem man sich paradoxerweise seiner elementaren
Methode bedient, wo man dessen kompositorische Resultate
in anderer Weise zu verstehen nicht fähig ist (oder nicht
gewillt ist, sie zu verstehen). Wir müssen folglich festhalten, daß auf jenem eingeschliffenen Wege der hausge­
machten 12-Ton-Basteleien Schönberg und seine Schüler ei­
ner Laisierung zum Opfer gebracht werden, die den Schrekken, den ihre Werke immer noch zu verbreiten scheinen,
mit der Erkenntnis: "Das ist ja ganz leichtI" neutralisiert.
Am Rande gesprochen: dem Blues und dem traditionellen
Jazz geht es ganz ähnlich; unsere Schulbücher sind voll
von eingefrorenen "Modellen" für die Hand von jedermann.
Ein 12-taktiges Schema und ein paar Blue-note-Gewürze
lassen leicht die Illusion aufkeimen, daß es genau so
klinge wie. Handele es sich um eine fernstehende kultu­
relle Artikulation oder um eine immer noch fernstehende
musikalische Ausdrucksweise - das inferiore Gefühl des
nicht verstehenden Unbehagens läßt sich rasch durch ein
trotziges "Das können wir auch" in genügsame Überlegen­
heit ummünzen. Zu welchen jammervollen Auswüchsen das
führt, möchte ich an einem Schulbuchbeispiel demonstrieren,
das mir zunächst (ähnlich dem Zugriff auf Bergs Violin­
konzert) auf guten Wegen zu gehen schien. Das Buch "Re­
sonanzen", Band 2, befaßt sich eingehend mit Schönbergs
"Überlebendem aus Warschau". Es befaßt sich sorgsam mit
dem historischen Vorfeld, dem Krieg, dem Warschauer Ghetto,
den Augenzeugenberichten, dem Befreiungskampf, dem Plan
von Schönberg zu dieser Komposition. Sehr richtig setzt
die einführende Analyse beim Shema Yisroel an, bei Sprechund Singübungen, kurz: bei einem Teil der Komposition, bei
dem Schüler so etwas wie ein kollektives Einverständnis
erfahren könnten. Menschliche Katastrophe und menschliches
Hoffen - soweit stimmt der We g , auf dem Jugendliche mitge­
nommen werden können. Aber dann kommt, was unvermeidlich
scheint: anzutreten haben der Reihenprüfdienst, die Regel­
abweichungs-Kontrolleure, die Klangmerkmals-Tabellographen,
die Strukturdiagrammatiker und Motiv-Ordner, die Klang­
126
farbenpartiturZeichner und Großgliederungs-Ingenieure.
Und als besonderen methodischen Bonbon hat abschließend,
nach Judenfrage und Warschauer Aufstand, nach Shema
Yisroel und Gaskammer-Abzählverfahren, der Lehrerband
ein Silbenrätsel parat für den Lehrer, der sich um die
nachträgliche Sicherung des am "Überlebenden aus Warschau"
erworbenen Wissens und Verstehens sorgt:
isolierter Wohnbezirk
GHETTO
alle Instrumente spielen dasselbe UNISONO
eine Art Rezitativ
SPRECHGESANG
machtsymbolisierendes Instrument
TROMMEL
Hebräisch: Herr, Gott
ADONOY
ausgeschriebenes Wort für V c l .
oder V c .
VIOLONCELLO
Vokalgruppe in "Ein Überlebender" MÄNNERCHOR
Vorname Schönbergs
ARNOLD
kleinstes Intervall der
chromatischen Skala
HALBTONSCHRITT
Sterbeort Schönbergs (2 Wörter)
LOS ANGELES
Ausdruck für Vernichtung
des Judentums
ENDLÖSUNG
Materialaufstellung für
Zwölftonkomposition
REIHE
Die Anfangsbuchstaben der gefundenen Begriffe ergeben
der Reihenfolge nach gelesen den Namen eines Freundes
Arnold Schönbergs, der gleichzeitig ein bekannter Kom­
ponist ist (GUSTAV MAHLER)
(Resonanzen, Lehrerin­
formation, 1975, 57).
Michael Alt und seine Hoffnung auf die jüngere Generation
von Musikerziehern, Hier endlich hat sie ihn wohl schnöde
betrogen, denn wenn sich der künstlerisch gebändigte N o t ­
schrei im "Überlebenden aus Warschau" in einen Tummelplatz
für Bleistift-Inspizienten verwandelt, wenn sich der Name
Gustav Mahler als Akrostichon aus Ghetto und Endlösung
nebst Violoncello herleitet und wenn der Begriff Schön­
berg zum Silbenrätsel-Arnold zusammenschrumpft und auf
ein Niveau herunterkommt, das ich beim besten Willen nicht
einmal mehr niedlich nennen kfinn, so wäre es wohl das
beste, man deckte die sogenannte Zweite Wiener Schule
mitsamt ihren Gesetzen, Regeln und Methoden mit dem Man­
tel eines verlegenen Schweigens zu und erklärte sie da­
mit zu musikdidaktischen Personae non gratae. Armer Schön­
berg . Für ihn trifft, soweit seine Existenz in Schul­
büchern in Rede steht, nicht einmal seine im Dankschrei­
ben an die Gratulanten zum 75. Geburtstag wiederholte Be­
fürchtung zu:
"Die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts wird durch Über­
schätzung schlecht machen, was die erste Hälfte durch
UnterSchätzung gut gelassen hat an mir" (zitiert nach
Stein, 1958, 3ol).
1 27
Statt Überschätzung müssen wir sagen: Fehleinschätzung;
und von Schlechtmachen im Sinne von Desavouieren kann
wohl auch keine Rede sein, eher von schlecht Machen im
Sinne einer vom mißverstandenen System verführten Analyse-Methodik. A propos Mantel des Schweigens: In den
jüngst erschienenen Unterrichtswerken "Banjo" (Klassen­
stufe 7-lo) und "Musikunterricht Sekundarstufe I" (Klas­
se 7-lo) kommen Namen wie Schönberg, Webern und Berg oder
Krenek sowie deren Werke überhaupt nicht mehr v o r . Weise
Einsicht ins Unabänderliche oder neue inhaltliche Präfe­
renzen oder Zeichen nicht nur fürs Altern, sondern das
Hingeschiedensein von Neuer Musik? Im Falle von "Banjo"
zweifellos Ausdruck einer neuen inhaltlichen Orientierung:
dort tritt "Musik im Hintergrund" radikal in den Vorder­
grund, und weil Schönberg, Webern oder Berg niemanden
manipuliert haben, finden sie auch keine Erwähnung im
musikalischen Manipulations-Repertoire. Im Falle von "Mu­
sikunterricht Sekundarstufe I" hätte man die Zweite Wiener
Schule schon unterbringen können, z.B. im Kapitel "Neue
Musik im Konzert", doch beginnt dort die Neue Musik mit
Stockhausen, Bartok, Ligeti und Kagel. Und im Kapitel
"Musik und ihre MaterialStruktur" sind die 12-Ton-Turnübungen gottlob aus nun bekannten Gründen ausgelassen.
Zwischenbilanz: das zweite Dasein der Wiener Schule in
der Schule entlarvt sich als eine verbogene Projektion,
oder anders: als eine Werke und Absichten verfälschende
Reduktion, weil
1. Schönberg, Berg oder Webern als Namen nur flüchtig
gestreift werden unter Auslassung von deren Werken und
Wirkungen; oder weil
2. der Schritt vom befreiten Umgang mit der Tonalität
zur strikten Bindung an die 12-Ton-0rganisation zum
Gesetz, zur Regel, zum Gebot erklärt 'wird, was zur
Folge hat, daß
3. zwischen der kurzgefaßten Methodenlehre (nach dem
Muster: 12-Tontechnik geht folgendermaßen ...) und
den immer wieder gleichen Kompositionen ein "Regel
und Anwendungsfa.il "-Verhältnis gestiftet wird mit der
Folge, daß sich
4. die analytische Diskussion im Nachzählen und. Aus­
zählen von Reihen bzw. Reihenmodifikationen erschöpft
oder daß
5. zwischen der 12-Ton-Kompositionsmethode und selber
fabrizierten 12-Ton-Werkchen eine "learning by doing"Beziehung sich knüpft;
6 . scheint e s , als verführen einige Schulbuchheraus­
geber nach dem Motto: hin und wieder ein paar Takte
Schönberg, denn Gewöhnung macht süchtig. Und
128
7. scheint es, als gebe es bei solchen Werken, von
denen man weiß, sie seien Reihenkompositionen, keinen
anderen Weg als den, sie gleichsam wörtlich, d.h. beim
dodekaphonen Versprechen zu nehmen.
8 . Schließlich: auch eine Möglichkeit, mit Schönberg
und anderen fertig zu werden, ist, sie einfach hinaus­
zuwerfen aus den Schulbüchern; Gartenschläuche, Maul­
trommeln und Penderecki-Clusters handhaben sich nun
mal einfacher im improvisatorischen Umgang im Vergleich
zu hakeligen 12-Ton-Reihen.
Wo liegt der kardinale Fehler im pädagogisch-didaktischen
Kalkül? Ich meine: im mangelhaften Studium beider Seiten der von Schönberg einerseits (um bei ihm exemplarisch zu
bleiben) und der des Schülers andererseits. Beide, so
will ich behaupten, wurden und werden nicht beim Wort,
werden nicht zur Kenntnis genommen„ Schönberg 1923 in ei­
nem Brief an Josef Matthias Hauer:
"Wahrscheinlich wird das ... immer wieder neu abge­
grenzte und immer wieder erweiterte Buch schließlich
diesen bescheidenen Titel erhalten: 1Die Komposition
mit 12 Tönen 1 . Soweit stehe ich seit c a . 2 Jahren und
muß gestehen, daß ich bisher - zum ersten Mal - noch
keinen Fehler gefunden habe, und daß mir ein System
unter der Hand, ohne mein Hinzutun wächst. Was ich für
ein gutes Zeichen halte. Ich bin dadurch in der Lage
so bedenkenlos und phantastisch zu komponieren, wie
man es nur in der Jugend tut, und stehe trotzdem unter
einer präzis benennbaren ästhetischen Kontrolle" (zi­
tiert nach Stein, lo9).
Schönberg in einem Schreibern vom 16. Juli 1931 an Josef
Rufer:
"Es ist nämlich wirklich eigentümlich, daß noch nie­
mand sich mit der offenkundigen Schönheit meiner
F o r m befaßt ha t . Die müßte auch mancher zu erken­
nen imstande; sein, der einer Melodie oder einem Thema
mit dem Ohr oder seiner Vorstellung niemals wird fol­
gen können. Aber, und das ist der Grund dafür: es gibt
nur sehr wenige Leute, die von musikalischer Formschön.
heit einen Begriff haben" (a.a.O., 167).
Den Schulbuch-Analytikern ins Stammbuch geschrieben ein
Brief vom 27.7.1932 an Rudolf Kolisch:
"Die Reihe meines Streichquartetts hast Du richtig ...
herausgefunden. Das muß eine sehr große Mühe gewesen
sein, und ich glaube nicht, daß ich die Geduld dazu
aufbrächte. Glaubst Du denn, daß man einen Nutzen da­
von hat, wenn man das weiß? ... Nach meiner Überzeu­
gung kann es ja für einen Komponisten, der sich in der
Benützung der Reihen noch nicht gut auskennt, eine An­
regung sein, wie man verfahren kann, ein rein handwerk­
1 29
licher Hinweis auf die Möglichkeit, aus den Reihen
zu schöpfen. Aber die ästhetischen Qualitäten erschlie­
ßen sich von da aus nicht, oder höchstens nebenbei.
Ich kann nicht oft genug davor warnen, diese Analysen
zu überschätzen, da sie ja doch nur zu dem führen, was
ich immer bekämpft habe: zur Erkenntnis, wie es g e ­
m a c h t
ist; während ich immer erkennen geholfen
habe: was es i s tl ... Ich kann es nicht oft genug
sagen: meine Werke sind Zwölfton= K o m p o s i t i ­
o n e n , nicht Z w ö l f t o n =Kompositionen ...
Für mich kommt als Analyse nur eine solche in Betracht,
die den Gedanken heraushebt und seine Darstellung und
Durchführung zeigt. Selbstverständlich wird man hiebei
auch artistische Feinheiten nicht zu übersehen haben"
(a.a.O., 179).
"Und schließlich", schreibt Schönberg an den Komponisten
Roger Sessions 1944,
"möchte ich erwähnen, was ich, um eine Würdigung mei­
ner Musik zu ermöglichen, für das Wertvollste halte:
daß Sie sagen, man muß sie auf die gleiche Weise an­
hören wie jede andere Art Musik, die Theorien verges­
sen, die Zwölfton=Methode, die Dissonanzen etc. - und
ich möchte hinzufügen, womöglich den Autor ... Daß ich
diesen oder j enen Stil schreibe, diese oder jene Me­
thode anwende, ist meine Privatsache und geht den Hö­
rer gar nichts an" (a.a.O., 234f.).
"... denn das Verständnis für meine Musik leidet noch
i m m e r
darunter, daß mich die Musiker nicht als
einen normalen, urgewöhnlichen Komponisten ansehen,
der seine mehr oder weniger guten und neuen Themen
und Melodien in einer nicht allzu unzureichenden mu­
sikalischen Sprache darstellt - sondern als einen dis­
sonanten Zwölftonexperimentierer" (Brief vom 12.5,1947
an Hans Rosbaud; zitiert nach Reich, 255).
Und wenn Schönberg sich im Brief vom 4. Juli 1944 an Rene
•Leibowitz gleichsam selbst vergewissert ...
"Was Andeutungen von Tonalität und Vermischung mit
konsonanten Dreiklängen betrifft, muß man sich daran
erinnern, daß der Hauptzweck der 12=Ton=Komposition
ist: Zusammenhang durch die Verwendung einer einheit­
lichen Tonfolge zu erzielen, welche zum mindesten wie
ein Motiv funktionieren sollte. Auf diese Weise soll
die organisatorische Kraft der Harmonie ersetzt werden"
(a.a.O., 26o).
. . . wenn also Schönberg Reihe und Motiv funktional ineins
setzt, dann offenbart sich das Dilemma schulbuchhafter
Analysen dergestalt, daß sie keine sind: analytische An­
sätze allenfalls, die bei der Motivsuche und -nennung
stehen bleiben.
1 3o
Aus einer "Notwendigkeit" erwachsen, habe die Methode,
mit zwölf Tönen zu komponieren, kein anderes Ziel als
"Faßlichkeit". Sie, die Reihe,
"muß der erste schöpferische Gedanke sein. Dabei macht
es keinen großen Unterschied, ob die Reihe in der Kom­
position sofort wie ein Thema oder eine Melodie er­
scheint oder nicht, ob sie als solche durch Merkmale
des Rhythmus, der Phrasierung, der Konstruktion, des
Charakters usw. gekennzeichnet ist oder nicht ... Dem­
nach ist der musikalische Gedanke, obwohl er aus Me­
lodie, Rhythmus und Harmonie besteht, weder das eine
noch das andere allein, sondern alles zusammen" (Stil
und Gedanke = GS 1, 1976, 76f.).
Wieder ins Stammbuch geschrieben, nun aber den 12-TonReihen-Amateuren, seine Feststellung:
"Die Einführung meiner Methode, mit zwölf Tönen zu
komponieren, erleichtert das Komponieren nicht; im
Gegenteil, sie erschwert es ... Die Einschränkungen,
die der Zwang, nur eine Reihe in einer Komposition zu
verwenden, dem Komponisten auferlegt, sind so streng,
daß sie nur von einer Phantasie, die eine Vielzahl von
Abenteuern bestanden hat, überwunden werden können.
Diese Methode schenkt nichts; aber sie nimmt viel" (a.
a.O., 79) .
Und noch einmal die gleiche Warnung im "Rückblick" 1949:
"Es scheint mir dringend, meine Freunde vor Orthodoxie
zu warnen. Komponieren mit zwölf Tönen ist in Wirklich­
keit nur in einem geringen Grade eine 'verbietende',
eine ausschließende Methode. Es ist in erster Linie
eine Methode, welche logische Ordnung und Organisation
sichern soll; und deren Resultat müßte leichtere Ver­
ständlichkeit sein" (= GS 1, 1976, 4o8).
Stets die gleichen abwehrenden Gesten gegen das stets
drohende Gemeinverständnis, als Methodiker und Konstruk­
tivist verkannt und unterschätzt zu werden; als einer,
dem es um eine praktikable und kopierfähige Methodenlehre
hätte gehen können. In den Bemerkungen zum dritten und
vierten Streichquartett findet sich, wie so oft in seinem
Schrifttum, der immer gleiche Stoßseufzer:
"Ein Komponist muß ein volles, unerschütterliches Ver­
trauen in die Folgerichtigkeit seines musikalischen
Denkens besitzen ... Tiefe erfordert keine methodischen
Verfahrensweisen. Den auszudrückenden Gegenstand unab­
lässig im Sinn, könnte der Komponist seine Vision wie
von einem Modell abschreiben - eine Einzelheit nach
der anderen. Schließlich wird das vollendete Wei'k so
reich an Inhalt sein, wie es an Einzelheiten ist, und
vielleicht sogar reicher - es könnte einen schöpfe­
rischen Zug tragen" (= GS 1, 1976, 423).
131
Beinahe wahllos herausgegriffene Selbstbekundungen Schön­
bergs, die um immer die gleichen Begriffe, ich sollte ge­
nauer sagen: Ziele kreisen; sie sind mit Vokabeln wie
"phantasievolles Komponieren", "Schönheit der Form", "mu­
sikalischer Gedanke", "gute Themen und Melodien", "orga­
nisatorische Kraft", "schöpferischer Gedanke", "Phantasie
und Strenge", "Faßlichkeit und leichtere Verständlichkeit"
und "Folgerichtigkeit des musikalischen Denkens" kurz Um­
rissen : Leitbilder eines Komponisten und seiner Schüler­
generation, wie sie in keinem der gesichteten Schulbücher
Vorkommen, geschweige denn analytisch nachgeprüft und er­
läutert werden; nicht der phantasievolle Reichtum an mu­
sikalischen Charakteren in den Variationen op.31, nicht
das Neue des Weins im alten Suitenschlauch. Auch nicht
die nach dem "Prinzip der entwickelnden Variation" struk­
turell gebändigte Angst im "Überlebenden aus Warschau"
oder in der "Begleitungsmusik zu einer Lichtspielscene",
wo es den Anschein hat, als lege sich im ersten Fall die
Trauer, im zweiten Fall die begriffslose politische Furcht
gleichsam strenge Zügel an, um nicht im vollen Sinn des
Wortes "maßlos" zu werden. Ebenfalls nicht die aus aus­
konstruierter Vagheit heraus entwickelte, klagende Schön­
heit des Themas von o p .31, nicht ihre Kompromißlosigkeit,
die Schönberg in seinem Vortrag über op.31 mit dem Ver­
gleich zu einer denkbaren tonalen Fassung dieses Themas
verblüffend deutlich macht: es sei ihm eben nicht in ei­
ner Fixierung auf F eingefallen. Schließlich nicht das,
was Schönberg zu betonen nicht müde wird: daß die Methode,
mit zwölf Tönen zu komponieren, über Jahre hinweg gewach­
sen sei; daß ihre "Notwendigkeit" ein großes Stück seiner
persönlichen Geschichte darstelle. Das meint: keines der
Schulbücher zeichnet diesen Weg von der "Verklärten Nacht"
über "Pelleas", übers 1.Streichquartett, über die "Kammer.
Symphonie", über das "Buch der hängenden Gärten", über
die "Glückliche Hand" und den "Pierrot lunaire" zur Klavier­
suite op.25 und von dort aus weiter zu den späten geist­
lichen Vokalkompositionen nach; nicht dies "Gurrelieder"
hier, nicht das Klavierkonzert dort. Bis auf die wenigen
Favourites, von denen hier des öfteren bereits die Rede
w a r , bleibt der ganze Schönberg (und bleiben der ganze
Webern und Berg) unerkannt und somit verzeichnet durch
einzelne Segmente des Schaffens. Die Gründe leuchten uns
nun ein: es sind jene Segmente, die sich als besonders
griffig, als besonders analysierbar, als besonders leicht
zu verharmlosen erwiesen haben. Angesichts dessen halte
ich es für ein Zeichen von Fairness, wenn das für die
Sekundarstufe II 19 8 o erschienene Schulbuch "Materialien
zur Musikgeschichte" sich mit dem Abdruck aus Auszügen
von Schönbergs 12-Ton-Kapitel in "Stil und Gedanke" be132
scheidet: es läßt wenigstens ungestört den Komponisten
selbst zu Worte kommen, obgleich von einer Vermittlung
zwischen dem kompositorischen Anspruch dort und der Er­
wartung eines Jugendlichen von heute hier freilich keine
Rede ist.
Und damit bin ich beim zweiten Manko im didaktischen Kal­
kül: bei der Tatsache, daß Jugendliche in den referierten
didaktischen Entwürfen nicht ins Spiel gebracht werden.
Ich bin damit auch bei der Frage an mich selbst, wie das
Verhältnis, von dem wir erkannt haben, daß es gestört sei,
zwischen der Wiener Schule und der Schule heute aufzu­
bessern sei. Man verzeihe mir die Binsenweisheit: was
sollte einen an der Musik normal interessierten Jugend­
lichen wohl beflügeln, sich mit Schönbergs oder Weberns
komplizierten, zunächst einmal kühl und befremdlich klin­
genden Schreibweisen neugierig zu befassen? Die spröde
Klanglichkeit weist ihn zunächst ab, und mit der Einsicht,
daß dort Reihen nebst ihrer Permutation ein verworrenes
Spiel treiben, ist wohl auch nichts zu gewinnen, vom denk­
baren sportiven Respekt vor so viel Kunstfertigkeit ein­
mal abgesehen. Binsenweisheit Nr.2: ein sechzehnjähriges
Mädchen oder ein siebzehnjähriger Junge filtern j ede neue
musikalische Erfahrung durch das natürliche Sieb ihres
Erlebens- und Miterlebensbedürfnisses. In diesem Alter
fällt j ede Neubegegnung mit der akuten Frage "Wer und
was bin ich?" zusammen. Die Entdeckung der Welt, der äu­
ßeren wie der inneren, vollzieht sich axich durch die Sache
hindurch: das Ich fängt sie ein und entdeckt ein Stück
Selbst in ihr. Wo das nicht möglich ist, dort -geschehen
die uns wohlbekannten Verweigerungen. Vergröbert gesagt:
wo in der Sache solche Ich-Begegnungen nicht ermöglicht
werden, dort fruchtet kein Vermittlungsversuch. Anders
ausgedrückt: zu suchen wäre jenseits eines rationalen Ver.
stehenszugriffs ein Zugang, der über das erlebensbetonte
Einverständnis ginge. Im Falle der genannten Komponisten
ist dieser Zugang insofern besonders schwer, als auch
der Instrumente spielende oder in einem Chor singende
Schüler so gut wie keine praktischen Vorerfahrungen ma­
chen kann,- dem Instrumentisten oder dem Sänger bahnen
sich da und dort erste Kontakte zu Strawinsky, Bartok,
Hindemith oder Fortner an; welcher Klavierlehrer oder
Chorleiter aber hat schon Webern oder Schönberg im Re­
pertoire? Deren Musik wird hauptsächlich rezeptiv und
kaum praktizierend erfahren, was einen handelnden Um­
gang mit ihr weitgehend ausschließt. Dennoch scheinen mir
Zugänge, d.h. erlebens- und nacherlebensbetonte Annähe­
rungen an die Musik der Wiener Schule denkbar, sofern man
bereit wäre, vom Begriff der Wiener "Schule" Abstand zu
nehmen, mithin dem Versuch widerstände, sie von der Seite
ihrer Methode her verstehen zu wollen.
Vorschlag 1: Ein Thema über ein halbes Jahr hinweg sei
genannt: "Komponieren als Trauerarbeit". Ausgangspunkt
seien sehr persönliche Befindlichkeiten wie Furcht oder
Trauer, dokumentiert und für Jugendliche nachvollziehbar
in entsprechenden schriftlichen Dokumenten. Ob man den
Bogen bereits ab barocken Tombeaus spannen will, mag eine
Frage der verfügbaren Zeit sein, immerhin streift ein
solcher Themengang Stationen wie Beethovens 3.Sinfonie
(Mozarts Requiem vielleicht auch), das Deutsche Requiem
von Brahms, Mahlers 9.Sinfonie, Bruckners Siebte, Schön­
bergs "Überlebenden", die Metamorphosen für 23 Solostrei­
cher von Richard Strauss, Hindemiths bestellte Trauermusik,
Bergs Violinkonzert, Smetanas Quartett e-Moll, Pendereckis
"Threnos", Schuberts "Winterreise" oder Dvoraks Streich­
quartett F-Dur op.96. Man störe sich nicht an der Willkürlichkeit solcher Beispiele, auch nicht daran, daß un­
ter dem Stichwort einer subj ektiven Trauer nur Teile der
genannten Werke zur Diskussion stehen können. Indessen
ist es gerade jene "existentielle Bedeutsamkeit", die w i e 's Wellek einmal sagte - "dem ästhetischen Wert nicht
nur entgegensteht, sondern ihn in eigentümlicher Weise
steigert" (1963, 223). Und sollten die Reihenkonstruk­
tionen in Schönbergs "Überlebendem" oder in Bergs Violin­
konzert dabei unerwähnt bleiben und statt dessen nur jene
Momente zur Sprache kommen, wo sich persönliche Betroffen­
heit musikalisch kundtut, so wäre wenigstens durch diese
Betroffenheit hindurch eine Tür geöffnet, die sich dem,
der das Ganze haben will, überhaupt nicht aufschließt,
Vorschlag 2; Wenn schon Schönberg zentral, dann aber seine
ganze Persönlichkeit - seine frühen Jahre, seine; Tätig­
keit an Wolzogens "Überbrettl", seine Wiener Hungerjahre,
die Berliner Erniedrigungen, das amerikanische Exil -,
seine kompositorischen Stationen, seine Lehrertätigkeit,
seine Schriften, die Reaktionen der Öffentlichkeit, die
Skandale und Anfeindungen. Da müßte dann auch Melichars
"Musik in der Zwangsjacke" gelesen und gespiegelt werden
an des Komponisten Anspruch. Jawohl, mehr eine Biographie
denn ein Katalog seiner Werke, mehr das sehr persönliche
Schicksal denn die Kompositionsverfahren. Hinzunehmen
wären dabei die sehr fragmentarischen Einsichten ins Oeuvre
zugunsten lückenlosen Wissens um eine Komponistenpersön­
lichkeit , die Zeit ihres Lebens einen Begriff von Wahr­
haftigkeit hatte und mutig für sie eingetreten ist.
Vorschlag 3: "Komponisten schreiben für den Film". Viele
taten es, z.B. Satie, Schostakowitsch, Eisler, Hindemith,
Saint-Saens, Prokofjew, auch Schönberg. Nicht nur mit
134
seiner den Mustern der Stummfilmmusiken abgehörten "Begleitungsmusik zu einer Lichtspielscene", sondern filmisch
waren auch die Absichten, die er zusammen mit Kokoschka
und Kandinsky bei seinem Opern-Einakter "Die glückliche
Hand" zu realisieren hoffte. Die Tatsache, daß alle Er­
eignisse auf der Bühne Projektionen von Hoffnungen, Wün­
schen und Ängsten sind, zeigt, wie sehr Schönberg daran
gelegen war, seelische Vorgänge mit den Mitteln der Farbe
und des Lichtes ins Optische zu übersetzen. Das Jahr 1913,
das Jahr der "Glücklichen Hand", und das Jahr 1929/3o, die
Zeit der "Begleitungsmusik", sind markante Daten in der
Geschichte der Stummfilmmusik: dort schwingt sie sich zur
orchestralen Üppigkeit auf, hier ist sie bereits vom Ton­
film überrollt. Wie bei meinem ersten Vorschlag ein für
Jugendliche erlebnishaft nachvollziehbares Thema nach dem
Gedanken: und dann und wann Schönberg in behutsamer Do­
sierung? vor allem aber: Schönberg nicht als der Zwölftöner, sondern als einer, der sich mit den neuen Ausdrucks­
möglichkeiten seiner Zeit, auch denen des jungen Films,
neugierig befaßte.
Vorschlag 4: Beim Nachdenken darüber, wie man aus einem
toten Methodiker einen lebendigen, in seiner Zeit tätigen,
leidenden, kämpfenden, kritisierenden Menschen machen kann,
damit ihn junge Menschen von heute gleichsam anfassen kön­
nen, schwebte mir eine Art sozialgeschichtlicher Kurs vor.
Und während er noch schwebt, flattert er mir als Manu­
skript fertig auf den Tisch (für einen der Folgebände der
"Studienreihe Musik"). "Arnold Schönberg und das Prinzip
'Kunstmusik'" nennt Wolfgang Martin Stroh sein im Unter­
richt getestetes Konzept, das an Umfang, Farbe, Wider­
sprüchlichkeit und vor allem an Möglichkeiten des handeln.
den Umgangs für Schüler nichts zu wünschen übrig läßt.
Ich denke, es wird bereits an den Kapitelüberschriften
deutlich:
"Oh, du lieber Augustin!" / "Arnold Schönbergs 2.Streich­
quartett op.lo" / "Spielkonzepte zum Lied 'Oh, du lieber
Augustin1" (in der Tat: hier werden verschiedene Formen
der harmonischen Verfremdung mit den Schülern wirklich
gespielt) / "Anwendung der Spielkonzepte für die Kompo­
sitionsanalyse" (die durch die Spielpraxis erworbenen Er­
kenntnisse gehen als Vorstufen in den analytischen Erkennt­
nis-Akt ein) / "Hinweise auf Form und Struktur des 2.
Satzes und auf weitere Kompositionstechniken" (der Kreis
zieht sich sukzessive weiter) / "Erfolg und Mißerfolg der
Musik Arnold Schönbergs" (das beruhigt jene Schüler, die
Verstehensschwierigkeiten weiterhin haben) / "Mögliche
Beurteilungen des Uraufführungsskandals" / "Mißerfolg als
Gütezeichen von Musik?" / "Kunstmusik, Volksmusik und
Unterhaltungsmusik" (hier kommt ein anderer Name ins Spiel:
1 35
Oscar Straus) / "Ein Walzertraum - ein Erfolg wird ge­
macht" / "Kunstmusik, Volksmusik und Unterhaltungsmusik
als drei Arten, Wirklichkeit zu verarbeiten". Um ein Bild
zu bemühen: Stroh hat einen Stein in ein gewähltes Zentrum
geworfen, in diesem Fall in den zweiten Satz des 2.Streich­
quartetts; von dort aus ziehen sich die Kreise immer wei­
ter: sie erfassen den Schriftsteller Schönberg, seine Wir­
kung, sein gesellschaftliches Umfeld und mit Oscar Straus
seine Gegenfigur. Stets bleibt der Schüler im Spiel: als
Lesender von Texten, die nach dem Gedanken der Widersprüch­
lichkeit montiert sind; als Singender und Spielender dort,
w o 1s möglich und nötig ist; als einer, der stufenweise
in der Erkenntnis fortschreitet; als einer, der im Span­
nungsfeld zwischen Schönberg und Straus zur wertenden Stel­
lungnahme provoziert wird. Ich nehme mir die Freiheit,
dieses Konzept für mustergültig zu halten. Es stellt ein
Stück Schönberg auf den Prüfstand, macht ihn befrag- und
erkennbar, macht ihn auch mit Hilfe der Spielkonzepte
be-greifbar, macht ihn zu einem Fall, den es abzuwägen
und zu bewerten gilt. Wissenschaftlichkeit, so sie sich wie
hier als eine zum Anfassen darstellt, muß in der Schule
doch nicht am fremden Ort sein, wenngleich der Begriff
"Wiener Schule" in diesem Konzept nicht vorkommt. Es sei
ihm gedankt.
Bestürzend freilich ist dieses: '75 Jahre nach der Urauf­
führung des 2.Streichquartetts von Schönberg führt es end­
lich und zum ersten Male in einem Schulbuch eine didak­
tisch-methodische Existenz, die es und seinen Komponisten
unverfälscht betrifft. Michael Alt und seine Hoffnung auf
die jüngere Generation von Musikerziehern - sie hat sich
lange gedulden müssen. Das ist für die Branche der Musik­
pädagogen, mich eingeschlossen, Grund genug zur Scham,
denn wie immer auch die Geschichte weiterhin ihr Urteil
über die sogenannte Zweite Wiener Schule fällen mag und
ob dieser eine längerfristige Wirkungsgeschichte erlaubt
sei oder nicht - so ich ihr Bild, das bisher von Schul­
büchern gezeichnet wurde, beim Wort nehme, muß ich schluß­
folgern : es wurde sowohl in der Absicht als auch in der
Sache verstümmelt. Und was das Dasein der Wiener Schule
in der Schule anlangt, kann - so lange sich die Schriften
Schönbergs lesen wie ein posthumer Protest gegen die weit
später geschriebenen Schulbücher - von einem wirklichen
Dasein kaum gesprochen werden ... wurden sie doch nicht
nach der Parole "Der Widerspenstigen Zähmung" gefertigt,
sondern nach dem Motto "Wie es Euch gefällt".
136
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137
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