Leseprobe - Krammerbuch

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1 Stand der Forschung
1.1 Definition und Klassifikation
Unter dem Begriff der geistigen oder intellektuellen Behinderung werden Erscheinungsbilder zusammengefasst, die vor allem durch abweichende Entwicklungen in kognitiven sowie in sozial-adaptiven Fertigkeiten ab der frühen Kindheit charakterisiert werden. Der Begriff hebt
somit jene Merkmale hervor, die für das klinische Erscheinungsbild
prominent sind, nämlich eine deutliche Beeinträchtigung in den intellektuell-kognitiven Funktionen, im Generalisierungsvermögen, im Vorstellungsvermögen, bei der Stategieentwicklung und bei der Strategieumsetzung.
Begriff
Damit gehen deutlich niedrigere Leistungen in Aufmerksamkeits- und
Gedächtnisfunktionen einher. Durch diese Probleme wird die Ausbildung
mentaler Konzepte erschwert, anhand derer wiederholt dargebotene Informationen mit früheren Eindrücken oder Ereignissen verglichen und
identifiziert werden. Durch die Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses sowie der Entwicklung prä-verbaler Schemata fehlen wesentliche
Voraussetzungen für die Entwicklung von abstrakt-logischen bzw. komplexen kognitiven Denkfunktionen. Als weitere Merkmale lassen sich Unterschiede in den sprachlichen und motorischen Fertigkeiten sowie damit
einhergehende Kommunikations- bzw. Koordinationsstörungen feststellen (Weber & Rojahn, 2005).
In den internationalen Klassifikationsschemata ICD-10 und DSM-IV
werden unterschiedliche Grade von geistiger Behinderung (Intelligenzminderung) unterschieden (vgl. Tab. 1). Die Einteilung erfolgt nach Intelligenz- oder Entwicklungstestergebnissen. Kinder mit leichter geistiger Behinderung haben in der Regel recht gute sprachliche Fähigkeiten
und Aussichten, basale Kenntnisse im Lesen und Schreiben zu erwerben. Bei mittelgradiger Behinderung sind die kognitiven, sprachlichen
und schulischen Fertigkeiten stärker eingeschränkt, viele Fähigkeiten
der Selbstversorgung können aber sehr wohl erlernt werden.
Tabelle 1: Klassifikation der Intelligenzminderung nach ICD-10
Leicht
F 70
IQ 50–70
Mittelgradig
F 71
IQ 35–49
Schwer
F 72
IQ 20–34
Schwerst
F 73
IQ < 20
Klassifikation nach
Schweregraden
2
Kapitel 1
1.2 Epidemiologie
80.000
Schüler
Über die Gesamtzahl der Menschen mit geistiger Behinderung in
Deutschland gibt es keine zuverlässigen Angaben. Nach den Grundund Strukturdaten, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung veröffentlicht wurden, befinden sich 68.467 Schüler und Schülerinnen in Klassen für geistig Behinderte. Eine beträchtliche Zahl von
Schülern mit geistiger Behinderung und zusätzlichen (Sinnes- oder Körper-)Behinderungen wird in anderen Sonderschulformen unterrichtet,
etwa 2 000 Schüler nehmen bundesweit am gemeinsamen Unterricht in
integrativen oder inklusiven Klassen teil. Daher wird von einer Gesamtzahl von über 80 000 Schülern und Schülerinnen mit geistiger Behinderung ausgegangen (Mühl, 2006), was etwa 0.8 bis 0.9 % pro Geburtsjahrgang entspräche.
Skandinavische und nordamerikanische Studien, die z. T. auf der vollständigen Erfassung einer regionalen Population beruhen, kommen für
die schwere Intelligenzminderung zu relativ übereinstimmenden Prävalenzangaben von 0.3 bis 0.4 % je Geburtsjahrgang. Es finden sich keine
geschlechtsspezifischen oder sozialen Unterschiede, d. h. die schwere
geistige Behinderung tritt bei Jungen und Mädchen und in allen sozialen
Schichten gleichermaßen häufig auf. Die Prävalenzangaben zur leichten
Intelligenzminderung variieren stärker.
Biologische
Ursachen
Epidemiologische Studien haben auch wertvolle Erkenntnisse über die
Verteilung der Ursachen von geistiger Behinderung geliefert. Prinzipiell
ist davon auszugehen, dass bei der Ätiologie der schweren geistigen
Behinderung (IQ < 50) biologische Faktoren überwiegen. Hagberg und
Kyllerman (1983) fanden z. B. bei 55 % der Patienten, Strømme und
Hagberg (2000) bei 70 % pränatale Ursachen. Darunter sind genetische
Störungen und nicht-chromosomale Dysmorphiesyndrome am häufigsten. Unter den Patienten mit leichter geistiger Behinderung ist der Anteil perinataler Ursachen (Infektionen, Asphyxien und Hirnblutungen
nach sehr unreifer Geburt u. Ä.), vor allem aber – trotz verbesserter medizinischer Diagnostik – der Anteil an ungeklärter Ätiologie weitaus
höher. In dieser Gruppe ist auch der Einfluss ungünstiger Umweltfaktoren (z. B. mütterlicher Alkohol- oder Drogenkonsum) weitaus höher als
bei schwerer Behinderung und wird für fast 10 % der Fälle verantwortlich gemacht.
Kovariation
mit dem
Sozialstatus
Auch spielen bei der leichten Behinderung multifaktorielle polygene
Erbgänge eine größere Rolle, bei denen die modulierenden Faktoren der
Umwelt stärker wirken. So fanden Strømme und Magnus (2000) bei der
Untersuchung von Schulkindern in Norwegen ein erhöhtes Risiko für
das Auftreten einer leichten geistigen Behinderung in Familien mit niedrigem Haushaltseinkommen und Bildungsstatus, während das Auftreten
Stand der Forschung
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einer schweren Behinderung nicht mit dem Sozialstatus kovariierte. In
dieser Gruppe ist die Zahl der Jungen auch etwa im Verhältnis 1,6 : 1
höher als die der Mädchen.
1.3 Klinische Symptomatik und Psychopathologie
Unter Fachleuten besteht ein breiter Konsens, geistige Behinderung als
menschliche Existenzweise mit besonderem Förder- und Hilfebedarf
und nicht als klinische Störung oder Krankheit anzusehen, auch wenn
sie nach wie vor in den psychiatrischen Diagnosesystemen ICD-10 und
DSM-IV in dieser Form aufgeführt wird. Psychische Störungen sind
nicht zwangsläufig die Folge oder unvermeidliche Begleiterscheinungen kognitiver Defizite. Es ist aber von einer erhöhten Störanfälligkeit
infolge ungünstiger biologischer Dispositionen, beeinträchtigter Verarbeitungsprozesse, emotional belasteter Beziehungen, eingeschränkter
Entwicklungsmöglichkeiten und ungünstiger Lernerfahrungen auszugehen, die problematische Erlebens- und Verhaltensweisen entstehen lassen und aufrecht erhalten (Irblich, 2005).
Psychische Störungen und problematische Erlebens- und Verhaltensweisen können prinzipiell bei allen Schweregraden der geistigen Behinderung vorkommen. Dabei ähnelt das Störungsspektrum bei leichter
geistiger Behinderung dem bei nicht behinderten Kindern und Jugendlichen, während bei schwerer Behinderung Selbstverletzungen und Stereotypien häufig sind, die bei Kindern ohne geistige Behinderung nur
sehr selten auftreten (Dekker et al., 2002; vgl. Tab. 2)
Tabelle 2: Relativer Anteil (%) von Kindern mit auffälligen CBCL-Skalenwerten bei
leichter bzw. schwerer intellektueller Behinderung (Dekker et al., 2002)
IQ 60 bis 80
IQ 30 bis 60
Zurückgezogen
17.5
22.3
Körperliche Beschwerden
12.0
8.3
Ängstlich-depressiv
16.8
10.3
Soziale Probleme
35.5
51.7
8.8
12.3
Aufmerksamkeitsstörung
30.7
38.0
Dissoziales Verhalten
18.0
11.0
Aggressives Verhalten
21.0
19.7
Denkstörung
Anmerkung: CBCL – Child Behavior Checklist (Elternfragebogen)
Unterschiedliches
Störungsspektrum
4
Kapitel 1
Spezielle
Psychopathologie
Kinder und Jugendliche mit einer geistigen Behinderung können eine
Reihe spezieller Symptome und Verhaltensauffälligkeiten aufweisen.
Aggressives Verhalten äußert sich oftmals in Form unprovozierter, und
daher unvorhersehbarer körperlicher Angriffe auf andere Kinder, Jugendliche, Erzieher oder Eltern. Schlagen, Boxen, Beißen und Kratzen
sind typische Beispiele. Es kann sich als destruktives Verhalten auch auf
Gegenstände beziehen. Häufige Formen selbstverletzenden Verhaltens
sind Beißen der Lippen und Wangen, Finger und Hände sowie Ins-Gesicht-Schlagen, Kopfschlagen, Haarereißen, Augenbohren. Stereotypien
sind repetitive, monotone Bewegungen und Bewegungsabläufe, deren
Funktion nicht unmittelbar erkennbar ist und die automatisch bestärkt,
bzw. zwanghaft wirkt. Dazu gehört das Wedeln mit den Händen, Drehen
der Finger vor dem Gesicht, Körperschaukeln, bizarre Körperhaltungen,
Drehen, Zwirbeln oder Aufreihen von Objekten, Augenbohren, Drehen
an den Haaren, Zum-Mund-Führen von Gegenständen oder Lutschen an
den Fingern. Hyperaktives und impulsives Verhalten umfasst einen starken Bewegungsdrang, fehlende Fähigkeit zu gezielter selbstständiger Beschäftigung, überschießendes Reagieren auf bestimmte Ereignisse und
fehlende Gefahreneinschätzung. Es geht oft einher mit ausgeprägtem
Verweigerungsverhalten bei sozialen Anforderungen.
Zusätzlich bestehen zu einer Reihe von psychischen Störungen spezielle
Beziehungen (vgl. Steinhausen 2003, 2006). Unter den tiefgreifenden
Entwicklungssstörungen ist vor allem die Koexistenz mit dem frühkindlichen Autismus zu nennen, zumal bis zu drei Viertel aller Kinder mit
einem frühkindlichen Autismus geistig behindert sind. Wenngleich bei
der Definition Hyperkinetischer Störungen (bzw. ADHS) von einer normalen Intelligenz ausgegangen wird, sind die Symptome von Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsdefizit und Impulsivität bei geistiger Behinderung häufig und wurden in der alten Literatur in dieser spezifischen
Beziehung vor allem zur schweren geistigen Behinderung abgrenzend
und treffsicher mit dem Begriff der Erethie bezeichnet. Die ICD-10
berücksichtigt eine Hyperkinetische Störung mit Intelligenzminderung
und Bewegungsstereotypien (F84.4), für die eingeräumt wird, dass sie
schlecht definiert und hinsichtlich der nosologischen Validität unsicher
sei. Gleichwohl werden damit charakteristische Symptome bei mittelgradiger und schwerer geistiger Behinderung zu einem psychopathologischen Syndrom zusammengefasst.
Die Ausscheidungsstörungen Enuresis und Enkopresis kommen bei
Kindern mit geistiger Behinderung häufiger als bei normal intelligenten
Kindern vor. Seltene Formen der Essstörungen wie Pica und Rumination
sind kaum bei normal intelligenten Kindern zu beobachten und Polydipsie und Polyphagie werden in der Regel durch die auch für die schwere
geistige Behinderung verursachende Hirnschädigung vermittelt. Die Diagnose von schizophrenen Psychosen kann speziell bei schwerer geistiger Behinderung Probleme in der Abgrenzung aufwerfen. Ebenso ist die
Stand der Forschung
5
Diagnostik schwerer depressiver Episoden bei mittelgradiger und schwerer geistiger Behinderung durch den beeinträchtigten Rapport zusätzlich
kompliziert. Atypische psychotiforme Bilder können im Zusammenhang mit neurodegenerativen Störungen beobachtet werden, die in der
ICD-10 psychopathologisch am ehesten durch die Kategorie der desintegrativen Störungen des Kindesalters (F84.3) erfasst werden.
Die ICD-10 bietet innerhalb der Kategorie „Intelligenzminderung“ eine
grobe Klassifikation für Verhaltensstörungen an, indem keine oder
geringfügige Verhaltensstörungen z. B. mit F70.0, deutliche Verhaltensstörungen mit F70.1, nicht näher bezeichnete Verhaltensstörungen mit
F70.9 kodiert werden. Zusätzliche Diagnosen aus anderen Abschnitten,
z. B. die Kodierung von Verhaltens- und emotionalen Störungen des Kindes- und Jugendalters unter F90 bis F98 werden nicht ausgeschlossen.
Verhaltensstörungen
Wie in anderen Bereichen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und klinischen Kinderpsychologie wurden auch im Bereich der geistigen Behinderung zahlreiche Studien zur Prävalenz von psychischen Störungen bei
Kindern und Jugendlichen durchgeführt. Eine aktuelle Übersicht geben
Whitaker und Read (2006). Gillberg et al. (1986) stellten z. B. in einer
repräsentativen Stichprobe von 149 Jugendlichen im Alter zwischen 13
und 17 Jahren bei 64 % der Jugendlichen mit schwerer intellektueller
Behinderung (IQ < 50) und 57 % der Jugendlichen mit leichter intellektueller Behinderung (IQ 50 bis 70) die Diagnose einer psychischen Störung. Strømme und Diseth (2000) untersuchten 178 Kinder in Norwegen
und fanden eine oder mehrere psychische Störungen bei 42 % der Kinder mit schwerer und 33 % der Kinder mit leichter intellektueller Behinderung. Die häufigsten Diagnosen waren Hyperaktivität (16 %), Störungen aus dem autistischen Spektrum (8 %) und Stereotypien (5.5 %).
3- bis 4-mal
höhere Rate
Emerson (2003a) kam in einer repräsentativen Untersuchung an 264
Kindern zwischen 5 und 15 Jahren in England zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Eine psychiatrische Diagnose wurde bei 39 % gestellt. Die
häufigsten Störungsbilder waren oppositionelle und soziale Verhaltensstörungen (13.3 %), emotionale Störungen (9.5 %), hyperkinetische Störungen (8.7 %), tiefgreifende Entwicklungsstörungen (Autismusspektrum,
8.7 %) und verschiedene Angststörungen (8.7 %). Depressive Störungen,
Essstörungen oder psychotische Störungen wurden statistisch nicht häufiger diagnostiziert als in der Normalpopulation. Dekker und Koot
2003a) fanden in den Niederlanden unter 474 Kindern (7 bis 20 Jahre,
standardisiertes kinderpsychiatrisches Interview) bei 14.8 % eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung und bei 16.9 % eine Störung des Sozialverhaltens. In dieser Stichprobe ergaben sich zusätzlich
erhöhte Raten für Angststörungen (21.9 %) und affektive Störungen
(4.4 %). Die aktuellen Studien lassen sich zusammenfassen zu der
Schlussfolgerung, dass die Rate psychischer Störungen durchweg um
das 3- bis 4-fache höher ist als in der Normalpopulation. Studien, bei
6
Kapitel 1
denen die Prävalenz mittels psychopathologischer Fragebögen beurteilt
wird, kommen zu ähnlichen Ergebnissen (vgl. Tab. 3).
Tabelle 3: Studien zur Prävalenz von psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung mit Verhaltensfragebögen
Verfasser
Relativer Anteil
behandlungsbedürftiger
Kinder
Methode
N
Dekker et al. (2002)
CBCL
1041
50 %
Koskentausta et al.
(2004)
CBCL
90
43 %
Baker et al. (2002a)
CBCL
225
26.1 %
Einfeld und Tonge
(1996)
DBC
428
40.7 %
Cormack et al. (2000)
DBC
123
50.4 %
Anmerkung: CBCL = Child Behavior Checklist, DBC = Developmental Behavior Checklist
Psychopathologische
Vulnerabilität
Für die erhöhte psychopathologische Vulnerabilität sind verschiedene
Erklärungsansätze vorgeschlagen worden (Dykens 2000). Persönlichkeitsbezogene Ansätze stellen das weniger differenzierte Selbstkonzept,
Versagenserlebnisse in der Lerngeschichte, Außenorientierung bei der
Problembewältigung und abweichende soziale Stile mit sowohl mehr
Enthemmung als auch mehr Isolation in den Vordergrund. Zu den familiären Faktoren werden Belastung, Minderbegabung und psychische
Störungen in der Familie gerechnet. Auch soziale Faktoren leisten über
das erhöhte Misshandlungs- und Missbrauchsrisiko sowie Ablehnung
und Stigma bedeutsame Beiträge. Schließlich können biologische Faktoren wie begleitende Epilepsien, teratogene Schäden (z. B. bei den
Fetalen Alkohol-Spektrumsstörungen) oder Verhaltensphänotypen wirksam sein, bei denen eine spezifische Form einer genetisch vermittelten
psychopathologischen Vulnerabilität angenommen wird.
Assoziation
mit Elternbelastung
Emotionale Störungen und Verhaltensauffälligkeiten treten bereits bei
2- bis 4-jährigen Kindern mit geistiger Behinderung wesentlich häufiger auf als bei nicht behinderten Kindern. Sie bestimmen in höherem
Maße die elterliche Belastung und die Beziehungsqualität in der Familie als die Diagnose der Behinderung selbst. Es kommt zu Wechselwirkungen; die Probleme verfestigen und verschärfen sich insbesondere bei
den Kindern, deren Eltern sich hoch belastet fühlen (Baker et al., 2002a,
2003; Herring et al., 2006).
Risikofaktoren
Einzelne Autoren haben sich mit der Identifikation von Risikofaktoren
für die Ausbildung psychischer Störungen beschäftigt. Die einzelnen
Faktoren haben offenbar je nach Schweregrad der Behinderung unterschiedliche Relevanz. Bei schwerer Behinderung scheinen die sozioöko-
Stand der Forschung
7
nomischen Bedingungen, das Geschlecht und Alter der Kinder keinen
Einfluss zu haben (Chadwick et al., 2000). In der Gesamtgruppe von
Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung treten psychische
Auffälligkeiten mit höherer Wahrscheinlichkeit auf bei Jungen, Jugendlichen und ungünstigen Familienumständen (niedriger sozialer Status,
Armut, alleinerziehende Eltern, psychiatrische Belastung eines Elternteils). Kein systematischer Unterschied fand sich zwischen Kindern, die
integrative Schulen besuchen, und solchen aus Förderzentren (Emerson,
2003b; Dekker & Koot, 2003b). McClintock et al. (2003) analysierten die
Risikofaktoren für verschiedene Störungsbilder. Aggressive und destruktive Verhaltensweisen waren besonders häufig bei Kindern mit zusätzlichen autistischen Merkmalen, selbstverletzende Verhaltensweisen
bei Kindern mit geringen rezeptiven und expressiven Kommunikationsfähigkeiten.
1.4 Verhaltensphänotypen
Neben dem Schweregrad der intellektuellen und kommunikativen Behinderung stellen genetische Dispositionen und teratogene Störungen
bei spezifischen Syndromen ein erhöhtes Risiko für die Ausbildung psychischer Störungen dar (u. a. Dykens & Hodapp, 2001; Sarimski, 2003;
Steinhausen et al., 2002, 2003, 2004). Bei ihnen gehört eine Disposition
zur Ausbildung bestimmter emotionaler oder sozialer Auffälligkeiten zu
ihrem syndromspezifischen Verhaltensphänotyp. Der Begriff des Verhaltensphänotyps meint eine Kombination von Entwicklungs- und Verhaltensmerkmalen, die bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit
einem bestimmten genetischen Syndrom häufiger oder stärker ausgeprägt
sind als bei Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen mit einer Behinderung anderer Ursache (Dykens, 1995). Damit ist allerdings nicht postuliert, dass syndromspezifische Entwicklungs- und Verhaltensmerkmale
für jedes Kind mit diesem Syndrom in gleichem Maße und in jeder Entwicklungsstufe zutreffen müssen. In der Regel handelt es sich um eine
partielle Spezifität, d. h. bestimmte Symptome treten bei einem definierten Syndrom häufiger auf als bei Kindern mit intellektueller Behinderung im Allgemeinen, jedoch nicht ausschließlich bei Kindern mit dieser Anlage.
Konzept der
Verhaltensphänotypen
Zum Verhaltensphänotyp von Kindern mit Fragilem-X-Syndrom gehört
eine schwere Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung, soziale Scheu
und stereotype sowie selbstverletzende Verhaltensweisen (Wedeln mit
den Armen, Handbeißen; u. a. Backes et al., 2000; Hatton et al., 2002;
Steinhausen et al., 2002). Bei Kindern mit Prader-Willi-Syndrom stehen
zwanghafte Verhaltensweisen, Wutanfälle und selbstverletzendes Verhalten („skin-picking“; u. a. Dykens et al., 1996; Einfeld et al., 1999;
Sarimski, 2002; Steinhausen et al., 2002, 2004), bei Kindern mit Willi-
Syndromspezifische
Merkmale
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Kapitel 1
ams-Beuren-Syndrom spezifische Ängste und eine allgemeine Überbesorgtheit (Dykens et al., 2003) im Vordergrund. Kinder mit Cri-du-ChatSyndrom weisen eine besondere Irritabilität und Neigung zu stereotypen
und selbstverletzenden Verhaltensweisen auf (Ross Collins & Cornish,
2002). Beim Smith-Magenis-Syndrom (SMS) gehören Wutanfälle, Selbstverletzungen und schwere Schlafstörungen zum Verhaltensbild (Clarke
& Boer, 1998; Sarimski, 2004). Unterschiedliche selbstverletzende Verhaltensweisen gehören zu den Merkmalen des Verhaltensphänotyps bei
bestimmten Syndromen, z. B. die Neigung zum Aufbeißen der Lippen
und Finger (zusammen mit Kopfschlagen, Einklemmen der Arme, Augenbohren) bei Patienten mit Lesch-Nyhan-Syndrom, Beißen beim Cornelia-de-Lange-Syndrom (Berney et al., 1999) und Nägelreißen beim
SMS (Dykens & Smith, 1999). Bei Fetalen Alkohol Spektrumsstörungen sind Leitsymptome der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) charakteristisch (Steinhausen et al., 1993, 2002, 2003).
Das Verhalten bei Mädchen mit Rett-Syndrom ist durch extreme Stereotypien (Handbewegungen, Atemregulationsstörungen, Bruxismus)
geprägt (Mount et al., 2002; Sarimski, 2003). Kinder mit AngelmanSyndrom weisen eine sehr hohe Rate von Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsproblemen sowie Schlafstörungen auf (Clarke & Marston,
2000). Zwanghafte Verhaltensweisen sind häufig bei Kindern mit Cornelia-de-Lange-Syndrom (Hyman et al., 2002).
Erhöhtes
Risiko
psychotischer
Erkrankungen
Bei einzelnen Syndromen muss auch mit einem höheren Risiko für die
Ausbildung von psychotischen Störungen im Jugendalter gerechnet werden. Dies gilt für Jugendliche und Erwachsene mit Prader-Willi-Syndrom (Clarke, 1998) und einer Deletion 22q11 (Briegel & Cohen, 2004).
Depressionen treten gehäuft bei Jugendlichen mit Down-Syndrom auf
(Collacott et al., 1992). Die Zusammenhänge zwischen genetischer Disposition und Ausbildung dieser Erkrankungen sind noch nicht vollständig aufgeklärt. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass die Rate schwerer
affektiver und psychotischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen
mit intellektueller Behinderung nicht generell erhöht ist.
1.5 Neuropsychologische Aspekte
Differenzierung
neuropsychologischer
Funktionen
Forschungsarbeiten zu neuropsychologischen Aspekten versuchen, Kerndefizite durch geeignete Testverfahren zu identifizieren und ihre Zusammenhänge mit den Befunden in neurophysiologischen und bildgebenden Verfahren zu analysieren. Während sich dieser Ansatz bei Kindern
mit Lernbehinderungen und autistischen Störungen als sehr fruchtbar
erwiesen hat, steckt er bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung noch in den Anfängen. Zu den wichtigen Funktionen, die
durch eine neuropsychologische Diagnostik differenziert werden sollen,
gehören:
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