Wie viel Gleichheit ist gerecht? Gastvorlesung an der Ludwig Maximilians Universität München von Prof. Markus Vogt Gliederung Einführung: Leitthesen, Gliederung und Aktualität des Themas 1 Der normative Sinn von Gleichheit jenseits von Nivellierung 1.1 Logische Grundlagen: Gleichheit und Differenz sind komplementär 1.2 Menschenwürde: tertium comparationis der Rechtsgleichheit im Grundgesetz 1.3 Sozialgeschichte der Durchsetzung und Kritik von Gleichheit 1.4 Der normative Sinn von Gleichheit: Ermöglichung von Interaktion 2 Gerechtigkeit als interaktionsspezifische Gleichheit 2.1 Methodische Vorüberlegung: Was bedeutet "proportionale Gleichheit" unter den Bedingungen der Allgemeinen Menschenrechte? 2.2 Legalgerechtigkeit: Streitschlichtung durch Rechtsgleichheit 2.3 Verteilungsgerechtigkeit: Gleichheitsfürsorge oder Freiheitsfürsorge? 2.4 Tauschgerechtigkeit: Wettbewerb als Methode der Chancengleichheit 3 Komplexe Gleichheit: Gerechtigkeit durch Differenz 3.1 Die dunkle Metaphysik des verdienstethischen Egalitarismus 3.2 Komplexe Gleichheit durch Pluralität güterspezifischer Verteilungsregeln 3.3 "Gerechtigkeit in Güte": Berücksichtigung des individuell Besonderen 3.4 Theologischer Verzicht auf die Rechtfertigung von Ungleichheit und seine ethischen Konsequenzen Schluss: Grenzen und Kriterien differenzbewusster Gleichheit „Wie viel Gleichheit ist gerecht?“ Leitthesen zum Vortrag 1. Der normative Sinn der Gleichheit jenseits von Nivellierung: Gleichheit ist das Resultat des Vergleich von Verschiedenem anhand eines bestimmten Aspektes (tertium comparationis). Sie schließt Differenz nicht aus, sondern setzt sie komplementär voraus. Von daher ist auch rechtliche und soziale Gleichheit nicht als Nivellierung zu verstehen, sondern als Ermöglichung von Beziehung durch interaktionsspezifische Formen von Gleichheit. In der Sozialgeschichte der Gleichheitsidee zeigt sich, dass konstruktive Zuordnungen zu Freiheit nur auf der Basis eines solchermaßen differenzierten Gleichheitsbegriffs gelingen. 2. Gerechtigkeit als interaktionsspezifische Gleichheit: Anhand einer Unterscheidung der je spezifischen Gleichheit in den drei grundlegenden Interaktionsformen Aggression/ Streit, Fürsorge/ Hilfe und Vorteilsstreben/ Nutzen lassen sich die drei Formen der klassischen Gerechtigkeit neu zuordnen und unter den Bedingungen moderner Gesellschaft anwenden. Die Kriterien des Gerechten sind dabei: 1. für Konfliktbewältigung die formale Gleichheit vor dem Gesetz als; 2. für solidarische Hilfe/ Verteilung die Gleichheit der Menschen als Bedürfniswesen; 3. für wechselseitigen Nutzen die Gleichwertigkeit der Güter und Dienstleistungen, die getauscht werden. 3. Gerechtigkeit als komplexe Gleichheit: Aufgrund der Pluralität von Güterarten, Konfliktformen und gesellschaftlichen Bedingungen gibt es kein einheitliches Maß des Gerechten. Vielmehr ermöglicht gerade die Achtung der Grenzen zwischen unterschiedlichen Interaktionsformen und gesellschaftlichen Subsystemen (z.B. Markt, Wissenschaft, Politik) die Abwehr von Monopolstellungen zugunsten einer Vielfalt von Chancen als „komplexe Gleichheit“. Diese bietet Alternativen zur „einfachen Gleichheit“ verdienstethischer Gerechtigkeitskonzepte, die zu einseitigen Dominanzen führen und ist besser mit der moralischen Selbsterfahrung sowie dem christlichen Verständnis personaler Einheit und Gnade vereinbar. Vogt – Wieviel Gleichheit ist gerecht? 1 Der normative Sinn von Gleichheit 1.1 Logische Grundlagen: Gleichheit und Differenz Gleichheit lässt Differenzen zu. Sie ist das Ergebnis des Vergleichs von Verschiedenem mittels eines „tertium comparationis“. Gleichheit und Differenz sind komplementär. 1.2 Menschenrechtliche Begründung von Gleichheit Menschenwürde ist das tertium comparationis der Rechtsgleichheit im Grundgesetz (Art. 3,1). Willkürverbot: Gleiche(s) ist gleich und Ungleiche(s) ungleich zu behandeln. Differenzbewusste Gleichheit 1 Vogt – Wieviel Gleichheit ist gerecht? 2 1.3 Sozialgeschichte der Gleichheit Theologische Fundamente: - Gleichheit als Ebenbild Gottes - „Gleichheit in Christus: Nicht mehr Knecht oder Freier, nicht mehr Mann oder Frau ..“ (Gal 3,28) - Soziale Gleichheit („Urkommunismus“, Armutsideal, Reformation ..) Von der theologisch-anthropologisch begründeten Tugend zur politischen und ökonomischen Funktionalisierung. Kritik der Gleichheit: „Die Menschen lieben die Gleichheit mehr als die Freiheit“ (Tocqueville). Unterschiedliche Akzente im Gleichheitsverständnis als Charakteristikum der Gesellschaftsmodelle in den USA und in Europa. 1.4 Der normative Sinn von Gleichheit Der normative Sinn von Gleichheit: nicht Nivellierung nach unten, sondern Ermöglichung von Interaktion und Gemeinschaft. Vogt – Wieviel Gleichheit ist gerecht? 3 2 Gerechtigkeit durch interaktionsspezifische Gleichheit 2.1 Methodische Grundlagen: Welche Gleichheit? „Dass Gerechtigkeit ein Gleiches sei, geben alle zu.“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik) Die Unterscheidung zwischen numerischer Gleichheit (a = b) und proportionaler Gleichheit (a : b wie c : d) Relektüre der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie im Anspruch der allgemeinen Menschenrechte: - Jedem das Seine? - keine statusbezogene Differenz von Proportionalität - Jedem das Gleiche? - Differenzierung des Vergleichspunktes nach unterschiedlichen Handlungsarten Vogt – Wieviel Gleichheit ist gerecht? 2.2 Legalgerechtigkeit: Streitschlichtung durch Rechtsgleichheit Die Zähmung der Aggression durch Rechtsgleichheit Legalität als allgemeine Grundlage der Gerechtigkeit Die Stärkung des Völkerrechts als dringendstes Erfordernis globaler Gerechtigkeit 4 Vogt – Wieviel Gleichheit ist gerecht? 5 2.3 Verteilungsgerechtigkeit: Gleichheitsfürsorge oder Freiheitsfürsorge? Überwindung des leeren Formalismus von Rechtsgleichheit durch Anerkennung der Gleichheit als Bedürfniswesen. Verteilungsgerechtigkeit als politische Form der Nächstenliebe Der Vorrang von Bedürfnissen der Armen ergibt sich nicht aus Vergleich, sondern aus der besonderen Dringlichkeit unerfüllter Bedürfnisse. Daseins-, Freiheits- und Partizipationsfürsorge als kulturspezifisches Maß gerechter Umverteilung Konsequenzen für den Strukturaufbau eines subsidiären Sozialstaates: - Risikoausgleich und Schutz vor kollektiver Selbstschädigung - Suffizienzorientierung - Empowerment statt Betreuung - Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik als Kernaufgaben Vogt – Wieviel Gleichheit ist gerecht? 6 2.4 Tauschgerechtigkeit: Wettbewerb als Methode der Chancengleichheit Formalisierung der Gerechtigkeit als Chancengleichheit: normative Leitidee des Liberalismus („Die Gleichheit der Tellerwäscher“) Soziale Funktionen des Wettbewerbs als - Indirekte Kooperation - Entdeckungsverfahren und dezentrale Handlungskoordination - Leistungsanreiz - anonyme Machtkontrolle - Allokationsoptimierung Grenzen des Wettbewerbs aufgrund der Asymmetrie von Macht und Information Konsequenzen eines einseitigen Gleichheitsverständnisses: Die Welt ist zugleich einheitlicher und zerrissener geworden. Vogt – Wieviel Gleichheit ist gerecht? 7 3. Gerechtigkeit als komplexe Gleichheit 3.1 Die dunkle Metaphysik des verdienstethischen Egalitarismus „Keiner soll wegen Dingen, für die er nichts kann, benachteiligt werden“ (Rawls) Die „Lotterie der Natur“ verteilt ihre Gaben ungleich, ist aber moralisch nicht belangbar. Die Vorläufigkeit und Unschärfe jeder Unterscheidung zwischen Verdienst und sozial/ biologisch Zugefallenem Der hohe Preis der „Kontingenzflucht“ im Gerechtigkeitskonzept von Rawls: Dekonstruktion personaler Einheit Vogt – Wieviel Gleichheit ist gerecht? 3.2 Komplexe Gleichheit durch Pluralität Einfache Gleichheit tendiert zu Monopolbildung und Tyrannei. Die „dünne Moral“ universaler Gleichheitsversprechen: „global reden – banal denken – fatal handeln.“ Gerechtigkeit als Kunst der Grenzziehung zwischen gesellschaftlichen Sphären und Interaktionsformen Vielfalt von Verteilungsregeln ermöglicht „komplexe Gleichheit“ kontextspezifischer Chancen. 8 Vogt – Wieviel Gleichheit ist gerecht? 9 3.3 "Gerechtigkeit in Güte": Raum für die Berücksichtigung des Individuellen Gerechtigkeit ist ein dynamisches Prinzip, das mehr fordert, als Legalität und Unparteilichkeit. Epikie: „Gerechtigkeit in Güte“ als kontext- und personenbezogenen Abwägung 3.4 Theologischer Verzicht auf die Rechtfertigung von Ungleichheit und ihre ethischen Konsequenzen Biblische Gleichnisse: Kritik der mit Ungleichheit verbundenen Diskriminierung Das asiatische Modell: Rechtfertigung von Ungleichheit durch die Annahme vorgeburtlicher Moralleistungen Das Christliche Modell: die Verteilung von Gnade und Leid bleibt das Geheimnis Gottes. Ethische Konsequenz: Ungleichheit verpflichtet den Starken, für den Schwachen einzustehen. Vogt – Wieviel Gleichheit ist gerecht? 10 Schluss: Drei Thesen zu Grenzen und Kriterien differenzbewusster Gleichheit 1. Gleichheit ist kein Wert, sondern sie hat einen Wert. 2. Interaktionsspezifisch differenzierte Gleichheit ist dennoch konstitutiv für Verständnis und Kriterien der Gerechtigkeit. 3. Wer streng zwischen Verdienst und sozial oder biologisch Zugefallenem trennt, löst die Einheit der Person auf.