Christina Kreuzwieser Der Begriff natura und seine ethische Relevanz in Senecas Prosaschriften V& R unipress Mainz University Press ® MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen www.fsc.org FSC® C083411 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0500-8 ISBN 978-3-8470-0500-1 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0500-5 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Veröffentlichungen der Mainz University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Ó 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Design by Davy James Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Für Christian Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragestellung und Forschungsüberblick Methode und Aufbau . . . . . . . . . . . Bemerkungen zur Zitation . . . . . . . . . . . . . . . . 13 13 21 23 Kapitel 1: Seneca über die Bedeutung der Naturforschung für die Ethik Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Sind Natur und Gott identisch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Erkenntnis Gottes als Ziel der Naturforschung . . . . . . . . 1.3 Senecas Beschreibung des ethischen Ziels als Rückkehr der Seele zu Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Die stoische Ursachen-Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Seneca über Körper und Seele des Menschen . . . . . . . . 1.3.3 Welche Art von Wissen geht nach Seneca aus der contemplatio hervor? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Senecas Bestimmungen der menschlichen ratio . . . . . . . . . . 1.4.1 Die ratio als Gott im Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Die Vernunft des Nicht-Weisen . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit und überleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 27 30 32 . . . 37 37 39 . . . . . 42 46 46 53 56 . . . . . 61 61 64 64 68 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil I: Der Senecanische Naturbegriff und seine Grundlagen Kapitel 2: Einflüsse der philosophischen Tradition auf Senecas Naturbegriff: Die quattuor-personae-Theorie in Cic. off. 1, 107–116 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der soziopolitische Kontext der quattuor-personae-Theorie . 2.1.1 Überblick über die quattuor-personae-Theorie . . . . . 2.1.2 Der Begriff persona . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt 2.1.3 Der Einzelne als Angehöriger der politischen Elite . . . . . . 2.1.4 Die Beziehung zwischen den persönlichen Eigenschaften und der (politischen) Karriere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Systematischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Das Verhältnis zwischen der ersten und zweiten persona . . . 2.2.2 Die Darstellung von Catos Selbsttötung (Cic. off. 1, 111f.) – Beleg für einen ethischen Partikularismus? . . . . . . . . . . 2.2.3 Textanalyse von Cic. off. 1, 111f. . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Die biographische Dimension konsistenten Handelns . . . . . 2.2.5 Exkurs: Odysseus, Aias und die Schlacht bei Thapsus . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 3: Senecas Begriff der menschlichen natura . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Das artspezifische Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Die begriffliche Bestimmung des Menschen . . . . . . . . . . 3.1.2 Die begriffliche Bestimmung des guten Handelns . . . . . . . Exkurs und überleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die natura des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die unterschiedlichen ›Startbedingungen‹ für die sittliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die natura des Menschen als sein Temperament . . . . . . . . 3.2.3 Der Zusammenhang zwischen der natura des Einzelnen und dessen Lebensweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Der Mensch als sein eigenes Kunstwerk? . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 74 75 75 78 80 87 89 92 95 95 96 96 101 104 106 106 112 117 120 124 Teil II: Die Bedeutung der menschlichen natura für die Erziehung und die sittliche Entwicklung Kapitel 4: Der Zusammenhang von sozialer Rolle, sittlicher Entwicklung und menschlicher Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Nicht-gelungene soziale Interaktion als fremdbestimmtes Handeln . 4.2 Magnam rem puta unum hominem agere – Rollenhandeln und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Identität als normativer Begriff der stoischen Ethik . . . . . . 4.2.2 Nicht-gelungenes Rollenhandeln durch Änderung des Wollens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Das Verhältnis der Rollen zueinander . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Identität als dynamische Größe . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 127 130 134 137 139 141 143 9 Inhalt 4.2.5 Die Bedeutung der natura des Einzelnen für dessen Identität . 4.3 Absolute und relative Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Das Erkennen der ›sittlich guten Identität‹ . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Anleitungen zu einem Leben nach dem eigenen Gesetz . . . . . . . 4.5.1 Die biographische Dimension der ›sittlich guten Identität‹ . . 145 148 151 154 156 Kapitel 5: Exempla als Mittel ethischer Unterweisung . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Literarische exempla in epist. 120 und 104 . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Senecas Theorie der exempla . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Die Darstellung der historischen exempla Horatius Cocles und Fabricius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Die Darstellung sittlich guten Handelns . . . . . . . . . . . . 5.1.3.1 Das exemplum des Weisen (epist. 120) . . . . . . . . . 5.1.3.2 Sokrates und Cato als exempla (epist. 104) . . . . . . . 5.2 Exempla und Authentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Die richtige imitatio von Vorbildern . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Das Bienengleichnis und das Verdauungsgleichnis in epist. 84 5.3.2 Die Person des imitator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.1 Der Vergleich des imitator mit einer Ahnenmaske (imago) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.2 Dem Vorbild die ›eigene Form eindrücken‹ . . . . . . 159 159 161 161 Kapitel 6: Die Methode der Selbstprüfung in Sen. dial. 5 (= De ira 3), 36 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Die Selbstprüfung als Dialog der ratio mit sich selbst 6.2 Der Prüfende als ›Augenzeuge‹ . . . . . . . . . . . . 6.3 Die Selbstprüfung als ›Blick in den Spiegel‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 166 166 170 172 177 177 182 184 185 . . . . . 189 189 190 193 199 . . 205 205 . 208 . . . 208 212 217 Teil III: Die Beziehung zwischen Form und Inhalt in den Epistulae morales Kapitel 7: Senecas Funktionalisierung des Briefes für die Erziehung . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Der Zusammenhang von Freundschaft, Anwesenheit und Authentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Die Bedeutung der physischen Anwesenheit von Lehrer und Schüler im contubernium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Anwesenheit trotz räumlicher Distanz . . . . . . . . . . . . 7.1.3 Entindividualisierung der Freundschaft? . . . . . . . . . . . 10 Inhalt . . 217 . . . . 219 220 . . . . . . . . . . 223 225 228 231 235 Zusammenfassung und Auswertung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . 243 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 7.1.3.1 Die beiden Formen der societas . . . . . . . . . . . 7.1.3.2 Die Beschreibung der Freundschaft als engere Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.4 Die literarische Funktion des Adressaten Lucilius . . . . . 7.2 Die Funktion der Selbstzeugnisse für die Fremd- und Selbsterziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Die Funktion der Selbstzeugnisse für die Fremderziehung 7.2.2 Selbstprüfung ›vor den Augen‹ des anderen . . . . . . . . 7.2.2.1 Der Gott im Inneren des Menschen . . . . . . . . . 7.2.2.2 Die Spiegelfunktion des Briefpartners . . . . . . . Teil IV: Zusammenfassung Vorwort Beim vorliegenden Buch handelt es sich um die überarbeitete Version meiner Dissertation, die unter demselben Titel im Wintersemester 2013/14 von der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Mein Dank gilt an erster Stelle meiner Doktormutter, Prof. Dr. Therese Fuhrer, die diese Arbeit mit größter Sorgfalt betreut und mir in zahlreichen Gesprächen wertvolle Hinweise und konstruktive Rückmeldungen gegeben hat. Auch bei meinem Zweitkorrektor, Herrn Prof. Dr. Christoph Horn, möchte ich mich sehr herzlich bedanken. Unsere oftmals kontroversen Diskussionen über das Senecanische Philosophieren haben sich als ein fruchtbarer Nährboden für die vorliegende Arbeit erwiesen. Herrn Prof. Dr. Bernhard Uhde, der mein Studium durch die Vermittlung seines umfassenden Wissens sowie seine unkonventionelle Art in hohem Maße bereichert und nachhaltig geprägt hat, sei an dieser Stelle mein großer Dank ausgesprochen. Anna-Lena Stock hat mit ihrer gewohnten Umsicht und Genauigkeit die Arbeit korrekturgelesen, wofür ich ihr großen Dank schulde. Mein Dank gilt der Mainz University Press bei V& R unipress für die Aufnahme der Arbeit sowie die reibungslose Zusammenarbeit während der Drucklegung; insbesondere bei Herrn Prof. Dr. Thomas Hieke bedanke ich mich in diesem Zusammenhang herzlich. Mein besonders herzlicher Dank gilt auch meinen Freunden Tobias Uhle und Stefan Merkle. Danke für die vielen schönen Stunden und Euren Beistand in schwierigen Zeiten! Auch meinen lieben Eltern danke ich von Herzen für ihre Unterstützung und dafür, dass ich mich immer auf sie verlassen konnte. Mein größter Dank gilt jedoch meinem Mann Christian. Ohne ihn hätte ich den Weg, den ich gegangen bin, nicht gehen können. Ihm ist dieses Buch gewidmet. Mainz im August 2015 Einleitung Fragestellung und Forschungsüberblick In der vorliegenden Arbeit geht es um die Frage, welchen Begriff von natura Seneca in seinen Prosaschriften verwendet und welche Relevanz dieser für seine Ethik besitzt. Besonders die Frage nach dem Begriff der natura des Menschen und dessen Bedeutung für die praktische Ethik stehen im Zentrum der Untersuchung. Diese Studie ist allerdings nicht primär philosophisch ausgerichtet, d. h. es geht in erster Linie nicht darum, den Zusammenhang von Naturbegriff und praktischer Ethik unter philosophisch-systematischen Gesichtspunkten darzustellen; ebenso wenig steht die Frage nach der philosophiegeschichtlichen Einordnung von Senecas Aussagen im Vordergrund. Seine Prosaschriften, von denen besonders die Epistulae morales eine eingehendere Behandlung erfahren, werden als pädagogische Werke gelesen. Seneca selbst tritt in seinen ethischen Schriften in der Rolle des Pädagogen auf; er stellt die praktische Seite der stoischen Philosophie in den Vordergrund und wendet sich an den in der Philosophie fortschreitenden Menschen (proficiens), dessen Fortschritt nicht in einem bloßen Zugewinn an ›theoretischem‹ Wissen, sondern in erster Linie in der Verbesserung seines konkreten alltäglichen Handelns besteht und in diesem erkennbar sein muss. Auf den sittlichen Fortschritt, wie Seneca ihn darstellt, sowie auf die praktische Ausrichtung seiner erzieherischen Bemühungen legt auch die vorliegende Studie den Fokus. Sie nimmt also nicht in erster Linie das ethische Ziel, sondern den Weg, auf dem sich der proficiens dem Ziel anzunähern versucht, in den Blick. Die Arbeit beabsichtigt aufzuzeigen, dass Seneca mit dem Begriff natura nicht nur die Vernunft als die Gattungsnatur des Menschen bezeichnet, sondern darunter auch die nicht-rationalen, jedem Einzelnen gegebenen Anlagen und 14 Einleitung Eigenschaften versteht, durch die er sich von anderen Menschen unterscheidet. In der Forschung ist hier bisweilen von der individuellen natura die Rede1. Es soll also nachgewiesen werden, dass Seneca gerade aufgrund seiner Konzentration auf die praktische Ethik vom Menschen nicht nur als Gattungswesen und damit in seiner allgemeinsten Bestimmung spricht, sondern ihn auch als besonderen und einzelnen Menschen in den Blick nimmt. In diesem Zusammenhang soll herausgearbeitet werden, welche moralische Bedeutung er der nicht-rationalen natura beimisst. Insbesondere die Frage, inwiefern diese neben der ratio als der menschlichen Gattungsnatur den sittlichen Fortschritt und auch das sittliche Handeln des sapiens, der das ethische Ziel erreicht hat, bestimmt, steht im Zentrum der Untersuchung. Mit dieser Fragestellung reagiert die vorliegende Arbeit einerseits auf Forschungsbeiträge, welche die nicht-rationale natura als für die moralische Entwicklung irrelevant ansehen und in Senecas Philosophica keinerlei Neuerung gegenüber der philosophischen Tradition erkennen wollen. Andererseits knüpft sie auch an die entgegengesetzte Position an, der zufolge in Senecas philosophischen Schriften vom Menschen als Individuum die Rede sei und sich seine Aussagen mit neuzeitlichen Konzepten von Individualität (weitgehend) deckten. In der nun folgenden Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Forschungspositionen soll die Fragestellung meiner Studie weiter präzisiert werden. I. Hadot befasst sich in ihrer Dissertation mit Senecas Naturbegriff und bestimmt diesen vor dem Hintergrund der stoischen Philosophie. Sie hebt hervor, dass schon die Alte Stoa unter der natura des Menschen zweierlei verstanden habe, und zwar »seine ›Logos-Natur‹, aus der sich sein Normbewusstsein und die daraus resultierende angeborene Tendenz zur Wertung herleite, und seine individuelle Natur«2. Mit Blick auf die Bedeutung dieser individuellen Natur kommt sie zu dem Schluss: »Das Individuelle ist also wohl erkannt, nur hat es sich der überindividuellen Norm zu beugen, die nicht zu Gunsten des Individuellen verletzt werden darf«3. Den individuellen Unterschieden komme, so Hadot, ohnehin wenig Bedeutung für die Seelenleitung zu; mit fortschreitendem Unterricht trete das individuelle Moment zu Gunsten der überindividuellen Norm (universa natura) zurück. Auch bei ungünstigen Anlagen könne der Mensch das ethische Ziel grundsätzlich erreichen. Hadot legt den Fokus ihrer Studie auf die Beschreibung des ethischen Ziels, wodurch Senecas Fort1 Vgl. die Darlegung des Forschungsstandes auf S. 14ff. Zu den Begriffen ›Individuum‹ und ›Individualität‹ s. S. 19ff. 2 I. Hadot (1969) 32. 3 I. Hadot (1969) 33. Fragestellung und Forschungsüberblick 15 schrittsgedanke und die Frage, inwiefern dieser durch die besondere, oder in Hadots Worten: individuelle natura des Menschen bestimmt sein könnte, zu wenig in den Blick kommt. Sie scheint diese als tugendirrelevante Kontextbedingung aufzufassen, d. h. als eine Größe, welche keinerlei moralische Bedeutung hat. Hengelbrock, der in seiner Dissertation den sittlichen Fortschritt in Senecas ethischen Schriften ausführlich untersucht, richtet seinen Blick anders als Hadot auf den proficiens selbst und den von ihm zu beschreitenden Weg. Anhand einer Analyse einzelner Briefe stellt er wichtige Wegmarken des philosophischen Fortschritts heraus, wie z. B. die Bedeutung des otium, des philosophischen Lehrers oder der Freunde. Er zeigt auch, welche didaktischen Mittel Seneca einsetzt und in welcher literarischen Gestaltung der Fortschrittsgedanke erscheint4. Zudem erwähnt er mit Rekurs auf Hadot kurz die »individuelle« Natur des Menschen und hebt mit Verweis auf DL 7, 89 und Cic. off. 1, 107–109 hervor, dass der proficiens »neben dieser allgemeinen Natur noch die individuelle zu betrachten«5 habe. Allerdings geht er nicht näher darauf ein, was an den beiden genannten Stellen unter der individuellen natura zu verstehen sein könnte und welche Relevanz sie für den ethischen Fortschritt besitzt. Er lässt im Unklaren, inwieweit hier vom Fortschritt eines einzelnen, oder in Henlgebrocks Worten: individuellen Menschen die Rede sein könnte. Neben diesem durch I. Hadot eröffneten Forschungsparadigma der ›Seelenleitung‹ greift die vorliegende Studie eine weitere aktuelle Forschungslinie auf, und zwar diejenige zum Problem des personalen Selbst in der Antike. Die im Folgenden angeführten Studien unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Grundausrichtung, Fragestellung und Methodik zwar teilweise stark von der vorliegenden Arbeit, sind für sie aber dennoch von Bedeutung. In der jüngeren und jüngsten Forschung (s. u.) ist ein verstärktes Interesse an der Untersuchung des Selbst in der antiken Philosophie, der Stoa im engeren Sinne und bei Seneca im Besonderen zu beobachten, wobei die einzelnen Positionen bisweilen stark voneinander abweichen. Diese Studien haben eine philosophisch-systematische Grundausrichtung gemeinsam, und sie schreiben sich mitunter ein in die Erforschung der Ontologie des Geistes. Das ihnen gemeinsame Hauptaugenmerk gilt der Frage, ob und inwieweit sich in der antiken Philosophie ein Konzept des Selbst ausmachen lässt und welche Stellung es innerhalb der philosophischen Tradition einnimmt. Diese Arbeiten beziehen sich zum großen Teil auf die Werke Michel Foucaults. Er sieht in der Philosophie des ersten nachchristlichen Jahrhunderts eine verstärkte Hinwendung zum 4 Vgl. Hengelbrock (2000) 130ff. 5 Vgl. Hengelbrock (2000) 91. 16 Einleitung Selbst und zieht als Zeugnis hierfür die in der kaiserzeitlichen Stoa stark betonte Aufforderung zur Selbstprüfung und -formung heran6. In seiner Monographie Self. Ancient and Modern Insights about Individuality, Life, and Death (2006) nimmt Sorabji den Menschen nicht als Gattungswesen, sondern als Individuum in den Blick7. Ihm zufolge nehme der Mensch als ein mit sich selbst identisches und seiner selbst bewusstes Individuum die Welt subjektiv aus der Perspektive der ersten Person wahr8. Sorabji überträgt damit Konzepte und Vorstellungen, die wesentlich neuzeitlich bestimmt sind, auf die antike Philosophie und versucht eben diese moderne Sichtweise in antiken Texten nachzuweisen. Auch Long vertritt die These, dass insbesondere die stoische Philosophie den Menschen als Individuum begreife. In seinem Aufsatz Representation and the Self in Stoicism führt er als Beleg dafür die stoische Erkenntnistheorie an, für welche die subjektive Perspektive der ersten Person kennzeichnend sei9. Der im Jahr 2009 erschienene Sammelband Seneca and the Self10 vereint Aufsätze, welche sich aus philosophischer, literaturwissenschaftlicher und kulturgeschichtlicher Perspektive der Untersuchung des Selbst in Senecas Prosaschriften und Tragödien widmen. Diese Studie erhebt nicht, wie ausdrücklich betont wird, den Anspruch, ein einheitliches Konzept des Senecanischen Selbst zu eruieren11; sie verfolgt vielmehr das Ziel, die Rede vom Selbst bei Seneca stärker zu konturieren und zu schärfen. Die einzelnen Beiträge – im Folgenden gehe ich auf die im engeren Sinne philosophischen ein – sind durchaus heterogen: Long will in Senecas Texten einen Beleg für Individualität erkennen, wohingegen Gill und Inwood dies für unzutreffend halten. Während Long in Representation and the Self in Stoicism nicht auf Seneca eingeht, bezeichnet er ihn in Seneca and the Self: Why now? in Anlehnung an Foucault als ›Theoretiker des Selbstseins‹ (»theorist of selfhood«), was selbst dann zutreffe, wenn man seine Aussagen nicht in Beziehung zur stoischen Lehre 6 Vgl. Foucault (1986) 64. 7 Sorabji (2006) 20: »In asking about the self, I am not asking what it is to be a human being or higher animal in general, but about what it is to be an individual one«. 8 Vgl. Sorabji (2006) 20: »Each of them needs to relate to the world in terms of me and me again«. Vgl. auch den Abschnitt »Importance of the ›I‹-perspective« (ders., 22ff.). 9 Vgl. Long (1996) 265: »The self in this sense is something essentially individual – a uniquely positioned viewer and interlocutor, a being that has interior access of a kind that is not available to anyone else«. Die stoische Erkenntnistheorie lasse sich beschreiben (ebd. 266) »as a new focus on consciousness, on the individuality of the perceiving subject, as a fundamental feature of the mental«. 10 Bartsch/Wray (2009). 11 Bartsch/Wray (2009) 7. Fragestellung und Forschungsüberblick 17 von der Göttlichkeit der menschlichen Vernunft oder zur Güterlehre setze12. Long bestimmt den Menschen als »unique centre of agency and consciousness«13 und als einheitliches Subjekt (»unitary subject«), und er überträgt ausdrücklich die neuzeitliche Definition der Person, die Taylor vornimmt, auf Senecas Texte14. Neben dieser subjektiven sei aber auch eine objektive Perspektive (»one objective and the other subjective«) wie z. B. Körperlichkeit, Geschlecht, Ethnie etc. von Bedeutung. Durch diese einander überschneidenden Perspektiven werde die Identität eines Individuums bestimmt15. Gill kritisiert m. E. zu Recht die Übertragung neuzeitlicher Konzepte von Individualität auf antike Texte16. Ihm geht es, anders als Long und Sorabji, um die Frage, mit welchen Begriffen und Konzepten der Mensch in antiken philosophischen Texten als moralisch verantwortlich handelnder beschrieben wird. Seine Studien sind also methodisch so ausgerichtet, dass sie diese Texte auf Begriffe und Vorstellungen befragen, die zu modernen analog sind17. In seinem Aufsatz Seneca and Selfhood. Integration and Disintegration (s. u.) rekurriert Gill auf seine beiden Monographien Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy (1996) und The Structured Self in Hellenistic and Roman Thought (2006). Darin vertritt er die These, dass die antike Philosophie den Menschen als Vernunftwesen18, das objektives Wissen generieren kann und als Teil einer Gemeinschaft verstanden wird, bestimmt19. Diese Sichtweise, welche er mit dem Begriffspaar ›objektiv-partizipierend‹ (»objective-participant«20) beschreibt, 12 Vgl. Long (2009) 23: »Yet Seneca’s value as a theorist of selfhood is not vitiated, in my opinion, if we completely reject his Stoic commitment to the divinity of human rationality, for instance, or the indifference of all values except virtue and vice«. 13 Vgl. Long (2009) 26. 14 Vgl. Long (2009) 35 mit Rekurs auf Taylor (1985) 257–281: »[…] Taylor proposes the following sets of attributes for what we mean by a person: (a) an agent with purposes, desires, aversions, and so forth; (b) an agent with a sense of yourself as an agent capable of making plans for your life, holding values in virtue of which different plans seem better or worse, with the capacity to choose between them; (c) a unitary subject; (d) a self-interpreting animal, whose consciousness is determined by what it finds significant; (e) reflexivity and self-awareness; (f) linguistic capacity and disclosure in public space«. 15 Vgl. Long (2009) 25f.: »Perhaps the clearest approach to the concept of selfhood is to take it as a name for one’s individual and temporal identity from two distinct but necessarily overlapping perspectives – one objective and the other subjective«. 16 Vgl. Gill (1996) 424. 17 Vgl. Gill (2008b) 81: »Rather, my interest lies in locating ancient concepts that are analogous in function to those of the modern ›self‹ or ›person‹. This function, as just suggested, is that of identifying what matters about, or is essential to, the person as a psychological whole, or specifying what psychological capacities are criterial of full moral or social status«. 18 Vgl. Gill (1990) 8: »Furthermore, the criteria of normative human status in ancient philosophy were, typically, rationality and sociability«. Vgl. auch ders. (2006) Introduction und ebd. Kapitel 6. 19 Vgl. Gill (2006) 340. 20 Vgl. Gill (1996) Kapitel 6.4 und dort v. a. 427: »The approach implied is ›objectivist‹ in the 18 Einleitung erfolge aus der Perspektive der 3. Person und sei kennzeichnend für die gesamte antike Philosophie. Hingegen sei die als ›subjektiv-individuell‹ (»subjectiv-individual«) bezeichnete Sichtweise, die wesentlich auf die Perspektive der 1. Person abstelle, neuzeitlich und für die antike Philosophie nicht kennzeichnend21. Gill kommt zu dem Schluss, dass die antike Philosophie keineswegs über ein Konzept von Individualität verfügt, welches sich mit neuzeitlichen Aussagen deckt22. In seinem Aufsatz Seneca and Selfhood. Integration and Disintegration fragt Gill nach der Senecanischen Konzeption des Selbst. Vor dem Hintergrund der stoischen Psychologie untersucht er, wie Seneca den inneren Konflikt der Tragödienfiguren Medea und Phaedra darstellt. Er bezeichnet diesen als Konflikt zwischen einem tatsächlichen, affektgeleiteten Selbst (»actual self«) und einem idealen, vollkommenen Selbst (»natural self«)23, wobei letzteres durch die Vollendung der menschlichen Vernunft bestimmt sei. Die sittliche Entwicklung vom tatsächlichen zum vollkommenen Selbst beschreibt Gill als einen Prozess, auf den sich die Beschreibungskategorie ›objektiv-partizipierend‹ (»objectiveparticipant«) anwenden lasse24. Reydams-Schils nimmt in ihrer Monographie das Konzept des Selbst in der Römischen Stoa in den Blick und bestimmt dieses in Anlehnung an Gill mit dem Begriffspaar »objective-participant«, wobei sie den Fokus auf das Element »participant« legt25. Ziel ihrer Studie ist es nämlich aufzuzeigen, dass die Vertreter der römischen Stoa, also Seneca, Musonius Rufus, Epiktet und Marc Aurel, das Selbst sowohl unter soziologischen als auch unter ontologischen Gesichtspunkten als in größere Zusammenhänge eingebettet verstehen: Das Selbst sei also wesentlich dadurch bestimmt, dass es in soziale Beziehungen sowie die rationale Ordnung des Kosmos eingebunden sei26. 21 22 23 24 25 26 sense that it assumes that there are objectively determinable (knowable) concepts of this type (such as being normatively ›human‹). It is objective-participant in that it assumes that the knowledge of such concepts depends on full and effective participation in interpersonal engagement and reflective debate«. Vgl. auch ebd. Kapitel 6.7. Vgl. Gill (2006) 338: »The use of subjectivity as a criterion of selfhood or personhood reflects the influence of Descartes’ move of taking the ›I‹, conceived as a self-conscious, unitary subject, as fundamental to our understanding of reality. […] The objective approach rejects the idea that there is a peculiarly private, first-personal sphere of experience to which the person as subject has privileged access«. Vgl. Gill (2006) 391. Vgl. Gill (2009) 73f.: »There is thus a continuing conflict between (what one might call) our ›natural self‹, that is, the capacity for full rationality that is constitutive of our nature as rational animals, and our ›actual self‹, which imperfectly realizes this capacity«. Vgl. Gill (2009) 77: »Also, this development, and the view of psychological experience associated with it, is conceived in strongly objectivist, indeed, in a sense, ›naturalist‹ terms, rather than giving a privileged status to the subjective, first-personal view«. Vgl. Reydams-Schils (2005) 37. Vgl. Reydams-Schils (2005) 17: »[…] the Roman Stoic self is […] fundamentally embedded. Fragestellung und Forschungsüberblick 19 Wie Gill, so wendet sich auch Inwood in seinem Aufsatz Seneca and Self Assertion gegen die Auffassung, dass sich in Senecas Schriften eine Innovation hinsichtlich des Selbst erkennen lasse. Nach Inwood generiere Seneca diesen Eindruck durch seine literarische Technik: Durch die Briefform, die zahlreichen Selbstzeugnisse sowie die Schilderung seiner Selbstprüfung bemühe er die Perspektive der 1. Person und erzeuge so den Eindruck gesteigerter Subjektivität27; seine Philosophie sei aber gegenüber der stoischen Tradition nicht innovativ28. Senecas Selbst sei nichts weiter als das Kunstprodukt seiner literarischen Tätigkeit29. Die Verwendung neuzeitlicher Begriffe wie ›Selbst‹ oder ›Individuum‹ zur Interpretation antiker Texte erscheint mir methodisch nicht sinnvoll. Denn indem Sorabji und Long die grundsätzliche Anwendbarkeit dieser Begriffe auf antike Texte postulieren, wird eine neuzeitliche und damit anachronistische Perspektive der Interpretation von vornherein festgelegt, welche Gefahr läuft, Aussagen antiker Autoren aus dem Bezugsrahmen ihrer jeweiligen philosophischen Ausrichtung herauszulösen. Insbesondere bei Sorabji findet sich kaum oder nur in unzureichendem Maß eine Rückbindung an antike philosophische Systeme, und die Formulierung Longs, dass Seneca auch ohne Rücksicht auf die stoische Philosophie als ›Theoretiker des Selbstseins‹30 gelten könne, zeugt m. E. von dieser äußert problematischen Methodik. Da ich also der Auffassung bin, dass sich neuzeitliche Begriffe wie ›individuell‹ oder ›Individuum‹ und die mit ihnen verbundenen (neuzeitlichen) Konzepte und Vorstellungen nicht auf antike Texte übertragen lassen, möchte ich auf die Verwendung dieser Termini verzichten. Wenngleich der methodische Ansatz von Long und Sorabji als fragwürdig bezeichnet werden muss, so zeigen ihre Studien doch, dass Seneca vom Menschen offensichtlich nicht bloß allgemein, d. h. als Gattungswesen spricht. Aus ihren Arbeiten geht hervor, dass Seneca auch die besonderen Eigenschaften eines einzelnen Menschen in den Blick nimmt, welche nicht durch die Vernunft als die Gattungsnatur bestimmt sind und durch die sich ein Mensch von einem anderen unterscheidet. 27 28 29 30 On the ontological level, this embeddedness indicates that the self is anchored both in a body and in a rational order that, the Stoics would claim, structures all of reality as ultimately proceeding from an immanent divine principle. The social counterpart to this ontological aspect indicates that the self is intrinsically connected to others in a network of relationships that each has its specific claims and standards of behaviour«. Vgl. Inwood (2009) 56–60. Vgl. Inwood (2009) 46: »I would like to suggest that despite Foucault’s claims even Seneca’s conception of the self doesn’t involve anything more substantial or robust in the way of mental ontology«. Vgl. Inwood (2009) 63. Vgl. Anm. 12. 20 Einleitung Anstelle des neuzeitlichen Terminus ›Individuum‹ verwende ich den Begriff ›der Einzelne‹ oder ›der Besondere‹, der als Antonym zur Bezeichnung ›Gattungswesen‹ fungiert. Während der Begriff ›Gattungswesen‹ all diejenigen Merkmale bezeichnet, die allen Vertretern einer Gattung gemeinsam sein müssen, erfasst der Begriff ›der Einzelne‹ oder ›der Besondere‹ – beide Begriff verwende ich synonym – einen Vertreter dieser Gattung in seiner Singularität und bezeichnet diejenigen Eigenschaften, die bei den einzelnen Vertretern der Gattung ›Mensch‹ in unterschiedlicher Ausprägung vorgefundenen werden können. Im Unterschied zum neuzeitlichen Begriff ›Individuum‹, der in Senecas Texten weder eine terminologische31 noch eine inhaltliche Entsprechung hat, weisen die Termini ›der Einzelne‹ oder ›der Besondere‹, mit denen sich die lateinischen Ausdrücke proprius, singulus und quisque übersetzen lassen, eine solche Entsprechung auf. Da die Begriffe proprius (›eigentümlich‹/›besonders‹) und universus (›allgemein‹) in der stoischen Philosophie als Attribute zum Nomen natura verwendet werden – ein prominentes Zeugnis ist die quattuorpersonae-Theorie in Cic. off. 1, 107–11632 –, scheint mir die Rede vom Einzelnen und dessen besonderer natura und die Frage, inwieweit diese neben der Vernunft als der allen gemeinsamen universa natura als tugendrelevant beschrieben wird, legitim. Aufbauend auf dem gerade dargelegten Forschungsstand, untersucht die vorliegende Arbeit Senecas Texte stets mit Rekurs auf die stoische Philosophie. Dabei bildet der Begriff natura, dem in dieser philosophischen Schule eine zentrale Bedeutung für die Anthropologie und Ethik zukommt, einen geeigneten Ausgangpunkt für die Frage nach Senecas Auffassung vom Menschen und dessen sittlicher Entwicklung. Die vorliegende Studie soll deutlich machen, dass Cicero und Seneca – anders als Ilsetraut und Pierre Hadot behaupten – den sittlichen Fortschritt (und das ethische Ziel) nicht nur allgemein über die Vernunftnatur des Menschen, sondern auch durch die besonderen angeborenen Eigenschaften eines Menschen – seine besondere natura – bestimmen und die moralische Entwicklung so als den Weg des Einzelnen beschreiben. Die Kenntnis der natura des Einzelnen und der 31 Seneca verwendet den Begriff indivuduus (›ungeteilt‹) in seinen Prosaschriften nur vier Mal, wobei er ihn als physikalischen Terminus gebraucht (vgl. dial. 1 [= De providentia], 5, 9 und dial. 8 [= De otio], 5, 6) oder ihn als Attribut zu Abstrakta verwendet (vgl. epist. 67, 10 und epist. 73, 8); niemals wird individuus auf Menschen bezogen. Cicero übersetzt in fin. 1, 17 den physikalischen Begriff %tola, der bei den Atomisten die kleinsten, nicht weiter teilbaren Einheiten bezeichnet, durch individua; zu den Begriffen ›Individuum‹ und ›Individualität‹ in der Antike und Frühscholastik vgl. Kobusch (1976) 300–304. 32 Mit Ciceros quattuor-personae-Theorie in Cic. off. 1, 107–116 befasst sich Kapitel 2 ausführlich. Methode und Aufbau 21 vernunftgeleitete Umgang mit ihr stellen meiner Ansicht nach gerade keine tugendirrelevante Kontextbedingung dar, sondern werden in den Texten als condicio sine qua non für das Erreichen der Tugend beschrieben. Senecas Philosophica zeigen, wie im Verlauf der Arbeit verdeutlicht werden soll, dass das richtige Urteil, in dem der stoischen Philosophie zufolge die Tugend besteht, nur mit Rücksicht auf die natura des Einzelnen gefällt werden kann und diese somit als notwendige Bedingung der Tugend ausgewiesen wird. In diesem Zusammenhang soll auch aufgezeigt werden, dass Senecas Philosophieren über eine bloße Adaptation stoischer Dogmen an praktische Bedürfnisse hinausgeht; die allgemeinen stoischen Lehrsätze werden von ihm nicht einfach auf konkrete Situationen ›heruntergebrochen‹. Senecas Ausführungen zeigen vielmehr, dass die stoischen Dogmen und insbesondere die stoische Lehre von der Zweiseitigkeit der menschlichen natura ein breites Spektrum an unterschiedlichen tugendrelevanten Handlungsmöglichkeiten zulassen; dieses Differenzierungspotential wird von ihm mit Blick auf die praktische Philosophie ausgeleuchtet. Da er den sittlichen Fortschritt und das ethische Ziel als den Weg des Einzelnen beschreibt, werde ich Gills Junktur ›objektiv-partizipierend‹ (»objective-participant«) abzuwandeln suchen in ›objektiv-vereinzelt‹. Methode und Aufbau Die vorliegende Arbeit versteht sich dezidiert als philologische Studie. Aus diesem Grund dienen ausgewählte lateinische Textpassagen aus Senecas Prosaschriften, die zusammen mit ihrer deutschen Übersetzung zitiert werden, als Ausgangs- und stetiger Bezugspunkt der Interpretation. Durch die Methode des close-reading werden die lateinischen Texte einer genauen sprachlichen und inhaltlichen Analyse unterzogen, deren Ergebnisse für die Interpretation fruchtbar gemacht werden sollen. Die Auswahl der Textpassagen konzentriert sich nicht nur auf diejenigen Stellen der Senecanischen Prosaschriften, in denen expressis verbis von der menschlichen natura die Rede ist, sondern berücksichtigt auch Passagen, in denen ohne explizite Verwendung dieses Terminus Senecas Konzept der menschlichen natura verhandelt wird. In den ersten drei Kapiteln steht neben einer Analyse des Begriffs Natur (rerum natura) die Frage, welchen Begriff der menschlichen natura Seneca in seinen Prosaschriften verwendet, im Zentrum der Untersuchung; diese wird im Zusammenhang mit der philosophischen Tradition, in die er sich stellt, durchgeführt. Damit fungieren die Kapitel 1–3 als Grundlagenkapitel und bilden den ersten Teil der vorliegenden Arbeit. Darauf aufbauend wird im zweiten Teil, den die Kapitel 4–6 umfassen, die Bedeutung der menschlichen natura für 22 Einleitung die praktische Ethik in den Blick genommen; hier soll gezeigt werden, wie Seneca seine pädagogischen Bemühungen auf den Einzelnen ausrichtet. Der dritte Teil der Studie (Kapitel 7) nimmt die Beziehung von Form und Inhalt der Epistulae morales in den Blick und eruiert, wie Seneca die Briefform für seine erzieherischen Bemühungen funktionalisiert. Im vierten und letzten Teil werden die in den ersten drei Teilen erzielten Ergebnisse überblicksartig zusammengefasst. Die Fragestellung der einzelnen Kapitel lässt sich folgendermaßen skizzieren: Im ersten Kapitel erfolgt eine Untersuchung des Begriffs der Natur (rerum natura). Dabei wird gefragt, in welchem Verhältnis Naturwissenschaft und Ethik zueinander stehen und welche anthropologischen Bestimmungen Seneca aus naturwissenschaftlichen Aussagen ableitet. In diesem Zusammenhang soll geklärt werden, ob und inwieweit er die rerum natura als Maßstab für seine Ethik begreift. Das zweite Kapitel befasst sich mit der Untersuchung der menschlichen natura. Allerdings geht es noch nicht um Senecas Konzeption derselben, sondern um die Frage, wie die stoische Tradition, in die Seneca sich stellt, die natura des Menschen beschreibt. Ciceros Ausführungen, die er im Rahmen der quattuorpersonae-Theorie über die menschliche natura macht und die in der Forschung wiederholt als Beleg für eine Individualisierungstendenz in der stoischen Philosophie herangezogen werden, sind Gegenstand der Analyse. Vor diesem Hintergrund können in den darauffolgenden Kapiteln die Spezifika des Senecanischen Naturbegriffs, die sich einerseits aus der Anknüpfung an die quattuor-perosonae-Theorie, andererseits aus deren Modifikation ergeben, deutlich gemacht werden. Kapitel 3 wendet sich wieder Seneca zu und beabsichtigt zu zeigen, dass er mit dem Begriff der menschlichen natura Aussagen aus der quattuor-personaeTheorie aufgreift, indem er über den Naturbegriff den Menschen sowohl als allgemeinen als auch als besonderen erfasst. Es soll aber auch deutlich gemacht werden, dass Seneca Ciceros Aussagen über die menschliche natura insofern modifiziert, als er den Bezug zwischen der natura und den gesellschaftlichen Normen anders fasst als Cicero. Mit dem dritten Kapitel wird der Grundlagenteil abgeschlossen. Kapitel 4, welches den zweiten Teil der Arbeit einleitet, nimmt den Menschen in seinem sozialen Umfeld in den Blick und befasst sich mit Senecas Begriff der sozialen Rolle. Dabei wird mit Rekurs auf die quattuor-personae-Theorie gezeigt, welche sozialen Faktoren zusammen mit der natura des Menschen dessen Lebensweg und sittliche Entwicklung bestimmen und welcher Zusammenhang zwischen sozialer Rolle, menschlicher natura und Identität besteht. Insbesondere Senecas Aussagen über die Bedeutung der natura für gelungenes Rollen- Bemerkungen zur Zitation 23 handeln lassen Modifikationen der quattuor-personae-Theorie erkennen und machen die Eigentümlichkeiten seines Naturbegriffs erneut deutlich. Im 5. und 6. Kapitel wende ich mich den Methoden der Erziehung bzw. Selbsterziehung zu. Im Zentrum von Kapitel 5 stehen die Untersuchung von Senecas Verwendung von exempla sowie die Frage nach deren pädagogischer Funktion. Dabei soll aufgezeigt werden, dass gerade Senecas Theorie der richtigen imitatio von Vorbildern von einem auf den Einzelnen ausgerichteten Erziehungskonzept zeugt. Kapitel 6 untersucht die Methode der Selbstprüfung als Mittel der Selbsterziehung. Der Fokus der Analyse richtet sich auf die Frage, welche Tragweite Seneca der menschlichen Erfahrung für die moralische Entwicklung beimisst und welche Bedeutung er dem aus der Selbstprüfung hervorgehenden Wissen für das Handeln zuschreibt. Kapitel 7, das den dritten Teil der Studie umfasst, nimmt eine Sonderstellung ein: Es fragt nach der Bedeutung, welche die Briefform für die Vermittlung der stoischen Philosophie in ihrer Senecanischen Ausprägung haben könnte und nimmt so die Beziehung zwischen Form und Inhalt in den Blick. Im Zusammenhang mit einer Untersuchung des Senecanischen Freundschaftsbegriffs, der für das Verständnis des Absender-Adressaten-Verhältnisses zentral ist, wird auch nach der literarischen und philosophischen Funktion des Adressaten Lucilius gefragt. Die Ausführungen dieses letzten Kapitels zielen auf den Nachweis, dass Seneca über die Form der Epistel die Aussage transportiert, dass Erziehung eine auf den Einzelnen, auf ein konkretes ›Du‹ ausgerichtete Tätigkeit sei. Abschließend folgt in Teil IV eine Zusammenfassung der Ergebnisse. Bemerkungen zur Zitation Die Zitation von Senecas Epistulae morales und Dialogi richtet sich nach den kritischen Ausgaben von Reynolds, die Naturales quaestiones werden nach der Ausgabe von Hine zitiert. Die aus Ciceros De officiis entnommenen Textstellen werden gemäß der Ausgabe von Winterbottom wiedergegeben. Bisweilen habe ich die Interpunktion geändert; ebenso wird die Schreibweise vereinheitlicht (v wird durchgehend mit v statt mit u wiedergegeben). Die Übersetzung der lateinischen Textpassagen erfolgt in Anlehnung an die im Literaturverzeichnis angeführten Übersetzungen, die ich jedoch größtenteils abgeändert habe. Antike Autoren und Werke werden nach dem Abkürzungsverzeichnis in Der Neue Pauly zitiert; die bibliographischen Abkürzungen der Forschungsliteratur richten sich nach den Angaben in der Ann¦e philologique. Teil I: Der Senecanische Naturbegriff und seine Grundlagen