Was kommt im Herbst 2006 auf uns zu?

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CLAUS
REITAN
Was kommt im Herbst 2006
auf uns zu?
Der Herbst 2006 beginnt, astronomisch betrachtet, am 23. September um
6.03 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit. Dann steckt Österreich nach
der gegenwärtigen Papierform mitten im Wahlkampf zur Nationalratswahl
- und die Politik in einem Irrtum: jenem nämlich, dass es darum gehe, die
Wahl zu gewinnen.
Das stimmt zwar, ist allerdings nur die halbe Miete. Entscheidend wird
fur die Parteien sein, die Regierungsbildung zu gewinnen. Wahlergebnisse
vergeben die Karten in oftmals überraschender Mischung, aber das Spiel um
die Macht kann, wie jüngst gezeigt, doch gänzlich anders enden, als es das
zugeteilte Blatt vermuten lässt.
So hat die SPÖ vor sechs Jahren als stimmenstärkste Partei den Koa­
litionspoker um die Ministerposten verloren. Die knapp drittplatzierte
ÖVP konnte hingegen ihren Spitzenkandidaten Wolfgang Schüssel in den
Chefsessel am Ballhausplatz hieven, den Sitz des Bundeskanzlers. Die Grü­
nen fanden 2002, nachdem sie ihre Stimmenanzahl innerhalb von sieben
Jahren auf 465.000 verdoppelt hatten, keine Regierungsbank, auf der sie
ihre Mandate hätten anlegen können. Sie alle und einige mehr stellen sich
im Herbst 2006 einer W ählerschaft, die zwar viel befragt wird, aber in
Summe fur Überraschungen gut ist. Denn die Bocksprünge des Elektorats,
also der Summe der Wahlberechtigten, sind beachtlich und lassen weitere
vermuten.
Vor sieben Jahren, im Herbst 1999, lagen Volkspartei und Freiheitliche
im Stimmenanteil gleichauf, bei 26,91 Prozent. Das haben neutrale Beob-
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achter 50 Jahre lang rur unmöglich gehalten, rur die ÖVP-Führungen war
so etwas überhaupt undenkbar bis verboten. Sie haben alle gelernt. Zudem:
Bei der Wahl darauf, im Jahr 2002, steigerte die ÖVP ihren Stimmenan­
teil auf 42,3 Prozent - unfassbar! Und zwar nicht namentlich wegen der
Sieger und der Verlierer, sondern weil kaum jemand eine derartige W ähler­
verschiebung, eine so enorme W ählerwanderung, ja eine Umkehr der Man­
datsverhältnisse erwartet hatte. Lediglich die Sozialdemokraten, ständig zwi­
schen 38, 1 ( 1995) und 33, 1 ( 1999) Prozent Stimmenanteil oszillierend, hiel­
ten sich mit zuletzt 36,5 Prozent beachtlich stabil. Doch die Freiheitlichen
stürzten 2002, verglichen mit 1999, auf ein Viertel der Stimmen bzw. des
Anteils der ÖVP ab. Aus 1:1 wurde ein Kräfteverhältnis von 1:4! Das sind
politische Erdbeben, bisher unbekannt in der erst kürzlich gefeierten jungen
Zweiten Republik. Was kommt als Nächstes, im Herbst 2006?
Banal, aber richtig: W ähler schätzen, erstens, politische Persönlichkei­
ten mit Profil und klarer Aussage, die, zweitens, Stimmung und Themenlage
der Gesellschaft ausdrücken. Anders sind die jeweils bemerkenswert guten
Wahlergebnisse rur Wolfgang Schüssel (ÖVP, 2002) , Jörg Haider (FPÖ,
1999) und Hans-Peter Martin (Einzelkämpfer bei der EU-Wahl 2004: 13,98
Prozent) nicht erklärbar. Das gleiche Prinzip gilt rur den völligen Absturz
der FPÖ bei der Wahl 2002, mit dem sie nach Selbstinfektion durch das
Spaltungsvirus von der Hochblüte ins Siechtum verfiel.
Die W ählerschaft unterscheidet zudem nicht nur zwischen Kandida­
ten und deren politischer Praxis, sondern auch zwischen den unterschied­
lichen Wahlgängen, also nationalen, bundesweiten und lokalen, regionalen,
also zwischen einer Nationalrats- und einer Landtagswahl. Daher erscheint
es unwahrscheinlich, dass die FPÖ ihre guten Ergebnisse in Kärnten (2004)
und die Sozialdemokraten ihre Wahlsiege in Salzburg (2004) sowie in W ien,
in der Steiermark und im Burgenland (alle 2005) als Rückenwind rur
Herbst 2006 nutzen können. Ausgesehen hat es danach. Immerhin gelang es
der SPÖ, in Salzburg und in der Steiermark die jeweils langjährige Vorherr­
schaft der ÖVP zu brechen und den Landeshauptmann zu erobern. Das gab
dieser nach dem Machtverlust vor sechs Jahren ins Trudeln geratenen Par­
tei Zuversicht, letztlich sogar etwas Schwung. Doch die Misswirtschaft in
SPÖ-nahen Bereichen hat diesen neuen Elan der Partei und ihrer Führung
sichtlich gebrochen. Zudem sind Tiefe und Folgen der Krise des Gewerk-
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schaftsbundes und des Skandals seiner Bank (BAWAG) noch nicht abschätz­
bar, werden aber Energie der SPÖ binden und ihren Bewegungsspielraum
etwas einengen.
So ist für den Herbst 2006 sollte die Nationalratswahl tatsächlich in
diesen Zeitraum fallen - zu erwarten, dass die Stammwähler weiter abneh­
men und die Wechselwähler weiter zunehmen. Die W ähler wünschen mehr
denn je konturierte Persönlichkeiten mit einem sachlich stimmigen und ver­
ständlichen Programm, das zudem mit deren politischer Praxis übereinstimmt,
um - einmal mehr - dem Politikwissenschafter Norbert Leser mit seinen
drei Anforderungen an die Politik die Ehre zu erweisen. In diesem Dreieck
aus Person, Programm und Praxis wird sich ein scharfer, sehr harter und auf
vielen Ebenen geführter Wahlkampf ereignen.
Bereits im Frühjahr 2006 haben die beiden mittelgroßen Parteien,
Volkspartei und Sozialdemokraten, damit begonnen, das Spitzenpersonal der
jeweils anderen geradezu untergriffig madig zu machen. Es sind lange Listen
zu erwarten, wer sich worüber verschwiegen hat, wer was gewusst haben
muss, wer wofür Geld verlangt oder erhalten haben könnte. Kein Panzer
und kein Abfangjäger, keine Bank und kein staatsnaher Betrieb werden zu
gut oder zu schlecht dafür sein, im politischen Argumentationsnotstand das
Arsenal an Polemik aufzufüllen, worauf sich Wort- und Bilderströme über
Datenleitungen, Zeitungen und Fernsehkanäle in die Haushalte ergießen.
Der diesbezügliche Bedarf der W ählerschaft als Nachfrager nach Politik
wird von den Anbietern des Politischen, namentlich den Funktionären und
Mandataren, weiterhin völlig überschätzt. Man würde sich gerne täuschen,
aber der Wahlkampf wird's nicht spielen, und neben den Großen werden
auch die Kleinen mittun.
Was nämlich den einen die angriffige Polemik als Instrument der Dif­
ferenzierung ist, sind den kleineren Parteien die Feindbilder als Nachweis
ihrer Existenzberechtigung. Die Vertreter der Blauen (FPÖ) und der Oran­
gen (BZÖ) werden vor allem die Europäische Union und anderes Auslän­
disches für alles hiesige Unbill verantwortlich machen und eine einfache
Rechnung eröffnen: Integration und Internationalität seien nicht Chan­
cen, sondern Gefahren, und solange es diese Bedrohungen gibt, bedürfe das
Land eben der Leute vom Schlage eines H.-C. Strache oder H.-P. Martin,
etwa um spesenfressende Drachen zu erlegen. Feindbilder werden enorme
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Dimensionen annehmen, denn das politische Geschäft ist stets auch eines
mit der Angst. Es wird gerade in diesem Zusammenhang interessant zu beo­
bachten sein, wer in dem ohnedies von gelegentlichen Funktionsstörungen
geprägten Verhältnis von Politik und Medien wen antreibt.
Die Nationalratswahl, auf die es natürlich sehr wesentlich ankommt,
wird zeigen, ob die Fortsetzung des im Wesentlichen von der Volkspartei
unter Wolfgang Schüssel geprägten Kurses gewünscht wird. Es wird kein
Wahlkampf der Lager, sondern einer der Personen sein. Es geht weniger
um Ideologien, sondern die Themen der einzelnen W ähler stehen fur diese
im Fokus. Sollten Kritik und Ablehnung des Sparkurses, der Reformen im
Sozialwesen sowie der institutionellen Reformen etwa an den Universitä­
ten stark zunehmen, könnte ein Ansatz von Wendestimmung entstehen. Je
eher dies eintritt, umso wahrscheinlicher ist es, dass das Wahlergebnis einen
Machtwechsel nahe legt.
Beide der mittelgroßen Parteien, ÖVP und SPÖ, werden fur die
Regierungsbildung einen Partner brauchen und stehen damit vor der poli­
tischen Gretchenfrage: W ie hältst Du es mit den möglichen Koalitionspar­
teien? Das Dilemma der Antwort ist fur die Volkspartei größer als fur die
Sozialdemokraten. Die hatten schon früher mit dem blauen Jörg Haider
nichts am Hut, werden also den nunmehr orange gefärbten ebenso ablehnen
wie dessen blauen Nachfolger, H.-C. Strache, der zudem im selben flachen
Wasser fischt. Die Volkspartei wird nach den schließlich desaströsen Erfah­
rungen. mit der blauen und der orangen Abgeordnetentruppe und Minister­
riege wohl kaum neuerlich auf diese Paarung setzen. Gut möglich, dass im
Herbst die Grünen zur umworbenen Braut werden, sollte deren Aussteuer
reichen, das Regierungsgebäude zu beziehen. Das ist noch nicht sicher.
Möglich und wahrscheinlich ist hingegen, dass dem nächsten Nationalrat
mehr als die zuletzt vier Parteien angehören, dass aber weniger als bisher,
nämlich nur drei, fur Regierungsämter in Frage kommen.
Mit dem Herbst 2006 kommt auf Österreich jedenfalls eine neue
Tageszeitung zu, die - geht es nach deren Gründer und Herausgeber Wolf­
gang Fellner - heißen wird wie das Land mitsamt seiner damit neu belebten
Medienlandschaft. Und mit dem Ende des Herbstes, astronomisch betrach­
tet am 22. Dezember um 1.22 Uhr mitteleuropäischer Normalzeit, geht das
Mozartjahr langsam seinem Ende zu, und zwar mit mehreren Auffuhrun-
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gen des Requiems. Der ORF wird eine teils alte, teils neue Führung haben,
die Gewerkschaftsbank BAWAG mit hoher Wahrscheinlichkeit neue Eigen­
tümer. Deutschland wird ein Jahr Angela Merkel als erste Bundeskanzlerin
feiern. Die Türkei wird eine ernüchternde Bilanz der bisherigen EU-Ver­
handlungen ziehen. Die Kongresswahlen in den USA könnten zur kriti­
schen Zwischenbilanz der zweiten Amtsperiode von Präsident George W
Bush werden, der den zu Jahresende scheidenden UN-Generalsekretär Kofi
Annan zu einem Abschiedsempfang laden wird. Die Chronisten der laufen­
den Ereignisse werden, lokal wie global, ihre Jahresbilanzen ziehen und die
Prognostiker sowie Trendforscher könnten schon erste Antworten auf die
Frage liefern, was 2007 auf uns zukommt.
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