Einheit 1 von Regina Rudin Die Berufung von Jeremia Jeremia 1 Geschichtlicher Überblick1 Das 8. Jahrhundert v. Chr. Dominierende Grossmacht des 8. Jh. v. Chr. im Vorderen Orient war Assyrien, das sich vom Gebiet des nördlichen Tigris aus immer weiter ausdehnte. Im Westen wurden zuerst die aramäischen und phönizischen Stadtstaaten, um 720 auch Israel endgültig assyrische Provinz. Somit war das Südreich Juda alleiniger Vertreter des Juden­ 10 tums. Der Staat zahlte den Assyrern Tribut, blieb aber ansonsten frei. Als der assyrische König Sargon II. 705 v. Chr. starb, ergriff der judäische König Hiskija die Gelegenheit und stellte die Tribut­zahlungen ein. Nachdem Sanherib, der neue assyrische Kö­ nig, zuerst in seinem eigenen Reich Ordnung 1 Dieser Überblick wurde aus dem «Wege zum Kind» L66, «Jeremia, Exil und Rückkehr», 2002, übernommen. 7/2009 Wege zum Kind 1 Die Berufung von Jeremia geschaffen hatte, zog er gegen Juda und zerstörte 701 nach harten Kämpfen die Stadt Lachisch. Etwa 20 000 Judäer wurden deportiert. Jerusalem selbst konnte Sanherib nicht einnehmen, Hiskija zahlte allerdings nun wieder Tribut. 639/8 v. Chr. Nach einem Putsch und der Ermordung König Amons wurde dessen achtjähriger Sohn Joschija König in Jerusalem (vgl. 2. Könige 21, 14–16). Noch immer war Juda assyrischer Vasallenstaat. Deshalb mussten im Jerusalemer Tempel assyri­ sche Götter (Herr des Himmels: 2. Könige 21, 3.5; 23, 4–5) verehrt werden. Bis 642 war Joschijas Grossvater Manasse König gewesen. Er hatte nicht den Glauben an Jahwe, den Gott Abra­ hams, Isaaks und Jakobs, begünstigt, sondern die Verehrung der kanaanäischen Götter (z. B. Baal und Aschera). Wir müssen darum für die Zeit Jeremias annehmen, dass in weiten Kreisen des Volkes der Glaube an Jahwe alles andere als selbstverständlich war. Nicht zu vergessen ist, dass es überall im Land Heiligtümer gab, in denen Jahwe verehrt wurde. Die Bestimmungen des 5. Buches Mose waren offenbar unbekannt oder nicht in Kraft. des 5. Buches Mose wurden in Geltung gesetzt. War das 5. Buch Mose – oder ein Teil davon – das Buch, von dessen Auftauchen bei Renovations­ arbeiten im Tempel in 2. Könige 22, 8ff berichtet wird und das den Anlass zur Reform gab? Aus dieser Zeit stammen Sprüche aus den ersten Kapiteln des Jeremia­buches, vermutlich auch die Tempelrede in Kapitel 7: Jeremia mahnt das Volk, neben Jahwe keine anderen Götter anzubeten und dessen Gebote zu befolgen. (Die Tempelrede Wir müssen für die Zeit ähnelt der Rede in Kapitel 26, die Jeremias annehmen, Jeremia dann etwa 608 v. Chr. dass der Glaube an unter Joschijas Sohn Jojakim Jahwe alles andere als hielt). selbstverständlich war. 625 v. Chr. König Joschija reformierte den Gottesdienst (vgl. 2. Könige 22, 3–23, 27): Die Verehrung fremder Götter wurde unterbunden und ihre Bilder wur­ den aus dem Tempel entfernt; ihre Altäre wurden entweiht und somit unbrauchbar gemacht. Diese Reform war nur möglich wegen eines aussen­ politischen Umschwungs: Das Reich der Assyrer wurde von den Skythen, einem Reitervolk aus dem Norden, und von den wieder erstarkten Babyloniern bedrängt. Die assyrische Macht geriet ins Wanken. Wegen ihrer Schwäche konnte Joschija es wagen, die Götterbilder, Repräsentanten der assyrischen Herrschaft, aus Jerusalem zu entfernen. Der Gottesdienst wurde jetzt allein und aus­ schliesslich auf Jerusalem beschränkt. Die Gebote Wege zum Kind 7/2009 Relief aus dem Nordpalast von Ninive, das die Zer­ störung der Stadt Susa durch König Ashurbanipal (647 v. Chr.) zeigt. 614–612 v. Chr. Assyrien, durch Kämpfe an verschiedenen Fron­ ten geschwächt und in Bezug auf neue Kriegs­ techniken nicht mehr auf der Höhe, verlor im Laufe des 7. Jh. v. Chr. immer mehr an Bedeutung und Stärke. 614 fiel die Stadt Assur, 612 Ninive un­ ter dem Ansturm des jungen neubabylonischen 11 Reiches und seiner Verbündeten. Dies bedeutete das Ende des assyrischen Grossreiches und dessen Ablösung durch Babylonien. Babylon zurückziehen muss­te, sagte sich Jojakim von seiner Herrschaft los (vgl. 2. Könige 24, 1). Die Folgen trafen Juda erst, als Jojakim bereits gestorben war. 609 v. Chr. 597 v. Chr. Joschija starb im Kampf gegen den ägyptischen Pharao Necho II. Dieser war mit seinem Heer Jojakim war in Jerusalem gestorben, sein Sohn nach Mesopotamien gezogen, um in den Kampf Jojachin (auch Chonja genannt) hatte seine zwischen Assyrern einerseits und Nachfolge angetreten. Der babylo­ Skythen und Babyloniern anderer­ Jeremia widersetzte nische König Nebukadnezar hatte seits einzugreifen (vgl. 2. Könige sich vergebens der unterdessen sein Heer neu geord­ 23, 28–30). anti­babylonischen net und bereits wieder Syrien und Nach Joschijas Tod wurde sein Politik. Es kam, wie es die Stämme im Osten Palästinas Sohn Joahas zum König gesalbt. kommen musste … unterworfen. Dann begann er, Er regierte aber nur drei Monate: Jerusalem zu belagern. Jojachin er­ Als der Pharao von seiner Expedition ins Zwei­ gab sich sogleich der babylonischen Übermacht. stromland zurückkehrte, setzte er Joahas ab und Nebukadnezar liess ihn samt seinem Hofstaat – verschleppte ihn nach Ägypten; dann setzte er Priester, Beamte, Adlige, Handwerker (vor allem Eljakim, einen anderen Sohn Joschijas, als neuen Schmiede) – nach Babylonien deportieren, damit König ein und gab diesem einen neuen Namen: Juda keinen Widerstand mehr leisten könne. Er Jojakim. setzte einen neuen König ein und gab diesem Die Rede in Jeremia 26 dürfte in dieser Zeit, einen neuen Namen: Zidkija (vorher Mattanja; er sicher vor 605 v. Chr., gehalten worden sein. war ein Sohn Joschijas, also ein Onkel Jojachins). Aber offenbar wollte man sich in Jerusalem nicht mit der babylonischen Herrschaft abfinden; man 605 v. Chr. hoffte auf einen baldigen Sturz Nebukadnezars, den Niedergang der babylonischen Macht – und Das Vasallentum Judas gegenüber Ägypten dau­ auf eine baldige Rückkehr der Verbannten. erte bis 605 v. Chr., als in Babylonien Nebukad­ Auch nach dieser Niederlage Judas und der nezar II. König wurde. Er besiegte die Ägypter bei Festigung der babylonischen Herrschaft in Paläs­ Karkemisch am oberen Euphrat und vertrieb sie tina kehrte keine Ruhe ein. Zum einen erschien von diesem Stützpunkt (vgl. Jeremia 46, 2–12). zwischen 595 und 589 der Pharao Psammetich Danach stiess Nebukadnezar mit seinem Heer mit seinem Heer in Palästina, zum anderen ver­ nach Syrien und Palästina vor. In dieser Zeit suchte Zidkija, sich von der babylonischen Herr­ ordnete König Jojakim in Jerusalem schaft zu befreien: Unter seiner Herrschaft (und Jeremia kaufte in ein Fasten an (vgl. Jeremia 36, 1). gewiss mit ägyptischer Unterstützung – Ägypten seiner Heimatstadt beanspruchte ja ebenfalls den Rang einer Gross­ einen Acker – ein macht) kam eine Koali­tion gegen Nebukadnezar Sinnbild der Hoffnung 601/600 v. Chr. zusammen: Juda, Edom, Moab, Ammon, Tyrus auf eine Zukunft. und Sidon verbündeten sich (vgl. Jeremia 27, 1–3). Jojakim hatte sich den Babyloniern Jeremia redete in Got­tes Auftrag gegen diese Po­ unter Nebukadnezar unterworfen. Juda war litik. Von nun an hatte Jeremia eindeutig einen babylonischer Vasallenstaat geworden. Jojakim politischen Auftrag: Er redete gegen die Partei, die nutzte aber die erste Gelegenheit, um von Nebu­ Hilfe bei Ägypten suchte und mit dessen Hilfe kadnezar abzufallen: Als dieser im Jahr 601/600 die Babylonier vertreiben wollte. Aber Jeremia – in Ägypten eine Niederlage erlitt und sich nach und mit ihm wohl auch andere – widersetzten 12 7/2009 Wege zum Kind 1 Die Berufung von Jeremia sich vergebens der antibabylonischen Politik. Es kam, wie es kommen musste: 588 v. Chr. Nebukadnezar begann die Belagerung der Stadt Jerusalem. Zidkija bat um ägyptische Hilfe. Ein ägyptisches Heer zog nach Palästina. Darauf zog das babylonische Heer von Jerusalem ab, um ge­ gen die Ägypter zu kämpfen (vgl. Jeremia 37, 5.11). In dieser Atempause während des Krieges wurde Jeremia verhaftet. 587 v. Chr. Die Babylonier hatten die Ägypter besiegt und die Belagerung Jerusalems wieder aufgenommen. Die Stadt sollte ausgehungert werden. Gleichzeitig schütteten die babylonischen Soldaten Dämme gegen die Stadtmauer auf, um die Mauer über­ winden und in die Stadt eindringen zu können. Vielleicht waren auch Belagerungsmaschinen im Einsatz, die die Mauer einreissen sollten. Jeremia war im Wachthof gefangen (32, 2). Er verkündete einerseits, Zidkija solle sich Nebu­ kadnezar unterwerfen (und ohne die militante Haltung des Hofes hätte Zidkija vielleicht auf Jeremia gehört), andererseits kaufte er einen Acker in seiner Heimatstadt Anatot – ein Sinnbild der Hoffnung, dass Gott seinem Volk wieder eine Zukunft schenken würde. Nach 18-monatiger Belagerung gelang es den Babyloniern (im August 587 oder 586), eine Bresche in die Mauern Jerusalems zu schlagen und die Stadt zu erobern. Der König versuchte zu fliehen, wurde aber gefangengenommen. Er musste der Hinrichtung seiner Söhne zuschauen, wurde geblendet und nach Babylon gebracht. Priester, Beamte und alle Mitglieder der frü­ heren Oberschicht in Jerusalem, die noch am Leben waren, wurden nach Babylon deportiert. Einzelne wurden hingerichtet (vgl. 2. Könige 25 und Jeremia 39ff). Die Babylonier begannen eine Neubesiede­ lung: Äcker, Weinberge und Besitz der Vertrie­ benen wurden an die zurückgebliebene Bevölke- Wege zum Kind 7/2009 Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar, Buch­ malerei um 975 n. Chr. rung der Unterschicht verteilt, die sich dadurch dem babylonischen König verpflichtet fühlte. 586/585 v. Chr. Nach 18-monatiger ­Belagerung gelang es den Babyloniern, Jerusalem zu erobern. Die Babylonier hatten als Statt­ halter Gedalja eingesetzt, ver­ mutlich einen Sohn jenes Ahikam, der Jeremia im Prozess geholfen hatte. Gedalja wurde aber ermordet. In dem darauf folgenden Chaos wur­ de Jeremia mit einer Gruppe von Auswanderern nach Ägypten geführt. Dort verliert sich seine Spur. Die Babylonier siedelten die Verschleppten im Südosten ihres Landes an, wo sie offenbar schon relativ bald zu einigem Wohlstand gelangten. Unter den Deportierten befand sich vermutlich auch der Schreiber der Kapitel 40 bis 55 des Jesa­ jabuches, den man «Deuterojesaja», den «zweiten Jesaja», nennt. 13 Im Exil entstand ein neues jüdisches Selbst­ bewusstsein, das den Deportierten und ihren Nachkommen half, ihre Identität im fremden Umfeld zu bewahren. Hier wurden vermutlich wichtige Teile des Alten Testaments verfasst oder überarbeitet. Jeremia wurde mit einer Gruppe von Auswanderern nach Ägypten geführt. Dort verliert sich seine Spur. 539–530 v. Chr. Das neubabylonische Reich hat­ te nur kurz Bestand. Nach dem Tod Nebukadnezars II. im Jahr 555 v. Chr. brachen unruhige Zeiten an. Der letzte König, Nabû-na’id (Nabonid) versuchte, den Mondgott Sîn, der von Nordsyrien bis nach Arabien verehrt wurde, über den babylonischen Marduk zu stellen, wodurch er den Rückhalt in der babylonischen Oberschicht verlor. Unterdes­ 14 sen erstarkte im Osten das Reich der Meder und Perser und dehnte sich immer weiter aus. 539 v. Chr. nahm der Perserkönig Kyros II. Babylon ein. Juda wurde persische Provinz. Um das Wohlwollen der unterworfenen Völ­ ker zu gewinnen, gab Kyros ihnen ihre heiligen Geräte und Kultstatuen wieder zurück. Ein weiter nicht bekannter Mann namens Scheschbazzar brachte die Tempelgeräte nach Jerusalem und begann mit dem Wiederaufbau der Tempelfun­ damente (vgl. Esra 1, 5–11; 5, 14). Kyros gestattete den Juden die Heimkehr in ihre noch immer verwüstete Heimat. Diese Gele­ genheit wurde aber von den wenigsten genutzt. Die meisten blieben für immer in Mesopotamien, wo sie sich eine neue Existenz auf­gebaut hatten. Sie gaben aber ihren Jahweglauben nicht auf und hielten an Jerusalem als dem Zentrum ihrer Religion fest. 7/2009 Wege zum Kind