Pressemeldung - Berliner Festspiele

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Berliner Festspiele
53. Theatertreffen 06. – 22. Mai 2016
03.02.2016
Pressemeldung Berliner Festspiele
53. Theatertreffen: Die Auswahl
Die Berliner Festspiele veranstalten vom 6. bis 22. Mai 2016 das 53. Theatertreffen. Die
Theatertreffen-Jury gab heute, 3. Februar, die Auswahl der zehn bemerkenswertesten
Inszenierungen bekannt.
Die Kritikerinnen und Kritiker der Jury Till Briegleb, Barbara Burckhardt, Wolfgang HuberLang, Peter Laudenbach, Bernd Noack, Stephan Reuter und Andreas Wilink sichteten und
diskutierten in den vergangenen 12 Monaten insgesamt 394 Inszenierungen aus Deutschland,
Österreich und der Schweiz.
Die 10 ausgewählten Inszenierungen für das Theatertreffen 2016 sind:
– „der die mann“ nach Texten von Konrad Bayer. Regie Herbert Fritsch.
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin
– „Effi Briest – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie“
von Clemens Sienknecht und Barbara Bürk nach Theodor Fontane.
Regie Clemens Sienknecht und Barbara Bürk. Deutsches Schauspielhaus, Hamburg
– „Ein Volksfeind“ von Henrik Ibsen. In einer Bearbeitung von Dietmar Dath.
Regie Stefan Pucher. Schauspielhaus Zürich
– „John Gabriel Borkman“ nach Henrik Ibsen von Simon Stone. Regie Simon Stone.
Burgtheater im Akademietheater, Wien / Wiener Festwochen / Theater Basel
– „Mittelreich“ nach Josef Bierbichler. Regie Anna-Sophie Mahler. Münchner Kammerspiele
– „Schiff der Träume“ Ein europäisches Requiem nach Federico Fellini. Regie Karin Beier.
Deutsches Schauspielhaus, Hamburg
– „The Situation“ von Yael Ronen & Ensemble. Regie Yael Ronen.
Maxim Gorki Theater, Berlin
– „Stolpersteine Staatstheater“ von Hans-Werner Kroesinger.
Regie Hans-Werner Kroesinger. Badisches Staatstheater Karlsruhe
– „Tyrannis“ von Ersan Mondtag. Regie Ersan Mondtag. Staatstheater Kassel
– „Väter und Söhne“ von Brian Friel nach Iwan Turgenjew.
Regie Daniela Löffner. Deutsches Theater, Berlin
Yvonne Büdenhölzer, Leiterin des Theatertreffens, zur diesjährigen Auswahl:
„Die Auswahl des 53. Theatertreffens zeigt eindrücklich eine große Diversität der Stoffe, der
Inszenierungsansätze und der ästhetischen Formen von heutigen Regieteams. Bei aller
Unterschiedlichkeit der Ansätze, verbinden die ausgewählten Inszenierungen inhaltlich die
Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Umbrüchen und deren Folgen für das Individuum.
Eine neue Generation von Regisseur*innen ist beim Theatertreffen angekommen. Mehr als
die Hälfte der Künstler*innen sind zum ersten Mal eingeladen: Daniela Löffner, Ersan
Mondtag, Anna-Sophie Mahler, Clemens Sienknecht, Simon Stone und Hans-Werner
Kroesinger.“
Die Gesamtliste der von der Jury diskutierten Inszenierungen ist ab sofort auf der Webseite
der Berliner Festspiele veröffentlicht.
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[email protected], www.berlinerfestspiele.de
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53. Theatertreffen 06. – 22. Mai 2016
03.02.2016
Das Theatertreffen wird am Freitag, 6. Mai im Haus der Berliner Festspiele eröffnet und wird
bis 22. Mai von Aufführungen und Veranstaltungen des Stückemarkts, des Internationalen
Forums, von Gesprächen und Diskussionen im Camp, Konzerten sowie Preisverleihungen
komplettiert.
Beim Theatertreffen werden der 3sat-Preis (seit 1997), der Alfred-Kerr-Darstellerpreis (seit
1991) und der Theaterpreis Berlin der Stiftung Preußische Seehandlung (seit 1988) verliehen.
Die Zusammenarbeit mit dem Medienpartner 3sat wird im 21. Jahr fortgesetzt. Ausgewählte
Inszenierungen werden im Mai auf 3sat ausgestrahlt und als Public Viewings auf der
Großbildleinwand im Sony Center am Potsdamer Platz bei freiem Eintritt gezeigt.
TERMINE THEATERTREFFEN 2016
– Der Spielplan wird am Freitag, 8. April veröffentlicht.
– Der Vorverkauf startet am Samstag, 16. April um 10.00 Uhr.
– Bekanntgabe Auswahl Stückemarkt Anfang März
– Pressekonferenz zum Start des Theatertreffens am Dienstag, 3. Mai
um 11.00 Uhr im Haus der Berliner Festspiele
Neuberufungen in die Theatertreffen-Jury
Die Berliner Festspiele danken der Kritiker*innen-Jury des Theatertreffens für die geleistete
Arbeit. Traditions- und turnusgemäß kommt es in diesem Jahr zum Wechsel von fünf
Juror*innen im Auswahlgremium für das Theatertreffen. Mit der 53. Festivalausgabe
beenden Barbara Burckhardt, Wolfgang Huber-Lang, Peter Laudenbach, Bernd Noack und
Andreas Wilink ihre Jurytätigkeit. An ihre Stelle wurden Margarete Affenzeller (Wien), Eva
Behrendt (Berlin), Dorothea Marcus (Köln), Christian Rakow (Berlin) und Shirin
Sojitrawalla (Wiesbaden) berufen. Gemeinsam mit Till Briegleb (Hamburg) und Stephan
Reuter (Basel) nehmen sie ab sofort ihre Arbeit für das Theatertreffen 2017 auf.
Das Theatertreffen wird seit 2004 durch die Kulturstiftung des Bundes gefördert.
Pressekontakt: Claudia Nola und Sara Franke
Weitere Informationen finden Sie unter: www.berlinerfestspiele.de/theatertreffen
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„der die mann“ nach Texten von Konrad Bayer. Regie Herbert Fritsch.
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin. Uraufführung 18. Februar 2015
Herbert Fritsch hat es wieder getan: Theater als Abstraktionskunst und Schauspieler*innenfest zusammengeführt. Mit einem Sprachkünstler, dessen Liebe zur rhythmisierten
Sinnfreiheit der von Fritsch in nichts nachsteht: dem Wiener Wörterdadaisten Konrad Bayer,
für den Sprache Klang war und Bedeutung nur Neben- und Nachhall. Die Sprache entzweit
und stiftet Gemeinschaft. Fritschs wunderbare Performer-Brüder und -Schwestern im Geiste
geben sich die Worte und nehmen sie sich: ein kollektives Murmelmurmel, das plötzlich
einen zurücklässt, der arios und tieftraurig vom Alleinsein singt: „Niemand hilft mir.“ Doch
das ist nicht das letzte Wort; denn jetzt kommt Karl! Erst einer, dann zwei, dann sieben Karls,
„der ganze Karl hat sich da versammelt“. Und beim letzten „Kaaarl“ hat das „a“ einen
langen Hall und geht gleich über ins sich rhythmisch verbrüdernde „a und o“ der kompletten
Buchstabenabstraktion. Eine Stimme, ein Rhythmus, ein Körper – ein wonnevoller Moment
der Utopie, zerbrechlich und stark.
„Effi Briest – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie“
von Clemens Sienknecht und Barbara Bürk nach Theodor Fontane.
Regie Clemens Sienknecht und Barbara Bürk.
Deutsches Schauspielhaus, Hamburg. Premiere 19. September 2015
Die Idee tritt auf wie einer dieser typischen Spielplaneinfälle von ziemlich gewollter
Originalität: der traurige Tugendtod der Effi Briest wird inszeniert als lustige Radio-Show.
Umso größer die Überraschung, dass die Beziehung von musikalischer Blödelei und ernstem
Erzählen zur Liebesheirat taugt. Clemens Sienknecht und Barbara Bürk führen im
gemütlichen Samtsessel-Ambiente von „Radio Briest“ die entscheidenden Szenen aus
Fontanes wilhelminischer Kränkungstragödie mit der lockeren Pseudo-Freiheit der Siebziger
als schräges Musical zusammen. Und das gelingt, weil beide Epochen sich ständig in ihren
Verlegenheiten spiegeln. Der Wunsch, ganz anders sein zu wollen, als der geltende Kodex es
vorschreibt, führt in beiden Zeiten zu Unfällen der misslungenen Befreiung. Natürlich ist das
Patchwork aus seriös kostümierten Schlüsselszenen und Pointen eines Provinzradios voll
peinlicher Pullunder- und Paisleyhemdtypen mit dem Faden der Ironie vernäht. Aber wie
daraus ein großes, unterhaltendes Fest der traurigen Betrachtung wird, das ist ein echter Hit.
„Ein Volksfeind“ von Henrik Ibsen. In einer Bearbeitung von Dietmar Dath.
Regie Stefan Pucher. Schauspielhaus Zürich. Premiere 10. September 2015
Regisseur Stefan Pucher umgeht das Risiko einer halbherzigen Aktualisierung des Stoffes,
indem er eine konsequente Aktualisierung vorzieht. Dietmar Daths Fassung ist dabei mehr
als hilfreich, er trifft den Newspeak der Mediendemokratie zielgenau, ohne Ibsen oder die
Story dafür zu verraten. Das Heim von Dr. Tomas Stockmann hat Dath in eine Kleinstadt
„mit der fortschrittlichsten Kommunalverwaltung aller Zeiten“ verpflanzt. Anfangs
verwechselt Markus Scheumanns Tomas die shiny happy people um sich herum mit
aufrichtigen Stützen der Gesellschaft. Dass sein Bruder, der Bürgermeister, eine graue
Eminenz ist, kriegt der Badearzt zwar mit, aber man darf ja wohl noch an das Gute im
Menschen glauben. Genau das ist sein Kunstfehler. Robert Hunger-Bühler alias Peter
Stockmann weiß derweil die Tricks von Open Government zu seinen Gunsten anzuwenden.
Wem er welche Information via Smartphone einflüstert, und wann es angebracht ist,
persönlich im Newsroom eines Schlüsselmediums zu intervenieren: Der Lokalpolitikprofi hat
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53. Theatertreffen 06. – 22. Mai 2016
03.02.2016
das Timing. Stockmann vs. Stockmann, darauf läuft der Konflikt hinaus. Inszeniert als
intrigantes Talkshowspektakel, bei dem das Publikum die Wahl hat: Es kann im Foyer auf
Billings Suggestivfragen einsteigen oder im Saal Tomas Stockmann die Treue halten – dem
Unbeugsamen, dem der Shitstorm seiner Stadt noch bevorsteht.
„John Gabriel Borkman“ nach Henrik Ibsen von Simon Stone. Regie Simon Stone.
Burgtheater im Akademietheater, Wien / Wiener Festwochen / Theater Basel.
Premiere Wien 28. Mai 2015/Premiere Basel 30. Januar 2016
Die Methode des 31-jährigen Australiers Simon Stone ist einfach, doch frappierend: Von den
Stücken, denen er sich widmet, bleibt nur wenig Original-Text erhalten. Er erzählt die
Geschichte in eigenen, heutigen Worten neu. Auch bei Ibsens „John Gabriel
Borkman“ befinden wir uns in der Gegenwart, in der man sich selbst googelt und einander
auf Facebook folgt. Der Finanzskandal, der Borkman ins Gefängnis brachte, hat hartnäckige
Spuren im Internet hinterlassen. Ähnlich wie die Figuren, die sich im Dauer-Schneefall von
Bühnenbildnerin Katrin Brack erst allmählich aus den Schneeanwehungen wühlen, sind
Schmach und Schande nur oberflächlich verdeckt. In der winterlichen Landschaft dieser
immer wieder erstaunlich witzigen Aufführung geht eine Wolfsgesellschaft ans gegenseitige
Zerfleischen. Martin Wuttke als langhaariger, heruntergekommener, in Kübel pissender
Outcast Borkman, Birgit Minichmayr als seine schwer enttäuschte Frau, die
alkoholabhängige Diva Gunhild, und Caroline Peters als ihre krebskranke, zum Sterben
heimkehrende Schwester, schenken einander nichts. Die anderen nehmen da entweder
Reißaus (Max Rothbart als Sohn Erhart) oder kommen unter die Räder (Roland Koch als
versponnener Foldal). Hochdrucktheater, in dem keine Gefangenen gemacht werden und
noch die Sterbenden mit dem „Victory“-Zeichen abtreten.
„Mittelreich“ Musiktheater nach dem Roman von Josef Bierbichler.
Regie Anna-Sophie Mahler. Münchner Kammerspiele. Uraufführung 22. November 2015
Mittelreich zu sein macht mehr Beschwerden, als man sich gemeinhin ausmalt. Als
Gefangener seines Traditionsbetriebs scheint dem Seewirt gar nichts anderes übrig zu
bleiben, als die Fehler früherer Generationen zu wiederholen. Ausbrechen kommt offenbar
nicht infrage, dazu ist die Bodenhaftung zu massiv. Das ist der eine Strang der Handlung,
den Anna-Sophie Mahler in Sepp Bierbichlers Roman freilegt. Der andere Strang erzählt von
den Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg, die zwangseinquartiert wurden und schon
daher auf Ressentiments stießen. Je unaufdringlicher ein Jochen Noch als Viktor sich
räuspert und nur das Nötigste sagt, desto tiefer kriecht einem das unter die Haut, diese
Erkenntnis, dass der Kampf ums Wohlstandsrevier ein ganz archaischer ist, eine
Instinktsache. Es gibt in dieser Adaption eine ganze Reihe von feinen Figurenzeichnungen
und herausragenden Chorarrangements. Aber die Gefahr, dass diese Arrangements ins
Genießerische abdriften, bannt der zweite Teil mit seinen Härten. Extrem stark die
Verwandlung Annette Paulmanns, die im Stuhlumdrehen von der resoluten Wirtsfrau zur
dementen Alten verwelkt. Wunderbar dosiert Steven Scharfs Bekenntnisse vom Irrsinn im
Buben-Internat, wo er unter die Pfaffen fällt und aus lauter Heimweh und
Zärtlichkeitsbedürfnis viel zu viel mit sich anstellen lässt.
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„Schiff der Träume“ Ein europäisches Requiem nach Federico Fellini. Regie Karin Beier.
Deutsches Schauspielhaus, Hamburg. Premiere 5. Dezember 2015
Anderthalb Stunden lang zitiert Karin Beier auf dem Begräbnis-„Schiff der Träume“ (nach
Fellinis Untergangsfilm) immer wieder zart ironisch Marthaler-Momente (mit den MarthalerSchauspieler*innen Bettina Stucky, Rosemary Hardy, Sasha Rau und Joseph Ostendorf als
Teil ihrer umwerfenden Crew), musikalisch, skurril, melancholisch. Wunderbares deutsches
Stadttheater! Bis Komponist Wolfgang und seine Sinfonie „Human Rights No. 4“ von seinem
maliziösen Orchester posthum endgültig erledigt sind und sich der Staub unserer schönen
Ironiekultur aus der Urne ergießt. Denn jetzt kommt der Cut: Afrikaner entern das
Theaterschiff, eine Fünfer-Gang (unter ihnen Gotta Depri und Michael Sengazi, gestählt in
Gintersdorfer/Klaßens deutsch-ivorischen Performances). Kein delikates Licht mehr, keine
zart tröpfelnde Musik. Sie sind dreist, laut, offensiv und wollen ans Oberdeck. Die nächsten
anderthalb Stunden versetzt ihre selbstbewusste Performance das Bestattungsorchester ins
Torkeln zwischen Menschenfreundlichkeit und Besitzstandswahrung, bis zum Kulturen
übergreifenden Tanz. Die endgültige Selbstaufgabe der dekadenten Europäer*innen? Noch
nicht! Der Abend endet als einstweilen noch gescheiterte Probe, an der man weiterarbeiten
wird. Präziser könnte der Zwischenbericht aus der verunsicherten Good-will-Zone nicht sein.
„The Situation“ von Yael Ronen & Ensemble. Regie Yael Ronen.
Maxim Gorki Theater, Berlin. Uraufführung 4. September 2015
Als „The Situation“ bezeichnen im Nahen Osten Palästinenser*innen wie Israel*innen ihre
jahrzehntealte Unversöhnlichkeit. Jetzt treffen sie in Berlin aufeinander: der Palästinenser
mit israelischem Pass, die israelische Schauspielerin, der palästinensische Parkour-Springer,
der syrische Filmemacher, die schwarze Palästinenserin. Im Deutschkurs fordert Stefan
ihnen auf pädagogisch wertvolle Fragen („Wer bist Du?“) korrekte deutsche Antworten ab.
Und bekommt sie natürlich nicht. Yael Ronens vitale Performer*innen mit ihren semibiografischen Geschichten sind alles andere als mitleidheischende Projektionsflächen. Die
vielsprachige Deutschstunde ist radikal komisches Polit-Kabarett der Selbstbehauptung.
Yael Ronens Diversitätspatchwork bringt sämtliche fixen Bilder von Migration und
Integration zum Zerbröseln. Lauter Einzelne beschwören am Ende die Hoffnung auf das
Unmögliche, das manchmal doch geschieht: sich zu verständigen. Anzukommen.
„Stolpersteine Staatstheater“ von Hans-Werner Kroesinger.
Regie Hans-Werner Kroesinger. Badisches Staatstheater Karlsruhe.
Uraufführung 21. Juni 2015
Der Regisseur Hans-Werner Kroesinger und die Dramaturgin Regine Dura haben aus
Personalakten des Staatstheaters Karlsruhe rekonstruiert, wie antisemitische
Diskriminierung und die Entlassung linker und liberaler Theaterkünstler*innen nach 1933 im
Detail funktioniert hat. Schauspieler*innen lesen an einem großen Arbeitstisch, an dem sie
zusammen mit den Zuschauer*innen sitzen, Akten, Zeitungsberichte, Memoiren,
Zeitzeugen-Interviews. Sie wechseln dabei immer wieder für kurze Passagen ins Spiel. Man
erfährt wie in Karlsruhe jüdische Schauspieler*innen, eine jüdische Souffleuse und der
Intendant entlassen, verhaftet, ins Exil oder in den Suizid getrieben wurden. Die einzelnen
Künstler*innen werden nicht auf ihren Opfer-Status reduziert, es entstehen knappe, dichte
Porträts. Das bürokratische Prozedere, das den sozialen Ausschluss und die Vorbereitung des
Völkermords juristisch im Detail regelt, die Legitimation durch Verfahren, die noch in den
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Hetzartikeln des lokalen NS-Blatts die Diskriminierung gerne durch Nennung der
entsprechenden Paragrafen rechtsstaatlich kaschiert, die höflichen, formal stets korrekten
Briefe eines Oberregierungsrats, die der jüdischen Souffleuse die Rechtmäßigkeit ihrer
Entlassung bescheinigen, machen die Inszenierung zu einem Lehrstück über das wertfreie
Funktionieren staatlicher Bürokratie.
„Tyrannis“ von Ersan Mondtag. Regie Ersan Mondtag.
Staatstheater Kassel. Uraufführung 10. Dezember 2015
Im dunklen Wald ruft der Muezzin, der Vater kehrt mit der Axt nach Hause und geht in den
Keller, ein sehr dickes Mädchen erschüttert das Haus mit trotzigem Aufstampfen. In
„Tyrannis“ von Ersan Mondtag ist ständig Märchenstimmung, aber von der unheimlichen Art.
Die rothaarige Familie mit ihren Avatar-Bewegungen, die man per Überwachungskameras in
ihren Zimmern und live in einer sonderlichen Wohnküche beobachtet wie im Menschenzoo,
spricht nicht, lebt nach festen Ritualen und verbirgt Geheimnisse. Sind schreckliche Dinge in
der Vergangenheit geschehen, oder erwarten die zombiehaften Einfamilienhausseelen sie
erst? Assoziationen an Horrorfilme und Computerspiele, David Lynch und Brüder Grimm,
aber auch an Kleinbürgerenge à la Fassbinder und das verschämte Personal von Christoph
Marthaler stellen sich bei der geduldigen Betrachtung von Mondtags Zimmerweltträumen
ein. In der bildmächtigen Verdichtung, die der 28-jährige Performer und Regisseur aus
diesen Einflüssen komponiert, entsteht ein intimer Grusel des Alltags in berückend
eigensinniger Atmosphäre.
„Väter und Söhne“ von Brian Friel nach dem Roman von Iwan Turgenjew.
Regie Daniela Löffner. Deutsches Theater, Berlin. Premiere am 12. Dezember 2015
Daniela Löffner ist eine klar erzählte, bei aller spielerischen Leichtigkeit kluge und sensible
Inszenierung gelungen. Ihre Bearbeitung von Turgenjews Roman „Väter und Söhne“ vertraut
den Schauspieler*innen. Sie zeigt einfühlsam, genau und nicht ohne Komik in ihren Gefühlen
verhedderte Menschen, denen man über die vier Stunden der Aufführung gebannt zusieht.
Turgenjews Roman spielt einen Generationenkonflikt unter Privilegierten durch. Wie es sich
die Studenten in der Pose der großen Verweigerung gemütlich machen und stolz ihren
Nihilismus verkünden, während das Dienstmädchen ihnen den Tee serviert, sind sie von
heutigen Hipstern kaum zu unterscheiden. Löffner ist als Regisseurin, genau wie Turgenjew
als Autor, keine Ideologin, sondern eine hellsichtige, mit menschenfreundlichem Witz
gesegnete Beobachterin. Also wertet sie nicht, sondern lässt die Konflikte im Vertrauen auf
die konturscharf gezeichneten Charaktere mit schöner Beiläufigkeit abrollen. Ihrer Regie
gelingt das Kunststück, Turgenjew als Vorläufer Tschechows zu zeigen und das Spiel in der
Balance zwischen trockener Komik und unsentimentaler Melancholie zu halten.
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