Der Autor an einen Korrektor Hermann Hesse abzufassen ist, wie ich das mir vorher dachte, sondern im Fortschreiten ihres Werdegangs beständig schwieriger und heikler zu werden scheint. Die gemeinsame Arbeit zwischen Autor und Korrektor beginnt ja erst dann, wenn der Autor seine grösste und eigentliche Arbeit, das Schreiben seines Buches, längst getan hat. Eben darum neigt gelegentlich der Korrektor dazu, die ganze noch übrige Aufgabe, nämlich aus dem geschriebenen Manuskript ein gedrucktes Buch zu machen, einzig für seine Aufgabe zu halten, von welcher der Autor möglichst ausgeschlossen werden müsse. Er, der Autor, hat das Seine getan, er hat sein Essay, seine Erzählung, seinen Roman geschrieben, der Verleger hat seine Arbeit übernommen, und Sache des Setzers und des Korrektors ist es nun, aus dem geschriebenen Text einen gedruckten zu machen. Es scheint ganz einfach zu sein. Der Autor hat seine Arbeit geleistet, man hat sie ihm abgenommen, mag er sich nun Ruhe gönnen, bis ein neues Manuskript seine Kräfte fordert! Warum soll er sich nun auch noch um den weiteren Prozess der Buchwerdung kümmern, sich in Arbeiten mischen, die den Fachleuten zustehen? Das mag in manchen Fällen ja notwendig sein und als Ausnahme zugestanden werden, namentlich wenn der Autor noch jung und unerfahren ist und erst beim Anblick der vom Setzer überreichten Korrekturabzüge an manche Verbesserungen seines Textes zu denken beginnt, die ein Mann mit Erfahrung eben schon vor der Ablieferung des Manuskriptes in Ordnung bringt. Völlig unnötig aber, so scheint es vielen und scheint es auch Ihnen, geschätzter Mitarbeiter, ist eine Einmischung des Verfassers in die Arbeit des Korrektors, sobald es sich gar nicht um das Drucken eines Manuskriptes, sondern um den Neudruck eines älteren, schon seit Jahr und Tag gedruckt vorliegenden Buches handelt. Und gerade diese Art von Arbeit Sehr geehrter, lieber Herr Korrektor Da wir beide immer wieder aufeinander angewiesen sein und gemeinsame Arbeit zu leisten haben werden, kann es vielleicht nichts schaden, wenn ich einmal für eine Stunde von den beständigen kleinen Korrekturen, Zurechtweisungen und Erziehungsversuchen, die wir beide einer am andern zu üben gewohnt sind, absehe, und Ihnen etwas Prinzipielles über Ihre und meine Arbeit, das heisst über meine Vorstellung vom Sinn dieser Arbeit, von ihrer Funktion im Ganzen des Volkes, der Sprache, der Kultur zu sagen versuche. Sie wissen, dass es gut und freundlich gemeint ist, und werden mir dies auch dort, wo Sie meine Auffassung keineswegs teilen, zugestehen. Und ich meinerseits setze bei Ihnen, gewiss mit Recht, ein Interesse für diese Gedanken, eine Teilnahme an unsrer gemeinsamen Arbeit, einen Eifer für Ihren Beruf und dessen Bedeutung voraus, denn wer von uns vermöchte seinen Beruf weiter auszuüben, wer ihm treu zu bleiben, ihm Opfer zu bringen und dafür wieder Freude an ihm zu erleben, wenn er nicht immer wieder Lust hätte, dem Sinn dieses Berufes näher zu kommen und seine Entartung in ein starres System von mechanischen Handgriffen zu verhindern. In der Epoche der Technik, der allgemeinen Überschätzung des Geldes und der Arbeitszeit ist ja jeder Beruf und jeder arbeitende Mensch, auch der gutgewillte, stets von neuem der Gefahr ausgesetzt, lebloser Maschinenteil zu werden und seine Arbeit aus einer persönlichen und verantwortlichen zu einer schematisierten und fabrikmässigen werden zu lassen. Gerade aus dem Widerstand, den Sie zuweilen meinen Absichten und Auffassungen entgegensetzen, kann ich erkennen, wie ernst Sie Ihren Beruf nehmen. Wäre ich nicht davon überzeugt, so würde ich mir ja gewiss auch nicht die Mühe dieser Erklärung machen, welche – ich merke es schon bei diesen einleitenden Sätzen – durchaus nicht so leicht 1 und Interpunktion, und wenn der Dichter je nach seiner augenblicklichen Laune ein e oder s oder ein Komma setze oder weglasse, wenn er selber das einemal «heut», das andremal aber «heute», das einemal bei der gleichen Stelle in einem Satzbau ein Komma, das andremal einen Strichpunkt setze, dann sehe man ja, dass der Dichter selber seiner Zeichensetzung durchaus nicht so sicher sei, und es sei gut, wenn ein Korrektor darüber wache, dass diese äusserlichen Formen und Ausdrucksmittel einheitlich angewendet würden. Und nun zitieren Sie, lieber Herr Korrektor, Ihren Hausheiligen und Ihr Gesetzbuch, den Duden. Es kann nun sein, dass ich in mancher Einzelheit dem Duden Unrecht tue, d. h., dass ich bei ihm hier oder dort eine Starrheit und Härte mehr vermute, als er wirklich enthält, ich kann das nicht kontrollieren, denn ich besitze keinen Duden und habe nie einen besessen. Nicht weil ich etwa eine Abneigung gegen Wörterbücher hätte, ich besitze ihrer manche, und eines von ihnen, das grosse Grimm’sche Wörterbuch der deutschen Sprache, gehört zu meinen Lieblingsbüchern. Ich bin auch nicht dagegen, dass es so etwas wie einen Duden gebe, eine Vorschrift für die Rechtschreibung und eine allgemeine Anweisung für den Gebrauch der Interpunktionen. In Zeitaltern, in denen alle schreiben und die meisten schlecht schreiben, sind solche Hilfsmittel durchaus notwendig und willkommen. Was ich gegen den Duden habe, ist nichts Prinzipielles; es ist gut und richtig, dass ein gewissenhafter Schullehrer seinem Volk bei Rechtschreibung und Interpunktion durch Ratschläge behilflich sei. Aber Duden, das wissen Sie ja, ist längst kein Ratgeber mehr, sondern ein unter einem scheusslichen Gewaltstaat allmächtig gewordener Gesetzgeber, eine Instanz, gegen die es keine Berufung gibt, ein Popanz und Gott der eisernen Regeln, der möglichst vollkommenen Normierung. Vielleicht gibt auch Duden zu, dass man sowohl heut wie heute, sowohl Tür wie Türe, sowohl Miethaus wie Mietshaus sagen könne, ich weiss es nicht. Sie können es ja nachschlagen. Ich weiss nur, dass Ihre Setzer und Sie mir nicht erlauben wollen, von dieser herrlichen Möglichkeit Gebrauch zu machen und, je nach Bedarf, bald heut bald heute, bald hieher bald hierher, bald unsre bald unsere zu sagen. Dies ist es, wogegen ich mich wehre und wehren muss, denn es geht hier um Dinge, für welche es keinen Duden und keine staatliche oder beruf- ist es nun, die wir beide des öftern zu leisten haben, denn ich bin ein alter Mann, und es kommt selten mehr vor, dass Neues von mir zu drucken ist, während wir immer wieder vor der Aufgabe stehen, irgend eines von meinen früheren Büchern, die infolge der Hitler’schen Verbote sowie der amerikanischen Bomben seit Jahren nicht mehr vorrätig sind, neu zu drucken. Sofern ich, der Autor, nicht eine Neubearbeitung dieser Texte unternehmen, sondern sie einfach in der frühern Gestalt neu gedruckt sehen will, sollte das doch wirklich ohne mich geschehen können und lediglich eine ziemlich mechanische Arbeit des Setzers und des Korrektors sein. Ja, so sollte man denken. Und doch ist es nicht so. Wenn ich darauf verzichte, die Korrektur selbst mitzulesen und jeden Buchstaben des Textes genau zu prüfen, dann entsteht unter des Setzers und Ihren Händen ein Text, der zwar bei ganz oberflächlicher Prüfung der alte zu sein scheint, in Wirklichkeit aber vom Urtext in Dutzenden, nein in Hunderten von Kleinigkeiten abweicht. Wenn in meinem Text etwa steht «Er öffnete die Türe weit ...», dann haben Sie zwar nicht ganze Worte weggelassen oder hinzugefügt, aber Sie haben zum Beispiel aus der «Türe» eine «Tür» gemacht. Und damit haben wir schon einen der häufigsten Fälle jener Veränderungen genannt, die mein Text unter Ihrer und des Setzers Hand erleidet, eine jener hundert Stellen, die Sie verbessert zu haben glauben, während ich der Meinung bin, sie sei nicht verbessert, sondern verdorben worden. Es geht immer nur um scheinbar Winziges, um einen oder zwei Buchstaben, um eine «Tür» statt der «Türe», um ein «heute» statt des von mir geschriebenen «heut», um ein «im Laufe» statt meines «im Lauf», um ein «andrer» statt meines «anderer». Ich schrieb «Miethaus» und Sie machen «Mietshaus» daraus, ich schrieb «unsrem» und Sie drucken «unserem», und so fort, lauter winzige Kleinigkeiten, aber sie gehen in die Hunderte. Wenn nun jemand Sie fragen würde, ob Sie wirklich und ernstlich daran glauben, der deutschen Sprache mächtiger und sicherer zu sein als Ihr Autor, so würden Sie ohne Zweifel diesen Gedanken weit von sich weisen. Sie würden sagen, eine solche Selbsteinschätzung liege Ihnen ebenso fern wie eine Geringschätzung des Dichters und seiner sprachlichen Potenz. Aber dichten sei dichten und drucken sei drucken, und es gebe nun einmal eine Norm und eine Konvenienz für Schreibweise 2 den verfahren, wie Sie beim Korrigieren einer Roman-Korrektur zu verfahren gelernt haben. Sie würden also im grossen ganzen auf treue Wiedergabe der Vorlage, zugleich aber doch auch auf eine gewisse Beaufsichtigung und Normierung der Notenschrift bedacht sein. Sie würden sich zum Beispiel niemals erlauben, einen ganzen Takt wegzulassen, wohl aber da und dort eine Viertel- oder Achtel- oder Sechzehntelnote, oder Sie würden wenigstens da und dort, wo der Komponist Ihnen zu willkürlich vom Schema abzuweichen scheint, aus zwei Achteln ein Viertel machen, ein passend scheinendes Accelerando-Zeichen einfügen, ein unpassend scheinendes weglassen. Es wären lauter winzig kleine, von Duden erlaubte, ja gebotene Eingriffe, aber sie würden das Musikstück ganz erheblich vergewaltigen. Und in zehn oder zwanzig Jahren würde ein anderer Notendrucker dieses Stück nach Ihrer Version wieder neu abdrucken, vom Setzer wieder mit neuen, winzigen Eingriffen nach einem neuesten, revidierten Duden versehen. Dann würde eine dritte, vierte, zehnte Neuausgabe dieses Musikstückes ungefähr so aussehen, wie ein grosser Teil der wohlfeilen Klassikerausgaben unsrer Dichter in der Zeit vor der Wiederentdeckung des Verleger- und Herausgeber-Gewissens ausgesehen hat. Ich erschrecke, Verehrter, über den Umfang, den das Briefchen, das ich Ihnen hatte schreiben wollen, mir unter den Händen angenommen hat. Je älter ich werde, desto schwerer fällt mir das Schreiben, und je schwerer das Schreiben mir fällt, desto mehr Atem und Raum brauche ich, um über die unendlichen Möglichkeiten zu Missverständnissen hinweg dennoch etwas wie Eindeutigkeit und Gültigkeit des Geschriebenen zu erreichen. Aber vielleicht war es nicht vergeblich; vielleicht träumen Sie nun des Nachts einmal von weggestrichenen Buchstaben, so wie ein Feldherr vielleicht gelegentlich einmal von gefallenen Soldaten träumt. Sie tun ihm dann vielleicht plötzlich leid, und vielleicht fragt er sich, ob ihr Opfer eigentlich wirklich unvermeidbar war. liche Autorität gibt und für die der Dichter und Schriftsteller allein die Verantwortung trägt. Ob ich sage: «Schliess die Tür» oder «Schliesse die Türe», das ändert am Sinn des Satzes nichts. Es ändert aber anderes. Es ändert – Sie brauchen den Satz nur laut zu sprechen – den Rhythmus und die Melodie des Satzes vollkommen. Die beiden weggelassenen Buchstaben machen aus ihm etwas ganz und gar anderes, nicht was den sachlichen Inhalt angeht, den der Satz ausdrückt, sondern in bezug auf seine Musik. Und die Musik, und zwar ganz besonders die Musik der Prosa, ist eines der wenigen wahrhaft magischen, wahrhaft zauberischen Mittel, über welche auch heute noch die Dichtung verfügt. Diese winzigen Silben, hinzugefügt oder weggelassen, nötigenfalls unterstützt durch die Interpunktion, haben eine rein dichterische, vielmehr eine rein musikalische Funktion und Bedeutung. Sogar die Literaturwissenschaft hat das seit kurzem entdeckt und zum Gegenstand intensiver Forschungen gemacht. Und nun, wenn Sie mir bis hierher freundlich gefolgt sind, folgen Sie mir noch einen kleinen Schritt weiter. Stellen Sie sich bitte einen Augenblick lang vor, Sie wären Korrektor nicht in einer Druckerei für Literatur, sondern in einer Notendruckerei für musikalische Werke. Als Vorlage für den Druck hätten Sie irgend eine Partitur, einen Klavierauszug oder sonst ein Werk, sei es in der Handschrift des Komponisten, sei es in einem älteren Druck. Als Mitarbeiter hätten Sie den Notenstecher, und mit ihm gemeinsam hätten Sie als Wegweiser und Richtschnur einen musikalischen Duden, das Buch eines musikalischen Schullehrers also, das über die Gesetze und Mittel des musikalischen Ausdrucks, soweit er sich in Notenbildern wiedergeben lässt, Bescheid gibt, dessen Autor ein guter Kenner der musikalischen Sprache, jedoch kein Schöpfer und vielleicht auch kein wirklicher Freund und Versteher der musikalischen Meister ist. Sein Buch hätte die Aufgabe, Leuten als Berater zu dienen, welche Musik schreiben wollen, ohne die Gesetze, Gewohnheiten und Handwerksregeln dieser Tätigkeit ganz zu beherrschen. Das Fatale an diesem wohlgemeinten und sehr nützlichen Buche wäre nur, dass es in einem an Gehorsam gewöhnten Volk durch staatliche Autorität als unbedingt massgebend eingeführt wäre. Mit Ihrem nach seinem Musik-Duden gedrillten Notenstecher würden Sie nun also den Druck eines Notenwerkes beginnen. Sie wür- Hermann Hesses Text erschien am Samstag, dem 5. Oktober 1946, in der Morgenausgabe der «Neuen Zürcher Zeitung». 3