als PDF downloaden - ESCH. The Brand Consultants

Werbung
Customer-Journey
„Da tun
sich
Abgründe
auf“
Die Markenberatung Esch
hat 18 Top-Versicherer
­getestet – und den Prozess bis
zum Abschluss einer
Altersvorsorge dokumentiert.
Undercover, wohlgemerkt.
Die Ergebnisse sind vernichtend
28 | W&V ??-2016
04_17_028-033_Esch_Ben.indd 28
20.01.17 11:40
TEXT UND I NTERVI EW: B e n Kr isc hke
Fotos: Caro/Kaiser; Unternehmen
M
arkus Bechthold ist 22 Jahre
jung, ledig, steht am Anfang
seiner Karriere als Unternehmensberater und verdient bereits ganz gutes Geld. Und weil Risikobereitschaft nicht so seins ist, vorausschauende
Investition aber sehr wohl, bemüht er
sich – ganz wie es Mutti gefallen würde – um eine Altersvorsorge. Aber:
Markus Bechthold heißt eigentlich
anders – und auch sein Lebenslauf
ist frei erfunden.
Über einen Zeitraum von drei
Monaten hat „Bechthold“ für
die Markenberatung Esch
The Brand Consultants die
Rolle des Kunden eingenommen und den Prozess
bis zum ­Abschluss einer
Altersvorsorgeversicherung dokumentiert. Undercover. Im Zuge der Studie wurden 200 Kontaktp u n kt e g e p r ü f t u n d
22 Beratungsgespräche geführt. Die Experten haben
so 18 deutsche Top-Versicherer wie HUK-Coburg,
Allianz, Generali oder Ergo
getestet – und sind zu einem
vernichtenden Ergebnis gekommen: Nicht nur, dass Versicherer Potenzia­le verschenken, sondern auch in der Beratung kam es immer wieder zu
eklatanten Fehlern (Kästen auf
den folgenden Seiten). Gerade die
Berater taten sich schwer, repräsentativ aufzutreten und einen positiven
Eindruck bei Bechthold zu hinterlassen, aber auch an den digitalen Kontaktpunkten und Services – vom Social-Media-Auftritt über Apps und Beraterchats bis
zum Onlineabschluss – hapert es gewaltig.
Oftmals seien den Verantwortlichen die strukturellen und personellen Probleme völlig bewusst,
aber zu wenig werde dagegen getan, sagt Franz-Rudolf
Esch, Gründer von Esch The Brand Consultants. Ein
Gespräch über Glaube und Wirklichkeit, Vertreter, die
sämtliche Klischees erfüllen, und darüber, was sich konkret verbessern muss, damit Kundenservice nicht nur
propagiert wird.
W&V 4-2017 | 29
04_17_028-033_Esch_Ben.indd 29
20.01.17 11:40
Wenn Sie mit den Vorständen darüber reden,
was alles falsch läuft, dann hält die Schockstarre nicht lange an. Vielen in der Branche ist
also irgendwie bewusst, dass es Punkte gibt,
die nicht stimmen, aber vielleicht auch nicht
leicht zu verändern sind.
Wie sehen diese Probleme konkret aus,
mit Blick auf Marke und Vertrieb?
Zunächst mal ist es immer schwierig, Customer-Journeys so zu gestalten, dass man den
Kunden komplett entlastet. Vor allem, wenn
es darum geht, digitale und reale Kontakte
sinnvoll zu verknüpfen. Das ist ein Problem,
das andere Branchen auch haben. Daran muss
man natürlich arbeiten. Der andere große Teil
betrifft aber auch die Menschen in der Versicherungsbranche und wie sie mit den Kunden
umgehen. Hier tun sich Abgründe auf.
Was meinen Sie?
Franz-Rudolf
Esch Der Autor
und Direktor des
Instituts für
Marken- und
Kommunikationsforschung
(IMK) an der EBS
Business School
in OestrichWinkel forscht
seit mehr als
25 Jahren in den
Bereichen
Markenführung,
Kommunikation
und Konsumentenverhalten
H
err Esch, drei Monate lang war Ihr
Undercoveragent als Markus
Bechthold auf der Suche nach einer
Altersvorsorge. Ihr Fokus lag dabei
nicht auf dem Produkt, sondern auf dem
Service bis zum Abschluss. Haben Sie die
schlechten Ergebnisse überrascht?
Wir arbeiten für einige Versicherungen und
hatten uns tatsächlich nicht vorgestellt, dass
die Ergebnisse so schlecht ausfallen würden.
Als ich die Studie gelesen habe, dachte
ich mir mehrfach: „Das gibt’s doch gar
nicht!“ So finden sich etwa sämtliche
Klischees über Vertreter wieder. Ist Ihre
Studie nur eine Momentaufnahme?
„Momentaufnahme“ würde ja bedeuten, dass
es vorher besser war oder danach besser wird.
Unsere Studie ist vor allem ein sehr repräsentativer Blick in eine Branche, die mit einigen
Problemen zu kämpfen hat. Spannend ist:
Häufig stellt sich die Frage des Könnens und
Wollens. Natürlich haben die Versicherer bei
Beratern, Agenturen oder sonstigen Unternehmen, die in ihrem Auftrag unterwegs sind,
nicht immer den Zugriff, den sie vielleicht
gern hätten oder den man sich wünschen
­würde. Wir sehen aber auch, dass sich gerade
ältere Versicherungsvertreter mit modernen
Schulungstechniken schwertun oder einfach
nicht bereit sind, zu lernen, was nach heutigem Kenntnisstand sinnvoll ist – und was
nicht.
Was zur Folge hat, dass man es einfach
so macht, wie man es schon immer
gemacht hat?
Das auch. Aber unser Markus Bechthold wurde beispielsweise zu einem Vertreter nach
Hause gebeten, wo er in einem nicht sehr
­repräsentativen Wohnzimmer in einer nicht
sehr repräsentativen Wohnung in einem nicht
sehr repräsentativen Viertel saß. Neben dem
Vermögensberater war auch dessen Frau oder
Freundin mit dabei, die sich immer wieder
mit Kommentaren in das Beratungsgespräch
eingeklinkt hat. Außerdem wurden Dinge verlautbart, beispielsweise wie stolz der Berater
doch sei, dass er schon so vielen Leuten zu
einem schicken Eigenheim und Wohlstand
verholfen habe. Ich habe unseren Agenten
dann hinterher gefragt, warum er nicht mal
eingeworfen hat, warum er denn selbst kein
schickes Eigenheim vorweisen kann, wenn er
30 | W&V 4-2017
04_17_028-033_Esch_Ben.indd 30
20.01.17 11:40
doch so gut ist. Das hat er sich aber in der
Situation nicht getraut zu fragen (lacht).
me geben, Präsenzveranstaltungen, Prüfungen und anderes.
Ach, gönnen Sie uns doch noch so eine
Geschichte, bitte.
Vertrauen und ein gutes Verhältnis zum
Kunden sind doch die Grundlage für alles,
was danach kommt. Wie kann es dann
sein, dass überhaupt solche grundlegenden Probleme auftreten?
Ich könnte Ihnen viele Geschichten erzählen.
Ein Vertreter einer anderen Versicherung, der
schon etwas älter war, packte ein Fotoalbum
aus, zeigte Bilder seiner Familie und von vielen Kindern, deren Pate er angeblich ist. Das
lief darauf hinaus, dass er unserem Markus
Bechthold vermittelte, dass er bei so einem
guten Menschen wie ihm doch in sicheren
Händen sei und man ihm in Vermögensfragen
komplett vertrauen müsse. Deshalb empfehle
er auch, sofort für Produkt A zu unterschreiben. Ohne jegliche Beratung.
Berater, die Klischees bestätigen und
Kunden verschrecken. Sind das tägliche
Erfahrungen?
Die beiden Beispiele sind natürlich Extreme,
aber sie zeigen auch, wie weit die Palette
reicht. Hier muss man als Versicherer ansetzen und überlegen, was man tun kann, um
dem Kunden die verständliche und klare Beratung zu bieten, die er sich wünscht. Außerdem zeigen solche Fälle, wie eine Marke verloren geht, weil der Vertreter entweder die
Marke nicht nutzt oder glaubt, er sei selbst
eine Marke. Wenn jemand repräsentativ für
ein Unternehmen stehen soll, muss er die
Marke entsprechend auch vertreten. Da dürfen solche Gespräche nicht passieren.
Inwiefern tragen die Marken Mitschuld?
Sind die Qualitätskontrollen so miserabel,
dass – mal salopp formuliert – jeder Depp
Berater sein kann?
Ich glaube, dass die Suche nach geeigneten
Mitarbeitern immer schwieriger wird, auch in
anderen Branchen. Und wenn es wie im Versicherungsgeschäft darum geht, dass Mitarbeiter neben ihren fachlichen Qualifikationen
auch soziale Kompetenzen brauchen, ist es
schwierig, wirksam zu schulen und nachhaltig
Sorge zu tragen, dass das Gelernte dauerhaft
umgesetzt wird. Das setzt einen sehr hohen
Schulungsaufwand voraus, und möglicherweise sind viele Versicherungsunternehmen
einfach nicht bereit, so viel zu investieren. Da
gälte nämlich das Motto: Steter Tropfen höhlt
den Stein. Das Gelernte müsste stetig wiederholt werden, es müsste E-Learning-Program-
Das Augenmerk der Versicherer liegt aktuell
auf der Digitalisierung, wodurch wichtige
Kontaktpunkte wie eine Geschäftsstelle oder
eine Agentur vernachlässigt werden. Das
führt dann zu einem Bild, wie man es teilweise bei Banken sieht. Wenn ich zu meiner Bank
gehe, dann hat sich – mal böse gesprochen –
seit den 80er-, 90er-Jahren nicht viel verändert, außer dass viele Kunden idealerweise im
Vorraum der Bank abgefertigt werden, wo die
Bankautomaten stehen. Und wenn nicht,
dann stehen die Kunden in der Schlange und
warten. Wenn die Digitalisierung zunimmt,
der persönliche Kontakt weniger wird, dann
ist es umso wichtiger, dass die persönliche
„Solche
Fälle
zeigen
auch, wie
eine Marke
verloren
geht“
Keine Kundenbegeisterung, viel Kritik
1. Was der Kunde will und was er
bekommt, sind zwei Paar Schuhe.
„Kunden wollen Entlastung, sich
verstanden fühlen, selbst verstehen und
das richtige Produkt bei einem vertrauensvollen Anbieter abschließen. Klingt
einfach. Ist es aber nicht. Wie die
Key-Insights durch die Kundenbrille
zeigen, wird dem in der Praxis kaum
entsprochen“, schreiben Franz-Rudolf
Esch und sein Team in der Studie.
Konkret kritisieren sie:
2. Alle reden von Kundenbegeisterung,
aber die wenigsten tun etwas dafür.
„Höchste Zeit für Versicherer, den Worten
Taten folgen zu lassen und ihre Hausaufgaben zu machen“, heißt es in der Studie
weiter. Laut Esch The Brand Consultants
sieht das folgendermaßen aus:
– Die Last der Journey liegt auf dem
Rücken der Interessenten.
– Kontakte werden verschenkt und
Abbrüche in Kauf genommen.
– Der Weg zum Verständnis ist steinig
und fördert Misstrauen.
– Mehrwerte der Marke beziehungsweise des Produkts sind nicht erlebbar.
– Berater gehen nicht auf Kunden ein
und hinterlassen einen faden Nach­
geschmack.
– Das große Ganze erkennen und
interne Silos abbauen.
– Den Kunden verstehen und erfolgs­
kritische Punkte aufdecken.
– Die Reiseleitung übernehmen und
den Kunden (digital) entlasten.
– Die Journey auf den Kunden und die
Marke ausrichten und On-/Offline
verzahnen
– Den Vertrieb im Sinne von Kunden
und Marke optimieren.
– Produktempfehlungen basieren auf
Provisionen statt dem Fit der Kunden.
–D
igitale Chancen bleiben ungenutzt,
oder es wird aufs falsche Pferd gesetzt.
W&V 4-2017 | 31
04_17_028-033_Esch_Ben.indd 31
20.01.17 11:40
Konkrete Handlungsempfehlungen
Laut Franz-Rudolf Esch
sollten Versicherer nicht
auf Gütesiegel verweisen und stattdessen die
Marke, zentrale Differenzierungskriterien des
Versicherers oder das
Produkt als Verkaufsargument nutzen. Gekürzt
sehen die Handlungsempfehlungen so aus:
1. Um das Erlebnis zu
steuern, ist das tiefe
Kundenverständnis
erstes Gebot. Basis eines
ganzheitlichen Managements bildet eine Analyse
der bestehenden Berührungspunkte und Journeys sowie der aktuellen
Ausgestaltung und
Abstimmung im Sinne
des Kunden und der
Marke. In diesem Kontext
lohnt sich ein Blick durch
die Kundenbrille, was ihn
frustriert und begeistert.
Versicherer müssen ihrer
Rolle als eine Art Reiseleiter gerecht werden.
2. Auf Basis der Markenstrategie muss ein
nahtloses Erleben
sichergestellt werden.
Ziel ist, an jedem Kontaktpunkt einen positiven
Fingerabdruck der Marke
zu hinterlassen – offline
wie online. Dazu gilt es
zu prüfen, welche
Kontaktpunkte dem
Marken- und Kundenerleben dienen und welche
nicht. Journey und
Markenerleben müssen
insgesamt betrachtet
werden.
3. Die Journey muss zum
Selbstläufer werden. Der
Kunde muss bei seiner
Suche entlastet werden.
Kontaktpunkte müssen
deshalb on- wie offline
„Marketing
muss im
Vorstand
wieder
autark
vertreten
sein“
Hand in Hand gehen und
so gestaltet sein, dass
der Kunde automatisch
von einer Station zur
nächsten gelangt.
4. Wenn der Vertrieb die
Marke nicht lebt, nutzt
die beste Strategie
nichts. Mitarbeiter sind
Markenbotschafter,
deshalb ist die Marke
nachhaltig im Vertrieb zu
implementieren und das
Thema in Schulungs­
konzepten und Vertriebs­
trainings zu integrieren.
5. You can’t manage,
what you don’t measure:
Schlüsselkontaktpunkte,
Prozesse und Vertriebsmannschaft sind regelmäßig anhand relevanter
Erfolgsindikatoren zu
prüfen. Etwa durch
Touchpoint-Audits und
Kundenbefragungen.
Beratung beim Kunden in positiver Erinnerung bleibt. Das geschieht nur, wenn die Banker bei der Beratung dann auch brillieren. Das
tun sie aber leider viel zu selten. Und so ist es
auch bei den Versicherern.
Wo müssen die Marken ihre Berater, also
den Vertrieb, besser unterstützen?
Typisch für die Versicherungsbranche ist, dass
die Aktuare bestimmen, was passiert, weil
die auch die Produkte machen. Beispielsweise
will man für jedes Produkt einen schönen
­Folder und einen schönen Prospekt. Das führt
zum einen zu einer Inflation von Prospekten, die keiner braucht. Zum anderen: Wenn
man mit einem Versicherungsvertreter mitgeht und schaut, was er nutzt, wie er etwas
nutzt und was er braucht, um vor dem Kunden glänzen zu können, dann ist es oft so,
dass nicht alles, was vom Marketing oder anderen Stellen des Unternehmens angeboten
wird, wirklich für eine Beratung taugt oder
relevant ist.
Irgendwann müssen sich diese Dinge ja
mal eingeschlichen haben. Was ist das
Problem im System?
Es gibt zwei große Systemfehler: Der erste ist,
dass die Versicherungsunternehmen unter
„Kundenwert maximieren“ verstehen, den
Wert des Kunden für das Unternehmen zu
maximieren. Und nicht, den Wert für den
Kunden zu maximieren und dadurch auch
den Wert für das Unternehmen. Ich glaube,
von Customer-Centricity sind die meisten
Versicherer meilenweit entfernt, obwohl sie
es sich auf die Fahnen schreiben und im
schlimmsten Falle sogar behaupten, sie wollen
Kunden begeistern. Der zweite Punkt ist, dass
man nicht stark genug aus der Marke heraus
denkt, sondern zu stark aus dem Produkt
­heraus, anstatt sich zu überlegen, wie man
dem Kunden die Markenwerte vermitteln
kann, damit er spürt, wo er ist. Das wäre bei
einem Vertrauensgut wie einer Versicherung
aber extrem wichtig.
Sie schreiben in Ihrer Studie, dass
­Markenbotschaften über verschiedene
Kontakte gar nicht, unzureichend wahrnehmbar oder uneinheitlich gespielt
werden. Was meinen Sie damit?
Wenn Sie sich all das anschauen, was die
­Versicherer selbst im Griff haben, zum Beispiel Media, dann ist bei den Versicherern
formal eine Handschrift zu erkennen. Das
hört aber spätestens dann auf, wenn der
Mensch ins Spiel kommt, wenn er schöne
­Unterlagen der Versicherung vielleicht nicht
berücksichtigt und stattdessen auf irgend­
welche Zettel oder im schlimmsten Fall auf
einen Bierdeckel schreibt, welche Produkte
der Kunde nehmen sollte. Schlimmer wird
es, wenn es um die Inhalte geht, weil man
in weiten Bereichen sehr wenig Informationen darüber findet, wofür eine Marke eigentlich steht.
Welcher Versicherer geht denn mit gutem
Beispiel voran, wenn es um gelungene
Markenbotschaften geht?
Bei der Provinzial zum Beispiel ist „Schutz
und Nähe“ über alle Geschäftsstellen durchdekliniert. Wenn Sie in den Norden gehen,
dann reden die Versicherungsvertreter auch
von Schutz und Nähe und tragen die Engelsflügel sogar am Revers. Das ist aber die Ausnahme, nicht die Regel.
32 | W&V 4-2017
04_17_028-033_Esch_Ben.indd 32
20.01.17 11:40
A m R a n de
Jetzt gab es im Zuge unseres Gesprächs
schon so viel Kritik. Wer hat denn noch
gut abgeschnitten?
Die R+V hat sich noch positiv hervorgetan,
weil man dort als Kunde durch die Bank weg
gespürt hat, wo man ist, und weil man dort
versucht, sich auch in den Kunden hineinzuversetzen. Wenn Sie beispielsweise auf die
Webseite der R+V gehen, finden Sie dort
­einen Fragenkatalog zur Altersvorsorge, der
zu bestimmten Ergebnissen führt. So einen
finden sie aber nur bei genau zwei Versicherern, die wir getestet haben. Man hat gemerkt,
dass die R+V die Customer-Journey ernst
nimmt, bis hin zum Berater, der der entscheidende Gatekeeper in dem ganzen Spiel ist.
Sie haben gerade einen Fragebogen auf
der Webseite eines Versicherers gelobt.
Ich will die Leistung der R+V gar nicht
gering schätzen, aber das klingt so, als
hinkten Versicherer beim Thema Digitalisierung doch noch ziemlich hinterher.
Sie müssen bedenken, dass die Änderung
­einer Webseite bei einer Versicherung mindestens ein Jahr dauert. Wenn sie dann noch
beschließt, das gesamte Briefpapier zu ändern,
dauert es gleich zwei Jahre. In diesem Bereich
hat man hier mit einer sehr großen Komplexität zu tun. Aber Sie haben recht: Wenn man
mal darüber nachdenkt, würde man feststellen, dass es vielleicht sinnvoll wäre, seine Webseite zu modernisieren und zum Beispiel solche Fragebögen mit einem für den Kunden
nachvollziehbaren Ergebnis einzubinden. Das
wäre aber nur ein kleiner Teil des großen Ganzen. Man müsste sich auch die Frage stellen,
wann jemand welche Informationen braucht,
die man auf der Webseite hierarchisch ordnen
müsste. Aber bei vielen Versicherern ist es ja
nicht einmal möglich, sich einen Prospekt
auszudrucken. Wenn Sie dort anrufen, heißt
es dann, Sie müssen in eine Filiale gehen und
sich den Prospekt selbst besorgen.
Was sind denn Ihre konkreten Handlungsempfehlungen für Versicherer?
Zunächst einmal ganz Grundlegendes zu beachten: konsequent vom Kunden her zu denken, seinen Bedarf tiefer zu explorieren und
seine Kundenreise besser kennenzulernen
und zu verstehen, samt den neuralgischen
Kontaktpunkten, an denen man entweder
­begeistert oder enttäuscht. Außerdem interne
Silos abzubauen und Verständnis dafür zu
schaffen, wie wichtig es ist, die Seamless Experience beim Kunden zu gewährleisten. Was
auch bedeutet, dass man die Zahl der Mit­
arbeiter und das Budget, das hierfür aufgewendet wird, gegen alle anderen Bereiche des
Unternehmens verteidigt, auch wenn das zu
suboptimalen Allokationen der finanziellen
Mittel führen kann. Da müsste man intern
auch Transparenz über Prozesse und Strukturen schaffen und sich auf KPIs einigen. Das
alles allein im Marketing aufzufangen ist
­natürlich nicht möglich, schließlich geht der
größte Teil des Briefverkehrs am Marketing
vorbei, zum Beispiel. Außerdem muss man
verstehen, dass der Content aus der Marke
kommt. Und deshalb muss man sich überlegen, wie man die Markenwerte an den diversen Kontaktpunkten der Kundenreise klar
vermitteln kann. Und da verstehe ich beispielsweise nicht, dass sich Versicherungs­
unternehmen lieber auf irgendwelche Test­
urteile und Zertifizierungen verlassen, statt
im Kundenkontakt zu überzeugen. Denn
Zertifikate und Testurteile sind das Austauschbarste überhaupt und jeder hat irgendwelche, die er auch gern präsentiert.
Die 18 getesteten Top-Versicherer im Überblick. Einzig die R+V
und die Provinzial konnten bei
der Customer-Journey wiederholt punkten. Ansonsten waren
die Ergebnisse weitestgehend
schlecht bis miserabel.
Glauben Sie, dass große Versicherer
überhaupt offen sind für Tipps von außen?
Ich unterstelle zunächst einmal, dass Unternehmen nach vorn kommen wollen und entsprechend offen sein müssen für Optimierungsvorschläge. Dazu gehört übrigens auch,
dass das Marketing im Vorstand wieder eine
größere Rolle spielt und autark vertreten ist.
Hat Sie bei Ihrer Untersuchung irgendwas
positiv überrascht – oder waren einzelne
Ergebnisse wenigstens weniger schlimm,
als man erwarten würde?
Mich hat positiv überrascht, dass es den Versicherern, die es gut gemacht haben, wirklich
gelungen ist, unseren Herrn Bechthold zu ent­
lasten. Also sein Problem zu ihrem zu machen.
Sie nannten bisher nur die R+V und die
Provinzial. Viele waren’s ja also nicht.
Um die aufzuzählen, brauchen Sie keine ganze Hand.
ma r ke t i ng @ wu v.d e
W&V 4-2017 | 33
04_17_028-033_Esch_Ben.indd 33
20.01.17 11:40
Herunterladen