© Jürgen Fälchle / Fotolia politik Grenzen des ehrenamtlichen Engagements „Die Flüchtlingskrise ist der Stresstest für das Gesundheitswesen“ Das „Wir-schaffen-das“ von Bundeskanzlerin Angela Merkel, das Deutschlands Tore in der Flüchtlingskrise weit geöffnet hat, hat in den vergangenen Wochen anderen Schlagworten Platz gemacht. Von „gewaltigen Herausforderungen“ ist die Rede und „großen neuen Aufgaben“ für Deutschland. Auch und gerade die gesundheitliche Versorgung von Flüchtlingen steht dabei im Fokus. Es gilt, zusätzlich rund eine Million Menschen im deutschen Gesundheitssystem zu versorgen. Eine Aufgabe, die der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), Prof. Dr. Lothar H. Wieler, jetzt als „Stresstest für das Gesundsheitswesen“ bezeichnete. Der Strom der Flüchtlinge ist im Winter zwar dünner geworden, doch längst nicht abgerissen. Jeder hilft, wie er kann: Wohlfahrtsorganisationen, Unternehmen, Verbände und tausende Privatpersonen - ohne das ehrenamtliche Engagement vieler Helfer oder auch nur mit weniger Engagement würde Merkels „Wir-schaffen-das-System“ vollkommen zusammenbrechen – gerade im Gesundheitsbereich. Viele Ärzte und Zahnärzte engagieren sich: freiwillig, unentgeltlich, selbstverständlich – und unbürokratisch. Fast alle Zahnärztekammern bemühen sich, Lösungen anzubieten: Leitfäden zur Behandlung von Asylsuchenden oder Anamnesebögen in unterschiedlichen Sprachen 14 DFZ 01 ∙ 2016 zum Download im Internet sind beispielsweise Maßnahmen, die Arbeit zu erleichtern. Die Bundeszahnärztekammer hat Piktogramme entwickelt, durch die sich Zahnarzt und Patient durch Bildsprache verständigen können. Der Freie Verband Deutscher Zahnärzte (FVDZ) bietet einen Übersetzungsservice per Telefonhotline an, wenn es kompliziert wird in der Verständigung. Bürokratie hinkt hinterher Doch das Murren, wenn es um dieses ehrenamtliche Engagement in der Flüchtlingskrise geht, ist deutlich hörbar. Die Be- politik fürchtungen, dass sich die Politik auf die Freiwilligenarbeit als Dauerlösung verlässt, ist groß. Denn die deutsche Bürokratie hinkt hinterher. Die Zahnärztekammer Berlin beispielsweise wandte sich jüngst an den zuständigen Sozial- und Gesundheitssenator der Stadt, Mario Czaja, und forderte Unterstützung durch die Politik. „Die Grenzen unseres Engagements sind erreicht: Viele der ehrenamtlich Tätigen arbeiten mangels Versorgungsalternativen für die Flüchtlinge bis weit über ihre physische, psychische und zum Teil auch private finanzielle Belastbarkeit hinaus“, machte Dr. Wolfgang Schmiedel, Präsident der Zahnärztekammer Berlin, deutlich. „Wir können und wollen jedoch unsere Tätigkeit nicht als kostengünstige Dauereinrichtung verstanden wissen.“ Der Berliner Gesundheitssenator reagierte mit einiger Verzögerung und sagte im Dezember die Erstattung von Leistungen für noch nicht registrierte Flüchtlinge zu. Ein Abrechungsprocedere werde besprochen. Kammerpräsident Schmiedel ist erleichtert über den Etappensieg, „dennoch bleibt auch weiterhin viel zu tun.“ Hunderte Menschen kommen allein in Berlin jeden Tag in die Erstaufnahmestellen. Zahnarzt Dr. Peter Nachtweh ist von Anfang dabei, wenn es um zahnmedizinische Ersthilfe geht. Seit gut einem halben Jahr legt er mindestens zwei Mal pro Woche eine Freiwilligen-Schicht in einer der großen Erstaufnahmeeinrichtungen ein. „Es ist eine gewisse Normalität eingetreten“, sagt Nachtweh. Und trotz organisatorischem Chaos, das weiterhin bestehe, auch eine gewisse Entspannung. Viele der registrierten Asylsuchenden hätten inzwischen zumindest den erforderlichen Behandlungsschein (grün mit großem Z), um sich zahnärztlich behandeln zu lassen, wenn eine Behandlungsbedürftigkeit bei der Erstuntersuchung attestiert wird. Damit sind zumindest Notfallbehandlungen, die in den Praxen von niedergelassenen Kollegen stattfinden oder in der Zahnklinik der Charité, abzurechnen. Eine nachhaltige Lösung sei das aber noch lange nicht. Folgekosten sind in langer Frist höher Doch gerade diese Notfallbehandlungen werfen weitere Fragen auf. Welche Behandlung ist die richtige? Geht es wirklich nur darum, schnell, adhoc Schmerzen zu beseitigen oder nachhaltig zu behandeln – mit der Perspektive, Folgekosten zu vermeiden und zunächst aber teurer zu behandeln. Dies sieht allerdings das Gesetz nicht vor. „Die meisten Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, haben auch eine Bleibeperspektive, da sie aus Kriegsgebieten wie Syrien kommen“, sagt Dr. J. David Ingleby von der Universität Amsterdam. Der emeritierte Professor widmet sich in seiner Forschung hauptsächlich dem Thema „Migration und Gesundheit“. Bei einem wissenschaftlichen Symposium zur Gesundheitsversorgung von Asylsuchenden in Berlin machte er deutlich: „Die Zahlen von Migrationswellen weltweit zeigen, dass die Folgekosten in der langen Frist immer höher sind, wenn in der Erstversorgung gespart und die Zugangshürden zum Gesundheitssystem zu hoch sind.“ Anhand von Zahlen belegte Ingleby, dass die aktuell als Krise erlebte Flüchtlingssituation in Deutschland nicht zu einer Krise hätte führen müssen, denn: „Die heutige Krise hat vor fünf Jahren begonnen, jetzt wird das Gesundheitssystem überrannt, doch darauf hätte man auch in Deutschland vorbereitet sein können.“ Im Vergleich zu anderen Ländern in der Europäischen Union, so geht aus den Studien der European Cooperation in Science 01 ∙ 2016 DFZ 15 politik and Technology hervor, sei das deutsche Gesundheitssystem ausgesprochen schlecht für Asylsuchende zugänglich – dies mache sich in der aktuellen Lage deutlich bemerkbar. „Auf lange Sicht werden durch den restriktiven Zugang der Asylsuchenden zum Gesundheitssystem etwa 1,5 Milliarden Euro verschwendet“, sagte Ingelby. Krise als Chance zur Strukturveränderung Dass die gesundheitliche Versorgung von Flüchtlingen neue Aufgaben für das Gesundheitssystem mit sich bringt, die mit hoher Priorität behandelt werden müssen, steht für Forscher aus unterschiedlichen Bereichen außer Frage. Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften und die Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften haben eine gemeinsame Stellungnahme herausgegeben, um sich des Flüchtlingsproblems anzunehmen. In dieser favorisieren die Akademien „eine medizinische Versorgung in den Erstaufnahmeeinrichtungen durch spezialisierte Polikliniken, in denen die medizinische Grundausstattung hinsichtlich Diagnostik und Therapie ebenso zur Verfügung steht wie die Versorgung durch Allgemeinärzte ebenso wie durch temporär anwesende Fachärzte sowie medizinische (Fach-)Dolmetscher. Dass dieser Zustand vermutlich eher Wunsch als Wirklichkeit ist und an der alltäglichen Realität in den Erstaufnahmezentren und Wohnheimen für Flüchtlinge scheitert, wurde bei einer Diskussionsrunde während des Symposiums deutlich. RKI-Präsident Wieler betonte: „Die Flüchtlingskrise ist der Stresstest für das Gesundheitswesen, an dem wir vieles ablesen können.“ Die aktuelle Krise sei auch eine Chance, Strukturen zu verändern und zu flexibilisieren. Krisenmanager in der Kritik Doch es ist offenbar keine Kleinigkeit, bestehende Strukturen auf den Prüfstand zu stellen. Die Krisenmanager stehen im Kreuzfeuer: Gegen den Berliner Sozialsenator Czaja wurde jüngst gar Strafanzeige von einer Gruppe von Anwälten wegen der chaotischen Zustände am Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales gestellt, wie die Berliner Morgenpost berichtete. Der Vorwurf: Körperverletzung und Nötigung im Amt. Neben der Zahnärztekammer hatten auch die Ärztekammer und freiwillige Hilfsorganisationen die katastrophalen Zustände beklagt und dringende Abhilfe gefordert, um eine „menschenwürdige Versorgung“ zu gewährleisten. Auch der oberste „Krisenmanager“ Bundesinnenminister Thomas de Maizière geriet im Dezember weiter in die Kritik: Im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) stapeln sich die Asylanträge. Der Rückstau unbearbeiteter Anträge beträgt Monate. Doch eine echte Veränderung der Strukturen oder der Arbeitsabläufe geht nur schleppend voran. Immerhin hält der Minister in der Asylbehörde nun „Wochenendarbeit für möglich und zumutbar“. Es sind auch eben jene komplizierten Verwaltungsstrukturen zur Prüfung von Asylanträgen, die eine schnelle Klärung des Bleibestatus’ von Flüchtlingen unmöglich machen – und damit auch den regulären Zugang zum deutschen Gesundheitssystem versperren. „Neben den humanitären Gründen stehen ökonomische Gründe in diesem Punkt durchaus im Vordergrund“, betonte Prof. Dr. Rainer Sauerborn, Leiter des Institute of Public Health des Universitätsklinikums Heidelberg bei dem Berliner Symposium. „Je restriktiver unser System ist, um stärker steigen die Kosten pro Flüchtling.“ Sabine Schmitt Wafaa Alhasan übersetzt die Sprache der Zahnärzte „Die meisten bedanken sich für die Hilfe“ Seit Mitte November ist die 35-jährige syrische Zahnärztin Wafaa Alhasan für den Freien Verband Deutscher Zahnärzte tätig: Bei Anruf übersetzt sie, was der Zahnarzt seinem arabisch oder kurdisch sprechenden Patienten sagen möchte – und natürlich auch umgekehrt. So spielt die Sprachbarriere zwischen beiden keine große Rolle mehr. Der größte Traum von Wafaa Alhasan ist, wieder in ihre kurdische Heimat in Syrien zurückkehren zu können. In der Stadt Kamischli direkt an der Grenze zur Türkei hat die junge Frau die vergangenen Jahre vor ihrer Flucht Anfang 2014 gelebt, war hier acht Jahre lang selbständig als Zahnärztin tätig. Die Praxis musste sie aufgeben und lebt jetzt im ostfriesischen Aurich – als Asylbewerberin, zusammen mit ihrem Ehemann und dem gemeinsamen Kind Sarah Lydia. Das aufgeweckte Mädchen war auch der eigentlich Grund für die Reise nach Deutschland: Sie sollte nicht in einen Krieg hineingeboren werden und schon gar nicht mit Tod, Elend und Bomben aufwachsen. Deshalb reisten die Alhasans Anfang 2014 aus Syrien aus. Die Flucht durch die Türkei und die gefährliche Überfahrt auf einem seeuntüchtigen Schlauchboot blieb dem Ehepaar erspart, auch der Fußmarsch durch die Balkanstaaten. Die beiden 16 DFZ 01 ∙ 2016 reisten per Flugzeug in die Bundesrepublik ein. Zunächst ging es per Linienflug nach Damaskus, dann per Bus nach Beirut, und von dort dann wieder per Flugzeug über Istanbul im Februar 2014 nach Bremen. Alhasan ist froh, dass die Flucht recht problemlos war. Denn sie war damals hochschwanger: Am 12. April wurde im ostfriesischen Aurich ihre Tochter geboren. Die Verständigung ist problemlos möglich Dass die kleine Familie überhaupt nach Aurich kam, hat gute Gründe: Die Eltern von Alhasan leben bereits hier, sind zwei Monate vor ihr in die Kreisstadt gekommen. Ein Bruder wohnt in Großefehn, nicht weit entfernt von Aurich. Gleichwohl möchte die 35-jährige Kurdin gerne wieder in die Heimat, wenn die Umstände es zulassen, wenn also Frieden herrscht in Syrien. „Ich kann nicht einfach zurückgehen“, bedauert sie mit Blick auf den Krieg. © Trueffelpix/Fotolia politik Alhasan ist deshalb froh, in Deutschland zu sein. Und sie würde auch gerne wieder in ihrem erlernten Beruf als Zahnärztin arbeiten. Es gebe zwei Möglichkeiten dafür, hat sie in Erfahrung gebracht, „dass ich eine Berufserlaubnis bekomme oder eine Approbation“. Aber beides „ist ein bisschen schwierig, aber ich will es versuchen“. Und „das braucht seine Zeit“. Die ersten Schritte hat sie bereits gemacht und seit ihrer Ankunft 2014 die deutsche Sprache erlernt, den B1- und den B2-Spachkurs erfolgreich absolviert. Sie spricht inzwischen so gut deutsch, dass eine Verständigung problemlos möglich ist. pien nicht möglich sind. „Wenn es Asylbewerber sind, kann der Zahnarzt nicht alles machen.“ Gefragt werde manchmal, ob es möglich sei, „Implantate, eine Brücke oder eine Prothese zu bekommen“ – hier muss Alhasan dann übersetzen, das sei nur möglich, wenn er es selber bezahle, „denn er ist in Deutschland nicht versichert“, sagt sie. Gleichwohl macht ihr der Übersetzungsdienst Spaß. Und die Patienten und Zahnärzte, die „sind zufrieden. Sie meisten bedanken sich für die Hilfe.“ Alex Siemer, freier Journalist Von der Theorie her ist die Zahnheilkunde gleich Bestimmte Behandlungen sind nicht möglich Bisher ging es stets um Asylbewerber, die sich in einer Zahnarztpraxis nicht verständigen konnten. Übersetzen musste Alhasan dann deren Angaben zu Schmerzen und vom Zahnarzt dessen Behandlungsvorschläge. Übersetzen muss sie aber auch häufig, dass und warum bestimmte Behandlungen und Thera- © Alex Siemer In mehreren deutschen Zahnarztpraxen hat Alhasan in den vergangenen Monaten Praktika absolviert und dabei die Unterschiede zwischen deutscher und syrischer Zahnheilkunde erfahren. Diese liegen vor allem in der technischen Ausstattung. „Ich kannte die meisten Geräte schon“, sagt sie. Aber zum Einsatz kamen davon in Syrien die wenigsten. „Das liegt vielleicht an der Ökonomie“, ist die Erklärung der Zahnärztin. „In Syrien gibt es keine Krankenkassen, die Patienten müssen immer selber bezahlen. Das fällt ihnen manchmal schwer, sie können nicht so viel Geld bezahlen, und deshalb war es schwierig, so viele und so teure Geräte in der Praxis zu haben. Aber von der Theorie her ist die Zahnheilkunde in Syrien und Deutschland gleich.“ Dass sie die Behandlungsweisen in deutschen und syrischen Zahnarztpraxen kennt, kommt ihr derzeit bei einem Projekt des Freien Verbandes Deutscher Zahnärzte (FVDZ) für seine Mitglieder zugute: Wafaa Alhasan ist die nette Stimme, die sich meldet, wenn deutsche Zahnärzte die Übersetzungshotline anrufen: 0228-855788 ist die Nummer, und der Anruf wird automatisch nach Aurich durchgestellt, ins Wohnzimmer der Syrerin. Von Montag bis Freitag jeweils von 9 bis 12.30 Uhr ist die 35-Jährige erreichbar und steht Zahnärzten wie deren Patienten als Sprachmittlerin zur Verfügung. Arabisch und viele seiner Dialekte versteht sie ebenso wie kurdisch, ihre Muttersprache. Übersetzungshotline Wafaa Alhasan ist die nette Stimme, die sich montags bis freitags von 9 bis 12.30 Uhr unter 0228-855788 meldet und bei Verständigungsschwierigkeiten zwischen deutschen und arabisch- oder kurdischsprechenden Patienten als Übersetzerin tätig ist. 01 ∙ 2016 DFZ 17