Amy Stewart Der Regenwurm ist immer der Gärtner

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Amy Stewart
Der Regenwurm ist immer der Gärtner
ISBN 978-3-86581-731-0
256 Seiten, 13 x 20,5 cm, 19,95 Euro
oekom verlag, München 2015
© oekom verlag 2015
www.oekom.de
Vorbemerkung
•
Die Leserinnen und Leser dieses Buches werden sehr schnell entdecken, dass ich keine Wissenschaftlerin bin, sondern nur eine
ganz normale Gärtnerin, die sich für Regenwürmer interessiert.
Meine Nachforschungen zu den Gewohnheiten und Lebensweisen
von Würmern brachten mich mit Dutzenden von Biologinnen,
Botanikern und Systematikern in Kontakt, die sich allesamt große
Mühe gaben, ihre komplizierte Forschungsarbeit so zu erklären,
dass selbst ich sie begreifen konnte. Mit ihrer Hilfe kämpfte ich
mich durch Fachaufsätze und Biologiebücher, die sich mir sonst
niemals erschlossen hätten. Irrtümer, Auslassungen oder sonstige Versäumnisse sind allein meine Schuld; wenn ich etwas richtig gemacht habe, dann ist das ausschließlich das Verdienst der
»Wurmforscher« oder Oligochaetologen.
Sofern nicht ausdrücklich anders vermerkt, verwende ich die
Begriffe »Wurm« und »Regenwurm« im ganzen Buch als Synonym; in jedem Fall beziehe ich mich auf terrestrische Würmer,
jene Lebewesen, die zur Klasse der Oligochaeta zählen. Kohlweißlinge, Erdraupen, Raupen des Schwarzen Schwalbenschwanzes
und Tomatenschwärmer sind keine Würmer, sondern Motten oder
Schmetterlingsraupen. Spulwürmer, Bandwürmer, Plattwürmer
und Schnurwürmer sind jeder für sich genommen interessante
Geschöpfe, aber nicht Gegenstand dieses Buches.
Vorbemerkung
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Er dachte
an all die unendlich kleinen Bewegungen der Welt,
an das hartnäckige, herzzerreißende Vorankriechen
eines Regenwurms,
der sich durch Fressen seinen Weg bahnt.
Carrie Brown, Rose’s Garden
Prolog
•
An der Wand über meinem Schreibtisch hängt das Bild eines
Apfelbaums – eines ganzen Apfelbaumes; das heißt, auf der Zeichnung sind die Wurzeln ebenso wie Stamm und Zweige zu sehen.
Der Baum selbst ist nur 1,50 bis 1,80 Meter hoch, die Wurzeln
dagegen reichen erstaunliche vier Meter tief in die Erde und verzweigen sich deutlich über die äußere Baumkronengrenze hinaus.
Das Faszinierende an der Zeichnung ist dies: Der Teil des Baumes,
den wir im Allgemeinen für den Apfelbaum halten, ist in Wirklichkeit ein ziemlich unbedeutender Teil der gesamten Pflanze. Er
ist nichts weiter als eine gedrungene, knorrige Aufwölbung über
einem eleganten ausgedehnten Wurzelsystem.
Ist der Baum in der Zeichnung überhaupt oben? Man könnte
auch meinen, der Baum befinde sich in Wirklichkeit unterhalb seines imposanten Wurzelsystems. Wenn ich das Bild herumdrehe,
sodass die Wurzeln oben sind und der Baum darunter, ergibt sich
ein viel anmutigeres Bild. Die Äste fließen wie Flüsse in alle Richtungen. Das Wurzelsystem hat eine perfekte Form, so luftig und
symmetrisch, wie es sich ein Baumpfleger überhaupt nur wünschen kann nach Jahren sorgfältigen Zurückschneidens.
Wenn die Zeichnung so auf dem Kopf steht, denke ich zwangsläufig ganz anders als bisher über die Funktion des Baumes nach.
Natürlich sind Zweige, Blätter und Früchte nach wie vor von Bedeutung; sie liefern Pollen für die Bienen, Zweige für die nistenden Vögel, Obst für den Gärtner und auch Blätter, die die immerProlog
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währende Produktion von Sauerstoff sicherstellen. Aber jetzt, da
ich genauer hingeschaut habe, erkenne ich, dass die Wurzeln der
eigentliche Körper des Baumes sind, und mache mir zum ersten
Mal wirklich Gedanken darüber, was für ein Leben diese Wurzeln wohl dort unter der Erde führen. Wie tief dringt das Regenwasser ein? Wie sieht die Erde unter der Oberfläche aus? Auf die
Frage, wie das Meer unter der Wasseroberfläche aussieht, würde
man von den meisten Leuten eine einigermaßen präzise Beschreibung bekommen. Wie wenig wissen wir dagegen vom Leben unter
der Erde, selbst wenn es sich im Garten hinter dem eigenen Haus
abspielt?
Mir wurde bewusst, dass ich von dem Stück Land unter meinem Haus so gut wie keine Ahnung hatte. Habe ich überhaupt
einen Rechtsanspruch auf diesen Boden in vier Meter Tiefe? Und
wie verhält es sich nach fünf, zehn oder auch fünfzig Metern? Hier
an der Küste, wo ich lebe, reicht die Erdkruste rund zwanzig Kilometer tief. Darunter kommt dann der Erdmantel, der Tausende
von Kilometern mächtig ist. Gehört dieses kleine Stück Erde wirklich mir, bis hinunter zur rot glühenden Mitte? An irgendeinem
Punkt da unten ist mein Anspruch mit Sicherheit verwirkt, und
mein Stück verliert sich in einem riesigen unerforschten Territorium, das keines Menschen Eigentum ist.
Und wer lebt da unten, unter meinem Haus? Wenn ich mir
mein Grundstück nicht einfach nur bis drüben zum Nachbarzaun
und bis hinten zu dem schmalen Weg ausgedehnt vorstelle, sondern auch dreißig Meter oder mehr nach unten, dann dämmert
mir allmählich, dass ich eine lächerliche Summe bezahlt habe für
ein Königreich, auf dem zufällig oben ein Haus steht. Millionen,
nein Milliarden Organismen bewohnen mein kleines Stück Land,
und ich erschrecke richtig bei dem Gedanken, wie wenig ich über
sie weiß.
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Der Regenwurm ist immer der Gärtner
Der erste Bodenbewohner, der mir auffiel, war ein Regenwurm.
Schließlich bin ich Gärtnerin; ich kann die Tatsache nicht übersehen, dass Gärtner und Regenwürmer beim Bestellen des Landes
und der Versorgung der Pflanzen Hand in Hand arbeiten. Trotzdem hatte ich schon immer den Verdacht, an der Geschichte mit
den Regenwürmern könnte noch mehr dran sein als das. Vielleicht halten sie doch noch die eine oder andere Überraschung für
mich bereit, dachte ich und begann, mich mit ihren Gewohnheiten zu beschäftigen. Es dauerte nicht lange, bis ich merkte, dass
sie für fast alles, was sich unter der Erde abspielt, den Schlüssel
besitzen.
Ich bewahre das Bild vom Apfelbaum auf, weil es mich noch
an etwas anderes erinnert: Die eigentliche Schönheit einer Pflanze,
ihre wahre Bestimmung, liegt vielleicht gar nicht über der Erde in
meinem winzigen Gartenreich. In einem Apfelbaum steckt mehr,
als wir mit unseren Augen sehen, viel mehr. Um den Boden in seinem Wesen zu erkennen, um seinen Puls zu fühlen, seine Seele
bloßzulegen, muss man sich unter die Erde begeben, dorthin, wo
er lebt und atmet.
Prolog
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