6. Jahrgang, 2. Ausgabe, 32-57 - - - Rubrik Neue Arzneimittel - - - Was gab es Neues auf dem Arzneimittelmarkt 2011 Teil 2: Multiple Sklerose Fingolimod (Gilenya®) Fampridin (Fampyra®) Cannabinoide (Sativex®) Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 33 - Was gab es Neues auf dem Arzneimittelmarkt 2011 Teil 2: Multiple Sklerose Prof. Dr. Georg Kojda Fachpharmakologe DGPT, Fachapotheker für Arzneimittelinformation Institut für Pharmakologie und klinische Pharmakologie Universitätsklinikum, Heinrich-Heine-Universität Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf [email protected] *Aus einem Vortrag des Autors vom 30.01.2012 im großen Hörsaal des LFI der Universitätsklinik Köln (organisiert durch Apothekerkammer Nordrhein/Apothekerverband Köln e.V./Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein Bezirksstelle Köln) Den Fortbildungsfragebogen zur Erlangung eines Fortbildungspunktes zum Fortbildungstelegramm Pharmazie finden Sie hier: http://www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/FortbildungstelegrammPharmazie/Kurzportraet.html Titelbild : Universitätsbibliothek New York , Urheber: Photoprof, Lizenz: Fotolia Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 34 - Was gab es Neues auf dem Arzneimittelmarkt 2011? Prof. Dr. Georg Kojda Fachpharmakologe, Fachapotheker für Arzneimittelinformation Fortbildungsbeauftragter Apothekerkammer Nordrhein, Apothekerverband Köln e.V. Herausgeber „Fortbildungstelegramm Pharmazie“ Institut für Pharmakologie und Klinische Pharmakologie, UniversitätsKlinikum, Düsseldorf, Fortbildungsvortrag vom 30.01.2011 organisiert durch Apothekerkammer Nordrhein, Apothekerverband Köln e.V., Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein, Bezirksstelle Köln Der Autor erhielt Forschungsgelder1 sowie dienstlich genehmigte Beratungs-2 und Referentenhonorare3 von folgenden Arzneimittelherstellern: Actavis1, Boehringer3, Mundipharma3, Schwarz Pharma1, Pfizer1,2, Shire1 Autoimmunerkrankungen Paul Ehrlich war der erste Forscher, der den Unterschied zwischen „selbst“ und „fremd“ erkannte. Er beobachtete, dass ein Organismus Blutzellen vernichtet, die nicht von ihm selbst stammen und prägte den Begriff Horror autotoxicus (Furcht vor Selbstzerstörung). Diese Selbsterkennung beruht auf der Expression von Membranproteinen jeder Körperzelle, den Klasse I und II MajorHistocompatibility-Complex-Molekülen Autoimmunerkrankungen sind dadurch gekennzeichnet, dass die Immunabwehr die Bildung von Antikörpern gegen körpereigene Eiweiße zuläßt und dadurch schwerwiegende Organschäden verusacht. Es sind etwa 60 verschiedene Autoimmunerkrankungen bekannt. Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 35 - Fingolimod (Gilenya®) Arzneistoff Fingolimod (Gilenya®) Indikation Krankheitsmodifizierende Monotherapie von hochaktiver schubförmig-remittierend verlaufender Multipler Sklerose Zusatznutzen Hersteller orale Alternative bei Progression trotz INF-ß1a/1b NOVARTIS Pharma GmbH Fingolimod (Gilenya®) Multiple Sklerose* häufigste neurologische Erkrankung, führt im jungen Erwachsenenalter zu bleibender Behinderung und vorzeitiger Berentung Weltweit ca. 2.000.000 Erkrankte, in Deutschland ca. 120.000 Erkrankte Frauen 2-3-Mal häufiger betroffen Photosensibilität chronisch entzündliche Autoimmunerkrankung mit Manifestation im ZNS mit Demyelinisierung und axonalem Schaden. Abb. A: weiße Substanz, Myelinhüllen=dunkelblaue Ringe, Pfeil bezeichnet die Myelin-produzierenden Oligodendrozyten Abb. B: elektronenmikroskopischer Querschnitt, spiralförmig, gegen den Uhrzeigersinn um das Axon gewickelte Zellmembran mit äußerer (unten links) und innerer (Mitte rechts) oligodendrozytaler „Plasmazunge“ *Frohman, N Engl J Med 2006; Ransohoff, N Engl J Med 2007; AMWF S1-Leitlinie Nr. 030/050 Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 36 - Fingolimod (Gilenya®) zentral - Fatigue visuell - Nystagmus - Kognitions- Optikusstörungen neuritis - Depression - Diplopie - Stimmungsschwankungen Sprache Multiple Sklerose* Die Symptomatik ist heterogen und hängt von den jeweils betroffenen Hirngebieten und der Progression der Erkrankung ab. - Dysarthrie Hals Bei vielen Patienten bleibt die Gehfähigkeit für lange Zeit erhalten. - Dysphagie Muskuloskeletal - Schwäche - Spastik - Ataxie Häufige Frühsymptome sind eine einseitige Optikusneuritis, Sensibilitätsstörungen (Hände, Arme, Beine) und Gangstörung mit häufig belastungsabhängiger Schwäche der Beine und Gangunsicherheit. sensorisch - Schmerz - Hypästhesie - Parästhesie Darm (AMWF S1-Leitlinie Nr. 030/050) - Inkontinenz - Diarrhöe - Obstipation urogenitatal - Inkontinenz - Retention - sexuelle Dysfunktion http://en.wikipedia.org/wiki/Multiple_sclerosis *Frohman, N Engl J Med 2006; Ransohoff, N Engl J Med 2007; AMWF S1-Leitlinie Nr. 030/050 Fingolimod (Gilenya®) Klinisch isoliertes Syndrom (KIS) erstmalige klinische Symptomatik mit Hinweis auf demyelinisierendes Ereignis Schubtherapie: Methylprednisolon i.v. Pulstherapie, evtl. wiederholen mit Dosiserhöhung alternativ Plasmapherese akute Entzündung Zunahme der Behinderung Bisherige Therapie Demyelinisierung schubförmig-remittierender Verlauf Bei ca. 50 % innnerhalb von 10 Jahren Progression Demyelinisierung sekundär-progredienter Verlauf bei ca. 15 % der Fälle Demyelinisierung Verlaufsmodifizierende Therapie Basistherapie (nach erstem Schub): INF-ß1b s.c. (Betaferon®), alternativ INF-ß1a (Avonex® i.m., Rebif® s.c.) (auch zur Behandlung des KIS zugelassen) alternativ Glatirameracetat (Copaxone®), Eskalationstherapie (bei Progredienz) Natalizumab (Tysabri®) Ultima ratio Mitoxantron (Ralenova®) (auch für sekundär-progredienten Verlauf) Cyclophosphamid (Endoxan®) primär-progredienter Verlauf Zeit *Frohman, N Engl J Med 2006; Ransohoff, N Engl J Med 2007; AMWF S1-Leitlinie Nr. 030/050 Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 37 - Fingolimod (Gilenya®) Bedeutung von mononuklären Lymphozyten bei multipler Sklerose* Extravasation durch Endothel postkapillärer Venolen im Plexus choroideus gesund T-Helfer-Zelle ZNS-Immunkontrolle Migration durch Plexus choroideus Epithel ins ZNS B-Zelle Indexereigniss(e) Lymphorgane ca. 10 Jahre Autoaktivierung Extravasation ins ZNS durch Blut-Hirn-Schranke in entzündete multiple Sklerose Läsionen Multiple Sklerose T-Helfer-Zelle Demyelinisierung Axonschäden akuter Schub Behinderung B-Zelle Freisetzung von Zytokinen, Superoxid, NO etc. *Frohman, N Engl J Med 2006; Ransohoff, N Engl J Med 2007; AMWF S1-Leitlinie Nr. 030/050 Fingolimod (Gilenya®) Bedeutung von mononuklären Lymphozyten bei multipler Sklerose* Extravasation durch Endothel postkapillärer Venolen im Plexus choroideus gesund T-Helfer-Zelle ZNS-Immunkontrolle Migration durch Plexus choroideus Epithel ins ZNS B-Zelle Indexereigniss(e) Lymphorgane ca. 10 Jahre Natalizumab Autoaktivierung Fingolimod Extravasation ins ZNS durch Blut-Hirn-Schranke in entzündete multiple Sklerose Läsionen Multiple Sklerose T-Helfer-Zelle Methylprednisolon Demyelinisierung Axonschäden akuter Schub Behinderung Freisetzung von Zytokinen, Superoxid, NO etc. B-Zelle INF-ß, Glatirameracetat *Frohman, N Engl J Med 2006; Ransohoff, N Engl J Med 2007; AMWF S1-Leitlinie Nr. 030/050 Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 38 - Fingolimod (Gilenya®) Sphingosin-1-phosphat bindet an Sphingosin-1-phosphat-Rezeptor (S1P1) und vermitttelt dadurch Auswanderung von Lymphozyten (T- und B) aus den Lymphorganen Lymphorgane Peripherie Sphingosin-1-phosphat ZNS Extravasation ins ZNS durch Blut-Hirn-Schranke in entzündete multiple Sklerose Läsionen (S1P) S1P1Rezeptor S1P1Rezeptor autoaktivierter Lymphozyt Fingolimod (Gilenya®) Der aktive Metabolit FTY720-Phosphat bindet an den S1P1-Rezeptor und behindert damit die S1P1-vermittelte Auswanderung von T- und B-Lymphozyten aus den Lymphorganen Lymphorgane Peripherie Sphingosin-1-phosphat ZNS Extravasation ins ZNS durch Blut-Hirn-Schranke in entzündete multiple Sklerose Läsionen (S1P) S1P1Rezeptor S1P1-RezeptorInternalisierung S1P1Rezeptor FTY720-Phosphat autoaktivierter Lymphozyt Bioaktivierung naive und zentrale T-Gedächtniszellen (nicht zentrale Effektor-TGedächtniszellen mit zytotoxischen Eigenschaften*) SphingosinKinase-2 Fingolimod *N Engl J Med 2012;366:339-47 Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 39 - Fingolimod (Gilenya®) Der aktive Metabolit FTY720-Phosphat bindet nicht spezifisch nur an S1P1-Rezeptoren Lymphorgane Peripherie Sphingosin-1-phosphat ZNS Extravasation ins ZNS durch Blut-Hirn-Schranke in entzündete multiple Sklerose Läsionen (S1P) S1P1Rezeptor S1P1-RezeptorInternalisierung T- und B-Lymphozyten -Mangel bedeutet S1P1Rezeptor FTY720-Phosphat weniger Demyelinisierung, Axonschäden, akuter Schübe und Behinderung autoaktivierter Lymphozyt Effekte? Bioaktivierung S1P3, S1P4, S1P5Rezeptoren SphingosinKinase-2 Fingolimod aber auch erhöhte Anfälligkeit für ZNSInfektionen, z.B. Herpes oder JCViren (Auslöser der progressive multifokalen Leukenzephalopathie, aufgetreten bei Rituximab oder Natalizumab) Nat Rev Immunol. 2005 Jul;5(7):560-70 Fingolimod (Gilenya®) A Rezidivfreiheit (%) Klinische Effektivität, (FREEDOMS) RCT an 1272 Patienten schubförmigremittierender MS, ca. 70 % weiblich, Studiendauer 2 Jahre Zeit bis zum 1. Rezidiv (Tage) Progression der Behinderung (%) B Therapie: 0,5 oder 1,25 mg pro Tag oral oder Placebo (A) Primärer Endpunkt war die jährliche Rezidivrate, diese sank signifikant und vergleichbar bei beiden Dosierungen (B) Sekundärer Endpunkt war die Zeit bis zur Progression der Behinderung, die ebenfalls signifikant vermindert war Zeit bis zur 1. Progression (Tage) N Engl J Med 2010; 362:387-401 Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 40 - Fingolimod (Gilenya®) Klinische Effektivität, (FREEDOMS) C Gadolinium -verstärkte Läsionen (%) RCT an 1272 Patienten schubförmig-remittierender MS, ca. 70 % weiblich, Studiendauer 2 Jahre Therapie: 0,5 oder 1,25 mg pro Tag oral oder Placebo (C) signifikant weniger oder vergrößerte mittels Gadolinium kontrastverstärkte ZNSLäsionen N Engl J Med 2010; 362:387-401 Fingolimod (Gilenya®) adjustierte Rezidivrate (%) Klinische Effektivität, (TRANSFORMS ) RCT an 1292 Patienten schubförmigremittierender MS, ca. 70 % weiblich, Studiendauer 2 Jahre Therapie: 0,5 oder 1,25 mg Fingolimod pro Tag oral oder 30 µg Interferon beta-1a pro Woche, i.m. Rezidivfreiheit (%) Primärer Endpunkt war die jährliche Rezidivrate, diese sank signifikant und vergleichbar bei beiden Dosierungen (siehe Abbildung) Sekundäre Endpunkt war u.a. die Zeit bis zur Progression der Behinderung, die ebenfalls signifikant vermindert war (nicht dargestellt) Zeit bis zum 1. Rezidiv (Tage) N Engl J Med 2010; 362:402-415 Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 41 - Fingolimod (Gilenya®) Nebenwirkungen Das Sicherheitsprofil wird durch die starke Verminderung der Leukozyten in Peripherie und ZNS sowie möglicherweise durch die zu erwartenden Effekte eines Agonismus an S1P3-S1P5-Rezeptoren geprägt. Beobachtet wurden häufig kardiovaskuläre, pulmonale, dermale, sensorische und psychiatrische Nebenwirkungen. Ob bei Anwendung außerhalb klinischer Studien Fälle progressiver multifokaler Leukenzephalopathie* auftreten, muss abgewartet werden. Sehr häufig Häufig InfluenzavirusInfektionen Herpesvirus-Infektionen, Bronchitis, Sinusitis, Gastroenteritis, Tineainfektionen Lymphopenie, Leukopenie abnormer Leberfunktionstest, erhöhte TriglyceridSpiegel im Blut, erhöhte Gammaglutamyltransferase (GGT), erhöhte Leberenzyme, Depressionen Schwindel, Parästhesie, Migräne verschwommenes Sehen, Augenschmerzen Bradykardie, Atrioventrikulärer Block Hypertonie Dyspnoe Ekzem, Alopezie, Pruritus Asthenie, Gewichtsverlust Kopfschmerzen Husten Diarrhö Rückenschmerzen erhöhte Alanintransaminase (ALT) *opportunistische demyelinisierende ZNSInfektion durch JC-Virus bei Immunsuppression, 201 berichtete Fälle bei MSPatienten durch Natalizumab (Tysabri®) http://www.fda.gov/Drugs/DrugSafety/ucm288186.htm (20.01.2012) Fingolimod (Gilenya®) Nebenwirkungen „Die im Folgenden angegebenen zusätzlichen Empfehlungen basieren auf Fallberichten von Patienten mit unerwünschten kardiovaskulären Ereignissen, darunter der Fall einer Patientin, die nach der ersten Gabe von Gilenya (Fingolimod) aus bislang unbekannter Ursache verstarb.“ „Bei allen Patienten, die mit der Behandlung beginnen, sollte die Überwachung während der ersten 6 Stunden nach Verabreichung von Gilenya folgende Maßnahmen beinhalten: Ein 12-Kanal-EKG vor der Erstgabe und 6 Stunden nach der ersten Dosis Eine kontinuierliche 6-stündige EKG-Überwachung Stündliche Messungen von Blutdruck und Herzfrequenz. Bei Patienten mit Hinweisen auf klinisch bedeutsame kardiale Auffälligkeiten sollte die Überwachung bis zu deren Rückbildung weitergeführt werden.“ Volltext siehe: http://www.akdae.de/Arzneimittelsicherheit/RHB/Archiv/2012/20120125.pdf Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 42 - Fingolimod (Gilenya®) Kontraindikationen Überempfindlichkeit gegen Fingolimod oder einen der sonstigen Bestandteile. bestehendes Immundefizienzsyndrom, erhöhtes Risiko für opportunistische Infektionen, einschliesslich immungeschwächte Patienten (auch durch Pharmakotherapie) schwere aktive Infektionen, aktive chronische Infektionen (Hepatitis, Tuberkulose) bestehende aktive maligne Erkrankungen (nicht Basalzellkarzinom der Haut) bestehende schwere Leberschäden (Child-Pugh-Klasse C) Schwangerschaft (Reproduktionstoxizität im Tierversuch), sichere Kontrazeption bis 2 Monate nach Therapieende, bei unerwarteter SS Fingolimod absetzen Besondere Vorsicht bei: Ruhepuls <55 Schläge pro Minute, Beta-Blocker-Therapie, anamnestisch bekannte Synkopen (keine Daten) AV-Block 2.Grades oder höher, Sick-Sinus-Syndrom, ischämischer Herzerkrankung, kongestiver Herzinsuffizienz oder signifikanten kardiovaskulären Erkrankungen, nicht medikamentös eingestellte Hypertonie Arrhythmien, die eine Behandlung mit Antiarrhythmika der Klasse Ia (z.B. Chinidin, Disopyramid) oder Klasse III (z.B. Amiodaron, Sotalol) erfordern schwere Atemwegserkrankung, Lungenfibrose oder chronisch-obstruktive Lungenerkrankung Fingolimod (Gilenya®) Fazit Der erste orale applizierbare Wirkstoff Fingolimod bewirkt über den neuen Mechanismus einer S1P1-Rezeptormodulation eine starke Verringerung der Lypmphozytenzahl in Peripherie und ZNS. Bei Patienten mit schubförmig remittierender MS wurden gegenüber Placebo und i.m. INF-ß-Therapie sowohl die Rezidivrate als auch die Verschlimmerung einer Behinderung und die ZNS-Läsionen vermindert. Ob Fingolimod auch besser wirkt als die effektivere Standardtherapie (s.c. INF-ß) ist nicht bekannt. Ein Vergleich mit Glatirameracetat fehlt ebenso. Die Wirksamkeit bei primär- der sekundärprogredienter MS (keine Zulassung!) ist nicht untersucht. Bei Patienten mit kardiovaskulären oder pulmonalen Komorbiditäten darf Fingolimod nur mit besonderer Vorsicht eingesetzt werden. Schließlich geht die Therapie mit vielen u.U. schwer beherrschbaren Nebenwirkungen einher. Insgesamt stellt Fingolimod ein Reservemittel zur verlaufsmodifizierenden Therapie der schubförmigen MS bei hochaktivem (schwerwiegendem) Verlauf dar. Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 43 - Fampridin (Fampyra®) Arzneistoff Fampridin (Fampyra®) (in den USA Dalfampridin) Indikation zur Verbesserung der Gehfähigkeit von erwachsenen Patienten mit Multipler Sklerose und Gehbehinderung (Effektbeurteilung nach 2 Wochen erforderlich!) Zusatznutzen Hersteller Verbesserung der Gehgeschwindigkeit (Linderung der Gehbeeinträchtigung) Biogen Idec GmbH Fampridin (Fampyra®) zentral Symtomatische Therapie Muskuloskeletal Die symptomatische Therapie spielt eine wichtige Rolle im multimodalen Therapiekonzept der MS. Ziel dieser Therapie ist es, funktionelle Fähigkeiten und Lebensqualität der Patienten zu verbessern. - Fatigue visuell - Nystagmus - Kognitions- Optikusstörungen neuritis - Depression - Diplopie - Stimmungsschwankungen Sprache - Dysarthrie Hals - Dysphagie - Schwäche - Spastik - Ataxie Eingesetzt werden hier u.a. Physiotherapie orale Muskelrelaxantien Antidepressiva Psychostimulantien Antiepileptika PDE5-Hemmer/Tibolon zentrale Cholinesterasehemmer neurotrop-muskulotrope Spasmolytika (z.B. Oxybutinin) sensorisch - Schmerz - Hypästhesie - Parästhesie Darm - Inkontinenz - Diarrhöe - Obstipation urogenitatal - Inkontinenz - Retention - sexuelle Dysfunktion http://en.wikipedia.org/wiki/Multiple_sclerosis Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 *AMWF S1-Leitlinie Nr. 030/050, Courtney, Curr Opin Neurol 2011 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 44 - Fampridin (Fampyra®) Bei etwa einem Drittel der Patienten fuhrt die MS wegen Behinderungen zu vorzeitiger Berentung. Die Einschränkung von Mobilität, z.B. durch Lähmungen, Ataxie oder Tremor, aber auch durch Visusbeeinträchtigung oder Inkontinenz geht direkt mit einer Verminderung der Lebensqualität einher. Bislang gab es kein Arzneimittel, welches für die Linderung von Gehbeeinträchtigungen zugelassen war. 4-Aminopyridin-Hartgelatine-Steckkapseln (NRF 22.3) wurden off-label eingesetzt, d.h rezeptiert und in Apotheken hergestellt http://www.ms-blog.de *AMWF S1-Leitlinie Nr. 030/050, Courtney, Curr Opin Neurol 2011 Fampridin (Fampyra®) Expanded Disability Status Scale Pyramidenbahn, z. B. Lähmungen Kleinhirn, z. B. Ataxie, Tremor Hirnstamm, z. B. Sprach/Schluckstörungen Sensorium, z. B. Verminderung des Berührungssinns Blasen-und Mastdarmfunktionen, z. B. Harn- bzw. Stuhlinkontinenz Sehfunktionen, z. B. eingeschränktes Gesichtsfeld-Skotom Zerebrale Funktionen, z. B. Wesensveränderung, Demenz intermittierender Bedarf von Gehhilfen um etwa 100 m ohne Rast zu gehen (Fampridin Studienpatienten) 0.0 1.0 keine 2.0 minimal 3.0 moderat 4.0 relativ schwer 5.0 6.0 Tageshilfsberoutine dürftig behindert 7.0 an Rollstuhl gebunden 8.0 9.0 bettlägrig bis Hilflosigkeit Grad der Behinderung nach: http://multiple-sclerosis-research.blogspot.com Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 45 - Wirkungsmechanismus Kaliumkanalblockade „Fampyra ist ein Kaliumkanalblocker. Durch Blockierung der Kaliumkanäle verringert Fampyra das Austreten von Ionenstrom durch diese Kanäle, verlängert so die Repolarisation und verstärkt die Aktionspotentialbildung in demyelinisierten Axonen sowie die neurologische Funktion. Vermutlich werden durch die Verstärkung der Aktionspotentialbildung mehr Impulse im zentralen Nervensystem weitergeleitet.“ (Fachinformation Fampyra) Effekt hoher Konzentrationen von Fampridin auf Aktionspotentiale demyelinisierter C-Fasern. Auf myelinisierte Fasern hat Fampridin keinen Effekt. Die therapeutische Plasmakonzentration nach 10 mg Fampridin (etwa 0,17 mg/kg) liegt bei etwa 25 ng/ml (0,25 µM). Damit sind die Effekte von Bostock et al. bei der 4.000-fachen Konzentration beobachtet worden. Bostock et al., J Physiol (Lond) 1981; 313: 301–15. Wirkungsmechanismus nach Bostock et al., 1981 Mehr spannungsabhängige Kaliumkanäle (Kv ) bei Myelinschäden Dies verkürzt die Repolarisation, verstärkt die Hyperpolarisation, reduziert die Aktionspotentialdauer und die synaptische Ausschüttung von Acetylcholin und vermindert somit die Muskelkraft Dauer des Aktionspotentials Depolarisation neuromuskuläre Endplatte Repolarisation Kv Hyperpolarisation Myelin-Schaden durch MS Myelin Axon Snyapse spannungsabhängige Kaliumkanäle Acetylcholin *AMWF S1-Leitlinie Nr. 030/050, Courtney, Curr Opin Neurol 2011 Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 46 - Wirkungsmechanismus nach Bostock et al., 1981 Fampridin hemmt unspezifisch spannungsabhängige Kaliumkanäle Kv-Hemmung verlängert Repolarisation, vermindert Hyperpolarisation, erhöht Aktionspotentialdauer, verbessert synaptische Ausschüttung von Acetylcholin und verbessert somit Muskelkraft Dauer des Aktionspotentials Depolarisation neuromuskuläre Endplatte Repolarisation Kv Fampridin Hyperpolarisation Myelin-Schaden durch MS Myelin Axon Snyapse spannungsabhängige Kaliumkanäle Fampridin Acetylcholin *AMWF S1-Leitlinie Nr. 030/050, Courtney, Curr Opin Neurol 2011 Wirkungsmechanismus nach Smith et al., 2000 Neuere in-vivo Daten widersprechen jedoch der Hypothese der Selektivität von Fampridin für demyelinisierte Axone Danach beruhen die Effekte von Fampridin (4-Aminopyridin, 4-AP) eher auf einer Potenzierung der synaptischen Transmission mit konsekutiver Verstärkung der Muskelkraft. intakt demyelinisiert Effekt 10-facher therapeutischer Konzentration von Fampridin auf Aktionspotentiale der dorsalen Hinterhornwurzel. Appliziert wurden 2,5 mg/kg KG i.v. L4 Weder auf myelinisierte noch auf demyelinisierte Axone hat Fampridin einen Effekt. Smith et al., Brain. 2000 Jan;123 ( Pt 1):171-84. Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 47 - Wirkungsmechanismus nach Smith et al., 2000 Neuere Daten widersprechen jedoch der Hypothese der Selektivität von Fampridin für demyelinisierte Axone Danach beruhen die Effekte von Fampridin (4-Aminopyridin, 4-AP) eher auf einer Potenzierung der synaptischen Transmission mit konsekutiver Verstärkung der Muskelkraft. Effekt therapeutischer Konzentration von Fampridin auf motorneuroninduzierte Muskelkontraktion (twitch tension) des 4. Zehs bei intakter Myelinisierung. Appliziert wurden 0,27 mg/kg KG i.v. Fampridin verstärkt die Muskelkraft, obwohl es keinen Effekt auf die Aktionspotentialdauer hat. Kraftmessung Stimulus Dies spricht für eine Verstärkung der synaptischen Transmission mit konsekutiver Verstärkung der Muskelkraft. Ischiasnerv 4. Zeh Smith et al., Brain. 2000 Jan;123 ( Pt 1):171-84. Wirkungsmechanismus nach Smith et al., 2000 Die neueren Befunde sprechen für die Unabhängigkeit der Wirkung von Fampridin von der Myelinisierung, zeigen die Bedeutung der Wirkung auf die synaptische Transmission und erklären die Nebenwirkungen und strikten Kontraindikationen M Effekt therapeutischer Konzentration von Fampridin auf motorneuroninduzierte Muskelkontraktion nach Auslösung des Hoffmann-Reflexes. H Appliziert wurden 0,35 mg/kg KG i.v. Der direkte Effekt der Stimulation (M) bleibt unverändert, während die durch den Reflexbogen verzögerte Muskelkontraktion (H) durch Fampridin deutlich verstärkt wird. Stimulus Ischiasnerv Kraftmessung Auch dieser Befund spricht für eine Verstärkung der synaptischen Transmission durch Fampridin mit konsekutiver Verstärkung der Muskelkraft. 4. Zeh Smith et al., Brain. 2000 Jan;123 ( Pt 1):171-84. Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 48 - Fampridin (Fampyra®) Klinische Effektivität, Randomisierung, 3:1 (Fampridin:Placebo) (Fampridine MS-F203 Investigators*) RCT an 301 Patienten mit jeder Form von MS, 60- 71 % weiblich, EDSS: 5,8 10 mg Fampridin 2-Mal pro Tag Placebo Patienten jeder Gruppe wurden in Responder und Non-Responder eingeteilt 14 Wochen doppelblinde Behandlung 4 Wochen nachverfolgt Responder zeigten eine Zunahme der Gehgeschwindigkeit an >3 Visits mittlere Veränderung (%) Responder: Fampridin: 35 % Placebo: 8% (P<0.0001) Gehgeschwindigkeit: Fampridin: +25,2 % (0,51 Fuß/s) Non-Responder: + 7,5 % (0,16 Fuß/s) Placebo: + 4,7 % (0,1 Fuß/s) 3 4 5 6 7 8 Visiten Gefähigkeit: (erfasst durch MSWS-12-Punktwert) Fampridin: -6,8 Placebo: -0.05 (P<0.0002) Signifikant stärkere Verbesserung der Muskelkraft (LEMMT-Score) *Lancet 2009; 373: 732–38 Fampridin (Fampyra®) Randomisierung, 3:1 (Fampridin:Placebo) (MS-F204 Investigators*) RCT an 239 Patienten mit jeder Form von MS, 62- 75 % weiblich, EDSS: 5,8 10 mg Fampridin 2-Mal pro Tag Placebo Patienten jeder Gruppe wurden in Responder und Non-Responder eingeteilt 9 Wochen doppelblinde Behandlung mittlere Veränderung (%) Klinische Effektivität, 2 Wochen nachverfolgt Responder zeigten eine Zunahme der Gehgeschwindigkeit an >3 Visits Responder: Fampridin: 42,9 % Placebo: 9,3 % (P<0.0001) Gehgeschwindigkeit: Fampridin: +24,7 % (0,51 Fuß/s) Non-Responder: + 6,0 % (0,12 Fuß/s) Placebo: + 7,7 % (0,17 Fuß/s) 2 4 6 8 Behandlungswoche 9 8 Gefähigkeit: (erfasst durch MSWS-12-Punktwert) Fampridin: -6,0 (P<0.001) Non-Responder/Placebo: -0.9 Signifikant stärkere Verbesserung der Muskelkraft (LEMMT-Score) *Ann Neurol. 2010 Oct;68(4):494-502 Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 49 - Fampridin (Fampyra®) Nebenwirkungen Viele der häufigen Nebenwirkungen einschließlich der nach Markteinführung aufgetretenen Krampfanfälle lassen sich durch verstärkende Effekte von Fampridin auf die synaptische Transmission erklären. Fampridin hat eine enge therapeutische Breite. Insbesondere zentralnervös vermittelte Nebenwirkungen nehmen bei Steigerung auf 2-Mal täglich 15 oder 20 mg deutlich zu. Sehr häufig Harnwegsinfekt Häufig Schlaflosigkeit, Angst Schwindel, Kopfschmerzen, Gleichgewichtsstörung, Parästhesie, Tremor Dyspnoe Pharyngolaryngeale Schmerzen Übelkeit, Erbrechen, Obstipation, Dyspepsie Rückenschmerzen Asthenie Fampridin (Fampyra®) Kontraindikationen Überempfindlichkeit Krampfanfälle (auch anamnestisch), Vorsicht bei Faktoren, die die Krampfanfallsschwelle herabsetzen können leichte, mässige oder schwere Niereninsuffizienz (Kreatinin-Clearance <80 ml/min). gleichzeitige Behandlung mit Inhibitoren von OCT2*, wie z.B. Cimetidin, gleichzeitige Anwendung von OCT2-Substraten, wie z.B. Carvedilol, Propranolol und Metformin Kardiovaskuläre Rhythmusstörungen und sinuatriale oder atrioventrikuläre Herzüberleitungsstörungen Schwangerschaft, keine Daten (tierexperimentellen Studien zeigten Reproduktionstoxizität), Anwendung von Fampridin während der Schwangerschaft wird nicht empfohlen. Stillzeit, keine Daten zum Übergang in die Muttermilch. Anwendung von Fampridin während der Stillzeit wird nicht empfohlen. *organischer Kationentransporter 2, wesentlich an der renalen Elimination von Fampridin beteiligt Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 50 - Fampridin (Fampyra®) Fazit Fampridin ist der erste Arzneistoff, der zur Verbesserung der Gehfähigkeit bei multipler Sklerose zugelassen wurde. Als Kaliumkanalblocker bewirkt Fampridin eine Verbesserung der Skelettmuskelkontraktion, die vermutlich auf einer Verstärkung der synaptischen Transmission beruht. Fampridin hat bei etwa einem Drittel der Patienten einen geringen aber statistisch signifikanten Effekt auf die Gehgeschwindigkeit über eine kurze Distanz. Gleichzeitig nehmen die Patienten eine Verbesserung Ihrer Gehfähigkeit war (MSWS-12). Ob der Effekt für längere Zeit erhalten bleibt, ist nicht bekannt. Fampridin hat eine enge therapeutische Breite, so dass eine Einmaldosis von 10 mg nicht überschritten werden darf (Patientenhinweis!) und eine gute Nierenfunktion erforderlich ist. Im Vordergrund stehen ZNS-Nebenwirkungen (z.B. Schlaflosigkeit, Angst) einschließlich eines erhöhten Krampfanfall-Risikos sowie Harnwegsinfektionen unbekannter Ursache. Die Zulassung von Fampridin ist nur vorläufig, da die EMA eine weitere Studie zur Wirksamkeit und Unbedenklichkeit für erforderlich gehalten hat. Cannabinoide (Sativex®) U9-Tetrahydrocannabinol Arzneistoff Tetrahydrocannabinol und Cannabidiol (Sativex®) Indikation Cannabidiol Symptomatische Behandlung mittelschwerer bis schwerer Spastik bei multipler Sklerose, wenn andere Anti-SpastikMedikamente mangelhaft wirksam sind Standardisierter Extrakt von chemisch und genetisch charakterisierten Cannabis sativa L. Pflanzen (Blätter-, Blüten-Dickextrakt) eingestellt auf je 2,7 mg pro Sprühstoß Zusatznutzen Hersteller Besserung der Spastik als Zusatz zu Muskelrelaxantien Almirall Hermal GmbH Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 51 - Cannabinoide (Sativex®) Spastik zentral - Fatigue visuell - Nystagmus - Kognitions- Optikusstörungen neuritis - Depression - Diplopie - Stimmungsschwankungen Sprache Ursache der Spastik ist u.a. eine Schädigung des extrapyramidal-motorischen Systems. Symptome sind u.a. spastische Lähmungen der Extremitäten, Muskelkrämpfe sowie Sprach- und Schluckstörungen. Je schwerer die Symptomatik umso größer sind die Einschränkungen der Beweglichkeit und Koordination. Nach vorliegenden Daten* leidet etwa ein Drittel der MS-Patienten unter moderater bis schwerster Spastik: 16 % keine Spastik 50 % minimale bis leichte Spastik 17 % moderate Spastik (Einschränkung) 17 % schwere bis schwerste Spastik (starke Einschränkung) - Dysarthrie Hals - Dysphagie Muskuloskeletal - Schwäche - Spastik - Ataxie sensorisch - Schmerz - Hypästhesie - Parästhesie Darm Therapie Physiotherapie Tizanidin (zentraler a2-Adrenozeptoragonist), Baclofen (GABA-B Agonist), Benzodiazepine Gabapentin - Inkontinenz - Diarrhöe - Obstipation urogenitatal - Inkontinenz - Retention - sexuelle Dysfunktion AMWF S1-Leitlinie Nr. 030/050, Courtney, Curr Opin Neurol 2011, * Rizzo MA, Mult Scler 2004 http://en.wikipedia.org/wiki/Multiple_sclerosis Cannabinoide (Sativex®) Tetrahydrocanabinol wirkt als partieller Agonist an beiden Cannabinoidrezeptoren -NH2 H2NM L L CB1 (472 AS) CB2 (360 AS) E -COOH -COOH Die Cannabinoidrezeptoren sind G-Protein gekoppelte Rezeptoren (Gi/Go auch Gs) Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 52 - Cannabinoide (Sativex®) Expression von CB1 ZNS Cortex (z.B. kognitive Funktionen) Hippocampus (Lernen und Erinnerung) Cerebellum (Bewegungskoordination) Nucleus accumbens (Belohnung) Basalganglia (Bewegungskontrolle) Substantia nigra Globus pallidus Putamen Hypothalamus (z.B. Temperatur, Elektrolyte) Amygdala (emotionales Verhalten, Angst) Zentrales Grau (Analgesie) Medulla oblongata (z.B. Schlaf, Bewegung) Periphere Neuronen Enterisches Nervensystem Sensorische Endigungen im Magen-Darm-Trakt Andere periphere Zellen Fettzellen Leberzellen Endothelzellen Nucleus tractus solitarii (Übelkeit, Erbrechen) (periphere Signale incl. Schmerz) Rückenmark CB2 kommen weniger im ZNS jedoch mehr in der Peripherie vor (z.B. T-Zellen, B-Zellen, Milz, Mandel, Keratinozyten) Cannabinoide (Sativex®) CB-Rezeptoren binden endogene Cannabinoide Die endogenen Cannabinoide werden bei Aktivierung des Systems neu synthetisiert und nicht vesikulär gespeichert. Anandamid Anandamid wurde 1992 identifiziert und nach dem Sanskrit-Wort „Ananda“ (Glück, Glückseligkeit) benannt. 2-ArachidonoylGlycerin Bild aus Fortbildungstelegramm Pharmazie 2007;1(6), www.kojda.de Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 53 - Cannabinoide (Sativex®) Modulation der synaptischen Erregungsübertragung im Sinne einer retrograden Signalgebung Hemmung von spannungs-abhängigen Kalziumkanälen (Typ N und P/Q) Aktivierung von spannungsabhängigen Kaliumkanälen mit konsekutiver Hyperpolarisation Hemmung der Adenylatzyklase, mit konsekutiver Verminderung der Bildung von cAMP Aktivierung von Mitogen-aktivierten Proteinkinasen mit konsekutiver Änderung der zellulären Expression von Proteinen. (aus Kojda G, „Das Cannabinoidsystem- Neuer Angriffspunkt für Arzneimittel“, Fortbildungstelegramm Pharmazie 2007;1:53-63) http://www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/FortbildungstelegrammPharmazie/Fortbildungsartikel/Cannabinoide%20fuer%20FORTE-PHARM2007.pdf Cannabinoide (Sativex®) Wie beeinflussen CB-Rezeptoren Zellfunktionen? inhibitorische Neurotransmisson exzitatorische Neurotransmisson Aktivierung CB-Rezeptor erregende Wirkung z.B. Belohnung, Angst hemmende Wirkung z.B. kognitive Defizite, Muskelrelaxation Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 54 - Cannabinoide (Sativex®) Beeinflussung des Endocannabinoidsystems durch Arzneimittel Zytostatika induziertes Erbrechen CB1-Agonismus Dronabinol (USA, MarinolR) Nabilon (USA, CesametR) Neurologische Bewegungsstörungen CB1-Agonismus Dronabinol (USA, MarinolR) Cannabisprodukte (Studien) Schizophrenie CB1-Agonismus Anandamid hemmt vermutlich Ausschüttung von Dopamin, (bei schwerem Cannabis-Missbrauch Psychosen wegen CB1Rezeptor-Desensibilisierung) Phobien CB1-Agonismus Anandamid hemmt die Weiterleitung von Signalen in der Amygdala (ermöglicht Abschwächung einer Konditionierung) neuropathischer Schmerz CB2-Agonismus Peripher antinozizeptiv, HU308, GW405833, AM1241 Cannabinoide (Sativex®) Tritation der wirksamen Dosierung sowie Evaluierung der Wirksamkeit nach 4 Wochen erforderlich Erhöhung der Anzahl der Sprühstösse wie folgt: - Tag 1 und 2: jeweils abends 1 Sprühstoss - Tag 3 und 4: jeweils abends 2 Sprühstösse - Tag 5: morgens 1 Sprühstoss, abends 2 Sprühstösse - Tag 6: morgens 1 Sprühstoss, abends 3 Sprühstösse - Tag 7: morgens 1 Sprühstoss, abends 4 Sprühstösse - Tag 8: morgens 2, abends 4 Sprühstösse - Tag 9: morgens 2, abends 5 Sprühstösse - Tag 10: morgens 3, abends 5 Sprühstösse - Tag 11: morgens 3, abends 6 Sprühstösse - Tag 12: morgens 4, abends 6 Sprühstösse - Tag 13: morgens 4, abends 7 Sprühstösse - Tag 14: morgens 5, abends 7 Sprühstösse. Aufwachen bis 12:00 Uhr 16:00 Uhr bis Bettruhe Zwischen den Sprühstößen 15 min Abstand, maximal 12 Sprühstöße pro Tag Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 55 - Cannabinoide (Sativex®) Primärer Wirksamkeitsendpunkt der Zulassungsstudie Mittlere Spastizität 0-10 NRS (±SE) als Add-on zur bestehenden Therapie mit Baclofen (58%), Antiepileptika (24 %),Tizanidin (17 %) u.a. Phase A einfach-blind Phase B doppel-blind Sekundäre Endpunkte wie u.a. n=572 Spasmushäufigkeit Responder aus Phase A Schlafstörungen durch Spastik n=117 n=241, (ca. 40 %) n=124 Barthel-Index Index für Aktivitäten des täglichen Lebens Einschätzung der Veränderung von Patienten, Pflegern und Ärzten waren ebenfalls signifikant verändert Studiendauer (Wochen) Cannabinoide (Sativex®) Sehr häufige unerwünschte Wirkungen: Schwindelanfälle Müdigkeit Häufige unerwünschte Wirkungen: Anorexie (einschliesslich reduzierter Appetit), erhöhter Appetit Depression, Desorientierung, Dissoziation, euphorische Stimmung Amnesie, Gleichgewichtsstörung, Aufmerksamkeitsstörung, Dysarthrie, Dysgeusie, Lethargie, Gedächtnisstörung, Schläfrigkeit Verschwommenes Sehen Vertigo Obstipation, Diarrhoe, Mundtrockenheit, Glossodynie, Mundschleimhautaphthen, Nausea, Unbehagen und Schmerzen in der Mundhöhle, Erbrechen Schmerzen an der Verwendungsstelle, Asthenie, Unbehagen, Trunkenheitsgefühl, Indisposition Sturz Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 56 - Cannabinoide (Sativex®) Kontraindikationen Überempfindlichkeit auf Cannabisextrakte oder einen der sonstigen Bestandteile Schizophrenie oder eine andere psychotische Krankheit, schwere Persönlichkeitsstörung, erhebliche psychiatrische Störung mit Ausnahme einer Depression Kinder oder Jugendliche unter 18 Jahren Patienten mit einer schweren Herz-Kreislauf-Erkrankung Stillzeit Besondere Vorsicht bei: Anamnese von Epilepsie oder rezidiven Anfällen Anamnese von Suchtmittelmissbrauch Schwangerschaft (nur in Ausnahmefällen, generell Kontrazeption bis drei Monate Therapieende Cannabinoide (Sativex®) Fazit Tetrahydrocannabinol ist in Deutschland seit mehr als 10 Jahren als BTM-Rezeptur verordnungsfähig. Nun ist die sublingual anzuwendende Cannabinoid-Kombination Sativex als Zusatztherapie zur Symptomverbesserung bei schwerer Spastik aufgrund Multipler Sklerose zugelassen worden. Etwa 40 % der Multiple Sklerose-Patienten mit Spastik, die nicht befriedigend mit Baclofen, Tizanidin, Benzodiazepinen oder Antiepileptika wie Gabapentin behandelt werden können, sprechen auf eine zusätzliche Therapie mit Cannabinoiden mit einer Besserung der Spastik an. Das Ansprechen auf die Therapie muss also bei jedem Patienten individuell geprüft werden, wobei über 2 Wochen hinweg die Anzahl der Sprühstöße (bis max. 12) gesteigert wird „bis eine optimale Linderung der Symptome erreicht ist“ (Fachinfo). Häufigste Nebenwirkungen sind Schwindelanfälle und Müdigkeit. Alle zentralsedierenden Arzneistoffe und Alkohol können die Wirkung verstärken. Die von Patienten berichtete Rauschwirkung ist gering und eine Abhängigkeit ist unwahrscheinlich. Für Patienten mit erheblicher Störung von Leber- und Nierenfunktion liegen keine Daten vor. Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57 Neue Arzneimittel 2011 – Multiple Sklerose - 57 - Hinweise 1) Die Bezeichnung Zusatznutzen bezieht sich auf das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarkts (AMNOG), wonach der g-BA eine Nutzenbewertung neu zugelassener Arzneimittel nach § 35 a SGB V durchführt. Es handelt sich bei den Kommentaren um eine klinisch-pharmakologische Kurz-Einschätzung des Autors, die auf den publizierten Zulassungsstudien und/oder den „European Public Assessment Reports“ der europäischen Zulassungsbehörde „European Medicinal Agency“ (EMA) beruht. 2) Die Informationen zu den Arzneimitteln sind verkürzt dargestellt. Ausführlichere Informationen finden besonders interessierte Leser unter Weblink 1. 3) Eine vollständige Liste der 23 im Jahr 2011 zugelassen Arzneistoffe mit Indikationen und derzeitigem Zusatznutzen bei dieser Indikation ist unter folgendem Link erhältlich: http://www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/fortbildungkoeln/index.html Weblinks 1) wissenschaftliche Diskussion der Arzneistoffdaten einschließlich Nutzen-Risiko Einschätzung in den European Public Assessment Reports (EPARs,) der Zulassungsbehörde European Medicinal Agency (EMA), verzeichnet nach Handelsnamen, abgelegt unter Assessment History (nur in englischer Sprache) http://www.ema.europa.eu/ema/index.jsp?curl=pages/medicines/landing/epar_search.jsp&murl=menus/medicines/medicines.jsp&mid=WC0b01ac058001d125&jsenabled=true Literatur Zitate zu Leitlinien, Phase III-Studien und anderer verwendeter Literatur sind auf Nachfrage beim Autor erhältlich Impressum: http://www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/FortbildungstelegrammPharmazie/impressum.html Fortbildungstelegramm Pharmazie 2012;6(2):32-57