1 Emel und Amin Rochdi „Bin ich hier richtig?“ Eine Erhebung der

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Emel und Amin Rochdi
„Bin ich hier richtig?“
Eine Erhebung der Schülerinteressen im Islamischen Religionsunterricht
Die Situation
Zu Beginn des Schuljahres 2007/08 waren die muslimischen Schülerinnen und Schüler der
Jahrgänge 7, 8 und 9 der Geschwister-Scholl-Realschule in Nürnberg gefragt. Sie sollten in einer
anonymisierten Erhebung angeben, was sie im Islamischen Religionsunterricht gerne besprechen
würden. Nur einige wenige von ihnen hatten bis zu diesem Zeitpunkt die eine oder andere Form
von religiöser Unterweisung in der Moschee besucht. Dem Islam im Gewand eines
institutionalisierten, gegliederten und zielorientierten Unterrichts zu begegnen stellte für die
meisten von ihnen eine neue und besondere Situation dar. Die ersten Erfahrungen mit dem
Schulversuch Islamunterricht an einer Realschule lassen seitens der muslimischen Schülerinnen
und Schüler zwei Grundmotive erahnen, die sich lernwirksam auf die Unterrichtssituation
auswirken: Neugierinteresse und Stolz. Ersteres hat damit zu tun, dass sich mit dem Islamischen
Religionsunterricht ein eigener Diskursraum eröffnet. Die Schülerinnen und Schüler können hier
auch das scheinbar Unerhörte fragen und sich frei äußern, ohne sich stigmatisiert zu fühlen oder
gar Sanktionen befürchten zu müssen. Derlei spielt überraschenderweise innerhalb der Lerngruppen gegenwärtig keine Rolle. Das Gefühl, stolz sein zu dürfen, hat damit zu tun, dass der
Islamische Religionsunterricht nicht nur gleichzeitig mit dem katholischen und evangelischen
Religionsunterricht sowie dem Ethikunterricht stattfindet, sondern auch hinsichtlich seines Profils
gleichberechtigt ist: Es gibt mündliche und schriftliche Leistungsfeststellungen, es werden
Ziffernnoten vergeben, das Fach kann relevant werden für die Frage des Vorrückens in die
nächste Jahrgangsstufe. Hinzu kommt, dass die Schule nun mit dem Islamischen Religionsunterricht ein Unterrichtsangebot machen kann, in dem sich die muslimischen Schülerinnen und
Schüler gegenüber anderen einen Vorsprung an Kenntnissen und Kompetenzen erarbeiten
können. Gerade für diejenigen, deren sonstiges Leistungsprofil unterdurchschnittlich ist, gewinnt
der Islamische Religionsunterricht somit für Fragen des Selbstbilds eine besondere Rolle, die
kein anderes Fach in dieser Form anbieten kann. Die Schüler laufen hier, wenn auch nur für zwei
Unterrichtsstunden pro Woche, gleichsam außerhalb jeder Konkurrenz.
Die Erhebung
Diese Motivlage erfordert es in besonderem Maße, auf die Interessen der Schülerinnen und
Schüler einzugehen – dies vor allem in einem Unterricht, dessen Fachprofildiskursive und
induktive Lehr-Lern-Strategien verlangt. Der notwendigen Befragung ging eine kurze
Erläuterung der Lehrinhalte in den jeweiligen Jahrgangsstufen voran. Der Unterricht an der Realschule orientiert sich übergangsweise an dem für die Hauptschule in Bayern zugelassenen
Lehrplan (vgl. den Fachlehrplan für den Schulversuch Islamunterricht an der Hauptschule; Download unter
www.izir.de). Es wurde gegenüber den Schülerinnen und Schülern noch einmal besonders betont,
dass ihre aktuellen Fragen und Interessen für die Planung von Unterrichtssequenzen
berücksichtigt werden sollten. Zum einen ist der Lehrplan in Teilen dementsprechend offen
konstruiert, zum anderen nehmen alle drei Lerngruppen gleichsam als Quereinsteiger ohne
Vorkurs an diesem Schulversuch teil – ein Defizit, das aber für den Anfang auch gewisse
Freiheiten erlaubt. Die Schülerinnen und Schüler wurden aufgefordert, ihre Wünsche und Fragen
schriftlich auf vorbereiteten Zetteln zu notieren und sie dabei in drei Stufen nach Wichtigkeit zu
sortieren, und zwar angefangen bei dem, was ihrer Meinung nach im Unterricht unbedingt
vorkommen sollte, bis hin zu Dingen, über die es zu sprechen lohnt, wenn dafür noch Zeit bleibt.
Die Befunde
1. Sexualität kein Tabu In der neunten Jahrgangsstufe wurde fast auf jedem der abgegebenen
Zettel der Themenkomplex Liebe, Partnerschaft und Sexualität entweder gestreift oder direkt
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angesprochen. Ob das in erster Linie mit dem Alter der Neuntklässler zusammenhängt (14 und 15
Jahre), bleibt offen. Aus entwicklungspsycho-logischer Sicht sollte das auch in den
Jahrgangsstufen 7 und 8 ein Thema sein, was bei der von uns durchgeführten Umfrage allerdings
nicht so zu Tage trat. Auffällig war auch, dass dieser Punkt trotz der Häufigkeit, mit der er
genannt wurde, in seiner relativen Wichtigkeit gegenüber anderen genannten Themen eher
niedrig angesetzt wurde; er landete meist an dritter Stelle. Hier wäre darüber zu diskutieren, ob
die Ursache dafür in Schamgefühlen liegt, in einer Art Schere im Kopf der Schülerinnen und
Schüler, die sich unsicher sind, ob die Frage nach Homosexualität auf dem Erhebungsbogen über
der Frage nach Gott, nach Muhammad oder nach dem Koran angesiedelt werden darf. Einige der
Bögen enthielten nicht nur allgemeine Themenvorschläge in Stichpunkten, sondern konkret
ausformulierte Fragen, zum Beispiel: „Ich habe einen Freund. Was darf ich mit ihm tun und was
nicht? Dürfen wir uns küssen? Wie schlimm ist es wirklich, wenn wir es ohne böse Absicht zum
ersten Mal miteinander tun?“ Einige Schülerinnen und Schüler fragen danach, ob es denn prinzipiell erlaubt sei, ohne Einwilligung der Eltern zu heiraten. Hier liegt die Vermutung nahe, dass
diese Frage im Vergleich mit der oben stehenden an sich keine neuen Kategorie eröffnet, sondern
sie lediglich verschiebt: das Interesse am anderen Geschlecht gleichsam unter islamischen
Vorzeichen, die Beendigung des jugendlichen Moratoriums in dieser Frage durch eine Art
Legalisierung, zum Beispiel auch durch die Eheschließung vor Erreichen der gesetzlichen
Volljährigkeit. Dieser Themenkomplex stellt insgesamt ein sehr heißes Eisen dar; viele der
Fragen wurden seit der Erhebung im September 2007 aus dem Unterrichtsdiskurs heraus
mündlich wiederholt, verändert und präzisiert. Das bestätigt noch einmal den Eindruck, dass die
Schüler nicht unbedingt einer anonymen Erhebung bedürfen, um frei mitzuteilen was sie
interessiert. Der Islamische Religionsunterricht scheint ihnen einen geeigneten Freiraum für der
artige Anfragen zu bieten, wenn er diese Thematiken proaktiv aufgreift und den Schülern
didaktisch klug dafür Anlass, Methode und Motiv bietet. In diesem Zusammenhang muss auch
beleuchtet werden, wer den Unterricht hält. Der in jüngerer Literatur oft genannten Forderung,
die muslimische Lehrkraft solle einen vertrauensvollen Kontakt sowohl zu den Eltern als auch zu
den Moscheen der Nachbarschaft haben, kann nur wenig entgegengesetzt werden. Vertrauen zu
den Schülerinnen und Schülern aufzubauen ist damit aber nicht gleichzusetzen. Nicht alle
Einzelheiten, die zwischen Lehrkraft und Schülerschaft zur Sprache kommen, gehören beim
Elternabend auf den Tisch.
2. Wo steht denn das? Dieser Punkt berührt das Verhältnis von Religion und Tradition. Durchweg alle Befragten haben irgendein inneres Bild vom Islam, das sich einerseits aus den
Eindrücken ihrer vor- und außerschulischen Sozialisation speist, andererseits aber auch aus
Quellen, die unkontrolliert und unstrukturiert auf die jungen Muslime einwirken. Was von diesen
inneren Bildern mitgeteilt wird, weist auf eine grundsätzliche Zweiteilung hin: Die einen sehen
den Islam als eine Religion voller Gebote und Verbote, die mit der Hölle droht. Für die anderen
stellt sich der Islam als ein Weg des glücklichen Lebens in intakten Sozialbeziehungen dar, auch
wenn es nicht immer einfach ist, diesen Weg zu gehen. Welche Erlebnisse oder Informationen
dafür jeweils, im Einzelnen, Pate stehen, bleibt jedoch vorerst im Verborgenen, und dies zuerst
einmal für die Betroffenen selbst. Darin kann nämlich eine der entscheidenden
Orientierungsfunktionen des Islamischen Religionsunterrichts in seinem kontrovers diskutierten
Ansatz des Therapeutischen, des auf Lebenshilfe bedachten Profils liegen: Dieses Verborgene als
Teil des Selbstbildes zu entdecken und zu verstehen ist bei einigen der Schülerinnen und Schüler
das entscheidende Schüsselmotiv, lieber den Islamischen Religionsunterricht anstatt das Fach
Ethik zu besuchen. Dieses aktive Suchmotiv stellt die Verbindung zur Identitätsbildung dar.
Hier liegt allerdings auch ein erhebliches Konfliktpotential begründet. Durch ein vermehrtes
Interesse an der Religion und am Islam als praktizierter Lebensweise können die Schülerinnen
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und Schüler dort in Schwierigkeiten geraten, wo eher Prozesse einer traditionalistischen oder
auch nationalistischen Identitätskonstruktion nachgewiesen werden können, wo
verantwortungsethisch und gesinnungsethisch begründete Positionen aufeinander treffen. Das
ließ sich jüngst wieder an Hand des türkisch-kurdischen Konflikts nachzeichnen, der in den
Islamischen Religionsunterricht hineinschwappte.
Was Eltern oder andere Personen des sozialen Nahbereichs sagen, geht nicht immer mit dem
konform, was im Koran steht. Das wird von der muslimischen Schülerschaft sehr wohl erkannt,
auch wenn das Spannungsverhältnis zwischen Religion in ihrer theologischen und ihrer tradierten, personalisierten Dimension unterschiedlich bewertet wird. Die Jüngeren unter den
muslimischen Schülern erleben diese Diskrepanz weniger deutlich und fragen auch nicht danach
– im Gegensatz zu den Neuntklässlern, deren Anfragen oft einen betont sozial-, herrschafts- und
religionskritischen Ansatz haben. Viele Verbote und Gebote des Islams sind selbst denjenigen
Schülern bekannt, die entweder ein distanziertes Verhältnis zur religiösen Praxis haben oder die
sich nicht als Muslime verstehen, wie beispielsweise der Verzicht auf Schweinefleisch oder
Alkohol. Der Koran ist, ähnlich wie der gesamte Islam, von einem allgemeinen, veröffentlichten
Image geprägt, das eher negativ ist. Spricht man aber die Schülerinnen und Schüler gezielt auf
den Koran an, so meinen selbst die Jüngsten zu wissen, dass es sich dabei um ein „besonderes,
heiliges“, ja sogar „das beste Buch“ handelt. Ein Buch, das so heilig ist, dass es ganz weit nach
oben in den Schrank gehört. Anfassen verboten! Woher das Wissen um diese Praxis stammt, und
ob es damit überhaupt seine Richtigkeit hat, ist den meisten jedoch unklar. Die Schüler scheinen
ein durchweg positives Bild vom Koran zu haben, jedoch erschließt sich ihnen nicht von selbst
der Zusammenhang zwischen der Schrift und dem Leben. Die Frage wird gestellt: Warum sind
die Muslime so schlecht, wo doch der Koran so gut ist? Diese Spannung zog sich als roter Faden
durch die Schülerangaben in der Interessenerhebung. Der Koran selbst als Unterrichtsgegenstand
fiel dabei gleichsam über Bord.
3. Prophetengeschichten: Märchenstunde?
Prophetie ist bei allen drei Lerngruppen in etwa gleich stark vertreten gewesen, und zwar sowohl
zahlenmäßig als auch durch das hohe Ranking. Jedoch muss man feststellen, dass in der 7. Klasse
vermehrt das „Leben der Propheten“ und deren Geschichte und Wunder im Mittelpunkt des
Interesses stehen. Hier geht es, vor allem mit Blick auf Muhammad, um das Interesse am
Menschen: Wie hat er gelebt, warum ist er Gesandter Gottes geworden, wie haben die Menschen
seiner Zeit gelebt? Anders hier die Schülerinnen und Schüler der neunten Klasse: Sie fragen vermehrt nach den Lehren, die aus koranischem Bericht und prophetischer Rede zu ziehen sind, vor
allem in ihrer Bedeutung für den heutigen Kontext und das eigene Leben.
Ein Gutteil der Schülerinnen und Schüler weiß, bei allem sonstigen Analphabetismus hinsichtlich
der eigenen Religion, überraschend viel und detailliert von wunderlichen Dingen zu berichten,
die sich irgendwann und irgendwo zugetragen haben: ein Mädchen, das im Klo ertrunken ist,
weil es dort heimlich im Ramadan gegessen hat, ein Säugling, der mit zwei Köpfen zur Welt
kommt, weil die Mutter ein außereheliches Verhältnis hatte… Hier wird gerne auf Berichte im
Internet, auf dubiose türkische Printmedien sowie darauf verwiesen, dass ein namentlich
genannter Prediger die Wahrheit dieser Berichte beschwöre. Das liegt fernab jedweder
Prophetologie des Korans und ruft nach Erziehung zu Kritikfähigkeit. Aber dort wo es um
Muhammad geht, erregt das Mysterium Faszination: Jesus sei der Prophet der Christen, aber
Muhammad habe doch viel mehr Wunder getan…
Dass der Islam in der europäischen Kulturgeschichte oft als Religion der Geschichten- und
Märchenerzähler rezitiert wurde, ist nicht zuletzt den Geschichten aus „1001 Nacht“ zu
verdanken. Tatsächlich war und wiegt in der islamischen Welt das gesprochene Wort oft mehr als
das geschriebene. Bis heute hat sich die Tradition bewahrt, Texte mündlich weiterzugeben. Dabei
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geht es nicht nur um religiöse Texte. Ob vor allem Schüler mit ihren Wurzeln in solchen
Kulturkreisen eine Affinität zu besonders unglaublichen Geschichten und Wundern haben, und
ob sich das bis in die heutige Zeit gehalten hat oder sich unter den Bedingungen von Migration
und Postmigration gar verstärkt, wäre zu diskutieren. Auch manche der Eltern stehen hier ihren
Kindern in nichts nach. Möglicherweise geht es auch einfach nur darum zu zeigen, wie
interessant „ihr“ Islam sei. Auch außerhalb muslimischer Milieus hat das Okkulte als Teil
jugendlicher Lebenskultur, Medienkonsum und Freizeitgestaltung neu an Boden gewonnen.
Ein weiterer Grund könnte darin liegen, dass in der häuslichen Erziehung mit Strafandrohung
gearbeitet wird, wobei sich Eltern der tradierten religiösen Bilderwelten bedienen: der Satan, der
kommt, der Dschinn, der von dir Besitz ergreift, die Hölle, die auf dich wartet, Gott, der dich in
Stein verwandelt, wenn… Die Frage, wie man Kinder dazu bringt etwas zu tun oder zu unterlassen, haben sich bereits viele Generationen von Pädagogen gestellt.
Was für die europäische Tradition von den Gebrüder Grimm in Form gebracht wurde, wird auch
von muslimischen Eltern gerne praktiziert: Geschichten erzählen – mehr oder weniger
pädagogisiert. Je geheimnisvoller und abgehobener solche Geschichten sind, desto mehr Beachtung erfahren sie durch die Schüler. Vor allem in der siebten Klasse haben die Schüler ein schier
unglaubliches Verlangen danach, ihren Klassenkameraden ihre neuesten Gruselgeschichten zu
erzählen. Der kognitive Konflikt zwischen dem Wahrheitsanspruch der Geschichten und den
Fragen nach Wahrscheinlichkeit und Wirklichkeit bleibt dabei nicht aus. Zu den gängigen
Formulierungen auf den Erhebungsbögen gehört es, eine Frage mit „Stimmt es, dass…?“
einzuleiten. Hier hat der Islamische Religionsunterricht seinen Teil zum Bildungsauftrag der
Schule insgesamt beizutragen, nämlich eine Kultur des Fragens, der kritischen Rückfrage, des
Arguments der Vernunft und der Plausibilität einzuüben.
4. Ein guter Muslim sein: Man nehme…Ein weiterer Schwerpunkt bei der Erhebung der
Schülerinteressen war die Frage nach den Grundpflichten und Glaubensinhalten, die im Leben
eines Muslims eine Rolle spielen. Selbst Schülerinnen und Schüler, die sich selbst nicht als
praktizierend bezeichnen würden, zeigen ein großes Interesse an der religiösen Praxis. Vor allem
Fragen, die alltäglich die Medienwelt durchziehen wie zum Beispiel die Sache mit dem
Kopftuch, stehen im Fokus.
Viele der Anfragen zielen auf die Orientierung dahingehend ab, was man tun darf und was nicht,
was im Islam halāl ist und was harām. Das stützt einen Befund, wie er sich aus der Analyse
binnenmuslimischer Diskurse ergibt, und zwar besonders dort, wo Muslime meinen, sich
gegenüber einer als dominant und unislamisch empfundenen „Mehrheitsgesellschaft“ behaupten
zu müssen: Fragen der Richtigkeit und der Zugehörigkeit haben Vorrang für die
Identitätskonstruktion; wer ich bin und woran ich glaube wird fast zur Nebensache. Auffallend
ist, dass die Schülerinnen und Schüler nur dann den Grund für Verbote und Gebote erfahren
wollen, wenn das Gebot ihrer bisherigen Lebenspraxis, ihren „Stil“ widerspricht. Gehen „persönliche“ und „muslimische“ Praxis scheinbar konform, dann genügt das zunächst, kurzfristig
jedenfalls. Langfristig aber werden Grundsatzfragen an die Oberfläche drängen und nach Klärung
verlangen. Eine dieser Fragen tauchte bereits auf einigen der Erhebungsbögen auf: „Was soll ich
hier in Deutschland als Muslim?“ Für die Theologie des Islams tritt hier zu Tage, dass Klarheit
bezüglich der Lebenssituation und Plausibilität in der persönlichen Lebensperspektive, in den
eigenen Zielsetzungen notwendig sind, um das Sinn stiftende Potenzial des Islams aktivieren und
nutzen zu können. Das allein auf Zugehörigkeit und Richtigkeit angelegte Selbstbild trägt hier
nicht weit. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch Stimmungen, und dabei insbesondere die
Frage, ob sich die Schülerinnen und Schüler insgesamt als Muslime angenommen fühlen. Es geht
also um Integration. Durchweg alle Befragten erkennen Deutschland als ihre Heimat an und
würden sich, trotz ihrer unterschiedlichen Herkunftskonstruktionen und Biographien, gerne als
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deutsche Muslime bezeichnen. Das scheint also noch keine Selbstverständlichkeit zu sein und
muss im Unterricht erarbeitet werden.
5. Leben, sterben, und dann? Besonders die Schülerinnen und Schüler der 7. Klassen haben,
Punkt 3 lässt das ja erahnen, ein brennendes Interesse an Apokalyptik. Weltuntergangsszenarien
scheinen derzeit ein zentrales Thema zu sein, nicht zuletzt wohl verstärkt durch die Vorgänge im
Irak und in Afghanistan. Sie verlangen Antworten darauf, wie der Weltuntergang aussehen wird,
wie er beginnt, was mit den Menschen passiert und wer wie für was bestraft wird. Hier wird auch
die Frage nach der Hölle und nach dem Teufel, dem „Schaitan“ gestellt. In der Erhebung ist das
Thema „Hölle“ bei mehr als der Hälfte aller Schülerinnen und Schüler ein Wunschthema,
wohingegen der Himmel bzw. das Paradies seltener vorkamen.
Aber auch für die höheren Jahrgangsstufen ist der Tod ein wichtiges Thema. Den Aussagen auf
den Erhebungsbögen ist zu entnehmen, was gezieltes Nachfragen bestätigte: Einige der Befragten
haben bereits Erfahrungen mit Leid und Sterben in der Familie gemacht. In einem Fall wurde
konkret gefragt, ob man wirklich durch das Fasten einen Sündenerlass erhalte und was mit
jemandem passiert, der während des Fastens stirbt. Andere Schüler wollten wissen, ob man für
bestimmte Sünden für immer oder nur für eine begrenzte Zeit in die Hölle komme.
6. Fernsehen und die Frage der Vergiftung und Verdummung Dass auch muslimische
Schüler von den Medien beeinflusst sind, muss nicht erwähnt werden. Jedoch scheinen sie sich
stärker durch Massenmedien beeinflussen zu lassen als ihre Altersgenossen. Das liegt wohl weder
an den Medien selbst noch an einer besonderen Bereitschaft, sich ihrer Suggestivkraft hinzugeben, sondern allein an dem Umfang, den islambezogene Berichterstattungen inzwischen
einnehmen. Hier ist man Betroffener, hier wird es schwierig, nicht Position zu beziehen, nicht
parteilich zu sein. Symptomatisch dafür ist der jüngste Konflikt zwischen dem türkischen Militär
und Kurden im Südosten der Türkei und im Norden des Irak. Dieses Thema wird vor allem in
von türkischen und kurdischen Schülern stark frequentierten Internetforen heiß diskutiert. So
kann man in einem Thread einer großen deutschen Tageszeitung unter einem Artikel zu den Straßenschlachten zwischen kurdischen und türkischen Jugendlichen in Berlin lesen, dass „die PKK
unsere [kurdische] Religion“ sei. Ähnlich äußern sich türkische Nationalisten, für welche „zuerst
das Türke sein kommt, dann die Religion“. Solche Parolen liefern Zündstoff für den Islamischen
Religionsunterricht. Auch der Pausenhof könnte zu einem Austragungsort des Kräftemessens
werden, so wie das von einer Schülerin auf den Punkt gebracht wurde: „Wenn es da unten
losgeht, sind wir in Deutschland bereit“.
Diskussionen darüber können von üblen und dummen Beschimpfungen begleitet sein, was die
Schülerinnen und Schüler aber gut differenzieren. Problematischer wird es, wenn Threads
faschistische Ideologien aufgreifen und scheinbar plausibilisieren. Was dort an Argumenten
geliefert wird, muss dann im Unterricht mühevoll widerlegt werden: „Können Kurden überhaupt
Muslime sein? Kann man an der Kopfform erkennen, ob jemand wahrer Türke ist?“ Hier bleibt
es nicht bei türkischen Themen; gefragt wird nach allen Konfliktszenarien zwischen Mindanao
und New York. Die Schülerinnen und Schüler gelangen, durch andere Schulfächer unterstützt,
sehr schnell zur globalen Perspektive – wenn nicht vorschnell. Auch antisemitische
Ressentiments werden in bestimmten Foren artikuliert. Nur so ist zu erklären, warum von
Schülerseite gefragt wurde: „Was haben die Juden, die Amerikaner und der Satan miteinander zu
tun?“
7. Ist der Islamische Religions- unterricht das Richtige für mich? Bei der Überlegung, sich
für Ethik oder den Islamischen Religionsunterricht zu entscheiden, mag es unterschiedliche
Motive geben. Trotzdem fragte bereits nach wenigen Wochen ein Schüler, ob es möglich wäre,
den Islamunterricht wieder zu verlassen. Dem stehen während des laufenden Schuljahres
normalerweise bürokratische Hürden entgegen. Dennoch sollte der Schüler bei seiner
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Entscheidung durch ein positives Votum der Lehrkraft unterstützt werden. Er wurde allerdings
zuvor gebeten, die Gründe dafür schriftlich zu formulieren.
Seiner Aussage nach habe er nie eine besondere Beziehung zum Islam empfunden. Durch seine
Wahl für den Islamischen Religionsunterricht habe er sich neue inspirierende Elemente erhofft.
Er sei sich daher nicht sicher, ob er in diesem Unterricht richtig aufgehoben sei. Neben den
arabischen Begriffen, die ihn eher belustigten, habe er nicht das Gefühl, von diesem
Unterrichtsangebot angesprochen zu werden. Durch seine gelegentlich respektlosen
Bemerkungen im Unterricht und sein Gelächter würde er doch nur die Gefühle der „interessierten
Schüler“ verletzen. Seine „ungläubigen Kommentare“ seien zudem der muslimischen Lehrkraft
gegenüber respektlos.
Dass gerade solche Schüler mit dem Islamischen Religionsunterricht eine Möglichkeit erhalten
sollen, über Konfliktthemen und Letztfragen zu sprechen, geht aus dem Fachprofil hervor. Aus
diesem Grund wurde mit dem Schüler ein vertrauliches Gespräch geführt. Er wurde für seine
ehrlich und klug formulierte Stellungnahme gelobt, in der er seinen Wechsel in eine andere
Lerngruppe nicht unbedingt forderte, sondern lediglich seine Anwesenheit im Islamischen
Religionsunterricht in Frage stellte. Es wurde ein Moratorium vereinbart: Bleibe bis zu den
Zwischenzeugnissen dabei, dann entscheide. Fordere bis dahin die Lehrkraft mehr heraus, auf
Deine Fragen einzugehen und arbeite disziplinierter mit.
Fazit
Die von den Schülern angesprochenen Punkte lassen sich gut mit den Lehrplänen für den
Schulversuch Islamunterricht verbinden; sie gehen stellenweise erwartungsgemäß konform.
Überraschend waren dabei aber, die Fülle und die Unmittelbarkeit der Anfragen. Die
unterschiedlichen Bezugsfelder innerhalb der Theologie des Islams wie auch der religiösen
Gegenwartskulturen zeigen, wie hoch die Anforderungen an eine Lehrkraft für den Islamischen
Religionsunterricht und an ihre Ausbildung sind. Das betrifft sowohl die Religionslehre als auch
die Vertrautheit mit der muslimischen Jugend und ihren bevorzugten Themen. Hinzu kommen
die allgemeinen pädagogischen Herausforderungen durch in ihren Herkunftsmilieus, ihren
Interessen und Vorkenntnissen sehr heterogene Lerngruppen. Wer Islamischen Religionsunterricht erteilen will, muss sich auf besondere Lernprozesse einlassen.
Die hier geschilderten Erfahrungen machen neugierig. Benötigt wird nun eine empirische, hier
vor allem qualitativ angelegte Forschung. Dabei darf es nicht um Akklamation gehen – alle, die
an so einem Schulversuch teilnehmen, finden den natürlich toll. Gefragt ist vielmehr der kritische
Ansatz: Welche Unterrichtsprozesse tragen im Einzelnen zur Orientierung in der Lebenswelt bei,
welche Voraussetzungen bringt die Schülerschaft mit, was genau kann und soll ein Islamischer
Religionsunterricht leisten? Es geht einerseits um wissenschaftlich verwertbare Erkenntnisse,
andererseits aber auch um die Verbesserung der konkreten Lehr-Lern-Prozesse und der
pädagogischen Gesamtsituation vor Ort, in die der Islamische Religionsunterricht eingebettet ist.
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