Psyche Hausarzt Medizin Die Betreuung von Patienten mit psychischen Störungen ­gehört zu den täglichen Aufgaben von Hausärzten. Dies ist ­ eine Langzeitaufgabe, die nicht nur die Krankheit an sich, ­sondern auch ­sozialmedizinische Komponenten und Krankheitsfolgen mit­berücksichtigen muss. Auch in der Hausarzt­ praxis finden sich viele Patienten mit chro­ nischen psychischen ­E rkrankungen. 56 Mitbetreuung durch den Hausarzt Da psychische Erkrankungen regelhaft Langzeitstörungen sind, bedürfen in Deutschland etwa 20 Millionen Menschen therapeutischer Hilfe und Führung. Dies kann nicht allein durch Psychiater, Psychosomatiker oder Psychologische Psychotherapeuten geleistet werden, sondern nur unter Mitwirkung der Hausärzte. Diese sind dazu auch qualifiziert. Sie verfügen über eine Weiterbildung in psychosomatischer Grundversorgung, sehen viele derartige Patienten, kennen häufig die sozialen Rahmenbedingungen und haben vor allem eine langjährige Patientenbindung. In einer Untersuchung zur Häufigkeit psychischer Störungen wurden in 40 Hausarztpraxen 1.451 Patienten zwischen 18 und 60 Jahren im Wartezimmer untersucht, u. a. mit der WHO-5-Selbstbeurteilungsskala für psychische Störungen, dem Index zur Messung von Einschränkungen der Teilhabe (IMET) und der Burville-Multimorbiditätsskala. Die Hausärzte schätzten, dass etwa 45,4 Prozent ihrer Patienten an psychischen Erkrankungen leiden. Von den befragten Patienten klagten 46,5 Prozent über psychische Beschwerden, von denen 84,7 Prozent länger als ein halbes Jahr (chronisch) und 74,7 Prozent durchgängig (persistierend) bestanden. 75,9 Prozent sagten, dass auch ihr Arzt meine, dass sie unter psychischen Problemen litten. Berücksichtigt man zusätzlich Einschränkungen der Teilhabe im sozialen und beruflichen Leben, dann bedeutet dies, dass von allen Wartezimmerpatienten im arbeitsfähigen Alter 38,3 Prozent unter chronischen bzw. 26,9 Prozent unter persistierenden psychischen ErkranDer Hausarzt 05/2016 Foto: Leticia Wilson - Fotolia JEDER DRITTE IST PSYCHISCH KRANK Laut Bundesgesundheitssurvey leiden 31 Prozent der Bevölkerung zwischen 18 und 65 Jahren an einer psychischen Störung, ohne Berücksichtigung der dementiellen Erkrankungen in den höheren Alterskohorten. Diese Zahl ist plausibel und umfasst nicht nur Psychoseerkrankungen, sondern auch Abhängigkeitserkrankungen, Depressionen, Angsterkrankungen, traumatische Störungen oder Persönlichkeitsstörungen. Im Vergleich dazu sind z. B. Fehlfunktionen der Augen häufiger. Hausarzt Medizin kungen mit einer Beeinträchtigung der Le­ bensführung leiden. Der Hausarzt als Reha-Mediziner Da es sich bei den psychischen Erkrankun­ gen häufig um „chronische Erkrankungen Hohe Krankheitslast mit Teilhabebeeinträchtigung“ handelt, sind Hausärzte nach den Vorgaben von § 2 und § 26 Es wurde untersucht, welche Krankheitslast („Burden of Disease“) durch psychische Stö­ des Sozialgesetzbuchs IX zu einem wesentli­ rungen entsteht. Dies wird berechnet durch chen Teil ihrer Tätigkeit als „Rehabilitations­ Multiplikation der Häufigkeit mediziner“ anzusehen. Die einer Erkrankung mit dem Grad Patienten sind langzeitig zu be­ der Lebenseinschränkungen. handeln und dies nicht nur mit 38,3% Nach der Burville-Skala litten Blick auf die aktuelle Symp­ die Patienten im Durchschnitt tomatik, sondern auch bezüg­ unter akuten und/oder chroni­ lich der Lebensbewältigung. So sind es die Hausärzte, die so­ schen Erkrankungen in 3,5 Kör­ 26,9% persystemen. Eine akute oder zialmedizinisch das Recht ha­ chronische psychische Störung ben, über Arbeitsfähigkeit oder korrelierte stärker mit dem -­unfähigkeit zu entscheiden, die Wartezimmerpatienten Grad der Lebensbeeinträchti­ bei Reha-Anträgen mitwirken im arbeitsfähigen Alter: 38,3 Prozent leiden unter müssen, als Konsiliarärzte Psy­ gung als Krankheiten anderer chronischen und 26,9 Prozent Organsysteme. Dementspre­ chotherapeuten begleiten und unter persistierenden psychischen Erkrankungen mit bebei denen letztendlich die Pati­ chend ist der Burden-of-Di­ einträchtigter Lebensführung. sease-Grad für psychische Stö­ enten über die Jahre angebun­ rungen mit 1,69 am höchsten, den sind, d. h. sie sind auch Case gefolgt von muskuloskelettalen Erkrankun­ Manager. Allerdings wird die Rolle der Haus­ gen mit 1,62 (siehe Tabelle 1). ärzte als Rehabilitationsmediziner bislang In einem nächsten Schritt wurden 307 der nur unzureichend wahrgenommen, wissen­ psychisch auffälligen Patienten intensiv von schaftlich bearbeitet oder in den Vergütungs­ einem Psychosomatiker untersucht mit der systemen berücksichtigt. Frage, was bislang therapeutisch gemacht Literatur beim Verfasser Interessenkonflikte: keine wurde und aus Spezialistenperspektive ge­ macht werden sollte. Im Ergebnis zeigte sich, dass bereits gemacht wurde oder wird, was sinnvoll ist, sei es durch den Hausarzt selbst Tab. 1: Krankheitslast oder in Kooperation mit Spezialisten. Dies be­ RANG­ AKUTE UND/ODER BOD* trifft die Diagnostik, die Pharmakotherapie, FOLGE ­CHRONISCHE ERKRANKUNG die Psychotherapie und auch die sozialmedi­ 1 Psychisch 1,69 zinische Betreuung. Die Daten aus der vorliegenden Untersu­ 2 Muskuloskelettal 1,62 chung stehen in Übereinstimmung mit vie­ 3 HNO 1,18 len anderen ähnlichen Untersuchungen. 4 Pulmologisch 1,14 Menschen mit psychischen Störungen ge­ 5 Gastrointestinal 1,12 hören zum Alltag der hausärztlichen Tätig­ 6 Kardiovaskulär 1,05 keit. Ein Hausarzt, der psychische Störungen 7 Metabolisch 0,77 nicht adäquat diagnostizieren und behandeln kann, wird seinen Patienten nicht gerecht. 8 Urogenital 0,50 Die Hausärzte wissen das, da ihre Einschät­ 9 Hämatologisch 0,33 zung der Rate psychisch belasteter Patienten 10 Neurologisch 0,31 in der eigenen Praxis den empirisch gefunde­ * BoD (Burden of Disease) = Prozent der Patienten in der Praxis multipliziert mit dem IMET-Score nen Daten entspricht. 38+62+A 27+73+A Der Hausarzt 05/2016 Prof. Dr. Michael Linden Forschungsgruppe­ Psychosomatische­ Rehabilitation, ­Charité Universitätsmedizin Berlin und Institut für Verhaltenstherapie, Berlin, E-Mail: michael. [email protected] 57