Moritz Gagern: Die Anatom ie der Melancholie Lebte auf Erden er noch, wie würde Demokrit lachen. (Horaz) Die größten Leistungen der Menschheit geschehen, wie Platon es formulierte, im Zustand eines „inspirierten Wahnsinns“. Richard Burton kommt darauf zurück, wenn er feststellt, es gebe nicht den Unterschied zwischen normal und verrückt oder gestört, sondern nur den zwischen inspiriert wahnsinnig und wahnsinnig uninspiriert. Es scheint also einen roten Faden zu geben, der auffällige Dispositionen des Gemüts mit Kreativität in Verbindung bringt. Seelische Unausgeglichenheit wurde seinerzeit durch erklärt als ein Ungleichgewicht der Körperflüssigkeiten. Doch die Rede vom Gleichgewicht der Säfte entpuppt sich als Utopie. Menschsein ist ein Ungleichgewicht. Nur gezielte Medikamente wie die Musik können vorübergehend ein Gleichgewicht herstellen. Das Ungleichgewicht der Melancholie wurde als Überschuss an schwarzer Galle symbolisiert. Sie ist der einzige der vier Säfte, der nie entdeckt wurde und nach dem die Hirnforscher und Psychologen gewissermaßen noch heute forschen. Wenn dieser Überschuss groß genug ist, führt er zu einer Störung beim selbstverständlichen Vollzug des täglichen Geschäfts. Der Melancholiker ist nicht busy. Burtons Vorbild im Umgang mit dieser Krankheit ist der große antike Kauz Demokrit. „Er lebte schließlich weltabgewandt in einem Garten vor der Stadt, ganz seinen Studien hingegeben, die er nur manchmal unterbrach, um zum Hafen hinunterzugehen und von Herzen über all die komischen Dinge, die er dort zu sehen bekam, zu lachen. So ein Mensch war Demokrit.“ Der Melancholiker fällt aus dem Kreislauf der Betriebsamkeit heraus, er hält irgendwo inne und wird ernüchtert von dem, was er als Unbeteiligter sieht. Doch wie Demokrit überwindet Burton diesen Anblick durch seinen Humor und pflanzt seine Sätze wie Unkraut zwischen die Monokultur des wirren, getriebenen Funktionierens. Dabei behandelt er Probleme, die wir heute für neu oder zeittypisch halten, die aber offensichtlich uralt sind, zum Beispiel die Überfütterung mit Kulturangeboten: „Welch eine Schar von Dichtern hat dieses Jahr hervorgebracht, beklagt sich schon Plinius bei Sossius Senecio, den ganzen April tagtäglich Rezitationen. Welche von Neuerscheinungen schwellenden Kataloge haben Frankfurter Messen (sic) und Inlandsmessen aufzuweisen. (...) Wer aber ist ein solcher literarischer Vielfraß, dass er alles, was auf den Markt kommt, zur Kenntnis nehmen könnte. Wie schon jetzt werden wir uns mit einem immensen Chaos von Büchern, einem solchen erstickenden Durcheinander herumschlagen müssen, dass uns die Augen vom Lesen und die Finger vom Umblättern schmerzen.“ (26) Aus der Betriebsamkeit auszusteigen birgt freilich die große Gefahr, in Lethargie zu verfallen. „Ich habe über die Melancholie geschrieben, um sie mir mit dieser Unternehmung vom Leibe zu halten. Es gibt nämlich keine gewichtigere Ursache der Schwermut als den Müßiggang und kein besseres Heilmittel, als sich zu beschäftigen, wie schon Rhazes behauptet. Und wenngleich gilt: Sich mit Torheiten zu befassen, bringt wenig Nutzen, so heißt es doch auch beim göttlichen Seneca: Besser Zweckloses tun als nichts. Und eben um die aus der Untätigkeit geborene Lethargie nicht aufkommen zu lassen, habe ich mich dem, was bei Macrobius spielerische Mühe heißt, unterzogen und meine freien Stunden sinnvoll genutzt: Zu singen, was lieblich zugleich und tauglich fürs Leben, was so den Leser zugleich aufheitert und lehrend ermahnt. (Horaz) “ Spielerische Mühe, auch das ein geliehener Begriff, ist seine Antwort auf die unfreiwillig komische Mühe des alltäglichen Idiotentums. Das unterscheidet ihn auch von einem ehrgeizigen Wissenschaftler. Burton war eher so etwas wie ein früher Flaneur, ein Flaneur der Gelehrsamkeit. „Was meine Person angeht, so kann ich vielleicht mit Sallusts Marius für mich in Anspruch nehmen, dass ich das gefühlt und praktiziert habe, was sich andere anlesen mussten oder nur vom Hörensagen kennen. Sie haben ihr Wissen aus Büchern, ich verdanke meins meinen melancholischen Anwandlungen selbst. Ich rede aus schmerzlicher Erfahrung, und ich möchte anderen aus Mitgefühl helfen.“ Es handelt sich tatsächlich um einen gelehrten Text, in dem der Leser die Ehrfurcht vor gelehrten Texten verlieren muss, um die These des Autors mit zu vollziehen. Diese lautet: Melancholie ist tendenziell etwas zutiefst Menschliches, die Krankheit des Menschseins schlechthin, zugleich aber Voraussetzung für Kreativität. Moritz Gagern: Georg Friedrich Händels Saul “Gibt es irgendeine Nation auf der Welt, wo die Macht der Musik bekannt, Händel aber unbekannt ist?” London Daily Post vom 4. April 1741 Händel war der berühmteste deutsche Komponist seiner Generation, berühmter als Johann Sebastian Bach und auch als Georg Philipp Telemann. Geboren wurde er 1685 in Halle. Der Vater verbot ihm die Musik, er wollte einen Jurist in der Familie hinterlassen. Selbst Jahre nach dessen frühem Tod zeigte Händel seinen guten Willen, indem er sich für das Fach Jura einschrieb. Händel hielt es an der Uni einen Monat lang aus, dann übernahm er die Stellung des Organisten im Dom von Halle, ganz im Sinne der norddeutschen Kantorentradition. „Händel scheint eine Kantorenlaufbahn bevorzustehen, wie sie in Deutschland üblich ist – man denke an Johann Sebastian Bachs kümmerliche Karriere.“ (Dieter Schickling, G.F. Händel in Briefen, Selbstzeugnissen und zeitgenössischen Dokumenten, Manesse Zürich 1985, S. 32) 1703 wird er Geiger und Cembalist an der Hamburger Oper. Ein MediciSprößling hört ihn in Hamburg und lädt ihn nach Florenz ein, um ihn dort zu einem Star zu machen. In Italien hatte er großen Erfolg mit seinen ersten Opern. Die Italiener riefen „Viva il caro Sassone!“, „Es lebe der liebe Sachse!“ in die Pausen seiner Aufführungen hinein. Scarlatti hörte ihn verkleidet auf dem Karneval von Venedig spielen und wunderte sich: „Das muß der berühmte Sachse sein oder der Teufel persönlich!“ Händels Kunst der harmonischen Entwicklung sowie seine Instrumentierungen waren bislang nicht gehört worden und lösten Begeisterung aus. Händel blieb dreieinhalb Jahre in Italien, dem Heimatland der Oper und forschte in den Partituren der Meister, schrieb einige Opern. Er hatte keine Schwierigkeiten, sich die fremde musikalische Ausdrucksweise anzueignen, denn er kannte nicht so etwas wie eine persönliche Klangsprache, an der er ein Leben lang feilte. Was er vollkommen fand, verwendete er freimütig. Händel war seinem Romancier-Biographen Romain Rolland zufolge ähnlich wie Shakespeare eine „überragende Unpersönlichkeit“, eine Eigenschaft, in der man durchaus die Bedingung für die stilistische Universalität sehen kann, die es Händel erlaubte, fast alles aufzugreifen, was in einem halben Jahrhundert in Europa musikalisch geschah, und die es andererseits verhinderte, dass er – wie der von ihm verachtete Gluck – einen bestimmten Weg als den von ihm vorgezeichneten erkannte und mit beharrlicher Konsequenz verfolgte. Nach Italien landete Händel 1711 in Hannover als Hofkapellmeister. Noch im gleichen Jahr kam er das erste Mal nach London, wo er innerhalb von zwei Wochen die erste italienische Oper für das Londoner Theater schrieb: die Zauberoper Rinaldo. Der Erfolg war überwältigend, trotz der Schwierigkeiten, die durchkomponierte italienische Rezitative für das Londoner Publikum darstellten. Die Aufführung wartete mit aufwendigen Effekten auf, beispielsweise wurden echte Spatzen auf der Bühne freigelassen. Der Verleger der Oper wurde durch den Nachdruck von einzelnen Arien Millionär. Seit 1715 gehörte Rinaldo auch in Hamburg zum Repertoire. 1713 ließ sich Händel erneut nach London beurlauben, wo er für den Rest seines Lebens blieb. 1720 gründete er die Royal Academy of Music, ein Opernunternehmen mit Sitz im King’s Theater. Er komponierte in den folgenden achtzehn Jahren den Grossteil seiner über vierzig Opern. Nebenbei stieg er, im Zuge des beginnenden Aktienhandels, in die South Sea Company ein, die übrigens nicht zuletzt vom Sklavenhandel lebte. Wie sein Name schon sagt, war ihm die Geschäftsnatur nicht fremd. Händel war gewissermaßen der Vater aller Jet-Set-Komponisten, er reiste vom Sänger-Casting in Roma zur Premiere in Dublin und von dort zur Probe nach Hamburg - und komponierte zwischendrin vollkommene Werke in seiner Wahlheimat London. Er war der erste Tonsetzer, der mit seiner Werkflut auch lukrative Geschäfte zu machen wußte. Zugleich war er ein Vollmusiker, der in seinen Kompositionen ein ernsthaftes humanistisches Anliegen vertrat. Was die Liebe angeht, fehlen leider zuverlässige Quellen. Er blieb unverheiratet. Außerhalb der Musik hatte er wenig Interessen – mit einer Ausnahme: Wenn es ums Essen und Trinken ging, konnte er offensichtlich einiges verkraften. Einer Anekdote zufolge entschuldigte er sich während einer Abendtafel bei sich zu Hause wiederholt mit den Worten: „Ich habe eine Idee!“ Keiner der Anwesenden wollte den großen Meister vom Notieren seiner Ideen abhalten, doch seine Ideen häuften sich in einem Maße, dass einer der Gäste seiner Neugier nachgab und durch das Schlüsselloch feststellen musste, dass Händels Idee jedes Mal die gleiche war: einen kräftigen Zug Burgunder zu nehmen. Er war jedenfalls beliebt für seinen gezielten Humor. Während eines Konzertes kommentierte er eine besonders lang geratene Kadenz seines Konzertmeisters, indem er am Ende, als dieser endlich beim Schlussakkord ankam, aus dem Publikum heraus „Willkommen zu Hause!“ rief. Händel wollte die Menschen nicht nur ästhetisch unterhalten, sondern sie durch seine Musik auch bessern. Seine Werke stellen keine Tugendapostelei dar, aber ein einzelmenschliches und völkerrechtliches Angebot. 1723 wird Händel zum Königlichen Komponisten der Chapel Royal ernannt, ein Posten, den auch Henry Purcell vierzig Jahre zuvor innehatte. 1724 wird er Musiklehrer der drei Prinzessinnen, sie waren abgesehen von seinem Kopisten die einzigen Schüler, die er unterrichtete. 1727 wird Händel britischer Staatsbürger. Er befindet sich auf einem künstlerischen, gesellschaftlichen und finanziellen Höhepunkt. Doch die Konkurrenz schläft nicht: Die „Bettleroper“ von John Gay und Johann Christoph Pepusch, gute Freunde von Händel, wird im Januar 1728 uraufgeführt. „The Beggar’s Opera“ ist eine brillante Parodie der Oper und trifft so sehr den Nerv der Zeit, dass von einem Tag auf den anderen die Publikumsmasse Händels Aufführungen fernbleibt. Zur gleichen Zeit werden die Kosten für die Produktionen der Royal Academy of Music zu hoch. Intrigen am Hof gegen Händels Opernunternehmen kommen hinzu, die RAM geht Konkurs. Die besten Sänger springen ab. Zum Niedergang trägt auch bei, dass man in London keine fremdsprachigen Dramen mehr hören will. Das Bedürfnis nach einer musikalischen Verarbeitung der englischen Sprache auf dem Niveau von Händels Musik wächst. 1733 wird ein Konkurrenzunternehmen zum King’s Theatre gegründet. Die sog. „Opera of the Nobility“ zieht ins Lincoln’s Inn Fields, unterstützt vom Prinzen von Wales, der mit der Royal Academy of Music noch eine offene Rechnung hatte. 1734 ist die letzte Spielzeit des RAM, Händel arrangiert sich mit dem Covent Garden Theater. Im Jahr 1737 erleidet Händel eine Armlähmung und geht zur Kur nach Aachen. Sein schöpferischstes Jahr folgt. Er kehrt zurück nach London und wendet sich auf der Suche nach populäreren Ausdrucksformen endgültig dem englischsprachigen Oratorium zu. Händel hat damit die Krise der italienischen Oper überstanden und die Tür zu seinem neuen Hauptgenre geöffnet. Das Libretto seines ersten vollgültigen Oratoriums stammt von Charles Jennens, der Name: Saul. Händel starb 1759 in London und wurde in Westminster Abbey unter dem Beisein von rund 3000 Trauernden beerdigt. Georg Knepler schreibt über die posthume Verehrung Händels im 18. Jahrhundert: „Bach wird in bezug auf seine angebliche Verachtung von Leichtigkeit der Faktur interessanterweise mit Michelangelo verglichen, er wird heftig kritisiert, aber es wird ihm auch Genie zugestanden, und er wird The Great Bach genannt, aber eigentlich sei es nur Händel, der Fugen ohne Pedanterie zu schreiben vermöge.“ Händel schrieb den SAUL an einer entscheidenden Wende seines Schaffens. Es ist sein erstes Oratorium nach einer Vielzahl von italienischen Opern und daher sowohl in seiner leidenschaftlichen Seelenschilderung und seiner Dramatik als auch in der Form noch sehr stark der Gattung Oper verhaftet. Schon durch die auffällig opernhafte Rollenhierarchie, das heißt die Aufteilung der Hauptfiguren in einen Herrscher, ein Haupt- und ein Nebenpaar und einige Sekunkärrollen ähnelt der Text einem Opernlibretto. Der Dichter Charles Jennens schrieb ihn für Händel, frei nach dem1. und 2. Buch Samuel. Das Drama schildert Sauls Weg ins Verderben und zugleich Davids Aufstieg zum neuen König. Dabei wird einerseits das Schicksal des Volkes Israel dargestellt, andererseits ist Saul die Tragödie eines Herrschers. Die beiden Ebenen sind musikalisch geschickt voneinander abgesetzt und miteinander verwoben. Gegenüber den Figuren der Opera Seria stellt Händels Saul ein neues Menschenbild dar. Die Personen und ihre Gefühle sind hier das erste Mal keine Stereotypen mehr, sondern unverwechselbare Persönlichkeiten, die sich in ihrer musikalischen Charakterisierung konsequent wieder erkennen lassen, die dadurch auch musikalisch handeln, nicht nur auf der Bühne. Es ist bezeichnend, daß Saul als der Typ des Herrschers geschildert wird, der sich vom Volke isoliert hat und das Zepter an den jungen David weitergeben muß. Vielleicht erkannte Händel, von schwerer Krankheit genesen und im starken Zweifel über seine Schaffensziele befangen, sich selbst in beiden Hauptgestalten und fühlte sich hier besonders angesprochen und engagiert. Händels "Saul" ist das Drama vom Sieg des Neuen, versinnbildlicht im Untergang des alten Herrschers. Das Oratorium Ein Oratorium ist die Vertonung hauptsächlich geistlicher Texte für Solostimmen, Chor und Orchester. Ihm liegt bei Händel und seit Händel ein dramaturgischer, erzählender Aufbau zu Grunde, der mit dramatischen Höhepunkten und philosophischen und lyrischen Einbauten, aber auch epischen Ausbreitungen, eine musikalische Ganzheit erreicht. Händel ließ seine Oratorien zwar nicht szenisch, aber doch im Theater aufführen. Romain Rolland: „Es lag ihm daran, klarzulegen, dass er mit seinen Oratorien keine Kirchenmusik, sondern Werke fürs Theater geschaffen hatte – des weitgefaßten Theaters.“ Der Musik fällt nun allein die Aufgabe zu, den Textgehalt auszudeuten. Ein großer Vorteil der von Händel geschaffenen Gattung des englischen Oratoriums ist die Verwendung der Landessprache. Die Männerrollen können im Gegensatz zur Opera Seria generell von Männerstimmen gesungen werden und fallen nicht mehr der Künstlichkeit der Kastraten anheim. Dadurch erhält Händel die Möglichkeit, eine Einheit von musikalischer und dramatischer Wirkung zu erzielen, die er mit den italienischen Gesangsvirtuosen gar nicht hätte anstreben können. Das Oratorium Händels ist die Fortsetzung seiner Opern mit gleichen, bzw. ähnlichen und nur teilweise anderen Mitteln. Er kombinierte Rezitative und Arien zu einer Art Musikdrama. Saul - Über das W erk „Mit einer ostinaten Basslinie und punktierten Sechzehnteln in den Streichern evozierte er den Ton jener großen antiken Tragödienchöre, die mit düsterem Entsetzen die Abgründe der menschlichen Natur erwägen.“ (Über den Eröffnungschor des 2. Aktes) (Silke Leopold) Händels "Saul" erlebte seine erfolgreiche Uraufführung am 16. Januar 1739 im King's Theatre in Anwesenheit des Königshauses. Man staunte über die ungewöhnliche Besetzung. Abgesehen von den damals eher unüblichen „biblischen“ Posaunen war besonders das Glockenspiel „Carillon“ ein seltenes Instrument. Der große Chor geht weit über Traditionen anglikanischer Kirchenmusik hinaus. Er hat die Aufgabe, die musikdramatischen Höhepunkte zu gestalten, wie z.B. in der 1. Szene des I. Akts, die Händel auf Jennens Rat hin mit einem Halleluja schließen läßt. Hier artikuliert der Chor die Stimme des Volkes, das den siegreich heimkehrenden David bejubelt. Darüber hinaus übernimmt der Chor eine das dramatische Geschehen reflektierende Rolle, deutlich erkennbar in dem bekannten "Neid-Chor" am Anfang des II. Akts. Er besingt den "hallgeborenen Neid", der Sauls verhängnisvolles Schicksal besiegelt. Er übernimmt also einerseits den Part des kommentierenden griechischen Chores, spielt aber andererseits auch eine dramatische Rolle – und das war etwas Neues. Der Chor tritt als handelndes Volk im Ablauf des Dramas in Erscheinung, trägt die Handlung mit. Auch die Instrumentalmusik spielt im Saul erstmals eine wichtige narrative Rolle: Der Wegfall des Szenischen wird dadurch ersetzt, dass die Musik selbst erzählt und bebildert. Die Orchesterbesetzung wechselt je nach Text- und Affektgehalt. So wird z.B. die Harfe nicht als Generalbaßinstrument, sondern nur textbezogen eingesetzt, wie in der 5. Szene, I. Akt, als David Sauls Groll durch sein Harfenspiel zu besänftigen sucht. Zu guter letzt spielt die Orgel in diesem Werk eine wesentliche Rolle. Die äußerst umfangreiche Ouverture steht zumindest im dritten Satz einem Orgelkonzert sehr nahe und eine der zahlreichen rein instrumentalen, mit Symphonie bezeichneten Zwischenmusiken (Nr. 58) ist ein Orgelkonzert-Satz. Die Verwendung des Carillons, ein Glockenspiel mit Tastatur, bezeugt Händels Bestreben, immer neue Klangkombinationen auszuprobieren und auch ungewöhnliche Instrumente in sein Orchester zu integrieren. Er setzte das Carillon an dem dramatisch bedeutsamen Punkt im I. Akt ein, an dem die Frauen David loben und so Sauls Neid erwecken. Händel instrumentiert hier auf zwei Ebenen, da das Glockenspiel einerseits die Freude der Frauen über Davids Sieg zum Ausdruck bringt, doch andererseits Saul höhnisch in den Ohren klingen muß. Auch für die Besetzung des berühmten Trauermarsches hat Händel sich etwas einfallen lassen: Er lieh eigens die großen Artilleriepauken vom Generalfeldzeugmeister Duke of Argylle aus dem Tower aus, die eine Oktave tiefer klangen als die normaler Orchesterinstrumente. Der Trauermarsch, der dem Klagegesang auf den Tod Sauls und Jonathans vorangeht, gehört zu den Kompositionen Händels, die - wie beispielsweise auch das Largo aus "Xerxes" bekannter geworden sind als die Werke, aus denen sie stammen. Noch heute ist er vor allem in England eine beliebte Begräbnismusik. Und schon 1785 schrieb Charles Burney über den 'Todtenmarsch' im Saul: "Dieses äußerst glücklicht und rührende Stück, welches schon beynahe ein halbes Jahrhundert hindurch gleich beliebt geblieben, und so einfach, so feyerlich und traurig ist, daß man es nicht spielen hören kann, ohne in schwermütiges Gefühl zu versinken". Charles Jennens Charles Jennens war ein wohlhabender Mann, der sich in seiner Freizeit auf mehreren literarischen Gebieten beschäftigte. Ein Genie war er eher nicht, aber als ausgezeichnetem Dramatiker gelang es ihm, den biblischen Stoff zusammenzufassen und zu einem echten Drama umzugestalten. Darüber hinaus liegt sein Verdienst in einer differenzierten Zeichnung der Personen, insbesondere der Gestalt Sauls, der vom Neid auf seinen designierten Nachfolger David geradezu besessen ist. Charles Jennens war bereits seit 1725 Subskribent der Händel-Akademie und verstand einiges von Musik. Er verfasste später auch das Textbuch für den Messias und hatte Händel höchstwahrscheinlich bei der Zusammenstellung seines Bibeltextes zu Israel in Ägypten zur Seite gestanden. Moritz Gagern: King Arthur Henry Purcell Henry Purcell (1659-1695) war der herausragende Komponist des englischen Barock. Als er mit 36 Jahren starb, konnte er zurücksehen auf ein epochebildendes Werk. Er hatte eine neue Ära in Gang gesetzt. Purcell kam in einem günstigen Moment in London zur Welt, nämlich kurz nach dem Tod von Oliver Cromwell, der mit seiner puritanischen und verklemmten Militärdiktatur das kulturelle Leben in England erwürgt hatte, obwohl er selbst ein großer Freund der Musik war. Theater waren von radikalen Behörden geschlossen, die Musik war aus den Kirchen verbannt worden. Einige Fanatiker hatten angefangen, Orgeln und andere Instrumente zu zertrümmern. Mit der nun einsetzenden Restauration der Stuart-Monarchie begann eine kurze, aber entscheidende Phase großen musikalischen Aufschwungs. Für eine Familie wie die Purcells machte sich der Wechsel beruflich sofort bemerkbar. Durch die Wiedereinrichtung der anglikanischen Bischofskirche mit ihrem aufwendigen Ritus gab es viel Arbeit für Kirchenmusiker. Henry Purcells Vater und auch sein Onkel und Ersatzvater – der Vater starb als Henry sechs Jahre alt war – waren Mitglieder der königlichen Kapelle, der gloriosen Royal Chapel. Der Stuartkönig Charles II. wollte an den verlorenen Glanz der Herrschaft seines Vaters anknüpfen und rief die altgediente Institution zurück ins offizielle Hofleben. Sie war zuständig für die geistliche Musik am Hofe, sowie für die musikalische Umrahmung feierlicher Staatsakte. Henry Purcell war eines der Talente, die hier von Kindesbeinen an geschmiedet wurden. Er fing an als Sängerknabe, hatte aber auch schon früh Kompositionsunterricht und wurde bald an die Orgel gelassen. Sein erstes gedrucktes Lied veröffentlichte er mit siebzehn. Mit achtzehn wurde er angestellter „Hofkomponist für die Violinen“, mit zwanzig Organist und Komponist für Westminster Abbey. Viele seiner bewegendsten Stücke schrieb er in dieser Zeit, zwischen achtzehn und einundzwanzig Jahren, übrigens auch seine zeitlose Oper Dido und Aeneas. Mit vierundzwanzig Jahren wurde Purcell zu einem von drei Königlichen Hofkomponisten ernannt. Doch es folgten weitere politische Bewegungen in England. Charles’ Nachfolger James II. war unbeliebt. In einem unblutigen Volksaufstand, der sogenannten Glorious Revolution von1688, wurde er entmachtet. Purcell, inzwischen knapp dreißig, hatte unter William III. und der wiederum sehr puritanischen Queen Mary weniger Arbeit am Hof und konzentrierte sich von nun an aufs Theater und den Song – wirkte aber weiterhin auch für die Royal Chapel; insgesamt arbeitete er dort ein Vierteljahrhundert lang unter drei verschiedenen Königen. Doch neben seinen höfischen Pflichten schrieb er in den folgenden sechs Jahren die Musik für über vierzig Theaterstücke an den städtischen Häusern und wurde einem neuen Publikum bekannt. Außerdem komponierte er für die wachsende bürgerliche Konzertszene von London Orchester- und Kammermusikwerke. Im englischen Theater des 17. Jahrhunderts war Musik ein wesentlicher Bestandteil des Spektakels. Die durchkomponierte Form der Oper, eine italienische Erfindung aus der Generation von Purcells Urgroßeltern, wurde allerdings von einem Großteil des Londoner Publikums abgelehnt. Unter den Ladies und Gentlemen gab es wenig Toleranz für durchkomponierte Rezitative. Man interessierte sich zu sehr für den Inhalt der Worte, um mit der südeuropäischen Oper allzu viel anfangen zu können. Stattdessen gab es die sehr populäre Semiopera, die stärker den englischen Traditionen entsprach. Sie setzte sich aus Elementen des Mysterienspiels und des Volkstheaters, des elisabethanischen Dramas und des raffinierten höfischen Maskenspiels court masque zusammen. Der Text wurde großenteils gesprochen und diente als narratives Gerüst für musikalische Einlagen, burleske Spiele und Zauberszenen. Gerade die Hauptfiguren waren Sprechrollen. Die Semiopera wurde Purcells Hauptbetätigungsfeld, er prägte ihre Entwicklung nachhaltig. Der Textdichter John Dryden war im Theater auf Purcell aufmerksam geworden. Gemeinsam konzipierten sie ein neuartiges Stück über den legendären König von Britannien und Chef der Ritter der Tafelrunde: King Arthur. „Das Schauspiel und die Musik gefielen dem Hof und den Bürgern“, berichtete im Jahr 1691 der Souffleur nach der Uraufführung am brummenden Dorset Garden Theatre, dem damals größten Theater Englands. Das Musiktheaterstück wurde einer der Erfolge der Neunziger Jahre und blieb lange Gesprächsthema der Londoner Society. Er starb mit 36 Jahren unerwartet, aber erschöpft. Er hatte eine Frau und zwei überlebende Kinder, viel Erfolg und sehr viel Arbeit. Nach dem Tod des „britischen Orpheus“ ging die ruhmreiche Zeit der englischen Musik zu Ende. Englische Schriftsteller feierten große Erfolge und in Londons Opernhaus passierten ungeheuerliche Dinge, als ein paar Jahre später der weltgewandte Sachse und Italienfreund Georg Friedrich Händel auftauchte. Die musikalische Tradition der Insel versickerte, die Musik wurde mindestens für zwei Jahrhunderte wieder stärker vom Festland bestimmt. Die Musik Purcell verband die Tradition der englischen Kontrapunktschule auf unwiderstehliche Weise mit der neuen europäischen Mode des italienischen Operngesangs und der französischen Chortechnik. Als Komponist für das Theater brachte er die hoch spezialisierte Raffinesse mehrstimmiger Tonsatztechniken organisch mit den Forderungen des Theaters nach musikalischer Expressivität, Dramatik und Flexibilität in Einklang. Dabei kam ihm sein feines Gespür für Texte und für musikalische Bewegungen im Verhältnis zu poetischen Inhalten zugute. Die Sensibilität seiner Vokalkompositionen sucht in der Musikgeschichte ihresgleichen. Er schrieb für die Kirche, das Theater, den Konzertsaal und den Salon, auch zeitlose Instrumentalmusik - doch Song, Arie und Chorpartien waren sein Spezialgebiet. Die emotionale Intensität seiner Lieder war schon damals berühmt. Er war insofern auch der Erbe der englischen Liedkunst eines John Dowland und der Madrigalisten. Durch seine auffallend ausgewogene Klangstatik ist er tatsächlich der klassische Komponist des Barock: der Ästhetik des Gleichgewichts und der statischen Ordnung nach dem Vorbild der kosmischen Harmonie in den Bewegungen der Planeten. Er legte sich nie auf einen Stil oder auf ein Genre fest, doch sein klangarchitektonisches Empfinden durchzieht jede seiner Partituren. Zwar gehörte es zur emotionalen Rhetorik des Barock, Empfindungen objektiv, nicht personengebunden darzustellen. Musikalisch umgesetzte Empfindungen folgen eher feststehenden Mustern oder Formen des Sentiments entsprechend der sogenannten Affektenlehre, Purcell schuf dafür eine Sprache, die heute teilweise aktueller als die subjektivistische Ästhetik der klassisch-romantischen Epoche. Der Schritt der emotionalen Subjektivierung bleibt bei Purcell dem einzelnen Hörer überlassen, ähnlich wie in der heutigen Kunstmusik. Die mündige Distanz bleibt bewahrt, doch es handelt sich nicht um eine ironische, sondern um höfliche Distanz: die Musik macht dem Hörer ein Angebot, aber sie zwingt ihn nicht. Der Stoff Der historische König Arthur oder Artus lebte im 5. Jahrhundert nach Christus. In einer Zeit als in Englang keltische und römische Kultur aufeinander stießen und das Christentum sich ausbreitete, vereinte dieser König für kurze Zeit das Volk im Kampf gegen die germanischen Sachsen und Angeln. Er galt als ein Herrscher, der von höheren Idealen inspiriert war. Um ihn herum rankt sich ein reicher Mythos, der im Mittelalter bei Liedermachern wie Wolfram von Eschenbach besonders beliebt war. Die Legende beginnt mit dem Zauberer Merlin, dem weisen Magier, der als Figur den mythologischen Sprung von der keltischen Zeit der Geister, Magier und Fabelwesen in die christliche Vorstellungswelt geschafft hat. Er suchte einen guten König für England. Nach mehreren gescheiterten Versuchen fädelte er die Geburt von Arthur ein. Das berühmte Schwert Excalibur bewies schließlich, dass Arthur der richtige war: Wer es aus dem Felsblock zu ziehen vermochte, war einem Schwur zufolge der neue König von England. Merlin und Arthur lenkten endlich im Team die Geschicke des Reiches. Dem Mythos zufolge starb Merlin noch zu Lebzeiten Arthurs. Am Grab des Zauberers trafen sich rituell die Ritter der Tafelrunde auf ihrer Suche nach dem Kelch mit Blut von Jesus Christus. Textnachweis Impressum Kultur Ruhr GmbH, Leithestraße 35, D-Gelsenkirchen, Intendant Gerard Mortier, Geschäftsführer Peter Landmann Chef-Dramaturg Thomas Wördehoff Redaktion Moritz Gagern Mitarbeit Dorothea Neweling, Joscha Schaback, Eva Schmidt, Julia Schmitt, Viktor Schoner, Ann Kathrin Thöle Gestaltung oktober GmbH Bochum Textnachweise: Romain Rolland, Georg Friedrich Händel, Paris 1912, S. 83, Silke Leopold in: Leopold/Schneider, Oratorienführer, Stuttgart/Kassel, 2000. S. 270, Originalbeitrag von Moritz Gagern; Die Bibel Das Erste und Zweite Buch Samuel, nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984 Bildnachweis: © Sophie Ristelhueber „FAIT Koweit“, 1991 DAS TEAM DER RUHRTRIENNALE 03 Intendanz: Gerard Mortier, Sabine Krüger, Viktor Schoner | Geschäftsführung: Peter Landmann, Uwe Schmitz–Gielsdorf, N.N. | Künstlerisches Betriebsbüro: Evamaria Wieser, Alexander Neef, Christiane Biallas, Ariane Kümpel | Produktionsbüro: Halina Ploetz, Julian Rybarski | Dramaturgie: Thomas Wördehoff, Moritz Gagern, Bojan Budisavljevic, Dorothea Neweling, Julia Schmitt | Marketing: Dominique Savelkoul, Bettina Langsch, Tanja Senicer, Christiane Brüggemeier, Michael Fressmann | Presse: Jörg Quatran, Johannes Ehmann | Junge Triennale: Cathrin Rose, Joscha Schaback | Technik: Klaus Hammer, Dieter Reeps, Horst Mühlberger, Stefan Holtz, Achim Niekel, Katrin Reichardt, Anke Wolter, Susanne Schlund, Anne Schoyerer | Ausstattung: Joachim Janner, Wolfgang Silveri, Martin Reiter | Kostüm: Robby Duiveman, Elke Wolter, Brigitte Olbrisch | Verwaltung: Bernhard Rechmann, Hans-Peter Samsel, Claudia Klein, Volker Schmitz, Andrea Große-Wiegert, Christiana Hilpert, Michael Turrek, Anja Nole, Ulrike Graf, Julia Nedden, Gabriela Massmann | Freie Mitarbeiter Ann Kathrin Thöle, Imme Klages, Eva Schmidt, Steffi Rothe, Anna Röckl, Christoph Kohl, Anne Fuchs, Annette Erdmann …