Dramaturgische Texte

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Moritz Gagern: Die Anatom ie der Melancholie
Lebte auf Erden er noch, wie würde Demokrit lachen. (Horaz)
Die größten Leistungen der Menschheit geschehen, wie Platon es formulierte, im
Zustand eines „inspirierten Wahnsinns“. Richard Burton kommt darauf zurück, wenn
er feststellt, es gebe nicht den Unterschied zwischen normal und verrückt oder
gestört, sondern nur den zwischen inspiriert wahnsinnig und wahnsinnig uninspiriert.
Es scheint also einen roten Faden zu geben, der auffällige Dispositionen des Gemüts
mit Kreativität in Verbindung bringt.
Seelische Unausgeglichenheit wurde seinerzeit durch erklärt als ein Ungleichgewicht
der Körperflüssigkeiten. Doch die Rede vom Gleichgewicht der Säfte entpuppt sich
als Utopie. Menschsein ist ein Ungleichgewicht. Nur gezielte Medikamente wie die
Musik können vorübergehend ein Gleichgewicht herstellen.
Das Ungleichgewicht der Melancholie wurde als Überschuss an schwarzer Galle
symbolisiert. Sie ist der einzige der vier Säfte, der nie entdeckt wurde und nach dem
die Hirnforscher und Psychologen gewissermaßen noch heute forschen. Wenn dieser
Überschuss groß genug ist, führt er zu einer Störung beim selbstverständlichen
Vollzug des täglichen Geschäfts. Der Melancholiker ist nicht busy. Burtons Vorbild im
Umgang mit dieser Krankheit ist der große antike Kauz Demokrit. „Er lebte schließlich
weltabgewandt in einem Garten vor der Stadt, ganz seinen Studien hingegeben, die
er nur manchmal unterbrach, um zum Hafen hinunterzugehen und von Herzen über
all die komischen Dinge, die er dort zu sehen bekam, zu lachen. So ein Mensch war
Demokrit.“
Der Melancholiker fällt aus dem Kreislauf der Betriebsamkeit heraus, er hält irgendwo
inne und wird ernüchtert von dem, was er als Unbeteiligter sieht. Doch wie Demokrit
überwindet Burton diesen Anblick durch seinen Humor und pflanzt seine Sätze wie
Unkraut zwischen die Monokultur des wirren, getriebenen Funktionierens. Dabei
behandelt er Probleme, die wir heute für neu oder zeittypisch halten, die aber
offensichtlich uralt sind, zum Beispiel die Überfütterung mit Kulturangeboten: „Welch
eine Schar von Dichtern hat dieses Jahr hervorgebracht, beklagt sich schon Plinius
bei Sossius Senecio, den ganzen April tagtäglich Rezitationen. Welche von
Neuerscheinungen schwellenden Kataloge haben Frankfurter Messen (sic) und
Inlandsmessen aufzuweisen. (...) Wer aber ist ein solcher literarischer Vielfraß, dass
er alles, was auf den Markt kommt, zur Kenntnis nehmen könnte. Wie schon jetzt
werden wir uns mit einem immensen Chaos von Büchern, einem solchen erstickenden
Durcheinander herumschlagen müssen, dass uns die Augen vom Lesen und die Finger
vom Umblättern schmerzen.“ (26)
Aus der Betriebsamkeit auszusteigen birgt freilich die große Gefahr, in Lethargie zu
verfallen. „Ich habe über die Melancholie geschrieben, um sie mir mit dieser
Unternehmung vom Leibe zu halten. Es gibt nämlich keine gewichtigere Ursache der
Schwermut als den Müßiggang und kein besseres Heilmittel, als sich zu beschäftigen,
wie schon Rhazes behauptet. Und wenngleich gilt: Sich mit Torheiten zu befassen,
bringt wenig Nutzen, so heißt es doch auch beim göttlichen Seneca: Besser
Zweckloses tun als nichts. Und eben um die aus der Untätigkeit geborene Lethargie
nicht aufkommen zu lassen, habe ich mich dem, was bei Macrobius spielerische Mühe
heißt, unterzogen und meine freien Stunden sinnvoll genutzt:
Zu singen, was lieblich zugleich und tauglich fürs Leben,
was so den Leser zugleich aufheitert und lehrend ermahnt. (Horaz) “
Spielerische Mühe, auch das ein geliehener Begriff, ist seine Antwort auf die
unfreiwillig komische Mühe des alltäglichen Idiotentums. Das unterscheidet ihn auch
von einem ehrgeizigen Wissenschaftler. Burton war eher so etwas wie ein früher
Flaneur, ein Flaneur der Gelehrsamkeit. „Was meine Person angeht, so kann ich
vielleicht mit Sallusts Marius für mich in Anspruch nehmen, dass ich das gefühlt und
praktiziert habe, was sich andere anlesen mussten oder nur vom Hörensagen kennen.
Sie haben ihr Wissen aus Büchern, ich verdanke meins meinen melancholischen
Anwandlungen selbst. Ich rede aus schmerzlicher Erfahrung, und ich möchte anderen
aus Mitgefühl helfen.“
Es handelt sich tatsächlich um einen gelehrten Text, in dem der Leser die Ehrfurcht
vor gelehrten Texten verlieren muss, um die These des Autors mit zu vollziehen.
Diese lautet: Melancholie ist tendenziell etwas zutiefst Menschliches, die Krankheit
des Menschseins schlechthin, zugleich aber Voraussetzung für Kreativität.
Moritz Gagern: Georg Friedrich Händels Saul
“Gibt es irgendeine Nation auf der Welt, wo die Macht der Musik bekannt, Händel aber unbekannt ist?”
London Daily Post vom 4. April 1741
Händel war der berühmteste deutsche Komponist seiner Generation, berühmter als
Johann Sebastian Bach und auch als Georg Philipp Telemann. Geboren wurde er 1685
in Halle. Der Vater verbot ihm die Musik, er wollte einen Jurist in der Familie
hinterlassen. Selbst Jahre nach dessen frühem Tod zeigte Händel seinen guten
Willen, indem er sich für das Fach Jura einschrieb. Händel hielt es an der Uni einen
Monat lang aus, dann übernahm er die Stellung des Organisten im Dom von Halle,
ganz im Sinne der norddeutschen Kantorentradition. „Händel scheint eine
Kantorenlaufbahn bevorzustehen, wie sie in Deutschland üblich ist – man denke an
Johann Sebastian Bachs kümmerliche Karriere.“ (Dieter Schickling, G.F. Händel in
Briefen, Selbstzeugnissen und zeitgenössischen Dokumenten, Manesse Zürich 1985,
S. 32) 1703 wird er Geiger und Cembalist an der Hamburger Oper. Ein MediciSprößling hört ihn in Hamburg und lädt ihn nach Florenz ein, um ihn dort zu einem
Star zu machen. In Italien hatte er großen Erfolg mit seinen ersten Opern. Die
Italiener riefen „Viva il caro Sassone!“, „Es lebe der liebe Sachse!“ in die Pausen
seiner Aufführungen hinein. Scarlatti hörte ihn verkleidet auf dem Karneval von
Venedig spielen und wunderte sich: „Das muß der berühmte Sachse sein oder der
Teufel persönlich!“ Händels Kunst der harmonischen Entwicklung sowie seine
Instrumentierungen waren bislang nicht gehört worden und lösten Begeisterung aus.
Händel blieb dreieinhalb Jahre in Italien, dem Heimatland der Oper und forschte in den
Partituren der Meister, schrieb einige Opern. Er hatte keine Schwierigkeiten, sich die
fremde musikalische Ausdrucksweise anzueignen, denn er kannte nicht so etwas wie
eine persönliche Klangsprache, an der er ein Leben lang feilte. Was er vollkommen
fand, verwendete er freimütig.
Händel war seinem Romancier-Biographen Romain Rolland zufolge ähnlich wie
Shakespeare eine „überragende Unpersönlichkeit“, eine Eigenschaft, in der man
durchaus die Bedingung für die stilistische Universalität sehen kann, die es Händel
erlaubte, fast alles aufzugreifen, was in einem halben Jahrhundert in Europa
musikalisch geschah, und die es andererseits verhinderte, dass er – wie der von ihm
verachtete Gluck – einen bestimmten Weg als den von ihm vorgezeichneten erkannte
und mit beharrlicher Konsequenz verfolgte.
Nach Italien landete Händel 1711 in Hannover als Hofkapellmeister. Noch im gleichen
Jahr kam er das erste Mal nach London, wo er innerhalb von zwei Wochen die erste
italienische Oper für das Londoner Theater schrieb: die Zauberoper Rinaldo. Der
Erfolg war überwältigend, trotz der Schwierigkeiten, die durchkomponierte
italienische Rezitative für das Londoner Publikum darstellten. Die Aufführung wartete
mit aufwendigen Effekten auf, beispielsweise wurden echte Spatzen auf der Bühne
freigelassen. Der Verleger der Oper wurde durch den Nachdruck von einzelnen Arien
Millionär. Seit 1715 gehörte Rinaldo auch in Hamburg zum Repertoire.
1713 ließ sich Händel erneut nach London beurlauben, wo er für den Rest seines
Lebens blieb. 1720 gründete er die Royal Academy of Music, ein Opernunternehmen
mit Sitz im King’s Theater. Er komponierte in den folgenden achtzehn Jahren den
Grossteil seiner über vierzig Opern. Nebenbei stieg er, im Zuge des beginnenden
Aktienhandels, in die South Sea Company ein, die übrigens nicht zuletzt vom
Sklavenhandel lebte. Wie sein Name schon sagt, war ihm die Geschäftsnatur nicht
fremd. Händel war gewissermaßen der Vater aller Jet-Set-Komponisten, er reiste
vom Sänger-Casting in Roma zur Premiere in Dublin und von dort zur Probe nach
Hamburg - und komponierte zwischendrin vollkommene Werke in seiner Wahlheimat
London. Er war der erste Tonsetzer, der mit seiner Werkflut auch lukrative Geschäfte
zu machen wußte. Zugleich war er ein Vollmusiker, der in seinen Kompositionen ein
ernsthaftes humanistisches Anliegen vertrat. Was die Liebe angeht, fehlen leider
zuverlässige Quellen. Er blieb unverheiratet. Außerhalb der Musik hatte er wenig
Interessen – mit einer Ausnahme: Wenn es ums Essen und Trinken ging, konnte er
offensichtlich einiges verkraften. Einer Anekdote zufolge entschuldigte er sich
während einer Abendtafel bei sich zu Hause wiederholt mit den Worten: „Ich habe
eine Idee!“ Keiner der Anwesenden wollte den großen Meister vom Notieren seiner
Ideen abhalten, doch seine Ideen häuften sich in einem Maße, dass einer der Gäste
seiner Neugier nachgab und durch das Schlüsselloch feststellen musste, dass Händels
Idee jedes Mal die gleiche war: einen kräftigen Zug Burgunder zu nehmen. Er war
jedenfalls beliebt für seinen gezielten Humor. Während eines Konzertes
kommentierte er eine besonders lang geratene Kadenz seines Konzertmeisters,
indem er am Ende, als dieser endlich beim Schlussakkord ankam, aus dem Publikum
heraus „Willkommen zu Hause!“ rief. Händel wollte die Menschen nicht nur ästhetisch
unterhalten, sondern sie durch seine Musik auch bessern. Seine Werke stellen keine
Tugendapostelei dar, aber ein einzelmenschliches und völkerrechtliches Angebot.
1723 wird Händel zum Königlichen Komponisten der Chapel Royal ernannt, ein
Posten, den auch Henry Purcell vierzig Jahre zuvor innehatte. 1724 wird er
Musiklehrer der drei Prinzessinnen, sie waren abgesehen von seinem Kopisten die
einzigen Schüler, die er unterrichtete. 1727 wird Händel britischer Staatsbürger. Er
befindet sich
auf einem künstlerischen, gesellschaftlichen und finanziellen
Höhepunkt. Doch die Konkurrenz schläft nicht: Die „Bettleroper“ von John Gay und
Johann Christoph Pepusch, gute Freunde von Händel, wird im Januar 1728
uraufgeführt. „The Beggar’s Opera“ ist eine brillante Parodie der Oper und trifft so
sehr den Nerv der Zeit, dass von einem Tag auf den anderen die Publikumsmasse
Händels Aufführungen fernbleibt. Zur gleichen Zeit werden die Kosten für die
Produktionen der Royal Academy of Music zu hoch. Intrigen am Hof gegen Händels
Opernunternehmen kommen hinzu, die RAM geht Konkurs. Die besten Sänger
springen ab. Zum Niedergang trägt auch bei, dass man in London keine
fremdsprachigen Dramen mehr hören will. Das Bedürfnis nach einer musikalischen
Verarbeitung der englischen Sprache auf dem Niveau von Händels Musik wächst.
1733 wird ein Konkurrenzunternehmen zum King’s Theatre gegründet. Die sog.
„Opera of the Nobility“ zieht ins Lincoln’s Inn Fields, unterstützt vom Prinzen von
Wales, der mit der Royal Academy of Music noch eine offene Rechnung hatte. 1734
ist die letzte Spielzeit des RAM, Händel arrangiert sich mit dem Covent Garden
Theater. Im Jahr 1737 erleidet Händel eine Armlähmung und geht zur Kur nach
Aachen. Sein schöpferischstes Jahr folgt. Er kehrt zurück nach London und wendet
sich auf der Suche nach populäreren Ausdrucksformen endgültig dem
englischsprachigen Oratorium zu. Händel hat damit die Krise der italienischen Oper
überstanden und die Tür zu seinem neuen Hauptgenre geöffnet. Das Libretto seines
ersten vollgültigen Oratoriums stammt von Charles Jennens, der Name: Saul.
Händel starb 1759 in London und wurde in Westminster Abbey unter dem Beisein
von rund 3000 Trauernden beerdigt. Georg Knepler schreibt über die posthume
Verehrung Händels im 18. Jahrhundert: „Bach wird in bezug auf seine angebliche
Verachtung von Leichtigkeit der Faktur interessanterweise mit Michelangelo
verglichen, er wird heftig kritisiert, aber es wird ihm auch Genie zugestanden, und er
wird The Great Bach genannt, aber eigentlich sei es nur Händel, der Fugen ohne
Pedanterie zu schreiben vermöge.“
Händel schrieb den SAUL an einer entscheidenden Wende seines Schaffens. Es ist
sein erstes Oratorium nach einer Vielzahl von italienischen Opern und daher sowohl in
seiner leidenschaftlichen Seelenschilderung und seiner Dramatik als auch in der Form
noch sehr stark der Gattung Oper verhaftet. Schon durch die auffällig opernhafte
Rollenhierarchie, das heißt die Aufteilung der Hauptfiguren in einen Herrscher, ein
Haupt- und ein Nebenpaar und einige Sekunkärrollen ähnelt der Text einem
Opernlibretto. Der Dichter Charles Jennens schrieb ihn für Händel, frei nach dem1.
und 2. Buch Samuel. Das Drama schildert Sauls Weg ins Verderben und zugleich
Davids Aufstieg zum neuen König. Dabei wird einerseits das Schicksal des Volkes
Israel dargestellt, andererseits ist Saul die Tragödie eines Herrschers. Die beiden
Ebenen sind musikalisch geschickt voneinander abgesetzt und miteinander verwoben.
Gegenüber den Figuren der Opera Seria stellt Händels Saul ein neues Menschenbild
dar. Die Personen und ihre Gefühle sind hier das erste Mal keine Stereotypen mehr,
sondern unverwechselbare Persönlichkeiten, die sich in ihrer musikalischen
Charakterisierung konsequent wieder erkennen lassen, die dadurch auch musikalisch
handeln, nicht nur auf der Bühne.
Es ist bezeichnend, daß Saul als der Typ des Herrschers geschildert wird, der sich
vom Volke isoliert hat und das Zepter an den jungen David weitergeben muß.
Vielleicht erkannte Händel, von schwerer Krankheit genesen und im starken Zweifel
über seine Schaffensziele befangen, sich selbst in beiden Hauptgestalten und fühlte
sich hier besonders angesprochen und engagiert. Händels "Saul" ist das Drama vom
Sieg des Neuen, versinnbildlicht im Untergang des alten Herrschers.
Das Oratorium
Ein Oratorium ist die Vertonung hauptsächlich geistlicher Texte für Solostimmen,
Chor und Orchester. Ihm liegt bei Händel und seit Händel ein dramaturgischer,
erzählender Aufbau zu Grunde, der mit dramatischen Höhepunkten und
philosophischen und lyrischen Einbauten, aber auch epischen Ausbreitungen, eine
musikalische Ganzheit erreicht. Händel ließ seine Oratorien zwar nicht szenisch, aber
doch im Theater aufführen. Romain Rolland: „Es lag ihm daran, klarzulegen, dass er
mit seinen Oratorien keine Kirchenmusik, sondern Werke fürs Theater geschaffen
hatte – des weitgefaßten Theaters.“
Der Musik fällt nun allein die Aufgabe zu, den Textgehalt auszudeuten. Ein großer
Vorteil der von Händel geschaffenen Gattung des englischen Oratoriums ist die
Verwendung der Landessprache. Die Männerrollen können im Gegensatz zur Opera
Seria generell von Männerstimmen gesungen werden und fallen nicht mehr der
Künstlichkeit der Kastraten anheim. Dadurch erhält Händel die Möglichkeit, eine
Einheit von musikalischer und dramatischer Wirkung zu erzielen, die er mit den
italienischen Gesangsvirtuosen gar nicht hätte anstreben können. Das Oratorium
Händels ist die Fortsetzung seiner Opern mit gleichen, bzw. ähnlichen und nur
teilweise anderen Mitteln. Er kombinierte Rezitative und Arien zu einer Art
Musikdrama.
Saul - Über das W erk
„Mit einer ostinaten Basslinie und punktierten Sechzehnteln in den Streichern
evozierte er den Ton jener großen antiken Tragödienchöre, die mit düsterem
Entsetzen die Abgründe der menschlichen Natur erwägen.“ (Über den
Eröffnungschor des 2. Aktes)
(Silke Leopold)
Händels "Saul" erlebte seine erfolgreiche Uraufführung am 16. Januar 1739 im King's
Theatre in Anwesenheit des Königshauses. Man staunte über die ungewöhnliche
Besetzung. Abgesehen von den damals eher unüblichen „biblischen“ Posaunen war
besonders das Glockenspiel „Carillon“ ein seltenes Instrument. Der große Chor geht
weit über Traditionen anglikanischer Kirchenmusik hinaus. Er hat die Aufgabe, die
musikdramatischen Höhepunkte zu gestalten, wie z.B. in der 1. Szene des I. Akts, die
Händel auf Jennens Rat hin mit einem Halleluja schließen läßt. Hier artikuliert der Chor
die Stimme des Volkes, das den siegreich heimkehrenden David bejubelt. Darüber
hinaus übernimmt der Chor eine das dramatische Geschehen reflektierende Rolle,
deutlich erkennbar in dem bekannten "Neid-Chor" am Anfang des II. Akts. Er besingt
den "hallgeborenen Neid", der Sauls verhängnisvolles Schicksal besiegelt. Er
übernimmt also einerseits den Part des kommentierenden griechischen Chores, spielt
aber andererseits auch eine dramatische Rolle – und das war etwas Neues. Der Chor
tritt als handelndes Volk im Ablauf des Dramas in Erscheinung, trägt die Handlung
mit. Auch die Instrumentalmusik spielt im Saul erstmals eine wichtige narrative Rolle:
Der Wegfall des Szenischen wird dadurch ersetzt, dass die Musik selbst erzählt und
bebildert. Die Orchesterbesetzung wechselt je nach Text- und Affektgehalt. So wird
z.B. die Harfe nicht als Generalbaßinstrument, sondern nur textbezogen eingesetzt,
wie in der 5. Szene, I. Akt, als David Sauls Groll durch sein Harfenspiel zu besänftigen
sucht.
Zu guter letzt spielt die Orgel in diesem Werk eine wesentliche Rolle. Die äußerst
umfangreiche Ouverture steht zumindest im dritten Satz einem Orgelkonzert sehr
nahe und eine der zahlreichen rein instrumentalen, mit Symphonie bezeichneten
Zwischenmusiken (Nr. 58) ist ein Orgelkonzert-Satz. Die Verwendung des Carillons,
ein Glockenspiel mit Tastatur, bezeugt Händels Bestreben, immer neue
Klangkombinationen auszuprobieren und auch ungewöhnliche Instrumente in sein
Orchester zu integrieren. Er setzte das Carillon an dem dramatisch bedeutsamen
Punkt im I. Akt ein, an dem die Frauen David loben und so Sauls Neid erwecken.
Händel instrumentiert hier auf zwei Ebenen, da das Glockenspiel einerseits die Freude
der Frauen über Davids Sieg zum Ausdruck bringt, doch andererseits Saul höhnisch in
den Ohren klingen muß. Auch für die Besetzung des berühmten Trauermarsches hat
Händel sich etwas einfallen lassen: Er lieh eigens die großen Artilleriepauken vom
Generalfeldzeugmeister Duke of Argylle aus dem Tower aus, die eine Oktave tiefer
klangen als die normaler Orchesterinstrumente. Der Trauermarsch, der dem
Klagegesang auf den Tod Sauls und Jonathans vorangeht, gehört zu den
Kompositionen Händels, die - wie beispielsweise auch das Largo aus "Xerxes" bekannter geworden sind als die Werke, aus denen sie stammen. Noch heute ist er
vor allem in England eine beliebte Begräbnismusik. Und schon 1785 schrieb Charles
Burney über den 'Todtenmarsch' im Saul: "Dieses äußerst glücklicht und rührende
Stück, welches schon beynahe ein halbes Jahrhundert hindurch gleich beliebt
geblieben, und so einfach, so feyerlich und traurig ist, daß man es nicht spielen hören
kann, ohne in schwermütiges Gefühl zu versinken".
Charles Jennens
Charles Jennens war ein wohlhabender Mann, der sich in seiner Freizeit auf mehreren
literarischen Gebieten beschäftigte. Ein Genie war er eher nicht, aber als
ausgezeichnetem Dramatiker gelang es ihm, den biblischen Stoff zusammenzufassen
und zu einem echten Drama umzugestalten. Darüber hinaus liegt sein Verdienst in
einer differenzierten Zeichnung der Personen, insbesondere der Gestalt Sauls, der
vom Neid auf seinen designierten Nachfolger David geradezu besessen ist.
Charles Jennens war bereits seit 1725 Subskribent der Händel-Akademie und
verstand einiges von Musik. Er verfasste später auch das Textbuch für den Messias
und hatte Händel höchstwahrscheinlich bei der Zusammenstellung seines Bibeltextes
zu Israel in Ägypten zur Seite gestanden.
Moritz Gagern: King Arthur
Henry Purcell
Henry Purcell (1659-1695) war der herausragende Komponist des englischen
Barock. Als er mit 36 Jahren starb, konnte er zurücksehen auf ein epochebildendes
Werk. Er hatte eine neue Ära in Gang gesetzt.
Purcell kam in einem günstigen Moment in London zur Welt, nämlich kurz nach dem
Tod von Oliver Cromwell, der mit seiner puritanischen und verklemmten
Militärdiktatur das kulturelle Leben in England erwürgt hatte, obwohl er selbst ein
großer Freund der Musik war. Theater waren von radikalen Behörden geschlossen, die
Musik war aus den Kirchen verbannt worden. Einige Fanatiker hatten angefangen,
Orgeln und andere Instrumente zu zertrümmern. Mit der nun einsetzenden
Restauration der Stuart-Monarchie begann eine kurze, aber entscheidende Phase
großen musikalischen Aufschwungs. Für eine Familie wie die Purcells machte sich der
Wechsel beruflich sofort bemerkbar. Durch die Wiedereinrichtung der anglikanischen
Bischofskirche mit ihrem aufwendigen Ritus gab es viel Arbeit für Kirchenmusiker.
Henry Purcells Vater und auch sein Onkel und Ersatzvater – der Vater starb als Henry
sechs Jahre alt war – waren Mitglieder der königlichen Kapelle, der gloriosen Royal
Chapel. Der Stuartkönig Charles II. wollte an den verlorenen Glanz der Herrschaft
seines Vaters anknüpfen und rief die altgediente Institution zurück ins offizielle
Hofleben. Sie war zuständig für die geistliche Musik am Hofe, sowie für die
musikalische Umrahmung feierlicher Staatsakte. Henry Purcell war eines der Talente,
die hier von Kindesbeinen an geschmiedet wurden. Er fing an als Sängerknabe, hatte
aber auch schon früh Kompositionsunterricht und wurde bald an die Orgel gelassen.
Sein erstes gedrucktes Lied veröffentlichte er mit siebzehn. Mit achtzehn wurde er
angestellter „Hofkomponist für die Violinen“, mit zwanzig Organist und Komponist
für Westminster Abbey. Viele seiner bewegendsten Stücke schrieb er in dieser Zeit,
zwischen achtzehn und einundzwanzig Jahren, übrigens auch seine zeitlose Oper
Dido und Aeneas. Mit vierundzwanzig Jahren wurde Purcell zu einem von drei
Königlichen Hofkomponisten ernannt.
Doch es folgten weitere politische Bewegungen in England. Charles’ Nachfolger
James II. war unbeliebt. In einem unblutigen Volksaufstand, der sogenannten Glorious
Revolution von1688, wurde er entmachtet. Purcell, inzwischen knapp dreißig, hatte
unter William III. und der wiederum sehr puritanischen Queen Mary weniger Arbeit am
Hof und konzentrierte sich von nun an aufs Theater und den Song – wirkte aber
weiterhin auch für die Royal Chapel; insgesamt arbeitete er dort ein
Vierteljahrhundert lang unter drei verschiedenen Königen. Doch neben seinen
höfischen Pflichten schrieb er in den folgenden sechs Jahren die Musik für über
vierzig Theaterstücke an den städtischen Häusern und wurde einem neuen Publikum
bekannt. Außerdem komponierte er für die wachsende bürgerliche Konzertszene von
London Orchester- und Kammermusikwerke.
Im englischen Theater des 17. Jahrhunderts war Musik ein wesentlicher Bestandteil
des Spektakels. Die durchkomponierte Form der Oper, eine italienische Erfindung aus
der Generation von Purcells Urgroßeltern, wurde allerdings von einem Großteil des
Londoner Publikums abgelehnt. Unter den Ladies und Gentlemen gab es wenig
Toleranz für durchkomponierte Rezitative. Man interessierte sich zu sehr für den
Inhalt der Worte, um mit der südeuropäischen Oper allzu viel anfangen zu können.
Stattdessen gab es die sehr populäre Semiopera, die stärker den englischen
Traditionen entsprach. Sie setzte sich aus Elementen des Mysterienspiels und des
Volkstheaters, des elisabethanischen Dramas und des raffinierten höfischen
Maskenspiels court masque zusammen. Der Text wurde großenteils gesprochen und
diente als narratives Gerüst für musikalische Einlagen, burleske Spiele und
Zauberszenen. Gerade die Hauptfiguren waren Sprechrollen.
Die Semiopera wurde Purcells Hauptbetätigungsfeld, er prägte ihre Entwicklung
nachhaltig. Der Textdichter John Dryden war im Theater auf Purcell aufmerksam
geworden. Gemeinsam konzipierten sie ein neuartiges Stück über den legendären
König von Britannien und Chef der Ritter der Tafelrunde: King Arthur. „Das
Schauspiel und die Musik gefielen dem Hof und den Bürgern“, berichtete im Jahr
1691 der Souffleur nach der Uraufführung am brummenden Dorset Garden Theatre,
dem damals größten Theater Englands. Das Musiktheaterstück wurde einer der
Erfolge der Neunziger Jahre und blieb lange Gesprächsthema der Londoner Society.
Er starb mit 36 Jahren unerwartet, aber erschöpft. Er hatte eine Frau und zwei
überlebende Kinder, viel Erfolg und sehr viel Arbeit. Nach dem Tod des „britischen
Orpheus“ ging die ruhmreiche Zeit der englischen Musik zu Ende. Englische
Schriftsteller feierten große Erfolge und in Londons Opernhaus passierten
ungeheuerliche Dinge, als ein paar Jahre später der weltgewandte Sachse und
Italienfreund Georg Friedrich Händel auftauchte. Die musikalische Tradition der Insel
versickerte, die Musik wurde mindestens für zwei Jahrhunderte wieder stärker vom
Festland bestimmt.
Die Musik
Purcell verband die Tradition der englischen Kontrapunktschule auf unwiderstehliche
Weise mit der neuen europäischen Mode des italienischen Operngesangs und der
französischen Chortechnik. Als Komponist für das Theater brachte er die hoch
spezialisierte Raffinesse mehrstimmiger Tonsatztechniken organisch mit den
Forderungen des Theaters nach musikalischer Expressivität, Dramatik und Flexibilität
in Einklang. Dabei kam ihm sein feines Gespür für Texte und für musikalische
Bewegungen im Verhältnis zu poetischen Inhalten zugute. Die Sensibilität seiner
Vokalkompositionen sucht in der Musikgeschichte ihresgleichen. Er schrieb für die
Kirche, das Theater, den Konzertsaal und den Salon, auch zeitlose Instrumentalmusik
- doch Song, Arie und Chorpartien waren sein Spezialgebiet. Die emotionale
Intensität seiner Lieder war schon damals berühmt. Er war insofern auch der Erbe der
englischen Liedkunst eines John Dowland und der Madrigalisten.
Durch seine auffallend ausgewogene Klangstatik ist er tatsächlich der klassische
Komponist des Barock: der Ästhetik des Gleichgewichts und der statischen Ordnung
nach dem Vorbild der kosmischen Harmonie in den Bewegungen der Planeten. Er
legte sich nie auf einen Stil oder auf ein Genre fest, doch sein klangarchitektonisches
Empfinden durchzieht jede seiner Partituren. Zwar gehörte es zur emotionalen
Rhetorik des Barock, Empfindungen objektiv, nicht personengebunden darzustellen.
Musikalisch umgesetzte Empfindungen folgen eher feststehenden Mustern oder
Formen des Sentiments entsprechend der sogenannten Affektenlehre, Purcell schuf
dafür eine Sprache, die heute teilweise aktueller als die subjektivistische Ästhetik der
klassisch-romantischen Epoche. Der Schritt der emotionalen Subjektivierung bleibt
bei Purcell dem einzelnen Hörer überlassen, ähnlich wie in der heutigen Kunstmusik.
Die mündige Distanz bleibt bewahrt, doch es handelt sich nicht um eine ironische,
sondern um höfliche Distanz: die Musik macht dem Hörer ein Angebot, aber sie
zwingt ihn nicht.
Der Stoff
Der historische König Arthur oder Artus lebte im 5. Jahrhundert nach Christus. In
einer Zeit als in Englang keltische und römische Kultur aufeinander stießen und das
Christentum sich ausbreitete, vereinte dieser König für kurze Zeit das Volk im Kampf
gegen die germanischen Sachsen und Angeln. Er galt als ein Herrscher, der von
höheren Idealen inspiriert war. Um ihn herum rankt sich ein reicher Mythos, der im
Mittelalter bei Liedermachern wie Wolfram von Eschenbach besonders beliebt war.
Die Legende beginnt mit dem Zauberer Merlin, dem weisen Magier, der als Figur den
mythologischen Sprung von der keltischen Zeit der Geister, Magier und Fabelwesen in
die christliche Vorstellungswelt geschafft hat. Er suchte einen guten König für
England. Nach mehreren gescheiterten Versuchen fädelte er die Geburt von Arthur
ein. Das berühmte Schwert Excalibur bewies schließlich, dass Arthur der richtige war:
Wer es aus dem Felsblock zu ziehen vermochte, war einem Schwur zufolge der neue
König von England. Merlin und Arthur lenkten endlich im Team die Geschicke des
Reiches. Dem Mythos zufolge starb Merlin noch zu Lebzeiten Arthurs. Am Grab des
Zauberers trafen sich rituell die Ritter der Tafelrunde auf ihrer Suche nach dem Kelch
mit Blut von Jesus Christus.
Textnachweis
Impressum
Kultur Ruhr GmbH, Leithestraße 35, D-Gelsenkirchen, Intendant Gerard Mortier,
Geschäftsführer Peter Landmann Chef-Dramaturg Thomas Wördehoff Redaktion
Moritz Gagern Mitarbeit Dorothea Neweling, Joscha Schaback, Eva Schmidt, Julia
Schmitt, Viktor Schoner, Ann Kathrin Thöle
Gestaltung oktober GmbH Bochum
Textnachweise: Romain Rolland, Georg Friedrich Händel, Paris 1912, S. 83,
Silke Leopold in: Leopold/Schneider, Oratorienführer, Stuttgart/Kassel, 2000. S. 270,
Originalbeitrag von Moritz Gagern; Die Bibel Das Erste und Zweite Buch Samuel,
nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984
Bildnachweis: © Sophie Ristelhueber „FAIT Koweit“, 1991
DAS TEAM DER RUHRTRIENNALE 03
Intendanz: Gerard Mortier, Sabine Krüger, Viktor Schoner | Geschäftsführung: Peter
Landmann, Uwe Schmitz–Gielsdorf, N.N. | Künstlerisches Betriebsbüro: Evamaria
Wieser, Alexander Neef, Christiane Biallas, Ariane Kümpel | Produktionsbüro: Halina
Ploetz, Julian Rybarski | Dramaturgie: Thomas Wördehoff, Moritz Gagern, Bojan
Budisavljevic, Dorothea Neweling, Julia Schmitt | Marketing: Dominique Savelkoul, Bettina
Langsch, Tanja Senicer, Christiane Brüggemeier, Michael Fressmann | Presse: Jörg
Quatran, Johannes Ehmann | Junge Triennale: Cathrin Rose, Joscha Schaback |
Technik: Klaus Hammer, Dieter Reeps, Horst Mühlberger, Stefan Holtz, Achim Niekel,
Katrin Reichardt, Anke Wolter, Susanne Schlund, Anne Schoyerer | Ausstattung: Joachim
Janner, Wolfgang Silveri, Martin Reiter | Kostüm: Robby Duiveman, Elke Wolter, Brigitte
Olbrisch | Verwaltung: Bernhard Rechmann, Hans-Peter Samsel, Claudia Klein, Volker
Schmitz, Andrea Große-Wiegert, Christiana Hilpert, Michael Turrek, Anja Nole, Ulrike Graf,
Julia Nedden, Gabriela Massmann | Freie Mitarbeiter Ann Kathrin Thöle, Imme Klages, Eva
Schmidt, Steffi Rothe, Anna Röckl, Christoph Kohl, Anne Fuchs, Annette Erdmann …
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