Redaktion Medizin: (089) 53 06-425 [email protected] Telefax: (089) 53 06-86 61 Münchner Merkur Nr. 162 MEINE SPRECHSTUNDE Leben .................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................. Ein neuer Schließmuskel für die Blase Wenn man ständig unkontrolliert Harn verliert, kann das Leben zur Qual werden. Doch ist Inkontinenz noch immer ein Tabuthema. Daher gehen viele Betroffene nicht Prof. Dr. Christian Stief zum Arzt. Karl H. hat sich Als Chefarzt im Münchner indessen Hilfe geholt. Ein Klinikum Großhadern erlebe Implantat, das den eigeich täglich, wie wichtig medizinische Aufklärung istMei- nen Schließmuskel ersetzt, ermöglicht ihm ne Kollegen und ich (www.facebook.de/Urolowieder ein aktives Leben. gieLMU) möchten den Merkur-Lesern daher jeden Montag ein Thema vorstellen, das für ihre Gesundheit von Bedeutung ist. Gerade in höherem Alter rückt die Gesundheit immer mehr ins Zentrum des Interesses. In einer Serie möchten wir Ihnen darum Erkrankungen vorstellen, die vor allem betagte Patienten treffen. Im Zentrum des siebten Teils steht die schwere Harninkontinenz. Die Expertin des Beitrags ist PD Dr. Ricarda Bauer. Sie ist Oberärztin in der Urologischen Poliklinik in Großhadern. Stichwort: die Blase Die Nieren filtern das Blut und leiten ständig Flüssigkeit über die Harnleiter weiter. Diese besteht aus Wasser und Abfallprodukten des Stoffwechsels. Ein Zwischenspeicher verhindert, dass man in einem fort Wasser lassen muss: die Harnblase, die gut geschützt im kleinen Becken liegt. Wie viel sie fasst, bis der Harndrang stark wird, ist sehr unterschiedlich: Männer spüren in der Regel, dass sie zur Toilette müssen, wenn 350 bis 750 Milliliter in der Blase sind. Frauen spüren meist früher bei etwa 250 bis 550 Milliliter einen Harndrang. Stress kann dazu führen, dass man deutlich öfter muss. Damit der Urin in der Blase bleibt, wird diese von zwei Muskeln verschlossen. Dabei unterscheidet man den inneren Schließmuskel, der am Blasenausgang liegt, und den äußeren, der sich auf der Höhe des Beckenbodens befindet. Nur dieser kann bewusst gesteuert werden. Normalerweise ist die Blasenmuskulatur entspannt, die Schließmuskel sind angespannt. Beim Wasserlassen wird der Urin von der Blasenwand, die vor allem aus Muskelgewebe besteht, rausgedrückt. sog 19 VON SONJA GIBIS „Das ist das Schlimmste, was es gibt“, sagt Karl H., 83. Zwei Jahre ist es her, da traute sich der Rentner kaum mehr einen Schritt aus seinem Haus. In die Stadt fahren, Freunde besuchen. Alles nicht mehr möglich. Der Grund: Nach einer Operation konnte er den Urin nicht mehr halten, war völlig inkontinent. Heute macht Karl H. wieder Ausflüge, gerne mit der U-Bahn. Mit dieser ist er heute auch in die Urologische Klinik in Großhadern gekommen, schick gekleidet mit heller Hose und Sakko. Seiner Ärztin, Dr. Ricarda Bauer, hat er Pralinen mitgebracht, aus Dankbarkeit. „Das ist für mich wie ein neues Leben“, sagt er. Durch eine Operation hat er wieder Kontrolle darüber, wann er zur Toilette geht. Möglich macht das ein Implantat, das den eigenen Schließmuskel ersetzt, ein artifizieller Sphinkter. Karl H.s Problem begann vor sechzehn Jahren. Diagnose: Prostatakrebs. Und das, nachdem er bereits Jahre zuvor eine Magenkrebserkrankung überwunden hatte. Chirurgen entfernten die Prostata, die die Harnröhre eng umschließt. Der Eingriff verlief gut. Doch hatte Karl H. danach Probleme, das Wasser zu halten, trotz Beckenbodengymnastik. Diese hilft vielen nach einer Prostata-OP, ihre Inkontinenz wieder in den Griff zu bekommen. Nicht immer gelingt das vollständig. „Aber es war nicht so schlimm“, sagt der Rentner. Doch blieb eine Inkontinenz, die bei Belastung auftrat. Dann, ein Rückfall: Nach ein paar Jahren stieg der PSA-Wert plötzlich stark an – ein Zeichen dafür, dass der Krebs zurückkehrt. Die Ärzte empfahlen eine Bestrahlung. Doch die Strahlen, welche die Krebszellen abtöten sollen, Urologin Dr. Ricarda Bauer erklärt ihrem Patienten, wie der künstliche Schließmuskel funktioniert. schädigen auch gesundes Gewebe. Bei Bestrahungen gegen Prostatakrebs sind vor allem die Harnröhre und der Enddarm betroffen. 39 Mal musste Karl H. zur Bestrahlung. Dadurch verengte sich die Harnröhre. Er konnte kaum mehr Wasser lassen. „Er hätte lebenslang mit einem Katheter leben müssen, der durch die Bauchdecke führt“, sagt Ricarda Bauer, Oberärztin an der Urologischen Klinik. Urologen entfernten deshalb das verengte Stück, konstruierten es aus Vorhaut neu. Doch die Harnröhre war bis dicht an den Schließmuskel verengt. Die Folge: Nach der OP war Karl H. völlig inkontinent. Er versuchte es mit Einlagen. Doch musste er diese ständig wechseln. „Ich musste sogar nachts bis zu zehn Mal raus“, erzählt er. Er probierte es mit einem sogenannten Kondomurinal, das den Urin in einem Beutel am Oberschenkel sammelt. Doch das kann leicht verrutschen. Spaziergänge, Ausflüge – nichts davon war mehr möglich. Wenn Karl H. überhaupt wegging, war immer eine Netzhose mit Einlagen im Gepäck. Der Rentner richtete sein Leben nach der Verfügbarkeit einer Toilette aus. „Man ist kein Mensch mehr“, sagt er. Hinzu kam die Angst, je- durch einen Zeitungsbericht durchbrochen wird, ist Karl H. ein großes Anliegen. „Die Menschen sollen wissen, dass es Hilfe gibt“, sagt er. „Und wo sie die bekommen können.“ Urologin Ricarda Bauer schlug dem Rentner eine Operation vor: Hierbei wird ein Implantat eingesetzt, das den „Die Menschen sollen wissen, dass es Hilfe gibt und wo sie diese bekommen“, sagt Karl H. mand könnte etwas bemerken. Besonders schlimm: Karl H. konnte mit fast niemandem über seine Probleme sprechen. „Es ist immer noch ein großes Tabuthema“, sagt er – obwohl es viele Menschen betrifft. Vor allem ältere Frauen leiden an Inkontinenz, aber auch Männer nach Operationen im Bereich des Unterleibs. Doch viele gehen nicht zum Arzt, oft aus Scham. Dass diese Scheu eigenen Schließmuskel ersetzt. Die Urologin vermittelte Karl H. zudem den Kontakt zu einem Patienten, der die OP bereits hinter sich hatte. „Das hilft bei der Entscheidung oft mehr als der Rat eines Arztes“, sagt sie. Das Gespräch mit dem Betroffenen hilft auch Karl H. „Der Mann war erst um die 60, als er inkontinent wurde“, erzählt er. „Und es war so schlimm für ihn, dass er überlegt hat, sich FOTOS: KLAUS HAAG umzubringen.“ Die OP veränderte sein Leben. Auch Karl H. entschied sich dafür. Ein solcher Eingriff ist auch noch bei betagten Patienten möglich. „Sie müssen nur manuell geschickt genug sein, die Pumpe zu bedienen“, sagt Ricarda Bauer. Diese steuert das Wasserlassen und sitzt im Hodensack direkt unter der Haut. Schlecht möglich ist die Bedienung zum Beispiel bei einer starken Arthrose im Daumengelenk. Zudem muss der Patient geistig noch fit genug sein, um den Mechanismus zu verstehen. Bei Patienten mit Demenz kann das ein Problem sein. Ob der Betroffene fit und geschickt genug ist, prüfen Ärzte mit einem einfachen Test: Der Patient muss einen Kugelschreiber auseinander und wieder zusammenbauen. Klappt das, klappt es auch mit der Pumpe. „Manchmal vergessen Patienten, wenn sie etwa an Alzheimer erkranken, wie man das Gerät bedient“, sagt die Urologin. Doch gibt es dann ein einfaches Mittel: Man kann den Sphinkter deaktivieren. Dies ist auch überaus wichtig, wenn eine Untersuchung mit einem Blasenkatheter ansteht. Einen solchen darf man nur einführen, wenn die Manschette, die die Harnröhre umschließt, geöffnet ist. Sonst wird diese beschädigt oder die Harnröhre verletzt. Auch bei anderen Untersuchungen müssen Ärzte berücksichtigen, dass der Patient einen artifiziellen Sphinkter trägt. Auch Karl H. erhielt daher ein Minifaltblatt zum Einstecken in den Geldbeutel, das er Ärzten geben kann. Bei Untersuchungen im Unterleib sollten die Patienten aber immer noch mal auf den Sphinkter hinweisen, mahnt Ricarda Bauer. Etwa sechs Wochen, bei bestrahlten Patienten acht bis zehn, muss das Implantat einheilen, bis man es in Betrieb nehmen kann. Bei Karl H. lief zunächst alles glatt. Dann erkrankte er an einer schweren Darmentzündung. Erst als er sich davon erholt hatte, konnte der artifizielle Sphinkter aktiviert werden. Dies übt der Arzt erst mal mit dem Träger. „Ich schicke die Patienten in die Cafeteria“, erzählt Ricarda Bauer. Dort trinken sie, warten, bis der Harndrang kommt – und versuchen es alleine erneut, den Spinkter zu betätigen. Der Ultraschall zeigt dann, ob die Blase leer ist. Bei Karl H. klappte das Wasserlassen sofort. Nach dem Einsetzen musste er zunächst noch sehr oft zur Toilette – wie alle Patienten, die zuvor stark inkontinent waren. Die Blase musste sich nicht mehr dehnen und ist geschrumpft. Doch erweitert sich diese auch wieder. „Ich bin ein neuer Mensch“, sagt Karl H. heute. Zwar nimmt er zusätzlich Tabletten gegen seine Dranginkontinenz, die zu plötzlichem Harndrang führt – ebenfalls eine Folge der Bestrahlung. Doch besucht er wieder Bekannte, ist aktiv. Der Eingriff hat sein Leben derart verändert, dass er anderen Menschen davon erzählen möchte: „Ich will Betroffenen zeigen, dass man etwas dagegen tun kann – und es tun sollte.“ Lesen Sie am Montag, 23. Juli, den achten Teil unserer Serie „Medizin im Alter“: Hüftoperation trotz vieler Vorerkrankungen. Spritze, Schlinge, artifizieller Sphinkter: Hilfe bei Inkontinenz des Mannes Eine Operation im Beckenbereich, Bestrahlung oder einfach das fortgeschrittene Alter: Noch immer gilt Inkontinenz als ein typisches Frauenproblem. Doch auch bei Männern gibt es verschiedene Gründe, dass sie das Wasser nicht mehr richtig halten können. Doch sprechen nur wenige darüber. Viele ziehen sich immer mehr zurück, statt zum Arzt zu gehen. Dabei gibt es auch für Männer verschiedene Möglichkeiten, um Inkontinenz zu behandeln. Grundsätzlich unterscheiden Mediziner Drang- und Belastungsinkontinenz. Bei der Dranginkontinenz, der „überaktiven Blase“ haben die Betroffenen oft plötzlich das starke Bedürfnis, Wasser zu lassen, obwohl die Blase nicht voll gefüllt ist. Gegen die Beschwerden gibt es verschiedene Medikamente. Auch Botox, bekannt als Anti-FaltenMittel, kann helfen. Es wird gespritzt und lähmt die überaktiven Nerven, die den Harndrang verursachen. Bei der Belastungsinkontinenz hält der Schließmuskel, etwa bei Husten oder wenn man etwas Schweres hebt, nicht mehr dicht. Zu solchen Problemen kommt es oft nach einer Prostata-Operation. Helfen kann dann Beckenbodentraining. Stärkt man diese Muskeln im kleinen Becken, kann das die Inkontinenz deutlich verbessern. Doch hilft das nur, wenn man regelmäßig trainiert. Und nicht immer ist die Therapie erfolgreich. Bleibt der Patient trotz Training inkontinent, gibt es weitere Möglichkeiten der Behandlung. Etwa eine Schlinge aus Kunststoff. Mit ihr kann man die Harnröhre anheben und sie so wieder in die richtige Position bringen. Dieser Eingriff ist aber nur möglich, wenn der Schließmuskel noch etwas funktioniert. Die Schlinge wird in der Regel durch drei kleine Schnitte minimalinvasiv eingesetzt. Der Eingriff dauert etwa 50 Minuten und wird in Narkose durchgeführt. Mehr als die Hälfte der Patienten ist nach dem Eingriff kontinent. Bei 20 Prozent verringern sich die Beschwerden – und das unmittelbar nach dem Eingriff. Zu Komplika- Der künstliche Schließmuskel besteht aus einer Manschette (unten), einem Reservoir (ob. re.) und einer Pumpe (ob. li.). tionen kommt es selten. Wird die Harnröhre etwa zu straff in der Schlinge aufgehängt, kann das zu Harnverhalt führen. Der Patient kann kaum noch Wasser lassen. Doch sind solche Probleme selten, wenn der Urologe mit dem Eingriff Erfahrung hat. Hat der Schließmuskel sei- ne Funktion vollständig verloren, kann ein künstlicher Schließmuskel die Beschwerden beheben, ein sogenannter artifizieller Sphinkter. Der Eingriff kommt also nur bei sehr schwerer Inkontinenz in Frage. Das Implantat besteht aus einer Manschette, die die Harnröhre umschließt. Ist sie mit Wasser gefüllt, drückt sie die Harnröhre zu – der Patient ist kontinent. Doch kann man die Flüssigkeit ablassen. Dazu sitzt eine Art Pumpe im Hodensack direkt unter der Haut. Der Hoden selbst wird beim Einsetzen nicht verletzt. Auch die Potenz wird nicht beeinflusst. Drückt der Pa- tient auf die Pumpe, fließt das Wasser in ein Reservoir, einen kleinen Ballon im Unterbauch. Die Manschette erweitert sich – der Patient kann auf die Toilette gehen. Sie füllt sich dann wieder von selbst. Nach zwei bis drei Minuten ist die Manschette wieder voll – und drückt die Harnröhre zu. Der Träger ist wieder kontinent. Um das Implantat einzusetzen, machen die Urologen einen oder zwei Schnitte. Setzt man den Schnitt zwischen Hoden und Penis, genügt einer. Doch kann man den künstlichen Schließmuskel auch über einen Schnitt am Damm und einen zusätzlichen am Bauch einführen. Nach der Operation sind etwa 85 Prozent der Patienten kontinent. Bei den anderen kommt es in der Regel zu einer Verbesserung. Bei dem Eingriff kann es, wie bei jeder Operation, auch zu Komplikationen kommen. So können Infektionen auftreten. Antibiotika halten das Risiko jedoch sehr gering. Zudem kann die Manschette die empfindliche Harnröhre schädigen. Dann kann eine erneute OP nötig sein. Der künstliche Schließmuskel hält etwa acht bis zehn Jahre. Dann muss er in einer erneuten Operation ausgetauscht werden. SONJA GIBIS Leserfragen an die Experten: [email protected]