Ein neuer Schließmuskel für die Blase

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Münchner Merkur Nr. 162
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Leben
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Ein neuer Schließmuskel für die Blase
Wenn man ständig unkontrolliert Harn verliert,
kann das Leben zur Qual
werden. Doch ist Inkontinenz noch immer ein Tabuthema. Daher gehen
viele Betroffene nicht
Prof. Dr. Christian Stief
zum Arzt. Karl H. hat sich
Als Chefarzt im Münchner
indessen Hilfe geholt. Ein
Klinikum Großhadern erlebe Implantat, das den eigeich täglich, wie wichtig medizinische Aufklärung istMei- nen Schließmuskel ersetzt, ermöglicht ihm
ne Kollegen und ich
(www.facebook.de/Urolowieder ein aktives Leben.
gieLMU) möchten den Merkur-Lesern daher jeden Montag ein Thema vorstellen, das
für ihre Gesundheit von Bedeutung ist. Gerade in höherem Alter rückt die Gesundheit immer mehr ins Zentrum
des Interesses. In einer Serie
möchten wir Ihnen darum
Erkrankungen vorstellen, die
vor allem betagte Patienten
treffen. Im Zentrum des siebten Teils steht die schwere
Harninkontinenz. Die Expertin des Beitrags ist PD Dr.
Ricarda Bauer. Sie ist Oberärztin in der Urologischen
Poliklinik in Großhadern.
Stichwort:
die Blase
Die Nieren filtern das Blut und
leiten ständig Flüssigkeit über
die Harnleiter weiter. Diese besteht aus Wasser und Abfallprodukten des Stoffwechsels. Ein
Zwischenspeicher verhindert,
dass man in einem fort Wasser
lassen muss: die Harnblase, die
gut geschützt im kleinen Becken
liegt. Wie viel sie fasst, bis der
Harndrang stark wird, ist sehr
unterschiedlich: Männer spüren
in der Regel, dass sie zur Toilette
müssen, wenn 350 bis 750 Milliliter in der Blase sind. Frauen
spüren meist früher bei etwa 250
bis 550 Milliliter einen Harndrang. Stress kann dazu führen,
dass man deutlich öfter muss.
Damit der Urin in der Blase
bleibt, wird diese von zwei Muskeln verschlossen. Dabei unterscheidet man den inneren
Schließmuskel, der am Blasenausgang liegt, und den äußeren, der sich auf der Höhe des
Beckenbodens befindet. Nur
dieser kann bewusst gesteuert
werden. Normalerweise ist die
Blasenmuskulatur entspannt,
die Schließmuskel sind angespannt. Beim Wasserlassen wird
der Urin von der Blasenwand, die
vor allem aus Muskelgewebe besteht, rausgedrückt.
sog
19
VON SONJA GIBIS
„Das ist das Schlimmste, was
es gibt“, sagt Karl H., 83. Zwei
Jahre ist es her, da traute sich
der Rentner kaum mehr einen
Schritt aus seinem Haus. In
die Stadt fahren, Freunde besuchen. Alles nicht mehr möglich. Der Grund: Nach einer
Operation konnte er den Urin
nicht mehr halten, war völlig
inkontinent.
Heute macht Karl H. wieder Ausflüge, gerne mit der
U-Bahn. Mit dieser ist er heute auch in die Urologische Klinik in Großhadern gekommen, schick gekleidet mit heller Hose und Sakko. Seiner
Ärztin, Dr. Ricarda Bauer, hat
er Pralinen mitgebracht, aus
Dankbarkeit. „Das ist für
mich wie ein neues Leben“,
sagt er. Durch eine Operation
hat er wieder Kontrolle darüber, wann er zur Toilette geht.
Möglich macht das ein Implantat, das den eigenen
Schließmuskel ersetzt, ein artifizieller Sphinkter.
Karl H.s Problem begann
vor sechzehn Jahren. Diagnose: Prostatakrebs. Und das,
nachdem er bereits Jahre zuvor eine Magenkrebserkrankung überwunden hatte. Chirurgen entfernten die Prostata, die die Harnröhre eng umschließt. Der Eingriff verlief
gut. Doch hatte Karl H. danach Probleme, das Wasser zu
halten, trotz Beckenbodengymnastik. Diese hilft vielen
nach einer Prostata-OP, ihre
Inkontinenz wieder in den
Griff zu bekommen.
Nicht immer gelingt das
vollständig. „Aber es war
nicht so schlimm“, sagt der
Rentner. Doch blieb eine Inkontinenz, die bei Belastung
auftrat. Dann, ein Rückfall:
Nach ein paar Jahren stieg der
PSA-Wert plötzlich stark an –
ein Zeichen dafür, dass der
Krebs zurückkehrt. Die Ärzte
empfahlen eine Bestrahlung.
Doch die Strahlen, welche die
Krebszellen abtöten sollen,
Urologin Dr. Ricarda Bauer erklärt ihrem Patienten, wie der künstliche Schließmuskel funktioniert.
schädigen auch gesundes Gewebe. Bei Bestrahungen gegen Prostatakrebs sind vor allem die Harnröhre und der
Enddarm betroffen.
39 Mal musste Karl H. zur
Bestrahlung. Dadurch verengte sich die Harnröhre. Er
konnte kaum mehr Wasser
lassen. „Er hätte lebenslang
mit einem Katheter leben
müssen, der durch die Bauchdecke führt“, sagt Ricarda
Bauer, Oberärztin an der Urologischen Klinik. Urologen
entfernten deshalb das verengte Stück, konstruierten es
aus Vorhaut neu. Doch die
Harnröhre war bis dicht an
den Schließmuskel verengt.
Die Folge: Nach der OP war
Karl H. völlig inkontinent. Er
versuchte es mit Einlagen.
Doch musste er diese ständig
wechseln. „Ich musste sogar
nachts bis zu zehn Mal raus“,
erzählt er. Er probierte es mit
einem sogenannten Kondomurinal, das den Urin in einem
Beutel am Oberschenkel sammelt. Doch das kann leicht
verrutschen.
Spaziergänge,
Ausflüge – nichts davon war
mehr möglich. Wenn Karl H.
überhaupt wegging, war immer eine Netzhose mit Einlagen im Gepäck. Der Rentner
richtete sein Leben nach der
Verfügbarkeit einer Toilette
aus. „Man ist kein Mensch
mehr“, sagt er.
Hinzu kam die Angst, je-
durch einen Zeitungsbericht
durchbrochen
wird,
ist
Karl H. ein großes Anliegen.
„Die Menschen sollen wissen,
dass es Hilfe gibt“, sagt er.
„Und wo sie die bekommen
können.“
Urologin Ricarda Bauer
schlug dem Rentner eine Operation vor: Hierbei wird ein
Implantat eingesetzt, das den
„Die Menschen sollen wissen, dass es Hilfe gibt
und wo sie diese bekommen“, sagt Karl H.
mand könnte etwas bemerken. Besonders schlimm:
Karl H. konnte mit fast niemandem über seine Probleme
sprechen. „Es ist immer noch
ein großes Tabuthema“, sagt
er – obwohl es viele Menschen
betrifft. Vor allem ältere Frauen leiden an Inkontinenz,
aber auch Männer nach Operationen im Bereich des Unterleibs. Doch viele gehen
nicht zum Arzt, oft aus
Scham. Dass diese Scheu
eigenen Schließmuskel ersetzt. Die Urologin vermittelte
Karl H. zudem den Kontakt
zu einem Patienten, der die
OP bereits hinter sich hatte.
„Das hilft bei der Entscheidung oft mehr als der Rat eines Arztes“, sagt sie. Das Gespräch mit dem Betroffenen
hilft auch Karl H. „Der Mann
war erst um die 60, als er inkontinent wurde“, erzählt er.
„Und es war so schlimm für
ihn, dass er überlegt hat, sich
FOTOS: KLAUS HAAG
umzubringen.“ Die OP veränderte sein Leben. Auch
Karl H. entschied sich dafür.
Ein solcher Eingriff ist auch
noch bei betagten Patienten
möglich. „Sie müssen nur manuell geschickt genug sein, die
Pumpe zu bedienen“, sagt Ricarda Bauer. Diese steuert das
Wasserlassen und sitzt im Hodensack direkt unter der
Haut. Schlecht möglich ist die
Bedienung zum Beispiel bei
einer starken Arthrose im
Daumengelenk. Zudem muss
der Patient geistig noch fit genug sein, um den Mechanismus zu verstehen. Bei Patienten mit Demenz kann das ein
Problem sein.
Ob der Betroffene fit und
geschickt genug ist, prüfen
Ärzte mit einem einfachen
Test: Der Patient muss einen
Kugelschreiber auseinander
und wieder zusammenbauen.
Klappt das, klappt es auch mit
der Pumpe. „Manchmal vergessen Patienten, wenn sie etwa an Alzheimer erkranken,
wie man das Gerät bedient“,
sagt die Urologin. Doch gibt
es dann ein einfaches Mittel:
Man kann den Sphinkter deaktivieren.
Dies ist auch überaus wichtig, wenn eine Untersuchung
mit einem Blasenkatheter ansteht. Einen solchen darf man
nur einführen, wenn die Manschette, die die Harnröhre
umschließt, geöffnet ist. Sonst
wird diese beschädigt oder die
Harnröhre verletzt. Auch bei
anderen
Untersuchungen
müssen Ärzte berücksichtigen, dass der Patient einen artifiziellen Sphinkter trägt.
Auch Karl H. erhielt daher ein
Minifaltblatt zum Einstecken
in den Geldbeutel, das er Ärzten geben kann. Bei Untersuchungen im Unterleib sollten
die Patienten aber immer
noch mal auf den Sphinkter
hinweisen, mahnt Ricarda
Bauer.
Etwa sechs Wochen, bei bestrahlten Patienten acht bis
zehn, muss das Implantat einheilen, bis man es in Betrieb
nehmen kann. Bei Karl H. lief
zunächst alles glatt. Dann erkrankte er an einer schweren
Darmentzündung. Erst als er
sich davon erholt hatte, konnte der artifizielle Sphinkter
aktiviert werden.
Dies übt der Arzt erst mal
mit dem Träger. „Ich schicke
die Patienten in die Cafeteria“, erzählt Ricarda Bauer.
Dort trinken sie, warten, bis
der Harndrang kommt – und
versuchen es alleine erneut,
den Spinkter zu betätigen.
Der Ultraschall zeigt dann, ob
die Blase leer ist.
Bei Karl H. klappte das
Wasserlassen sofort. Nach
dem Einsetzen musste er zunächst noch sehr oft zur Toilette – wie alle Patienten, die
zuvor stark inkontinent waren. Die Blase musste sich
nicht mehr dehnen und ist geschrumpft. Doch erweitert
sich diese auch wieder.
„Ich
bin
ein
neuer
Mensch“, sagt Karl H. heute.
Zwar nimmt er zusätzlich
Tabletten gegen seine Dranginkontinenz, die zu plötzlichem Harndrang führt – ebenfalls eine Folge der Bestrahlung. Doch besucht er wieder
Bekannte, ist aktiv. Der Eingriff hat sein Leben derart verändert, dass er anderen Menschen davon erzählen möchte: „Ich will Betroffenen zeigen, dass man etwas dagegen
tun kann – und es tun sollte.“
Lesen Sie am Montag, 23. Juli, den
achten Teil unserer Serie „Medizin
im Alter“: Hüftoperation trotz vieler Vorerkrankungen.
Spritze, Schlinge, artifizieller Sphinkter: Hilfe bei Inkontinenz des Mannes
Eine Operation im Beckenbereich, Bestrahlung oder einfach das fortgeschrittene Alter: Noch immer gilt Inkontinenz als ein typisches Frauenproblem. Doch auch bei Männern gibt es verschiedene
Gründe, dass sie das Wasser
nicht mehr richtig halten können. Doch sprechen nur wenige darüber. Viele ziehen sich
immer mehr zurück, statt zum
Arzt zu gehen. Dabei gibt es
auch für Männer verschiedene Möglichkeiten, um Inkontinenz zu behandeln.
Grundsätzlich unterscheiden Mediziner Drang- und
Belastungsinkontinenz. Bei
der Dranginkontinenz, der
„überaktiven Blase“ haben
die Betroffenen oft plötzlich
das starke Bedürfnis, Wasser
zu lassen, obwohl die Blase
nicht voll gefüllt ist. Gegen die
Beschwerden gibt es verschiedene Medikamente. Auch Botox, bekannt als Anti-FaltenMittel, kann helfen. Es wird
gespritzt und lähmt die überaktiven Nerven, die den
Harndrang verursachen.
Bei der Belastungsinkontinenz hält der Schließmuskel,
etwa bei Husten oder wenn
man etwas Schweres hebt,
nicht mehr dicht. Zu solchen
Problemen kommt es oft nach
einer Prostata-Operation.
Helfen kann dann Beckenbodentraining. Stärkt man
diese Muskeln im kleinen Becken, kann das die Inkontinenz deutlich verbessern.
Doch hilft das nur, wenn man
regelmäßig trainiert. Und
nicht immer ist die Therapie
erfolgreich. Bleibt der Patient
trotz Training inkontinent,
gibt es weitere Möglichkeiten
der Behandlung. Etwa eine
Schlinge aus Kunststoff. Mit
ihr kann man die Harnröhre
anheben und sie so wieder in
die richtige Position bringen.
Dieser Eingriff ist aber nur
möglich, wenn der Schließmuskel noch etwas funktioniert. Die Schlinge wird in der
Regel durch drei kleine
Schnitte minimalinvasiv eingesetzt. Der Eingriff dauert etwa 50 Minuten und wird in
Narkose durchgeführt.
Mehr als die Hälfte der Patienten ist nach dem Eingriff
kontinent. Bei 20 Prozent verringern sich die Beschwerden
– und das unmittelbar nach
dem Eingriff. Zu Komplika-
Der künstliche Schließmuskel besteht aus einer Manschette
(unten), einem Reservoir (ob. re.) und einer Pumpe (ob. li.).
tionen kommt es selten. Wird
die Harnröhre etwa zu straff
in der Schlinge aufgehängt,
kann das zu Harnverhalt führen. Der Patient kann kaum
noch Wasser lassen. Doch
sind solche Probleme selten,
wenn der Urologe mit dem
Eingriff Erfahrung hat.
Hat der Schließmuskel sei-
ne Funktion vollständig verloren, kann ein künstlicher
Schließmuskel die Beschwerden beheben, ein sogenannter
artifizieller Sphinkter. Der
Eingriff kommt also nur bei
sehr schwerer Inkontinenz in
Frage. Das Implantat besteht
aus einer Manschette, die die
Harnröhre umschließt. Ist sie
mit Wasser gefüllt, drückt sie
die Harnröhre zu – der Patient
ist kontinent. Doch kann man
die Flüssigkeit ablassen. Dazu
sitzt eine Art Pumpe im Hodensack direkt unter der
Haut. Der Hoden selbst wird
beim Einsetzen nicht verletzt.
Auch die Potenz wird nicht
beeinflusst. Drückt der Pa-
tient auf die Pumpe, fließt das
Wasser in ein Reservoir, einen
kleinen Ballon im Unterbauch. Die Manschette erweitert sich – der Patient kann auf
die Toilette gehen. Sie füllt
sich dann wieder von selbst.
Nach zwei bis drei Minuten ist
die Manschette wieder voll –
und drückt die Harnröhre zu.
Der Träger ist wieder kontinent.
Um das Implantat einzusetzen, machen die Urologen einen oder zwei Schnitte. Setzt
man den Schnitt zwischen
Hoden und Penis, genügt einer. Doch kann man den
künstlichen Schließmuskel
auch über einen Schnitt am
Damm und einen zusätzlichen am Bauch einführen.
Nach der Operation sind etwa
85 Prozent der Patienten kontinent. Bei den anderen
kommt es in der Regel zu einer
Verbesserung.
Bei dem Eingriff kann es,
wie bei jeder Operation, auch
zu Komplikationen kommen.
So können Infektionen auftreten. Antibiotika halten das
Risiko jedoch sehr gering. Zudem kann die Manschette die
empfindliche
Harnröhre
schädigen. Dann kann eine
erneute OP nötig sein.
Der künstliche Schließmuskel hält etwa acht bis zehn
Jahre. Dann muss er in einer
erneuten Operation ausgetauscht werden. SONJA GIBIS
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