Studie ▼ Corinna Pelz „Das Stigma Schwerhörigkeit“ ZWEI VARIANTEN DER VORSCHLÄGE FÜR EINE PRESSEKAMPAGNE AUS DEM BUCH VON CORINNA PELZ. FÜR DEN ENTWURF LINKS ENTSCHIEDEN SICH 48,5%, FÜR DEN RECHTS 51,5% DER BEFRAGTEN. 51 51 Corinna Pelz hat mit „Das Stigma Schwerhörigkeit“ eine Dissertation und ein Buch vorgelegt, das bald in jeder hörakustischen und audiologischen Fachbibliothek stehen wird. Michael Dahnke hat es für uns gelesen. W arum stoßen Hörgeräte und Schwerhörigkeit immer noch auf so breite Ablehnung in der Bevölkerung? Mit welcher Art der Öffentlichkeitsarbeit läßt sich die Akzeptanz in der Bevölkerung steigern? Das sind die beiden Leitfragen der Dissertation von Corinna Pelz: „Das Stigma Schwerhörigkeit. Strategien und empirische Studien zur Verbesserung der Akzeptanz von Hörgeräten“. (1) Während die Literatur ein ganzes Bündel an Gründen für die nach wie vor geringe Versorgungsquote aufführt, konzentriert sich die Autorin auf das Stigma Schwerhö- AUDIO INFOS N° 78 rigkeit als der „Ursache für die Ablehnung von Hörgeräten und Schwerhörigkeit“. Ihre aus der Literatur entwickelte These lautet, dass sich das Stigma durch gezielte Kommunikationsmaßnahmen reduzieren lasse, wodurch die Akzeptanz von Hörgeräten steige und sich mehr Betroffene versorgen ließen. Ausgehend von dieser theoretischen Kausalkette möchte sie mit ihrer Arbeit „den Blick der Branche auf die Relevanz der Bekämpfung des Stigmas Schwerhörigkeit“ lenken. Nach einer übersichtlichen Skizzierung ihrer Grundidee im 1. Kapitel enthält das zweite Kapitel „Schwerhörigkeit“ thematische Grundlagen, deren Kenntnis notwendig ist, um die komplexe HÖRSTATUS: “UNSCHÄRFE VON 8% BIS ” 26%. Problematik der Schwerhörigkeit zu verstehen. Die Autorin führt zunächst die bisherigen Erhebungen zur Menge der Hörgeschädigten in Deutschland auf und präsentiert dann die sich aus dem Fehlen „repräsentativen Zahlenmaterials über den Hörstatus der Bevölkerung“ ergebende Ungenauigkeit von 8 bis zu 26% „der Personen mit einem behandlungsbedürftigen Hörverlust“. (2) Mit dieser großen Schwankung erklärt sich auch ihr im letzten Kapitel 12 „Diskussion und Ausblick“ geäußerter Wunsch, der zwar weder neu noch originell, aber immer noch aktuell ist, nämlich die „Wiederholung einer repräsentativen Corinna Pelz „Das Stigma Schwerhörigkeit“ Studie zur Erfassung des Hörstatus in Deutschland …, um Angaben über den potentiellen Markt der Hörgeräteversorgung zu bekommen“. Es bleibt zu hoffen, dass steter Tropfen am Ende doch noch diesen Stein höhlt. Für die Beschreibung der Versorgungssituation hat sie Rainer Hüls' Unterscheidungsvorschlag der „dreifachen Versorgungsquote“ übernommen. (3) Pelz beschreibt im Rahmen ihrer Arbeit auch den „klassischen“ deutschen Versorgungsweg der Betroffenen.(4) Weil eine Hörgeräteversorgung in Deutschland „im Vergleich zu anderen Reha-Prozessen verhältnismäßig umständlich und langwierig“ sei, könne „nicht ausgeschlossen werden, dass dieser Umstand einen Einfluss auf die Versorgungsquote darstellt.“ Im abschließenden Kapitel „12 Diskussion und Ausblick“ fügt sie „die technischen Defizite als auch die hohen Kosten“ als „zwei relevante Gründe für die niedrige Versorgungsquote mit Hörgeräten“ an. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht aber das Stigma Schwerhörigkeit als zentrale Erklärung. ■ ■ Das Stigma Schwerhörigkeit 52 Folgerichtig räumt die Autorin diesem breiten Raum ein. Ihr neuer Ansatz besteht darin, es in ihrer Dissertation als aus den Komponenten „Alter“ und „Behinderung“ zusammengesetztes Doppelstigma zu interpretieren. Um zu klären, wie diesem durch Einstellungsveränderungen begegnet werden könne, untersucht Pelz im 4. Kapitel solche Möglichkeiten und den Einfluss auf das menschliche Verhalten. Das ernüchternde Fazit des 4. Kapitels lautet allerdings, „dass es sehr schwierig ist, durch Kommunikationsmaßnahmen Einstellungen zu verändern“. Das 5. Kapitel ist darum ein Rückblick auf die bisherigen Versuche der Fördergemeinschaft DAS BUCH UND DIE STUDIE IST DAS AKTUELLSTE, WAS DERZEIT AM MARKT VERFÜGBAR IST. ERHÄLTLICH BEIM MEDIAN-VERLAG IN HEIDELBERG. Autorin für ihre Darstellung auch Experteninterviews mit Gerhard Hillig, Martin Kind, Bernd Kreutz, Rainer Hüls und Karsten Mohr. ■ ■ Erforschung des Doppelstigmas Nach der Betrachtung bisheriger Maßnahmen ging Pelz dreistufig vor, um das Doppelstigma Schwerhörigkeit zu erforschen und Möglichkeiten seiner Überwindung zu finden: Sie führte empirische Untersuchungen durch, entwickelte eine eigene Werbekampagne, die der Existenz des vermuteten Doppelstigmas Rechnung trug und evaluierte diese abschlie- “ Es ist schwer, durch Kommunikation die Einstellungen zu verändern.” Gutes Hören (FGH) zur Reduktion der Stigmatisierung Schwerhöriger, um so alternative Möglichkeiten für die eigene Öffentlichkeitskampagne zur Verbesserung der Akzeptanz von Schwerhörigkeit und Hörgeräten zu finden. Daneben enthält das 5. Kapitel auch eine bislang fehlende Darstellung der immerhin 34-jährigen Geschichte der FGH, ihrer Ziele und der Gründe ihrer Spaltung. Für diese Rückschau wertete Pelz zum einen Artikel zu den einzelnen Kampagnen in der Fachzeitschrift „Hörakustik“ aus. Zur Beurteilung der Stärken und Schwächen der verschiedenen Maßnahmen der FGH führte die ßend im kleinen Rahmen während des „Tages der Offenen Tür“ im „Haus des Hörens“ am 28. Oktober 2005 in Oldenburg. Im empirischen Teil führte Pelz 9 Gruppendiskussionen und 4 Einzelinterviews mit gemischtgeschlechtlichen Gruppen mit zwischen 5 und 11 leicht- bis mittelgradig Betroffenen und Kontaktpersonen in unterschiedlichen Altersstufen durch, die sie um eine schriftliche Befragung von Hörgeräteträgern und unversorgten Schwerhörigen ergänzte. So überprüfte sie die Ergebnisse der einen Untersuchung mit den Resultaten weiterer Studien. Basierend auf den qualitativen und quantitativen Erhebungen entwickelte sie ihre eigene Kampagne. Eine interessante Erkenntnis beider Studien war, dass die Betroffenen — versorgte noch stärker als unversorgte — einerseits für sich selbst sehr stark den Begriff „Behinderung“ mit Schwerhörigkeit und Hörgeräten verbinden, andererseits bei anderen aber vermuteten, dass diese eher das Stichwort „Alter“ mit Schwerhörigen und Hörgeräten assoziierten. Diese Divergenz verunmöglichte einerseits eine eindimensionale Zielgruppenansprache und machte das Eingehen auf beide Komponenten des Doppelstigmas notwendig, wie es andererseits auch dessen Existenz bestätigte. Mit ihrer Kampagne verfolgte Pelz zwei Ziele gleichzeitig, nämlich zum einen „die Beseitigung und Vermeidung von Versorgungsdefiziten“ und zum anderen eine „Verhaltensänderung“. Dementsprechend bewarb sie in ihrer Kampagne tatsächlich auch zwei Produkte, nämlich zum einen das immaterielle „Produkt, das den Weg für eine Veränderung bereitet […] ‚Information und Aufklärung’”, zum anderen das Produkt „Hörgerät“. Als Zielgruppe ihrer Kampagne wählte Pelz zum ersten die Gruppe der leicht- bis mittelgradig Schwerhörigen ohne Hörgerät im Alter von 50 bis 65 Jahren, weil in diesem Alter einerseits die Prävalenz von Schwerhörigkeit steige, die Personen andererseits aber die entstandenen Defizite ignorierten und eine Hörgeräteversorgung hinauszögerten. Zum zweiten richtete sich die Kampagne auch an die Kontaktpersonen der Betroffenen, weil diese großen Einfluss auf die Einstellung und das Verhalten der Betroffenen hätten. Der zu kommunizierende Gedanke lautet im Ergebnis des Forschungsüberblicks und der vorgestellten empirischen Erhebung folgerichtig „Hörgeräte machen weder behindert noch alt“. Obwohl für eine langfristig wirksame Einstellungsänderung ein Kommunikationsmix empfehlenswert gewesen wäre, musste sich Pelz im Rahmen ihrer Dissertation für die Umsetzung ihrer Werbemaßnahme auf ein Medium beschränken. Der nur für die Zwecke der Studie kreierte Plakatentwurf der Agentur Neon vs. Bambi der fiktiven Werbekampagne zeigt eine natürlich wirkende Frau Mitte Dreißig, neben der die vier Wörter Mutter, Krankenschwester,Volleyballerin und Hörgeräte-Trägerin stehen. Die Wahrnehmung der Betroffenen, dass Schwerhörigkeit und Hörgeräte eine Behinderung darstellen, wurde so positiv verneint. Allerdings widersprachen die Ergebnisse der Kampagne den am Beginn der Arbeit als Kausalkette angenommenen zwei Schritten von der Bekämpfung des Stigmas hin zur erhöhten Akzeptanz von Hörgeräten. Sie ließen die vermutete Kausalität vielmehr unversehens als Gegensatz erscheinen. Gegen Stigmatisierung angehen oder Versorgung realisieren? „Der Hinweis, dass Hörgeräte kaum sichtbar sind, widerspricht zunächst AUDIO INFOS N° 78 dem Gedanken, dass der Abbau des Stigmas vor allem durch offensichtliches Tragen von Hörgeräten erreicht werden kann“. Nach Pelz' Meinung handele es sich aber dabei nicht um einen Gegensatz, sondern diese kommunizierte Botschaft resultiere vielmehr aus der empirischen Erkenntnis, dass die beschriebene Kausalkette von der Bekämpfung des Stigmas hin zur erhöhten Akzeptanz von Hörgeräten höchstens in beide Richtungen funktioniere. Statt also abstrakt gegen das Stigma anzugehen und so die Betroffenen zu einer Verhaltensänderung — d.h. einer Versorgung — zu bringen, müsse man konkret das Hörgerät als geeignete Lösung präsentieren. Dabei spielt besonders die Optik der Geräte eine Rolle, da häufig nur diffuse oder sehr alte Vorstellungen von Geräten existierten. So wird über eine Erhöhung der Versorgungsquote wiederum das Stigma reduziert, da Versorgte nach der Eingewöhnung ihre Geräte selbstbewusst und selbstverständlich tragen und deren Vorzüge kennen und schätzen gelernt haben. Solange Hörgeräte von Betroffenen wie Nichtbetroffenen als Prothesen angesehen werden, bleiben sie Symbol des Doppelstigmas Schwerhörigkeit. ■ ■ Fazit Mit ihrer Studie stellt Pelz das Stigma Schwerhörigkeit als in seiner Relevanz für die niedrige Versorgungsquote mit Hörgeräten gleichbedeutend neben technische Defizite und die hohen Kosten. Nachdem sie die Altersgruppe der 58-67-jährigen als wichtige Zielgruppe ausgewiesen hat, müssen sich weitere Kampagnen aber wegen der zunehmenden Lärmschwerhörigkeit bereits im Kinder- und Jugendalter nun verstärkt auch an jüngere Altersgruppen wenden.Ausgehend von Pelz' Ergebnissen sind hier weitere zielgruppenorientierte Kommunikationsmaßnahmen zu realisieren.(5) Zusammenfassend rechtfertigen ihre Ergebnisse die Fokussierung der Studie auf das Stigma Schwerhörigkeit. Die Dissertation ist aus zwei Gründen wichtig: Erstens zeigt sie auf wissenschaftlicher Basis Methoden zur Erreichung einer möglichst hohen Versorgungsquote. Zweitens wird so die Forschungs- und Erkenntnislage nicht ausschließlich von Überblicksarbeiten angelsächsischer Provenienz dominiert. Der Autorin und der Branche bleibt nur zu wünschen, dass sich Pelz' Hoffnung erfüllt und „die Industrie und die Verbände die Ergebnisse dieser gut lesbaren und fundierten Arbeit in ihre zukünftigen Aktionen miteinbeziehen und diese so zu einer sinnvollen Verwendung der Ergebnisse in der Hörgerätebranche beiträgt.“ Hervorzuheben ist auch die durchweg gefällige Gestaltung des Buches mit vielen farbigen Grafiken und Abbildungen. Michael Dahnke (1) Corinna Pelz: „Das Stigma Schwerhörigkeit. Strategien und empirische Studien zur Verbesserung der Akzeptanz von Hörgeräten“. Heidelberg}Median. 2007. (2) Sie beginnt mit der repräsentativen Bevölkerungsumfrage des Allensbacher Instituts Ende der Siebziger und der darauf reagierenden, umfassenden Studie des Deutschen Grünen Kreuzes 1984/1985, bis hin zur Umfrage des Forums Besser Hören in Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut TNS-Emnid in der Altersgruppe 45 plus von 2005 (3) D.h., sie bezieht die Anzahl der mono- und binauraul Versorgten einmal auf die Gesamtbevölkerung (Versorgungsquote I), einmal auf alle Hörgeschädigten (Versorgungsquote II) und einmal auf die Versorgungsbedürftigen (Versorgungsquote III) (4) Den „verkürzten Versorgungsweg” erwähnt die Autorin nur kurz (5) Dass das Thema der Lärmschwerhörigkeit bereits in jungen Jahren seit mindestens zwanzig Jahren an Brisanz gewinnt, zeigen auch ältere Zahlen, verwiesen sei hier nur auf eine frühere Studie des Umweltbundesamtes, in welcher der damalige Forschungsstand dokumentiert wird: Wolfgang Babisch: Schallpegel in Diskotheken und bei Musikveranstaltungen. Teil I, Gesundheitliche Aspekte. o.O., o.J. [vermutl. 2000]. Herunterladbar unter http://www.apug.de/archiv/pdf/DISKO_1.pdf AUDIO INFOS N° 78