PANORAMA Psychopathologie der Zeitlichkeit Der Berliner Philosoph Christian Kupke im Porträt Die in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts entstandene Forschungsrichtung der Psychopathologie des zeitlichen Erlebens erhält mit einer Studie von Christian Kupke: „Der Begriff Zeit in der Psychopathologie“ neue Impulse. Die Untersuchung wurde Ende 2008 von der Jury des Referates „Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie“ der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde mit dem von der Janssen-Cilag GmbH gestifteten Preis für Philosophie in der Psychiatrie prämiert. Könnte man der Zeit, in der man lebt, eine Diagnose stellen, etwas, das Viktor E. Frankl mit dem Begriff der „Pathologie des Zeitgeistes“ ausgedrückt hat, dann müsste man die Gegenwart wahrscheinlich als jene Epoche bezeichnen, in der die Zeit abhanden gekommen ist. Wir haben die Uhr erfunden und die Zeit verloren. Wir haben keine Zeit mehr. Vielleicht ist das sogar ein Kausalverhältnis: Weil wir die Zeit messen und einteilen, ist uns die Gelassenheit, das Sein- und Sich-Einlassen, die Kunst des Verweilens abhanden gekommen. Weil wir nicht mehr verweilen können und ein Termin den anderen jagt, erleben wir in der Postmoderne die Zeit als durchlöchert, die „Zeit hat ihren Duft“ verloren1. Doch was ist die Zeit? Diese Frage hat das Abendland seit jeher in Atem gehalten. Von Aristoteles bis Heidegger und darüber hinaus beschäftigten sich die großen Philosophen mit dem Zusammenhang von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, wenn auch nicht jede Antwort so ausfiel wie die von Aurelius Augustinus: „Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht; …“ (Augustinus2). In der Bibliothek zu Hause: Christian Kupke (rechts) und Ulf Heuner (links) 66 SPECTRUM PSYCHIATRIE 4/10 Phänomenologie des Zeitbewusstseins Noch schwieriger als auf die Frage zu antworten „Was ist die Zeit?“ scheint diejenige Antwort zu sein, die sich der Berliner Philosoph und Zeit-Psychopathologe Christian Kupke, Vorstandsmitglied und der Mitbegründer der „Gesellschaft für Philosophie und Wissenschaften der Psyche“ (GPWP), in seinem neuen Buch3 stellt. Nämlich: Wie lässt sich das Erleben der Zeit, das Sein in der Zeit bei den unterschiedlichsten psychopathologischen Störungen beschreiben? Was ist die spezifische Störung des Zeiterlebens, des In-der-Zeit-Seins bei der Depression, der Manie und der Schizophrenie? Um diese Frage genauer als bisher zu beantworten, eine Frage, welche bereits die erste (E. Straus, V. E. v. Gebsattel, L. Binswanger und E. Minkowski) und zweite Generation der Zeit-Psychopathologen (H. Tellenbach, A. Kraus, W. Blankenburg und M. Theunissen) beschäftigte, greift Christian Kupke auf die Untersuchungen des Philosophen Edmund Husserl zurück. Husserl beschreibt in seiner „Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins“4, wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander spielen. Eine Melodie, das ist das Beispiel, das Husserl zur Verdeutlichung des Problems wählt, wird darum nicht als Abfolge von unzusammenhängenden Tönen, sondern als eine Sinnganzheit wahrgenommen, weil FOTO: MARLEN WAGNER Was ist das, die Zeit? Dr. Martin Poltrum Koordinator der Anton-Proksch-Akademie Anton-Proksch-Institut, Wien durch das „innere Zeitbewußtsein“ eine Verknüpfung zwischen den aktuellen, den bereits verklungenen und den noch zu hörenden Tönen hergestellt wird. Mit dem ersten gehörten Ton (Urimpression) und jedem weiteren Ton, der „soeben“ und „gerade nicht mehr“ zu hören ist, aber in einem „zurückgehaltenen NochBewußtsein“ präsent ist (Retention), entsteht bei der Melodiewahrnehmung bereits ein Erwartungshorizont (Protention) für kommende Töne5. Diese von Husserl beschriebene Sinnganzheit des „inneren Zeitbewußtseins“, die auch für das sinnvolle Denken und Sprechen verantwortlich ist, das Ineinander-VerschlungenSein von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, dient Kupke als Maßstab, um das Zeiterleben von psychisch Kranken genauer als bisher voneinander zu unterscheiden. Zeiterleben bei Depression, Manie und Schizophrenie Es geht Kupke nicht nur um das Tempo der Zeitwahrnehmung, das bei Manikern beschleunigt und bei Depressiven verlangsamt ist, sondern darum, wie psychopathologisch Beeinträchtigte Vergangenheit und Zukunft qualitativ in ihrem gegenwärtigen Erleben aufeinander beziehen. Die für die Depression charakteristische Denkhemmung, die das Denken verlangsamt, verarmen, einsilbig und thematisch eng werden lässt, kann man mit der Fixierung des Depressiven auf seine Vergangenheit begründen, so Kupke. „Die Vergangenheit hat bei Depressiven ein ganz großes Gewicht. Depressive sind ganz stark auf die Vergangenheit bezogen, die Zukunft ist ihnen verdunkelt, sie können nicht voranschreiten“6 und sich kaum auf die Zukunft hin entwerfen. Der Depressive erlebt darum alles verlangsamt, weil er von seiner Vergangenheit nicht mehr loskommt, er klebt an den traurigen Vorkommnissen seiner Gewesenheit7. Bei der Manie ist es umgekehrt, für „Maniker rast die Zeit, weil sie ständig in eine illusionäre Zukunft fliehen, sie wollen ständig neue Sensationen erleben“7. Der Maniker reiße sich von seiner Ver- Tizian, „Allegorie der Zeit“ – Allegorische Darstellung des Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und zugleich der Lebensalter: Der Greis (Vergangenheit) blickt zurück, der Jüngling (die Zukunft) nach vorne; nur der Mann (die Gegenwart) hat sein Gesicht dem Betrachter zugewandt. (Quelle: Wikipedia) gangenheit los, überfrachte sein Denken mit Einfällen (Ideenflucht), er habe das Gefühl „er sei frei, könne alle möglichen Lebensentwürfe machen und diese seien für ihn ohne jedes Hindernis realisierbar“6. Während bei den affektiven Erkrankungen die Balance im inneren Zeitbewusstsein nur verschoben, aber noch nicht aufgelöst ist, sorgt der Denkzerfall bzw. die Denkdissoziation bei der Schizophrenie für die Dissonanz zwischen Urimpression, Retention und Protention. Ein an Schizophrenie Erkrankter hat z. B. große Schwierigkeiten, einen Satz zu vollenden, bzw. große Probleme, ganzen Gedankengängen zu folgen, also genau die Integrationsleistung zu vollbringen, die normalerweise das „innere Zeitbewußtsein“ leistet. Depressive und manische Patienten haben diese Schwierigkeit nicht, sie sind verlangsamt oder angetrieben, aber die Sinnganzheit und das Zusammenspiel der „drei Zeitekstasen“8, 9 im „inneren Zeitbewußtsein“ funktioniert im Prinzip problemlos. Bei Schizophrenen komme es zu einem Riss zwischen Vergangenheit und Zukunft, so Kupke. Es scheint, dass ihr retentionales und protentionales Bewusstsein zerstört ist. „Sie vergessen, was sie vorher gedacht haben oder sagen wollen. Ihre Gedanken reißen ab. Daher werden sie nicht nur für andere Menschen unverständlich, sondern sie werden sich auch selber fremd. Oft glauben Schizophrene daher von fremden Gedanken heimgesucht und gesteuert zu werden.“6 Für den Zeit-Psychopathologen Kupke ist der bei Schizophrenen hin und wieder zu findende Glaube, von fremden Gedanken gesteuert zu werden, nicht nur irrational, sondern so etwas wie ein „verzweifelter Erklärungsversuch“, den sich die Patienten für ihre Störung geben. „Sie bemerken, dass sie nicht mehr Herr ihres ureigensten inneren Zeiterlebens sind. Also erscheint es logisch zu denken, dass ein fremder Geist in ihnen ist, der sie beherrscht.“6 Parodoi – Seiteneingänge – in die Psychiatrie Christian Kupke, der durch eine breite Rezeption seiner Studie hoffentlich die dritte Generation der Zeit-Psychopathologie einläutet, hat auf sehr eindrückliche und akribische Weise gezeigt, wie abstrakte philosophische Ideen sinnvoll auf psychiatrische Probleme angewendet werden können. Ein Anliegen, das er mit seinem Verleger Ulf Heuner, dem Inhaber des Berliner Parodos Verlag, teilt, zu dessen Schwerpunkten die Zusammenarbeit verschiedener Wissenschaften der Psyche gehört. Der Parodos Verlag hat u. a. mehrere Bände der Schriftenreihe der Gesellschaft für Philosophie und Wissenschaften der Psyche herausgebracht und arbeitet eng mit dem Referat Philosophie der DGPPN zusammen. Siehe dazu: www.parodos.de ■ 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Byung-Chul Han, Der Duft der Zeit. Zur Kunst des Verweilens, Transcript Verlag: Bielefeld, 2009 Augustinus A, Confessiones, Bekenntnisse, lat./dt. Übers., hrsg. und komm. v. K. Flasch u. M. Burkhard, Reclam Verlag. Zitat aus: Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus, Buch XI, Kapitel 14, Übersetzung von Otto F Lachmann, Leipzig: Reclam 1888 Kupke C, Der Begriff Zeit in der Psychopathologie, Parodos: Berlin, 2009 Husserl E, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, in: Edmund Husserl, Gesammelte Werke, Husserliana Band X., hrsg. v. R. Boehm, Den Haag, 1966 Prechtl P, Husserl zur Einführung, Junius Verlag: Hamburg, 1991, S. 79 Kupke C, Interview mit Christian Kupke zum Buch „Der Begriff Zeit in der Psychopathologie“ auf SWR 2, 2010; siehe dazu den Audiolink auf: http://www.parodos.de Kupke C, Die andere Zeit des melancholischen Leidens. Ein philosophischer Beitrag zur Psychopathologie, in: Heinze M et al. (Hg.), Das Maß des Leidens. Klinische und theoretische Aspekte seelischen Krankseins, Königshausen und Neumann: Würzburg 2003, 79-112 Heidegger M, Sein und Zeit, Max Niemeyer Verlag: Tübingen, 1927 Heidegger M, Zeit und Sein, 1962; in: ders.: Zur Sache des Denkens, Max Niemeyer Verlag: Tübingen 1988 4/10 SPECTRUM PSYCHIATRIE 67