Wettbewerbsbeitrag

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Dr. Philip Bittihn
Chaos im Herzen
Herzrhythmusstörungen aus physikalischer Sicht - neue Perspektiven für eine alternde
Gesellschaft?
Der vorliegende Beitrag wurde beim Deutschen Studienpreis 2014 mit einem 2. Preis in der
Sektion Naturwissenschaften ausgezeichnet. Er beruht auf der 2013 an der Georg-AugustUniversität Göttingen eingereichten Dissertation »Complex Structure and Dynamics of the
Heart« von Dr. Philip Bittihn.
Bittihn: Chaos im Herzen
Deutscher Studienpreis 2014
Chaos im Herzen
Herzrhythmusstörungen aus physikalischer Sicht –
neue Perspektiven für eine alternde Gesellschaft?
Dr. Philip Bittihn
Sinkende Geburtenraten in den Industrieländern und eine – zumindest durchschnittlich – weltweit
steigende Lebenserwartung haben dazu geführt, dass die Weltbevölkerung altert und damit chronische
Krankheiten, die vor allem bei älteren Menschen auftreten, die Rangliste der weltweiten Todesursachen
inzwischen dominieren. Laut Weltgesundheitsorganisation war die führende Todesursache 2011 die
koronare Herzkrankheit, bei der Teile des Herzmuskels an einer Sauerstoffunterversorgung leiden. Akut
manifestiert sich diese Grunderkrankung meistens durch den sogenannten plötzlichen Herzstillstand
(beispielsweise nach einem Herzinfarkt), bei dem das Herz in einen Zustand verfällt, in dem es die
Fähigkeit, den Kreislauf durch regelmäßiges Pumpen von Blut aufrechtzuerhalten, vollständig verliert.
Allerdings ist dieser Zustand nicht, wie man zunächst vermuten könnte, identisch mit der bloßen
Abwesenheit eines Herzschlages. Im Gegenteil ist das Herz ungewöhnlich aktiv, jedoch in ungeordneter,
chaotischer Art und Weise, sodass es keine Pumpkraft entwickelt. Medizinisch wird dieser Zustand als
ventrikuläre Fibrillation oder Kammerflimmern bezeichnet. Die Folgen des Kreislaufstillstandes sind
Bewusstlosigkeit binnen weniger Sekunden und eine innerhalb weniger Minuten einsetzende Schädigung
des Gehirns. Nach zehn Minuten ohne Hilfemaßnahmen ist die Überlebenswahrscheinlichkeit auf nahezu
null
gesunken.
Während
der
plötzliche
Herztod
auch
durch
Erste-Hilfe-Maßnahmen
wie
Herzdruckmassage nur um wenige Minuten verzögert werden kann, bietet die sogenannte Defibrillation
die einzige Möglichkeit, das Kammerflimmern mithilfe eines kurzen, sehr hochenergetischen
Elektroschocks zu beenden und so dem Herzen wieder zu einem geordneten Rhythmus zu verhelfen.
Trotzdem fordert der plötzliche Herztod durch Kammerflimmern in der Europäischen Union jedes Jahr
schätzungsweise 500.000 Menschenleben. Die inzwischen erkannte gesellschaftliche Relevanz zeigt sich
auch dadurch, dass in den vergangenen Jahren versucht wurde, die Zahl der Todesfälle durch die
Bereitstellung von automatischen Defibrillatoren, die auch von Laien bedient werden können, an stark
frequentierten Orten wie öffentlichen Plätzen, Stadien, Bahnhöfen, Flughäfen etc. zu vermindern. Denn
auf der Zeitskala des plötzlichen Herztodes trifft ein Krankenwagen mit der entsprechenden Ausrüstung
in der Regel sehr spät oder zu spät ein. Wird nach einem Herzinfarkt oder aufgrund anderer Diagnosen
das Risiko für lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen hoch eingeschätzt, wird dem Betroffenen
deshalb heutzutage ein sogenannter implantierbarer Kardioverter-Defibrillator (ICD) eingesetzt, der die
Herzaktivität fortlaufend überwacht und im Ernstfall sofort einen Elektroschock applizieren kann.
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Bittihn: Chaos im Herzen
Deutscher Studienpreis 2014
ICDs bringen jedoch zwei wesentliche Probleme mit sich: Erstens stellt sich die Frage, welchen Patienten
überhaupt ein ICD eingesetzt werden soll. Dabei scheint die aktuelle Risikobewertungsstrategie ob der
vielen Todesopfer nicht ausreichend zu sein, zumal zwei Drittel der vorsorglich implantierten ICDs
niemals aktiv werden. Offensichtlich sind also die Prozesse, die zum Kammerflimmern führen, für eine
zuverlässige Prognose noch nicht in genügendem Maße verstanden. Zweitens werden bei der
Schockabgabe durch einen ICD ungeheure Energien in sehr kurzer Zeit frei. Ob dadurch
Gewebeschädigungen im Herzmuskel verursacht werden können, die das Risiko für zukünftige
Herzrhythmusstörungen weiter erhöhen, ist zwar nicht abschließend geklärt und wahrscheinlich auch
nicht für jeden Defibrillationsversuch gleich zu beantworten. Allerdings wird die Prognose von Patienten
mit Vorerkrankungen wie Herzinsuffizienz durch die hochenergetischen ICD-Schocks verschlechtert.
Hinzu kommt, dass die elektrischen Stromstöße traumatische Schmerzen verursachen können, sofern
der Träger des Implantats noch bei Bewusstsein ist. Dies ist insbesondere problematisch bei fehlerhaft
abgegebenen Entladungen und zieht ernste psychologische Konsequenzen wie Angstzustände nach sich,
die die Lebensqualität der Betroffenen in großem Maße einschränken. Nachdem in den Anfängen der
Defibrillation die nötigen Schockenergien durch technische Optimierungen noch deutlich vermindert
werden konnten, scheint eine weitere Energiereduktion, die zu erträglicheren Schmerzen oder sogar
Schmerzfreiheit führen würde, nach einem Jahrzehnt nahezu erfolgloser Anstrengungen unmöglich,
solange das aktuelle Wirkprinzip des Defibrillators beibehalten wird.
Man muss bedenken, dass die konventionelle Defibrillation durch externe Geräte oder ICDs täglich
unzähligen Menschen mit akutem Kammerflimmern das Leben rettet. Daher fällt die Risiko-/NutzenAbwägung trotz der oben genannten Probleme natürlich heute klar zugunsten des Einsatzes von
Defibrillatoren aus. Allerdings besteht gerade wegen der erheblichen Nebenwirkungen weiterhin ein
großer medizinischer Bedarf, der jedoch derzeit von keinem medizintechnischen Gerät gedeckt werden
kann, insbesondere da eine pharmakologische Alternative nicht existiert.
Empirisches Wissen über die Defibrillation
Das bisherige Verständnis der klassischen Defibrillation ist größtenteils phänomenologischer Natur.
Obwohl die erste erfolgreiche Defibrillation eines Menschen durch Claude Beck bereits mehr als 60 Jahre
zurückliegt, sind die Grundannahmen, mit denen der Erfolg der Methode erklärt wird, weitgehend
unverändert geblieben: Normalerweise löst ein spezialisierter Bereich des Herzmuskels – der sogenannte
Sinusknoten im rechten Vorhof – eine geordnete Abfolge von Kontraktionen der Herzkammern aus, die
zusammen einen Herzschlag ergeben. Danach entspannt sich der Muskel und wartet auf das Startsignal
aus dem Sinusknoten für den nächsten Herzschlag. Während des Kammerflimmerns ziehen sich
verschiedene Teile des Herzmuskels unkoordiniert und in schneller Abfolge zusammen – der Muskel
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Bittihn: Chaos im Herzen
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„zittert“ lediglich, und das Signal des Sinusknotens dringt nicht durch. Der starke elektrische Impuls der
klassischen Defibrillation sorgt nun dafür, dass diese Aktivität auf einen Schlag beendet wird. Das Herz
entspannt sich danach zunächst, und der normale Rhythmus kann wieder einsetzen.
Dass man die Aktivität des Herzmuskels überhaupt durch elektrische Stimulation beeinflussen kann, ist
insofern plausibel, als man spätestens seit den Forschungsergebnissen des 19. Jahrhunderts, die
letztendlich zur Entwicklung des Elektrokardiogramms (EKG) durch Einthoven führten, weiß, dass die
Koordinierung der Herzaktivität durch elektrische Signale erfolgt. Allerdings sind die genauen
Mechanismen, die dazu führen, dass die unerwünschte Aktivität des Herzmuskels durch den starken
Stromstoß unterbunden wird, auch heute noch umstritten. Zahlreiche empirische Studien haben jedoch
nachgewiesen, dass eine gewisse Mindestfeldstärke des elektrischen Schocks erforderlich ist, um
Kammerflimmern zuverlässig zu beenden – die sogenannte Defibrillationsschwelle. Um diese zu
erreichen, fließt bei der Anwendung eines externen Defibrillators typischerweise ein Strom von mehreren
Ampère bei einer Spannung von 1000 Volt für eine Zeit von 10 Millisekunden. Mögliche Ansatzpunkte zur
Entwicklung von sanfteren elektrischen Therapien sind unter Beibehaltung dieses Paradigmas kaum
erkennbar, da die Notwendigkeit eines hochenergetischen Schocks im Prinzip vorausgesetzt wird und
der Grund des Scheiterns unterhalb der Defibrillationsschwelle nicht erkennbar und damit auch nicht
behebbar ist.
Um die Situation der Risikopatienten zu verbessern, ist also ein Paradigmenwechsel erforderlich. Dazu
muss einerseits die Natur der Herzrhythmusstörungen genauer charakterisiert werden: Welche
Bedingungen begünstigen ihre Entstehung? Was stabilisiert oder destabilisiert sie? Welche Faktoren
machen sie schwerer oder leichter kontrollierbar? Um diese Erkenntnisse nicht nur für eine bessere
Risikoabschätzung, sondern auch zur Therapie einzusetzen, ist es andererseits notwendig, ein
grundlegendes Verständnis der Kontrollmechanismen zu entwickeln, mit denen die Herzaktivität über
elektrische Felder beeinflusst werden kann. Was lösen elektrische Felder im Herzmuskelgewebe aus? Wie
verändern sich die Effekte mit der Stärke des Schocks? Beide Aspekte wurden in der Dissertation
behandelt – unter Einsatz theoretischer, computergestützter und experimenteller Methoden. In einer
ersten Studie konnte gezeigt werden, dass mithilfe der untersuchten Prinzipien eine Defibrillation mit
rund einem Zehntel der bisherigen Energie tatsächlich möglich ist, wodurch sich die drastischen
Nebenwirkungen der konventionellen Defibrillation potenziell vermeiden lassen.
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Bittihn: Chaos im Herzen
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Kammerflimmern, chemische Reaktionen und soziale Amöben
In den letzten Jahrzehnten ist das Wissen um die Funktionsweise des Herzmuskels stetig angewachsen.
Aufbauend auf den Pionierleistungen von Hodgkin und Huxley, die als Erste eine quantitative Erklärung
für die elektrische Signalleitung in Nervenfasern liefern konnten, ist auch der prinzipielle Aufbau des
Herzens mithilfe detaillierter Untersuchungen der elektrophysiologischen Eigenschaften einzelner
Herzmuskelzellen und des Herzmuskels als Ganzem systematisch entschlüsselt worden: Jede einzelne
Zelle ist dazu fähig, ein sogenanntes Aktionspotenzial auszuführen. Dabei handelt es sich um einen
elektrischen Vorgang, der sich auf der Zeitskala von Millisekunden abspielt und auf der Verschiebung von
Ladungen durch die Zellmembran beruht. Ein Aktionspotenzial zeichnet sich durch einen
charakteristischen Verlauf der Transmembranspannung aus, die je nach Spezies und Zelltyp nach einigen
zig bis einigen Hundert Millisekunden wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt, und kann durch eine
elektrische Stimulation ausgelöst werden, sofern diese einen gewissen Schwellenwert überschreitet. Im
Verlauf des Aktionspotenzials wird auch die Kontraktionsmaschinerie der Zelle aktiviert, die letztendlich
dafür sorgt, dass der Herzmuskel seine Pumpfunktion erfüllen kann. Das aktive Gewebe des Herzens
besteht nun aus einem ganzen Verbund solcher Zellen, die untereinander gekoppelt sind: Das
Aktionspotenzial einer Zelle kann Nachbarzellen stimulieren und auch dort ein Aktionspotential auslösen.
Abgesehen von speziellen Nervenfasern, die die vom Sinusknoten ausgehenden elektrischen Signale an
bestimmte Punkte in den Kammern weiterleiten und dort so eine initiale Aktivierung auslösen, breitet
sich die Aktivität im Herzmuskel also wellenartig über das Gewebe aus. Dabei werden
Leitungsgeschwindigkeiten von bis zu einem Meter pro Sekunde erreicht.
Interessanterweise gibt es eine ganze Reihe von Systemen, die zwar auf gänzlich anderen
(bio)physikalischen Grundlagen beruhen, auf einer abstrakten Ebene jedoch ähnliche Charakteristiken
aufweisen. Dabei handelt es sich um die Klasse der sogenannten „erregbaren Medien“. Gemein ist allen
Systemen dieser Klasse, dass sie – wie der Herzmuskel – räumlich ausgedehnt sind, lokal ein aktiver aber
zeitlich begrenzter Prozess angeregt und die Erregung räumlich weitergegeben werden kann. Außerdem
treten die Konstituenten eines erregbaren Mediums nach einer vollzogenen Anregung in eine
Erholungsphase ein, die sogenannte Refraktärphase, in der entweder gar keine Erregung ausgelöst
werden kann oder die Erregungsschwelle signifikant erhöht ist. Erst nach einer gewissen Zeit ist die
Erregbarkeit vollständig wiederhergestellt. Bei der Belousov-Zhabotinsky-Reaktion ist die Erregung ein
chemischer Prozess in einer Flüssigkeit. Die räumliche Kopplung erfolgt durch die Diffusion der
beteiligten Stoffe, und Produkte der Reaktion sorgen für die Refraktärität. Eine Erregung ist dabei
makroskopisch durch eine Farbänderung der Flüssigkeit zu erkennen. Aber auch andere biologische
Systeme verhalten sich als erregbare Medien: Der Einzeller Dictyostelium discoideum kann beispielsweise
über die Ausschüttung von Botenstoffen seine Artgenossen in einer Kolonie dazu anregen, sich zu
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bewegen und dabei räumlich so zu organisieren, dass sich bei Nahrungsknappheit ein multizellulären
Organismus bildet – eine Fähigkeit, die ihm die Bezeichnung soziale Amöbe eingebracht hat. Besondere
Berühmtheit hat die katalytische Oxidation von Kohlenstoffmonoxid an Platinoberflächen erlangt, die bei
der Reinigung von Abgasen erdölbasierter Kraftfahrzeuge abläuft. Unter anderem für die Erkenntnis, dass
diese Reaktion Eigenschaften eines erregbaren Mediums aufweist, mit deren Hilfe bis dahin nicht
verstandene zeitliche Schwankungen der Reaktionsgeschwindigkeit erklärt werden konnten, erhielt
Gerhard Ertl im Jahr 2007 den Nobelpreis für Chemie.
Erkenntnis durch Abstraktion
Eine der Stärken der Physik ist es, Modelle zu entwickeln, die die wesentlichen Eigenschaften der
betrachteten Systeme korrekt wiedergeben, und damit grundlegende Phänomene zu erklären. Dies trifft
in besonderem Maße auf das Gebiet der „komplexen Systeme“ zu. Hierbei ist es nicht unbedingt das Ziel,
jeden Bestandteil des Systems mikroskopisch bis ins Detail zu beschreiben, sondern vor allem Prozessen
a)
b)
c)
Abbildung 1: Erregbare Medien.
Charakteristische Erregungsmuster wie
Spiralwellen a) in der BelousovZhabotinsky-Reaktion (Fotografie); b) in
einer hungernden Kolonie der Amöbe
Dictyostelium discoideium (Differenzbild);
c) bei der CO-Oxidation auf einer
Platinoberfläche (Photoemissionselektronenmikroskopie); d) in Herzmuskelzellkulturen
neonataler
Ratten
(Differenzbild).
d)
Quellen: a), d) C. Richter, MPI für Dynamik
und Selbstorganisation; b) D. Loh, A. Bae,
MPI für Dynamik und Selbstorganisation;
c) G. Ertl, Science (1991)
wie Selbstorganisation und Musterbildung und ihren essentiellen Voraussetzungen auf die Spur zu
kommen. Erregbare Medien sind ein Paradebeispiel für solche abstrakten Beschreibungen: Obwohl die
oben genannten Systeme völlig verschiedenen Bereichen der Natur entstammen, zeigen sie – auf
unterschiedlichsten Skalen – ähnliche raumzeitliche Muster, wie in Abbildung 1 zu erkennen ist. Erregbare
Medien sind dazu fähig, einfache, geordnete Wellenmuster wie Kugelwellen oder ebene Wellen
auszubilden. Komplexere Erregungsmuster sind Spiralwellen, die das Medium typischerweise mit einer
hohen Frequenz anregen. Wenn solche Spiralwellen instabil werden, kommt es zur Ausbildung von
raumzeitlichem Chaos – einem turbulenten Zustand, in dem fortlaufend Spiralwellen ihre Position
ändern, erzeugt und vernichtet werden. Im Herzen kann der normale Rhythmus in den Hauptkammern
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am ehesten mit ebenen Wellen identifiziert werden, die den Muskel einmal komplett durchlaufen, um
ihn zur Kontraktion zu bringen. Während bei der sozialen Amöbe Dictyostelium discoideum Spiralwellen
Teil des normalen Organisationsprozesses sind, liegen diese Erregungsmuster im Herzen pathologischen
Kammertachykardien zugrunde, bei denen der Rhythmus der Hauptkammern aufgrund der
Selbsterregung durch die rotierenden Erregungswellen zu schnell und vom Signal des Sinusknotens
entkoppelt ist (siehe Abbildung 2 links). Das lebensbedrohliche Kammerflimmern entspricht dem
raumzeitlich chaotischen Zustand (siehe Abbildung 2 rechts). Tatsächlich konnte in den neunziger Jahren
experimentell nachgewiesen werden, dass Kammerflimmern, welches im EKG lediglich ein Zittern um die
Nulllinie hinterlässt, raumzeitlich in rotierenden Erregungswellen organisiert ist. Ähnlich wie bei der
Kohlenmonoxid-Oxidation konnte hier also ein bisher unverstandenes Phänomen durch generische
Vorgänge in einem erregbaren Medium erklärt werden.
Abbildung 2: Raumzeitliche
Raumzeitliche Dynamik im HerzHerzmuskel (numerische Simulationen). (Links) Kreisende Erregung (Spiralwelle) in den Hauptkammern eines Kaninchenherzens. (Rechts) Raumzeitlich chaotische, um Spiralwellen organisierte
Erregung eines fibrillierenden Kaninchenherzens
Das Promotionsprojekt wurde daher mit der begründeten Hoffnung begonnen, dass dieser Ansatz noch
weiter trägt und die Untersuchung universeller Mechanismen auch für die Entwicklung neuer
Therapieansätze nützlich sein kann. Ziel der Dissertation war es, aus physikalischer Sicht – d.h. unter
Einbettung in das abstrakte Bild eines erregbaren Mediums – neue Ansätze zur Charakterisierung und
Kontrolle von Herzrhythmusstörungen zu entwickeln.
Elektrische Schocks neu analysiert
Inzwischen befasst sich eine ganze Reihe von Forschungsgruppen weltweit mit den Vorgängen in
erregbaren Medien. Auch zu den Möglichkeiten der Aktivitätskontrolle, die insbesondere für das Herz
relevant wären, gibt es bereits einige Studien. Allerdings stellen sich die bisherigen Vorschläge als nicht
praktikabel heraus, da sie beispielsweise eine gezielte räumlich variierende Veränderung der
Gewebeeigenschaften voraussetzen, die selbst durch pharmakologische Beeinflussung kaum zu
realisieren ist. Davon abgesehen käme diese Art der Behandlung bei akuten, lebensbedrohlichen
Arrhythmien ohnehin nicht infrage. Andere Methoden würden wiederum voraussetzen, dass man das
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Herzgewebe an jedem räumlichen Punkt gezielt und mit vordefinierter Amplitude stimulieren kann. Dies
wäre für die externe Defibrillation gar nicht und für die mittels eines ICD nur unter der unrealistischen
Voraussetzung durchführbar, dass bei der ICD-Implantation unzählige Elektroden in das Herz
eingepflanzt werden, mit unabsehbaren Folgen für die Funktionsfähigkeit des Muskels durch
Vernarbung, Entzündungen und ähnliche Risiken.
Da die etablierte – wenn auch brachiale und mit den oben genannten Nachteilen behaftete – Methode
für die Kontrolle von akuten, lebensbedrohlichen Arrhythmien auf der Anwendung elektrischer Felder
basiert, war der pragmatische Ansatz der Dissertation, zunächst die grundlegenden Effekte von
elektrischen Feldern auf das Herzgewebe näher zu untersuchen und so gleichzeitig die Gründe des
Scheiterns der Defibrillation unterhalb der Defibrillationsschwelle zu ermitteln. Dazu wurden sogenannte
Optical-Mapping-Experimente an Gewebestücken aus Hunde- und Schweineherzen durchgeführt. Mithilfe
von Kameras, die eine Auflösung von bis zu 600 x 800 Bildpunkten bei einer Rate von bis zu 2000 Bildern
pro Sekunde erlauben, konnte die Aktivität des Gewebes auf der Oberfläche detailliert aufgezeichnet
werden. Eine Perfusionsanlage pumpt dabei eine physiologische Lösung zur Aufrechterhaltung des
Metabolismus und einen speziellen Farbstoff zur Sichtbarmachung des Membranpotenzials mittels
Fluoreszenz durch das Gewebe. Mithilfe eines Hochleistungsverstärkers und um das Herzgewebestück
positionierter Elektroden konnte dann eine Stimulation mittels elektrischer Felder beliebiger Amplitude
und Dauer vorgenommen werden. Durch eine Variation der Amplitude von Werten in der
Größenordnung der Defibrillationsschwelle bis hinunter zu Feldern, die keine Aktivierung mehr
hervorzurufen vermögen, konnte damit das ganze Spektrum der möglichen Gewebereaktionen
beobachtet werden. Dabei wurde zunächst mit Gewebestücken gearbeitet, in denen etwaige
Spontanaktivität zuvor beendet worden war, um die Reaktion auf die elektrische Stimulation isoliert zu
analysieren.
Bei diesen Experimenten wurde zunächst beobachtet, dass bei sehr starken elektrischen Feldern, wie sie
für die klassische Defibrillation eingesetzt werden, das gesamte Gewebe innerhalb von ein bis zwei
Millisekunden – also fast simultan – aktiviert wird. Diese Beobachtung befindet sich im Einklang mit dem
oben beschriebenen Bild des konventionellen Defibrillationsmechanismus: Nach dem Schock befindet
sich durch die globale Erregung das gesamte Gewebe in der Refraktärphase. Dadurch können sich vorher
vorhandene Erregungswellen nicht weiter ausbreiten, und unterschiedslos jede Aktivität ist nach
Abklingen der durch den Schock selbst ausgelösten Erregung beendet. Zu niedrigeren Feldstärken hin
veränderte sich die Reaktion des Gewebes. Statt einer abrupten Änderung, wie sie durch den Begriff
„Defibrillationsschwelle“ suggeriert wird, war auf den hochauflösenden Videoaufnahmen allerdings ein
kontinuierliches Verhalten zu erkennen: Die Zeit bis zur Aktivierung des gesamten Gewebes – die
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sogenannte Aktivierungszeit – wuchs mit sinkender Feldstärke, wobei die durch den Puls induzierten
Erregungswellen von bestimmten Punkten im Gewebe auszugehen schienen. Die Anzahl dieser
„Wellenzentren“ nahm mit sinkender Feldstärke ab, bis das elektrische Feld schließlich gar keine
Reaktion mehr hervorrief. Dies war jedoch erst bei um den Faktor 20 kleineren Feldstärken der Fall, was
ungefähr einem Vierhundertstel der Schockenergie für die klassische Defibrillation entspricht.
Heterogenitäten als Wellenzentren
Um das beobachtete Verhalten zu verstehen und nicht zuletzt um sicherzustellen, dass es nicht dabei
nicht nur um Artefakte aufgrund der künstlichen Umgebung unter Experimentierbedingungen handelt,
musste eine Erklärung für die scheinbar willkürlich angeordneten Punkte auf der Oberfläche des
Herzgewebestücks gefunden werden, von denen die induzierten Erregungswellen ausgehen. Eine Idee
dafür lieferten theoretische Studien aus den neunziger Jahren, die gezeigt haben, dass räumliche
Schwankungen der Gewebeleitfähigkeit überhaupt erst ermöglichen, dass ein homogenes elektrisches
Feld die Transmembranspannung des Gewebes verändert. Die größtmögliche Schwankung der
Leitfähigkeit ergibt sich, wenn die Erregungsleitung abrupt unterbrochen wird, d.h. ein Stück leitendes
Gewebe direkt an eine nicht leitende Region grenzt. Dies ist zum Beispiel für die Grenzflächen von
Blutgefäßen der Fall oder auch für die Ränder des Gewebes selbst.
Blutgefäße aller möglicher Größen – von einigen Mikrometern bis zu Millimetern – durchziehen das
Herzgewebe als verästelte Struktur, um es mit Sauerstoff und Nährstoffen zu versorgen (siehe Abbildung
3). Dabei unterbrechen sie das erregbare Medium des Herzmuskels, was im Querschnitt zu kreisförmigen
„Löchern“ im Gewebe führt. Von diesen Heterogenitäten ist bereits bekannt, dass sie die
Transmembranspannung unter Einfluss von elektrischen Feldern abhängig von ihrer Größe
unterschiedlich stark beeinflussen. Könnte es sein, dass sie für die beobachteten Wellenzentren
verantwortlich sind?
Abbildung 3: Struktur des Gefäßbaums.
Dreidimensionale Visualisierung der verzweigten Blutgefäße im Muskelgewebe der
Hauptkammern eines Hundeherzens auf der
Grundlage eines Mikrocomputertomografie-Scans.
Quelle: M. L. Riccio (Cornell University µCT
Facility for Imaging and Preclinical Research) und F. H. Fenton (Cornell University)
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Bittihn: Chaos im Herzen
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Eine methodische Schwierigkeit bei der Überprüfung dieser Hypothese bestand darin, dass es sich bei
Herzmuskelgewebe um ein dreidimensionales erregbares Medium handelt und die meisten der
Blutgefäße in seinem Inneren verlaufen. Durch optische Messverfahren ist es aber nur möglich, die
Aktivität an der Oberfläche des Muskels zu beobachten. Der genaue Ursprung der beobachteten Aktivität
lässt sich tief im Gewebe also nicht direkt verorten und damit auch nicht mit der Position von
Blutgefäßen korrelieren. Allerdings lässt sich die anatomische Struktur des Herzmuskels nachträglich sehr
wohl mit etablierten bildgebenden Verfahren wie der Computertomografie rekonstruieren. Daher wurde
in der Dissertation ein abstraktes Modell entwickelt, das dazu in der Lage ist, aus einer gegebenen
Größenverteilung kreisrunder Heterogenitäten die räumliche Dichte der erwarteten Wellenzentren und
damit auch die Aktivierungszeit des gesamten Gewebes für jede beliebige Feldstärke vorherzusagen.
Dabei stellt sich heraus, dass die gemessene Zunahme der Aktivierungszeit mit sinkender Feldstärke
hervorragend mit der durch dieses Modell vorhergesagten übereinstimmt, wenn man die experimentell
bestimmte Größenverteilung der Blutgefäße als Grundlage annimmt. Das bedeutet, dass die
anatomische Struktur des Herzmuskels selbst für die Aktivierungsdynamik, die durch einen elektrischen
Schock ausgelöst wird, verantwortlich ist.
Wellenzentren als Kontrollpunkte für die NiedrigenergieNiedrigenergie-Defibrillation
Die Information, welche Eigenschaften des Herzmuskels die Reaktion des Gewebes auf eine elektrische
Stimulation niedrigerer Intensität bestimmen, ist sehr wertvoll, da der Erfolg schonenderer
Defibrillationsmethoden von der Zuverlässigkeit dieses Mechanismus abhängt. Aufgrund der
gewonnenen Erkenntnisse kann man nun davon ausgehen, dass die charakteristische Abhängigkeit der
Anzahl und die räumliche Verteilung der Wellenzentren ein universelles Phänomen ist, das es erlaubt,
mittels geeigneter Wahl der Feldstärke mit einem elektrischen Impuls an beliebig vielen Orten im
gesamten Herzen Erregungswellen zu induzieren. Im Prinzip hat man also die Möglichkeit, mit einem
globalen Eingriff über ein elektrisches Feld den Effekt einer wählbaren Anzahl über das gesamte Gewebe
verteilter Elektroden zu imitieren, ohne, dass diese physikalisch implantiert werden müssen. Damit
erreicht man eine nicht invasive Multi-Punkt-Stimulation.
Wenn man davon ausgeht, dass die gleichen Mechanismen auch während der Stimulation des Muskels
bei
der
Defibrillation aktiv
sind, bedeutet
dies, dass das Unterschreiten der
klassischen
Defibrillationsschwelle dem Unterschreiten einer kritischen Dichte an Stimulationspunkten entspricht.
Der vorhandenen chaotischen Aktivität während des Kammerflimmerns bleibt also genug erregbares
Gewebe, um weiterhin zu existieren. Dass dieses Problem schon bei immer noch relativ hohen
Schockenergien – also nur kleinen, nicht abgedeckten Bereichen – auftritt, liegt an den topologischen
Eigenschaften, die Spiralwellen in erregbaren Medien eine besondere Stabilität verleihen und dazu
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führen, dass ihre Rotationszentren zwar relativ einfach verschoben, aber nur durch Kollision mit dem
Rand des Mediums oder einem globalen Eingriff ganz eliminiert werden können.
Der konstruktive Nutzen dieses neuen Erklärungsansatzes für die Vorgänge während der Defibrillation
besteht nun darin, dass er sich mit Erkenntnissen anderer Forscher zur Kontrolle von Fibrillationen und
von Spiralwellenaktivität in generischen erregbaren Medien elegant kombinieren ließ: So war aus
Experimenten an Hunden mit Vorhofflimmern bereits bekannt, dass sich mittels lokaler Stimulation von
einer Elektrode aus ein begrenztes räumliches Gebiet auch während des Flimmerns kontrollieren lässt.
Voraussetzung dafür ist, dass die Stimulation aus einer periodischen Pulsfolge besteht, deren Frequenz
ein wenig höher als die dominante Frequenz des Flimmerns ist. Auch in anderen erregbaren Medien ist
die Verdrängung von Spiralwellenaktivität durch hochfrequente lokale Stimulation beobachtet worden.
Der Grund hierfür liegt in der besonderen Natur der Erregungswellen, die sich aufgrund der
Refraktärgebiete im Rücken jeder Welle bei Kollision gegenseitig auslöschen.
Durch eine gleichzeitige periodische Stimulation von vielen verschiedenen, über das gesamte Gewebe
verteilten Orten sollte es also gelingen, die chaotischen Erregungsmuster komplett zu verdrängen. Durch
die oben beschriebene Multi-Punkt-Stimulation sollte dies problemlos möglich sein, indem man mehrere
aufeinanderfolgende Schocks mit niedriger Energie abgibt und damit die entstehenden Wellenzentren
als virtuelle Stimulationselektroden verwendet. Dieses Low-Energy Anti-Fibrillation Pacing (LEAP)
genannte Verfahren wurde sowohl für Vorhofflimmern an lebenden Hunden als auch an isoliertem,
perfundiertem Hauptkammer- und Vorhofgewebe getestet (wie bei den oben beschriebenen
Mechanismus-Untersuchungen). Dazu wurde in dem jeweiligen Gewebe durch schnelle Punktstimulation
zunächst Kammer- oder Vorhofflimmern erzeugt, das auch nach Beendigung der Stimulation andauerte.
Die Defibrillation fand dann entweder klassisch durch einen einzelnen Puls oder durch mehrere Pulse
mittels LEAP statt. Die für eine erfolgreiche Defibrillation mittels LEAP benötigten Energien waren
durchschnittlich 80% bis 90% geringer als die für die konventionelle Einzelpulsdefibrillation. Diese
Ergebnisse übertreffen nicht nur jegliche durch das klassische Defibrillationsschwellen-Paradigma
begrenzten Erwartungen, sondern bedeuten auch einen signifikanten Schritt in Richtung einer
gewebeschonenderen, schmerzärmeren Therapie von Kammerflimmern.
Weitere Luft nach unten
Die drastische Energiereduktion ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass bei LEAP bis jetzt weder die
Ausrichtung und Geometrie des elektrischen Feldes noch die genauen Pulszeitpunkte optimiert wurden.
Es ist also durchaus vorstellbar, dass in Zukunft eine noch weiter gehende Energiereduktion erreicht
werden kann. Motiviert durch die Bedeutung der kreisrunden Heterogenitäten wurde deshalb im
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Bittihn: Chaos im Herzen
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Rahmen der Dissertation eine verallgemeinerte mathematische Theorie entwickelt, die die Effekte von
elektrischen Feldern an beliebig geformten Übergängen von leitfähigem Gewebe zu nicht leitenden
Bereichen – allgemein gesprochen: an Geweberändern – quantitativ beschreibt. Dabei stellt sich heraus,
dass die Krümmung ein entscheidendes Kriterium für die Sensitivität des Randes gegenüber elektrischen
Feldern ist. Besonders starke Effekte von elektrischen Feldern sollten sich gemäß der Theorie an Rändern
mit negativer Krümmung beobachten lassen. Diese treten z.B. bei isolierten Muskelsträngen auf, die im
inneren Hohlraum an der Herzmuskelwand entlanglaufen, oder bei Ausstülpungen der Innenwand.
Mithilfe ebenfalls in der Dissertation weiterentwickelter numerischer Methoden wurden die
mathematischen
Vorhersagen,
für
die
gewisse
Näherungen
erforderlich
waren,
in
einem
Computermodell eines Gewebestücks mit realistischer Geometrie validiert.
Auch an Herzmuskelgewebekulturen in der Petrischale, denen künstlich bestimmte Randkrümmungen
aufgeprägt wurden, konnte in Übereinstimmung mit der Theorie beobachtet werden, dass die Orte, an
denen durch elektrische Felder mit der geringsten Intensität noch Erregung induziert werden konnte,
genau die Geweberänder mit negativer Krümmung sind. Nicht allein der das Herzgewebe
durchdringende Gefäßbaum, sondern die Anatomie des aktiven Herzmuskels insgesamt bestimmt also
die Wirkung elektrischer Felder. So wie die Entwicklung des LEAP-Prinzips bis zum jetzigen Stand auf den
Mechanismen zur Entstehung multipler Wellenzentren bei globaler Stimulation aufgebaut war, könnte es
in Zukunft entscheidend sein, die genauen Orte zu kennen, an denen mit niedrigster Energie steuernd in
das komplexe Erregungsleitungssystem des Herzens eingegriffen werden kann. Mit den Ergebnissen der
Dissertation ist es über eine Konfiguration des elektrischen Feldes nun prinzipiell möglich, Kontrollpunkte
im Gewebe mithilfe anatomischer Informationen gezielt zu platzieren, z.B. für die Beendigung von
einfacheren Herzrhythmusstörungen, die nur ein Eingreifen an wenigen Orten erfordern und deshalb die
Verwendung noch schwächerer elektrischer Felder erlauben.
Für eine solche adaptive Wahl des Stimulationsprotokolls ist es allerdings notwendig, nicht nur die
Eingriffsmöglichkeiten in die Aktivität des Herzmuskels verstanden zu haben, sondern auch den
Schweregrad einer Herzrhythmusstörung abzuschätzen. In den oben beschriebenen Experimenten
konnte beobachtet werden, dass die benötigten Energien sowohl für die konventionelle als auch für die
LEAP-Defibrillation stark schwanken. Dies legt die Vermutung nahe, dass es selbst innerhalb der
Kategorie des Kammerflimmerns große Unterschiede in den dynamischen Eigenschaften der
vorhandenen Aktivität gibt. Eine allgemein anwendbare Methode zur Bestimmung dieser Eigenschaften
war allerdings bisher nicht verfügbar. In der Dissertation wurde hierzu eine Vorarbeit geleistet, die in
Zukunft Abhilfe schaffen könnte. Die sogenannte Lyapunov-Stabilitätsanalyse ist eine aus der Theorie der
nicht linearen Dynamik und komplexen Systeme stammende Methode. Im Kontext erregbarer Medien
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bisher nicht systematisch verwendet, ist sie dazu in der Lage, ein Maß für die Komplexität einer Dynamik
zu ermitteln.
Mithilfe allgemeiner mathematischer Modelle für erregbare Medien konnte in der Arbeit gezeigt werden,
dass es mithilfe dieser Methode einerseits möglich ist, Stabilitätseigenschaften beispielsweise von
ebenen Wellen und Spiralwellen zu ermitteln und festzustellen, unter welchen Bedingungen ein
Übergang in kompliziertere Erregungsmuster stattfindet. Methodisch ist dies vor allem nützlich für
realistische mathematische Modelle von Herzgewebe, in denen so bestimmte physiologische
Veränderungen des Substrats mit einer potenziellen Gefahr für Arrhythmien in Verbindung gebracht
werden können. Andererseits wurde in der Dissertation bei der Charakterisierung von raumzeitlich
chaotischen Aktivierungsmustern mithilfe dieser Methode festgestellt, dass ihre Komplexität tatsächlich
stark mit den Substrateigenschaften variieren kann. Interessanterweise spielen hierbei wieder
Gewebeheterogenitäten eine besondere Rolle: Emergente Prozesse können dafür sorgen, dass
veränderte Mediumeigenschaften, die normalerweise für eine höhere Komplexität sorgen, wenn sie nur
als lokale Heterogenitäten auftreten, die Komplexität der chaotischen Aktivität herabsetzen können. Dies
könnte wiederum Auswirkungen auf die Kontrollierbarkeit der Dynamik haben. Die Etablierung der
Lyapunov-Stabilitätsanalyse für erregbare Medien macht erstmals eine quantitative Bestimmung dieser
(De-)Stabilisierungsmechanismen in mathematischen Modellen von Herzgewebe möglich und erlaubt es
damit auch, systematisch nach Komplexitätsindikatoren in experimentellen Daten zu suchen, die für eine
Abschätzung der notwendigen Stärke des Kontrolleingriffs benötigt werden.
Multimodalität und Interdisziplinarität
Durch die Integration von experimentellen und theoretischen Methoden sowie die Kombination von
medizinischen, biologischen und physikalischen Betrachtungsweisen ist es im Rahmen der Dissertation
gelungen, ein neues Verständnis der dynamischen Prozesse und Mechanismen bei der akuten
Behandlung von Herzrhythmusstörungen durch elektrische Intervention zu entwickeln. Dieses
ermöglicht einen Paradigmenwechsel, weg von der Alles-oder-nichts-Denkweise der klassischen
Defibrillationsschwelle und damit eine drastische Energiereduktion, die einen Großteil der Gefahren und
Einschränkungen der Lebensqualität beseitigen könnte, die heutige Defibrillatoren mit sich bringen.
Insbesondere vor dem Hintergrund der alternden Weltbevölkerung und des sich kontinuierlich
verbessernden technischen Standes der Medizin könnte davon potenziell eine wachsende Anzahl von
Patienten mit ICD-Implantaten nachhaltig profitieren. Zusätzlich zu der bereits erreichten signifikanten
Verbesserung bietet die Arbeit außerdem konkrete Perspektiven für die weitere Optimierung von LEAP
durch eine Charakterisierung der komplexen Dynamik von Arrhythmien, die Erweiterung auf andere
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Bittihn: Chaos im Herzen
Deutscher Studienpreis 2014
Arrhythmie-Typen und maßgeschneiderte Defibrillationsprotokolle, die auf Anatomie und Physiologie
des Herzens patientenspezifisch abgestimmt sind.
Diese Ergebnisse konnten – insbesondere aufgrund der aufwendigen experimentellen Untersuchungen –
nur
erzielt
werden
durch
interdisziplinäre,
translationale
Kooperationen
mit
Medizinern,
Veterinärmedizinern und Biologen an der Cornell University (Ithaca, NY, USA), dem RIKEN Center for
Developmental Biology (Kobe, Japan), der Universitätsmedizin Göttingen und dem Max-Planck-Institut
für Dynamik und Selbstorganisation (Göttingen). Die Arbeit resultierte in 5 Vortragseinladungen, 10
weiteren Vorträgen auf internationalen Konferenzen und 4 Veröffentlichungen – für die hier
dargestellten Ergebnisse insbesondere Bittihn et al., Phys. Rev. Lett. 2012 und Luther & Fenton et al.,
Nature 2011. Die Dissertation wurde von der Max-Planck-Gesellschaft mit der Otto-Hahn-Medaille 2013
ausgezeichnet sowie von der Fakultät für Physik der Universität Göttingen mit dem Dr.-Berliner-Dr.Ungewitter-Preis des Wintersemesters 2013/14.
Erkrankungen des Herzkreislaufsystems sind eine globale Herausforderung der Gesundheitsversorgung
des 21. Jahrhunderts. In dieser Dissertation wurden die wissenschaftlichen Grundlagen gelegt für die
schonende und schmerzfreie Therapie von lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen. Aufgrund des
damit verbundenen erheblichen medizinischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Potenzials wurde
die Entwicklung eines LEAP-basierten ICD vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) der
Bundesrepublik
Deutschland
mit
dem
Preis
der
„Gründungsoffensive
Biotechnologie“
2012
ausgezeichnet. In dem von der Max-Planck-Gesellschaft und dem BMBF geförderten Projekt sollen die
Ergebnisse biomedizinischer und biophysikalischer Grundlagenforschung im Rahmen unternehmerischer
Selbstständigkeit weiterentwickelt werden mit dem Ziel, die Lebenserwartung und Lebensqualität von
Menschen mit Herzerkrankungen nachhaltig zu verbessern.
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