Der Patient im Spannungsfeld zwischen Gesundheit und Kosten

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Aus: W. Michaelis (Hrsg.): Der Preis der Gesundheit. Wissenschaftliche Analysen, politische
Konzepte. Perspektiven zur Gesundheitspolitik. Landsberg/Lech 2001 (Ecomed)
Der Patient im Spannungsfeld zwischen
Gesundheit und Kosten
Christoph Kranich, Verbraucher-Zentrale Hamburg
Lange war das Gesundheitswesen in Deutschland ein Terrain, auf dem die Gesetze
der Marktwirtschaft nicht galten oder nur in peripheren Nischen wirksam waren.
Patienten mussten sich kaum mit der Frage der Kosten für die Behandlung ihrer
Krankheiten befassen. Was sie brauchten, wurde von Ärzten verordnet und von
Krankenkassen erstattet, geräuschlos, reibungslos. Seit einiger Zeit wird aber immer
mehr darüber diskutiert, wie die Ausgaben für Gesundheit und Krankheit begrenzt
werden können. Krankenkassen tun sich immer schwerer mit dem
selbstverständlichen Bewilligen verordneter Leistungen, Ärzte geraten durch
politische Maßnahmen der Kostenbegrenzung, zum Beispiel in Form von Budgets,
unter immer stärkeren Druck.
Schon in den 70er Jahren wurde eine „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen
konstatiert. Genauer hingehört, lag und liegt das Problem allerdings gar nicht
vorrangig bei den Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung, deren Anteil an
den Gesamtkosten unseres gesellschaftlichen Systems ziemlich stabil ist. Die
Krankenkassen haben vielmehr ein Problem mit den Einnahmen, die aus
prozentualen Beiträgen ihrer Mitglieder stammen. Wenn die Mitgliederzahl
abnimmt (z.B. durch immer mehr Arbeitslosigkeit, durch Zunahme der Einkommen
aus selbständiger statt abhängiger Beschäftigung, durch Abwanderung in die private
Krankenversicherung) und die Löhne der Mitglieder geringer steigen als die Kosten,
dann wird logischerweise die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben immer
größer. Eine Kostenexplosion im Gesundheitswesen gibt es gar nicht (BRAUN, KÜHN,
REINERS 1998). Es geht vielmehr darum, die Beitragssätze stabil zu halten oder gar zu
senken, damit der „Wirtschaftsstandort Deutschland“ nicht in Gefahr gerät. Diesem
Ziel folgend, wurden in den 80er und 90er Jahren etliche Ausgaben, die bis dahin
selbstverständliche Krankenkassenleistungen waren, als Zuzahlungen auf die
Kranken verlagert. Die Patienten wurden zusätzlich zu ihren Krankheiten auch noch
mit dem Kostenproblem belastet. Die rotgrüne Bundesregierung hat zwar einige
besonders unfeine Regelungen entschärft, das Prinzip jedoch beibehalten.
Die erste Frage muss also lauten: Wollen Patienten, dass die Krankenkassenbeiträge
steigen, damit das Leistungsniveau der gesetzlichen Krankenversicherung nicht absinkt, oder
wollen sie, dass ihr neue Einnahmequellen erschlossen werden? Letzteres wäre ja durchaus
möglich und wird auch immer wieder vorgeschlagen. Beispielsweise könnten sich
die Krankenkassenbeiträge, die bisher im Wesentlichen nur auf den Lohn abhängig
Beschäftigter erhoben werden, auch auf andere Einkommensarten beziehen, etwa auf
Zinsen aus Vermögen, Dividenden aus Aktien, Mieterlöse und dergleichen.
Sicher hat man Patienten, Versicherte oder Bürger danach schon gefragt, ich kenne
die Studien nicht. Sicher wird man auch völlig unterschiedliche Antworten erhalten,
je nachdem wen man fragt: akut kranke Patienten oder gesunde Versicherte; Arbeiter
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und Angestellte, Arbeitslose oder Menschen, die hauptsächlich von Miteinnahmen,
Zinsen und Dividenden leben. Die Patientin1 gibt es gerade bei dieser Frage nicht.
Egal wie derartige Befragungen ausgingen: Patienten wären schlecht beraten,
würden sie sich gegen den Erhalt von Kernelementen des deutschen
Gesundheitssystems aussprechen, dessen Ausgleich zwischen Gesunden und
Kranken, Jungen und Alten, Alleinlebenden und Kindererziehenden auch im
Ausland als beispielhaft gilt. Nun sind zu einem bestimmten Zeitpunkt die meisten
Menschen gerade nicht Patienten. Aber auch Gesunde, die z.B. als Bürger zur Wahl
gehen und über die künftige Gesundheitspolitik mitentscheiden, täten gut daran,
ihre Stimme nicht für einen Abbau des solidarisch finanzierten Gesundheitssystems
abzugeben. Denn wenn sie einmal krank sind, werden sie für die Existenz dieses
Systems dankbar sein. So wie ich meine Gesundheit nicht spüre, wenn sie da ist, und
erst der Schmerz mich auf ihr Fehlen und die Krankheit aufmerksam macht, so kann
ich die Existenz einer solidarischen Absicherung des Krankheitsrisikos so lange
ignorieren, bis ich sie plötzlich einmal brauche. Dann aber nutze ich sie aus, als wäre
sie das Selbstverständlichste von der Welt. Das ist sie aber nicht – sie musste
mühsam errungen und gegen mannigfaltige Anfeindungen abgesichert werden. Und
jetzt gilt es, sie zu verteidigen.
Individualität und Solidarität als Leitmotive der
Gestaltung des Gesundheitswesens
Das heutige Gesundheitswesen wird von falschen Prinzipien beherrscht. Gesund
wäre eine ausgewogene Mischung aus Individualität und Solidarität, zwei
komplementären Gestaltungselementen jedes funktionierenden Gemeinwesens. Sie
können einen zwar dynamischen, im Ergebnis aber harmonischen Ausgleich
herstellen zwischen der Eigenheit und Unersetzbarkeit des Einzelnen und der
Anerkennung und Achtung der Anderen. Statt dieser sozial „gesunden“ Prinzipien
regiert aber im Gesundheitswesen ein Gemenge zweier destruktiver Wirkprinzipien,
ein Amalgam aus Egoismus und Kollektivismus. Sie sind wie die Schattenbilder der
ersteren, sozusagen ihre missratenen Brüder.
Was heißt das auf der Ebene des unmittelbaren Erlebens der Patientin? Sie fühlt sich
unmündig, enteignet, ihrer Individualität beraubt. Einen großen Teil ihrer
Autonomie und Selbstbestimmung gibt sie ab, längst bevor sie die Arztpraxis betritt
– nicht nur weil der Arzt noch viel zu oft im Sinne des überkommenen Paternalismus
von der Patientin „compliance“ verlangt (worunter er lediglich Gehorsam und
Folgsamkeit versteht), sondern vor allem auch aus strukturellen Gründen. Patient
hängt etymologisch zusammen mit passiv, Passion, Leiden. Im Kerngeschäft des
Gesundheitswesens, den medizinischen Leistungen, bleibt die Patientin die
Leidende, Erduldende, sie regrediert, sie delegiert ihre Souveränität an „die
Medizin“, die der Arzt vertritt. Sie empfindet sich abhängig von einem kollektiven
Imperativ, der sich in der Medizin zum Beispiel in Gestalt des „wissenschaftlich
Anerkannten“ artikuliert – und sie entwickelt als Gegenbewegung das vitale
Bedürfnis, ihre eigene Lebensgeschichte und Individualität in diese objektivabstrakte Welt wieder einzubringen; nicht nur als interessanter Fall einer vielleicht
seltenen Krankheit gesehen zu werden, sondern als Person mit körperlichen,
seelischen, geistigen und sozialen Aspekten ihrer individuellen Gesundheit. Das
1
Der Patient ist immer mitgemeint.
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Empfinden von Degradierung und Kollektivierung erzeugt bei ihr (berechtigten)
Egoismus als Versuch der Behauptung des Selbst gegenüber den Kränkungen des
Systems. Da das System das Individuum nicht ausreichend unterstützt und stärkt,
entsteht statt gesundem Individualismus ungesunder Egoismus.
Nötig wäre eine aktive Kompensation durch das Gesundheitswesen: eine Medizin,
die den Menschen biographisch betrachtet, und ein System, das die Kosten wirklich
solidarisch verteilt. Stattdessen wird die Patientin zur „Kundin“ hochstilisiert. Die
Kundenrolle jedoch ist kein geeignetes Mittel gegen die Nebenwirkungen des
Patientseins.
Krankenkasse/
-versicherung
Recht
Versicherter
Anonyme
Institution, z.B.
Krankenhaus
Verbraucher
Kunde
Freie Arzt-,
Krankenhaus- und
Krankenkassenwahl,
Selbstmedikation,
Prävention
Mandant
Mensch
Klient
Gesundheitspolitik
Bürger
Wissenschaft
und
Forschung
Proband
Patient
Medizinische
Behandlung
(Kerngeschäft)
Psychotherapie
Abb. 1: Die Rollen des Menschen im Gesundheitswesen
Was macht die Kundin aus? Das souveräne Bestellen einer Leistung und das
anschließende Bezahlen. Das Bestellen überlässt die Patientin aber dem Arzt, es heißt
dann Verordnen, und das Bezahlen der Krankenkasse, an die sie regelmäßige,
gleichbleibende Beiträge abgeführt und damit den anderen Teil ihrer
Kundenautonomie abgetreten hat.
Hersteller
Händler
Hersteller, Anbieter
Arzt
bestellt
Kunde
KV
usw.
Krankenkasse
bezahlt
Patient
bestellt + bezahlt
Abb. 2: Der Unterschied zwischen Kunde und Patient
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Die beiden die Kundin konstituierenden Merkmale delegiert die Patientin an
mächtige Akteure. Diese – Leistungserbringer (Ärzte, Psychologen, Heilpraktiker…)
wie Kostenträger (Krankenkassen, Krankenversicherungen…) – haben ein enormes
Netz an Institutionen neben und hinter sich (Kammern, Verbände, Fakultäten,
Institute…), und sie kommunizieren miteinander über weitere mächtige
Institutionen (z.B. Kassenärztliche Vereinigungen…). Ganz anders die Patientin; ihr
steht allenfalls ihr familiäres Umfeld, in seltenen Fällen eine Selbsthilfegruppe zur
Seite.
Die Akteure des Gesundheitswesens sind also nicht die Patienten, um die sich doch
alles dreht (oder drehen sollte), sondern Ärzte (Leistungserbringer) und
Krankenkassen (Kostenträger). Das wäre noch erträglich, wenn diese beiden ihr
Handeln nach den Prinzipien Individualität und Solidarität ausrichten und damit für
die Patientin produktiv zusammenwirken würden. Doch genau das tun sie nicht. Die
Ärzte waren einst einem hohen ethischen Anspruch verpflichtet, der sich z.B. im
hippokratischen Eid ausdrückte – noch heute bezeichnen die Heilberufegesetze
mancher Bundesländer die Ärzte als „hochstehenden Berufsstand“, den die
Ärztekammern zu schützen haben. Und die Krankenkassen waren
Selbsthilfeorganisationen der Arbeiter und Angestellten zur solidarischen
Absicherung des Krankheitsrisikos, das heißt zum gemeinsamen Überleben. Heute
dagegen regieren Egoismus und Kollektivismus. Ärzte handeln mehr nach
ökonomischen als nach medizinischen Gesichtspunkten, Krankenkassen sind mehr
an „guten Risiken“ interessiert als an Kranken – beides wird zwar nicht gerne so
offen zugegeben, ist aber nur allzu offensichtlich, etwa wenn man ärztliche
Fortbildungskurse zur „Optimierung“ der Abrechnung oder das Werbeverhalten der
Krankenkassen betrachtet.
Wen wundert es da, dass auch die Patientin nicht verschont bleibt von den
missratenen Gesellen Egoismus und Kollektivismus. Wie soll gerade sie sich als
Muster an Solidarität gebärden, wenn ihr von den mächtigen Vertretern des
Gesundheitswesens das Gegenteil vorgelebt wird? Kann man im Ernst von ihr einen
Beitrag zur „Kostendämpfung“ verlangen, kann man sie zu „kostenbewusster
Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen“ veranlassen, wenn Ärzte, Kassen,
Politiker vor ihren Augen ausschließlich für ihre jeweils eigenen Zwecke eintreten
und fast nur gegeneinander kämpfen, kaum je aber für die Sache der Patientin?
Ein gutes Beispiel für die Dominanz der falschen Prinzipien ist die aktuelle Debatte
zur Sterbehilfe. Wen wundert es, dass nicht nur die Mehrheit der deutschen
Bevölkerung für das Recht auf aktive Sterbehilfe eintritt (64% im Westen, 80% im
Osten), sondern auch die Mehrheit der Christen (68% der Katholiken, 60% der
Protestanten)? Wenn dann der christliche Oberhirte Kardinal Lehmann dogmatisch
von oben herab verkündet: „Gottes Gebot ‚Du sollst nicht töten‘ und unsere
christliche Überzeugung von der Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens stehen
der aktiven Sterbehilfe entgegen“ (FAZ vom 12.4.2001), fühlt sich der moderne
Mensch bevormundet und fasst lieber sein eigenes (wenn auch vielleicht nur
vermeintliches) Wohl ins Auge. Ist es nicht nachvollziehbar, dass die meisten
Menschen nicht an Schläuchen und Maschinen sterben wollen? Die Gesellschaft (hier
in Gestalt der Kirche) hat Solidarität und Achtung vor der Individualität
jahrzehntelang vernachlässigt, und nun bekämpft sie mit kollektivistischem
Imperativ das Überhandnehmen des Egoismus. Warum wurden Hospize als Orte
des menschenwürdigen, am Individuum und dessen Bedürfnissen orientierten
Sterbens nicht schon in den langen Jahren der Regentschaft sich christlich nennender
Parteien gefördert? Warum erst unter Rot-Grün?
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Der selbstbestimmte und mitgestaltende
Beteiligte
Das Prinzip des Individualismus sollte für die Medizin in der unbedingten Achtung
der Würde und der Werte der Patientin bestehen. „Entscheidungen zwischen
Alternativen unterschiedlicher Risiken und Chancen sind individuelle
Wertentscheidungen, die nicht mit medizinischem Sachverstand gefällt werden
können, sondern ausschließlich von den Betroffenen selbst aufgrund der Beratung
durch einen medizinischen Sachverständigen“, sagt schon 1992 der
SACHVERSTÄNDIGENRAT FÜR DIE KONZERTIERTE AKTION IM GESUNDHEITSWESEN.
Ein noch moderneres Konzept ist das vor allem in den angelsächsischen Ländern
schon weit entwickelte „shared decision making“, die partnerschaftliche
Entscheidungsfindung von Arzt und Patient (ELWYN, EDWARDS, KINNERSLEY 1999).
Da arbeiten beide zusammen so lange an Klärung, Vermittlung, Verständnis und
Verarbeitung einer Diagnose, unter Hinzuziehung zweiter und dritter Meinungen
sowie außermedizinischer Ratgeber aus dem familiären Umkreis und aus
Patientenberatungsstellen und Selbsthilfegruppen, bis eine wirklich tragfähige und
von beiden Partnern verantwortbare Entscheidung möglich wird. In Deutschland hat
zu diesem Thema Ende letzten Jahres eine erste Ausschreibung des
Bundesgesundheitsministeriums für Modellprojekte stattgefunden. Weiter scheint
man hier noch nicht zu sein – was nicht verwundert, ist doch zunächst unser System
auf einen solchen gemeinsamen Weg nicht eingestellt. Welcher Kassenarzt kann
diesen Prozess abrechnen, welches Krankenhaus hat genügend Personal, um eine
partnerschaftliche Entscheidungsfindung als gemeinsamen Weg mitzuvollziehen?
Wir müssten eine Art biographische Medizin kultivieren, die nicht nur Organe und
Funktionen, sondern auch und vor allem das Individuum sieht, den Menschen hinter
den medizinischen Fakten. Ich bin sicher, dass eine solche Heilkunst – trotz des
Mehraufwands an Gesprächen und interpersonalen Kommunikations- und
Verarbeitungsprozessen – nicht teurer wird als die gegenwärtige, chemisch und
technisch orientierte Medizin.
Auch die Solidarität hat es nicht leichter. In einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder
immer mehr auf individuelle Leistung hin sozialisiert, in der das Unternehmertum
und der Erfolg an der Börse zu den wichtigsten Triebfedern gehören, hat das
Mitdenken und Berücksichtigen der Anderen immer weniger Platz. Vor allem wenn
sie krank und nicht mehr leistungsfähig sind.
Dabei wollen alle die Solidarität der Anderen in Anspruch nehmen, wenn es ihnen
schlecht geht. Ein Beispiel: Es ist eine häufige Erfahrung in
Patientenberatungsstellen, dass Menschen aus der privaten in die gesetzliche
Krankenversicherung zurück wollen, wenn sie älter und die Beiträge unbezahlbar
werden. Früher wollten sie die billigen Tarife, jetzt wollen sie von der Unterstützung
der anderen leben. Solidarität hieße dagegen, einen prinzipiellen Ausgleich zwischen
den eigenen Interessen und denen der Anderen zu finden: Nur wenn es allen gut
geht, kann auch ich mich wohlfühlen.
Wie müsste ein Gesundheitswesen aussehen, das solche Solidarität ermöglicht?
Alle wären in ein System der Umverteilung einbezogen, ohne dass sich der kleine
Teil Besserverdienender hinausstehlen könnte. Es gäbe weder
Pflichtversicherungs- noch Beitragsbemessungsgrenze. Das so zusätzlich ins
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solidarische System fließende Geld würde flächendeckend Qualitäts- und
Beschwerdemanagement sowie unabhängige Patientenunterstützung
ermöglichen.
Ärzte würden nicht mehr als freier, selbstverwalteter und selbstkontrollierter
Beruf bei sich selbst Einzelleistungen bestellen, sondern sie würden die
Patientenbedürfnisse ermitteln und Prozesse der partnerschaftlichen
Entscheidung ermöglichen – vielleicht als gut bezahlte und abgesicherte
Angestellte, vielleicht als selbstverwaltete Unternehmergemeinschaft zusammen
mit anderen Gesundheitsarbeitern, vielleicht auch in einer völlig neuen
Assoziationsform ähnlich einer Genossenschaft im Bunde mit ihren Patienten.
Und nicht zuletzt die Patienten: Sie müssten, ebenso wie alle anderen Beteiligten,
eine Schulung in Solidarität erhalten. Das Prinzip der sozialen Versicherungen –
dass Junge für Alte und Kranke für Gesunde einstehen – muss wieder ins
Bewusstsein der Menschen eindringen können, muss sich endlich wieder gegen
die dominierende Orientierung an Macht, Geld und Erfolg behaupten. Und sie
brauchen Organe der kollektiven Interessenvertretung, wie sie die anderen
Akteure längst haben.
Das klingt nach Utopie und Traumtänzerei, werden viele sagen. Diesem Einwand
könnte ich (mit einem etwas abgegriffenen Spruch aus vergangenen Tagen)
entgegnen: Wer nicht den Mut zum Träumen hat, dem fehlt die Kraft zum Kämpfen.
Doch ich kann auch prominente Zeugen für manche dieser Forderungen anführen,
etwa die Konferenz der Gesundheitsminister der 40 Staaten des Europarates, die
1996 vom „dreiseitigen Sozialpakt zwischen Patienten, Leistungserbringern und
Kostenträgern“ sprach, bei dem alle drei „die gleichen Möglichkeiten zur
Mobilisierung der öffentlichen Meinung“ haben sollen (FÜNFTE KONFERENZ DER
EUROPÄISCHEN MINISTER FÜR GESUNDHEIT).
Auch dies klingt allerdings nach Utopie und Traumtänzerei. Bezeichnenderweise
haben die Beschlüsse der europäischen Gesundheitsminister keinerlei
Bindungswirkung. Warum also wurden sie formuliert? Entweder sind sie normative
Sätze, aus ethisch-moralisch-politischer Überzeugung gesprochen; oder sie verfolgen
ein strategisches Ziel, etwa, wie anfangs skizziert, die Verantwortung für unbequeme
Entscheidungen an die Patienten als Leidtragende zu delegieren.
Egal welche Version mehr Überzeugungskraft entfaltet, man kann die Anregung
einmal aufnehmen und ihre Konsequenzen durchdenken.
Schritte auf dem Weg zur „dritten Kraft“
Stellen wir uns doch einmal vor, nicht nur Krankenhäuser und Ärzte, Krankenkassen
und Krankenversicherungen hätten ihre Verbände und Vertretungen, sondern auch
Patienten, etwa wie in den Niederlanden. Ich stelle mir ein ideales System der
Patientenunterstützung so vor:
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Patientenbeauftragte
(Ombudsperson)
Gremien des
Gesundheitswesens
Informations-, Beratungs- und Beschwerdestelle
(Patientenstelle, Verbraucher-Zentrale)
Patientenverband
Patientenvertrauensperson (PVP)
Patient, stationär
Patient, ambulant
Patient
Patient
Selbsthilfegruppe,
Patienteninitiative
Abb. 3: Ein ideales System der Patientenunterstützung
Links der professionelle Zweig: Patienten im Krankenhaus steht eine hauptamtliche
und unabhängige Patientenvertrauensperson zur Seite. In Holland gibt es das z.B.
für die Psychiatrie seit mehr als 20 Jahren, inzwischen sogar auf gesetzlicher
Grundlage (MANDERS & WIDDERSHOVEN 1997). Ambulante Patienten können sich
direkt an unabhängige Patientenberatungsstellen wenden, die auch für die
Vertrauenspersonen Aufgaben der Koordination und Weiterbildung übernehmen.
Solche gibt es in Deutschland seit mehr als 20 Jahren an Gesundheitsläden und seit
13 Jahren auch an Verbraucherzentralen, z.B. in Hamburg und Berlin. Sie sind also
erprobte Modelle, die jedoch den bundesweiten Bedarf bei weitem nicht decken
können (KRANICH 1999).
Rechts die Selbstorganisation: Patienten schließen sich auf verschiedenen Ebenen in
Gruppen und Initiativen zusammen – vieles davon gibt es auch bereits in
Deutschland. Uns fehlt jedoch ein auch nur halbwegs machtvoller Patientenverband,
wie er in vielen anderen Ländern existiert, z.B. in den Niederlanden mit der NP/CF,
der Nederlandse Patiënten/Consumenten Federatie. Er kann zusammen mit den
professionellen Patientenunterstützern eine kompetente, akzeptierte und legitimierte
Vertretung der Patientenstimme in allen wichtigen Gremien des Gesundheitswesens
darstellen.
Und da das alles die strukturelle Unterlegenheit der Patienten noch nicht beseitigt,
sollten wir noch die Funktion von Patientenbeauftragten auf der parlamentarischen
Ebene erwägen, etwa analog den Datenschutzbeauftragten des Bundes und der
Länder. Sie können auf einer noch höheren Ebene für die Einhaltung der
Grundprinzipien Individualität und Solidarität im Sinne des Patientenwohls
eintreten (KRANICH 1995).
Was hat das alles mit Ausgabenbegrenzung und Kostendämpfung im
Gesundheitswesen zu tun? Sehr viel. Es ist fatal, wenn Patienten mit ihrem heutigen
Bewusstsein und ihrem heutigen gesellschaftlichen Organisationsgrad für
Kostenverlagerungen eingespannt und vielleicht sogar mit dieser Intention in
relevante Entscheidungsgremien einbezogen werden. Ich spreche nicht im
Konjunktiv, denn das geschieht bereits. In Hamburg gibt es die Position eines
Bürgervertreters in der Ethikkommission; in Rheinland-Pfalz wurde mit einer
Änderung des Heilberufegesetzes verfügt, dass Patientenvertreter an den
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Schlichtungsausschüssen der Kammern beteiligt werden sollen; und sogar
Ärztefunktionäre sprechen sich für die Teilnahme von Patienten an den
Entscheidungen des Bundesausschusses Ärzte und Krankenkassen aus – nicht ohne
ehrlicherweise zuzugeben, dass sie sich dort von ihnen eine Unterstützung der
Ärzteposition gegenüber den Krankenkassen erhoffen. Und genau das ist die Gefahr:
dass Patienten, schwach und abhängig und ohne jeglichen politischen Rückhalt aus
ihren eigenen Reihen, von den Großen im System verheizt und zwischen deren
Interessen zerrieben werden. Die Hoffnung, die Patientenvertreter würden die Ärzte
gegen die Krankenkassen unterstützen, kann man ja nur haben, wenn man annimmt,
dass die Patienten eher den Ärzten ihr Vertrauen schenken als den anonymen
Großorganisationen der Krankenkassen. Zu ihren Ärzten haben sie die stärkere
Abhängigkeitsbeziehung.
Solange Patienten im Gesundheitswesen Objekte bleiben, werden sie im Einzelfall
immer mehr und immer bessere Leistungen im Krankheitsfall fordern, vor allem
wenn sie erleben, dass die Großen auch nur an sich denken – z.B. dass Ärzte über
Budgets klagen und „Individuelle Gesundheitsleistungen“ (IGEL) erfinden, nur um
ihnen zusätzliches Geld aus der Tasche zu ziehen. Erst wenn Patienten als Subjekte –
und damit als Individuen – anerkannt und gewürdigt werden, kann die Bereitschaft
entstehen, wirkliche Mitverantwortung zu übernehmen. Dann sind Patienten auch
bereit, berechtigte Belange der Ärzteschaft zu unterstützen, etwa wenn es um die
unverantwortlichen 30-Stunden-Schichten im Krankenhaus geht oder um die
Gängelung durch ungerechte Honorierungssysteme.
Das ist auch eine Erfahrung in Patientenberatungsstellen: Wenn ein Arzt, der einen
Fehler gemacht hat – egal ob „nur“ die Rechnung zu hoch war oder ob ihm ein
richtiger Behandlungsfehler passiert ist – sein Missgeschick einräumt und sich
entschuldigt, sind die meisten Patienten sehr verständnisvoll, viele verzichten sogar
auf weitere Schritte. Patienten wollen Ärzte (und andere Gesundheitsarbeiter), die primär
die Patientengesundheit im Auge haben, nicht das Budget. Wenn sie dies sehen und
glauben, sind sie gerne bereit, auch über Kosten zu sprechen, das heißt einen
sinnvollen Beitrag zur Ausgabenbegrenzung im Gesundheitswesen zu leisten. Aber
nicht nur zur Reduktion des Leistungskatalogs der gesetzlichen
Krankenversicherung, sondern zur Begrenzung aller Kosten im Gesundheitswesen,
auch z.B. der Gewinne der Pharmaindustrie. Spürbare Solidarität muss dann
wirklich von allen kommen!
Literatur
BRAUN B, KÜHN H, REINERS H: Das Märchen von der Kostenexplosion. 2. Aufl.
Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main (1995)
ELWYN G, EDWARDS A, KINNERSLEY P: Shared decision-making in primary care: The
neglected second half of the consultation. British Journal of General Practice 49, 477482 (1999)
FÜNFTE KONFERENZ DER EUROPÄISCHEN MINISTER FÜR GESUNDHEIT, Warschau 7.–8.
November 1996: Soziale Herausforderungen an die Gesundheit: Gerechtigkeit und
Patientenrechte im Kontext von Gesundheitsreformen. Abschlusstext. Unautorisierte
Übersetzung in: KRANICH C & BÖCKEN J (Hrsg.): Patientenrechte und
Patientenunterstützung in Europa. Nomos, Baden-Baden (1997), 197 ff
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KRANICH C: Patientenbeauftragte. In: DAMKOWSKI W, GÖRRES S, LUCKEY K (Hrsg.):
Patienten im Gesundheitssystem. Maro, Augsburg (1995)
KRANICH C: Patientenunterstützung in Deutschland. In: BADURA B, HART D,
SCHELLSCHMIDT H (Hrsg.): Bürgerorientierung des Gesundheitswesens. Nomos,
Baden-Baden (1999)
MANDERS H & WIDDERSHOVEN TP: Patientenvertrauensarbeit in der Psychiatrie. In:
KRANICH C & BÖCKEN J (Hrsg.): Patientenrechte und Patientenunterstützung in
Europa. Nomos, Baden-Baden (1997)
SACHVERSTÄNDIGENRAT FÜR DIE KONZERTIERTE AKTION IM GESUNDHEITSWESEN:
Ausbau in Deutschland und Aufbruch nach Europa. Jahresgutachten 1992. Nomos,
Baden-Baden (1992), Kapitel 3, Ziffer 361
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