Polymere Carbodiimide als Vorstufen für keramische Werkstoffe

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Polymere Carbodiimide als Vorstufen für keramische Werkstoffe:
Reaktionsmechanismen und Tautomeriebeziehungen
O. Lichtenberger*,a, J. Woltersdorfa und R. Riedelb
a
b
Halle, Max-Planck-Institut für Mikrostrukturphysik
Darmstadt, Technische Universität, Fachbereich Materialwissenschaft
Bei der Redaktion eingegangen am 17. September 2001
Inhaltsübersicht. Die Reaktionsmechanismen für die Synthese polymerer Silicium- und Titan-carbodiimide aus den Elementchloriden
und Bis(trimethylsilyl)-carbodiimid, die als Vorstufen für keramische Werkstoffe Verwendung finden, werden mit Hilfe quantenchemischer Verfahren untersucht. Die Funktion organischer Basen als
Katalysatoren für den Übergangszustand und die Thermodynamik
der Synthesereaktion werden diskutiert. Von besonderer Bedeutung
für die Optimierung der Reaktion ist das Verhältnis der Tautomere
Carbodiimid - Cyanamid, das in Abhängigkeit vom Heteroatom,
dem Lösungsmittel und der Temperatur mit Hilfe von ab-initioVerfahren (Dichtefunktionaltheorie) bestimmt wird. Die Ergebnisse der theoretischen Berechnungen werden durch IR- und UVspektroskopische Daten gestützt.
Polymeric Carbodiimides as Precursors for Ceramic Materials: Reaction Mechanisms
and Tautomerism
Abstract. The reaction mechanisms for the synthesis of polymeric
silicon and titanium carbodiimides via the element chlorides and
bis(trimethylsilyl)-carbodiimid, used as precursors for ceramic materials, have been investigated using quantumchemical methods.
The influence of organic bases as catalysts on the transition state
and the thermodynamics of the reaction are discussed. The ratio
of the tautomers carbodiimid - cyanamid depending on the hete-
roatom, the solvent and the temperature, has been determined
using ab-initio methods (density functional theory). The results of
the theoretical calculations are confirmed by IR and UV spectroscopic data.
Einleitung
Die thermische Zersetzung des so synthetisierten polymeren
Siliciumdicarbodiimids [Si(N5C5N)2]n führt zu Silicium(carbodiimid)nitrid der Zusammensetzung Si2CN4, welches
weniger luft- und feuchtigkeitsempfindlich ist als das Siliciumdicarbodiimid und durch Pyrolyse in Si3N4/SiC-Komposite überführt werden kann. Die analoge Reaktion von Bis(trimethylsilyl)carbodiimid mit Titantetrachlorid führt zu
polymerem Titandicarbodiimid [Ti(N5C5N)2]n, das noch
Trimethylsilyl-Endgruppen enthält. Die experimentell optimierten und theoretisch voraussagbaren Reaktionsbedingungen für beide Reaktionen (Temperatur, Katalysator, Lösungsmittel) unterscheiden sich beträchtlich und bilden einen Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Erste Untersuchungen
zur
experimentellen
Optimierung
der
Reaktionsbedingungen wurden in [325] durchgeführt. Die
Identität und spektroskopische Charakterisierung der Endprodukte durch IR- und Raman-Messungen konnte dabei
durch quantenchemische Berechnungen (PM3) von uns abgesichert werden [5]. Auch NMR-spektroskopische Untersuchungen, Charakterisierungen der Kristallstruktur mittels Röntgenbeugung [2] und der Elektronenstruktur durch
XANES-Messungen [6] sowie transmissionselektronenmikroskopische Untersuchungen der erhaltenen Polymere [7]
erfolgten bereits. Über Berechnungen und Messungen der
Carbodiimide, die am Stickstoffatom duch Heteroatome
substituiert sind (Si, Ti), haben in den letzten Jahren zunehmend Bedeutung als Vorstufen für neue keramische Materialien erlangt. Keramische Werkstoffe aus Siliciumnitrid
und -carbid wurden bisher üblicherweise durch Sintertechniken aus Si3N4/SiC-Pulvern hergestellt, und zwar entweder
durch chemical vapour deposition (CVD) mit Hexamethyldisilazan als Reaktionsgas oder durch thermische Zersetzung von Polyorganosilazanen unter Intertgasatmosphäre
bzw. unter Ammoniak oder Stickstoff. Vor einigen Jahren
wurde über eine alternative Methode zur Herstellung von
Si-N-C-Präkursoren berichtet, die zu Polyorganosilylcarbodiimiden führt [122]. Die Synthese dieser Verbindungen
geht von Bis(trimethylsilyl)carbodiimid oder Cyanamid aus,
das mit Siliciumtetrachlorid zur Reaktion gebracht wird.
* Dr. Olaf Lichtenberger
Max-Planck-Institut für Mikrostrukturphysik
Weinberg 2,
D- 06120 Halle
FAX: 149 - 345 - 5511223
e-mail: [email protected]
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Keywords: Silicon carbodiimides; Titanium carbodiimides; Polymers; Ab-initio calculations
 WILEY-VCH Verlag GmbH, 69451 Weinheim, Germany, 2002 004422313/02/628/5962607 $ 17.501.50/0 Z. Anorg. Allg. Chem. 2002, 628, 5962607
Polymere Carbodiimide als Vorstufen für keramische Werkstoffe
kantennahen Feinstruktur (ELNES) und des low-loss-Bereiches in Elektronen-Energie-Verlustspektren von Carbodiimiden berichteten wir in [8].
Zur theoretischen Beschreibung des Reaktionsmechanismus und der Optimierung der Reaktionsbedingungen werden in der vorliegenden Arbeit semiempirische quantenchemische Methoden eingesetzt (PM3, [9]). Der Übergangszustand einer postulierten nukleophilen bimolekularen Substitutionsreaktion wird charakterisiert sowie die Funktion
von Pyridin als Katalysator bei der Reaktion geklärt.
Einen anderen Gegenstand der vorliegenden Arbeit, der
von wesentlicher Bedeutung für die Ausbeute der Polymerisations- und Vernetzungsreaktionen der anorganisch substituierten Carbodiimide ist, bildet das tautomere Gleichgewicht zwischen Carbodiimid- und Cyanamidstruktur der
Endgruppen. Die Abhängigkeit dieses Tautomeriegleichgewichts von Lösungsmittel und Temperatur wird mittels
quantenchemischer Verfahren untersucht. Das Vorliegen eines echten Tautomeriegleichgewichts wird experimentell
durch IR- und UV-Spektroskopie bestätigt. Da die anorganisch substituierten Carbodiimide nach der Reaktion als
polymere, in den meisten Lösungsmitteln unlösliche Feststoffe anfallen, können sie IR-spektroskopisch nur als in
KBr gepreßte Feststoffe untersucht werden. Daher wird ein
organisches
Carbodiimid,
Dicyclohexylcarbodiimid
(DCCD), als Modellsubstanz eingesetzt, um IR- und UVSpektren in Lösung aufnehmen zu können und auch experimentelle Aussagen über das Tautomeriegleichgewicht Carbodiimid - Cyanamid zu gewinnen.
Substanzen und Methoden
Synthese der Polysilyl- und -titanylcarbodiimide
Durch Zugeben einer Lösung von Siliciumtetrachlorid in
Toluen (unter Argon als Schutzgasatmosphäre) in eine Lösung von Bis(trimethylsilyl)-carbodiimid (1) gleichfalls in
Toluen, mit katalytischen Mengen Pyridin, bei Temperaturen zwischen 25 und 100 °C, wird Siliciumdicarbodiimid (2)
als polymerer weißer Feststoff erhalten:
Details zur Synthese der Verbindungen 2 und 3, zu ihrer
FT-IR- und NMR-spektroskopischen Charakterisierung
sowie zur Strukturaufklärung mittels Röntgenbeugung
wurden publiziert [2]. Silicium(carbodiimid)nitrid (3) ist weniger luft- und feuchtigkeitsempfindlich als Siliciumdicarbodiimid (2) und konnte daher an Luft so präpariert werden, daß elektronenmikroskopische und -spektroskopische
Untersuchungen möglich wurden [8].
Analog zum oben vorgestellten Syntheseweg führt die
Reaktion von Titantetrachlorid mit Bis(trimethylsilyl)carbodiimid bei 0 °C unter Argon in Toluen zu einem polymeren Titanylcarbodiimid mit Trimethylsilylendgruppen 4
[Ti(N5C5N)3Si(CH3)3]n
4
als rotbrauner Niederschlag, der in den meisten organischen Lösungsmitteln unlöslich ist. Die Entfernung des
Überschusses an Bis(trimethylsilyl)carbodiimid und des als
Nebenprodukt anfallenden Chlortrimethylsilans im Vakuum und die Vernetzung des Rohprodukts bei 300 °C führen zu einem dunkelbraunen Feststoff. Details zur Synthese
und spektroskopischen Charakterisierung finden sich in
[4,5,8].
FT-IR- und UV-Spektroskopie
FT-IR-Spektren wurden an einem Infrarot-Spektrometer IFS 66v
(Bruker) aufgenommen. Die Substanzen wurden entweder als Feststoff, gepreßt in Kaliumbromid (1 mg Substanz, 200 mg KBr
991 %, FT-IR-rein, Aldrich), oder in Lösung (0.5 %ige Lösung in
Tetrachlorkohlenstoff, Merck, Uvasol) in einer Küvette (Suprasil, 1 mm optische Weglänge) untersucht.
Die Aufnahme der UV-Spektren erfolgte an einem UV-VIS-Spektrometer UVIKON 941 (Kontron) im Zweistrahlverfahren (1024
molare Lösungen der Substanzen in n-Hexan bzw. Acetonitril für
die Spektroskopie, Merck, Uvasol in Quartz-Küvetten, 10 mm optische Weglänge). Die optische Wegstrecke des Spektrometers, die
der Außenluft zugänglich ist, wurde mit trockenem Stickstoff gespült, um Spektren bis hinab zu 190 nm ohne Absorption durch
den Sauerstoff der Atmosphäre aufnehmen zu können.
C5H5N, T 5 100°C
n SiCl4 1 2 n (CH3)3Si2N5C5N2Si(CH3)3 }}}R
1
[Si(N5C5N)2]n 1 4 n (CH3)3SiCl (1)
2
Siliciumdicarbodiimid (2) ist unter Argon bis 900 °C stabil,
zersetzt sich aber bei höheren Temperaturen (unter Abgabe
von Dicyan und Stickstoff mit etwa 40 % Gewichtsverlust)
oder unter dem Einfluß von Luft und Feuchtigkeit unter
Bildung von Siliciumdioxid. Bei Temperaturen über 920 °C
und unter Argon zerfällt Siliciumdicarbodiimid (2) in Silicium-(carbodiimid)nitrid der Zusammensetzung Si2CN4
(3):
T 5 920...1000°C
4 SiC2N4 }}}R 2 Si2CN4 1 3 C2N2 1 N2
3
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(2)
Quantenchemische Berechnungen
Für die Berechnungen zum Reaktionsmechanismus, d.h. zur Simulation des Übergangszustandes sowie zur Untersuchung des Katalysatoreinflusses, wurde das PM3-Verfahren eingesetzt (Parameterized Method 3, [9]), das die Valenzelektronen der jeweiligen Elemente (2s und 2p bei C und N, 3s und 3p bei Si) berücksichtigt
und die Elektron-Elektron-Wechselwirkung in Form eines semiempirischen Ansatzes beschreibt. Im Falle der Titanverbindungen
kam das für Übergangsmetalle erweiterte PM3(tm)-Verfahren zum
Einsatz [10], das außer den 4s- und 4p- auch die 3d-Elektronen
des Titans einbezieht. Zur Simulation der IR-Spektren wurden die
Schwingungs- und Rotationseigenwerte der Moleküle sowie das
Übergangsmatrixelement in einer anschließenden Force-Calculation ermittelt [11]. Mit der Kenntnis der Schwingungs- und Rotationseigenwerte wurden darüber hinaus absolute thermodynamische Größen wie Enthalpien und Entropien in Abhängigkeit von
der Temperatur berechnet (post-Hartree-Fock-Calculation, [12]).
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Berechnungen der Energien und Oszillatorstärken von Elektronenübergängen zur Interpretation der UV-Spektren wurden ebenfalls
unter Anwendung des PM3-Verfahrens durchgeführt, und zwar unter Einbeziehung der Konfigurationswechselwirkung angeregter
Zustände (configuration interaction, CI). Dabei wurden die Energieeigenwerte der höchsten drei besetzten und der niedrigsten drei
unbesetzten Molekülorbitale in die Rechnung einbezogen.
Auf Grund der geringen Energieunterschiede zwischen Carbodiimid- und Cyanamid-Formen mußte bei den Berechnungen zum
Tautomeriegleichgewicht zu ab-initio-Verfahren übergegangen werden. Diese erfolgten nach der Dichtefunktionaltheorie (DFT), und
zwar unter Einsatz des nichtlokalen selbstkonsistenten Becke-Perdew-Modells (BP) [16] mit einem doppelt-numerischen Basissatz
(DN*), d.h. einer Funktion für die core-Elektronen (1s), zwei
Funktionen für die Valenz-Elektronen (2s, 2p für C, N; 3s, 3p für
Si etc.) und einem Satz von Polarisationsfunktionen (z.B. fünf 3dFunktionen für Si). Das Prinzip der DFT ist in [13] vorgestellt; eine
umfassende Darstellung bietet [14]; Anwendungen auf Probleme
der organischen Chemie finden sich in [15]. In der vorliegenden
Arbeit wurden DFT-Rechnungen insbesondere wegen der Korrelationseffekte angewandt, die bei den geringen Energieunterschieden
zwischen möglichen tautomeren Formen eines Moleküls eine nicht
unerhebliche Rolle spielen können. Als Ursache für Korrelationseffekte in Molekülen kann das sogenannte back-bonding gelten, d.h.
der Rücktransfer einer Ladung vom elektronegativen Bindungspartner (also z.B. N) zum elektropositiven Partner (also z.B
Si oder Ti), insbesondere in Elektronenniveaus, die im Grundzustand unbesetzt sind [17]. Das ist einer der Gründe, weshalb große
Basissätze für ab-initio-Verfahren erforderlich sind, mit denen Korrelationseffekte berücksichtigt werden sollen. So müssen insbesondere Basisfunktionen für Orbitale mit größerer Drehimpulsquantenzahl als im Grundzustand des Moleküls besetzt sind (p-Funktionen für Wasserstoff und d-Funktionen für Hauptgruppenelemente), verwendet werden.
Eine Optimierung der Strukturparameter aller Moleküle erfolgte
durch eine Minimierung der Bildungsenthalpie (PM3-Verfahren)
bzw. der Gesamtenergie der Moleküle (DFT) nach dem Gradientenverfahren von Broyden, Fletcher, Goldfarb und Shanno (BFGS
[18]: “Ermittlung der Summe der ersten Ableitungen der Bildungsenthalpie nach den Bindungslängen, Bindungswinkeln und Torsionswinkeln“).
Die quantenchemischen Rechnungen der vorliegenden Arbeit wurden mit den Programmen SPARTAN, Vers. 5.1 und MOPAC, Vers.
6.1 auf einer SGI Octane2 vorgenommen.
Ergebnisse und Diskussion
Thermodynamik der Reaktion
Zunächst wurden PM3-Rechnungen für Bis(trimethylsilyl)carbodiimid und Silciumtetrachlorid, die Partner der Substitutionsreaktion (1), durchgeführt. Die anschließende
Force-Calculation lieferte die Schwingungs- und Rotationseigenwerte dieser Moleküle. Aufbauend auf den Arbeiten
von Hirano [12] konnten mit der Kenntnis der Schwingungs- und Rotationseigenwerte absolute thermodynamische Größen berechnet werden. Abbildung 1 zeigt den
Schwingungs- und den Rotationsanteil der Bildungsenthalpie (Hvib, Hrot) für Bis(trimethylsilyl)-carbodiimid in Abhängigkeit von der Temperatur. Außerdem sind Schwingungs-, Rotations- und Translationsanteil der Entropie
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(Svib, Srot, Strans) für dieses Molekül dargestellt. Folgende
Aussagen lassen sich ableiten:
Abb. 1 Schwingungs- und Rotationsanteil der Bildungsenthalpie
(Hvib, Hrot) sowie Schwingungs-, Rotations- und Translationsanteil
der Entropie (Svib, Srot, Strans) von Bis-(trimethylsilyl)-carbodiimid
in Abhängigkeit von der Temperatur.
1. Der Rotationsanteil der Bildungsenthalpie beträgt weniger als 1 % der Gesamtenthalpie und ist daher zu vernachlässigen, d.h., die Bildungsenthalpie wird fast ausschließlich von den inneren Molekülschwingungen bestimmt.
2. Der Schwingungsanteil der Bildungsenthalpie zeigt einen nichtlinearen Verlauf in Abhängigkeit von der Temperatur. Dies ist von Bedeutung für die Reaktionsenthalpien:
Zeigen die Bildungsenthalpien der weiteren Reaktionspartner ebenfalls nichtlineare Verläufe in Abhängigkeit von der
Temperatur, ist mit lokalen Extrema der Reaktionsenthalpie zu rechnen. Das heißt, es können dann aus diesen thermodynamischen Rechnungen Temperaturbereiche angegeben werden, in denen die Reaktion besonders bevorzugt
oder behindert ablaufen wird.
3. Der Schwingungsanteil der Bildungsenthalpie nähert
sich beim Übergang zu tiefen Temperaturen asymptotisch
einem konstanten Wert (Nullpunktsenthalpie). Der Rotationsanteil der Bildungsenthalpie geht bei tiefen Temperaturen gegen Null.
4. Translations- und Rotationsanteil bestimmen den
Hauptteil der Entropie bei tiefen Temperaturen (T
, 150 K). Bei höheren Temperaturen gehen diese in einen
Sättigungsbereich über, so daß die Entropie jetzt vom
Schwingungsanteil dominiert wird (T . 220 K), der einen
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Polymere Carbodiimide als Vorstufen für keramische Werkstoffe
nahezu linearen Verlauf in Abhängigkeit von der Temperatur zeigt. Somit sind für das Zustandekommen der Reaktion Zusammenstöße und Schwingungen von Molekülen
erforderlich, die erst oberhalb einer gewissen Mindesttemperatur erfolgen.
Aus diesen absoluten thermodynamischen Größen können Reaktionsenthalpien abgeleitet werden, aus denen sich
Aussagen über die Optimierung der Reaktionsführung ergeben. So kann für die Darstellung von Silicium- und Titancarbodiimiden aus den Elementchloriden und Bis(trimethylsilyl)carbodiimid nach der allgemeinen Reaktionsgleichung
n XCl4 1 2n (CH3)3Si2N5C5N-Si(CH3)3 R
R1
R2
[X(N5C5N)2]n 1 4 n (CH3)3SiCl (3)
P1
P2
(X 5 Si, Ti)
mit R1 und R2 als Reaktanden und P1 und P2 als Produkten, die Reaktionsenthalpie ∆HR(T) aus den zuvor berechneten Bildungsenthalpien ∆Hf(T) für alle R und P wie folgt
abgeleitet werden: Mit nR` ist die Reaktionsenthalpie der
Polymerisationsreaktion (3) asymptotisch zu erwarten. Es
zeigt sich, daß man bereits für n 5 2 aus Gleichung (4)
∆HR(T) 5 2 ∆HfP1(T) 1 8 ∆HfP2(T) 2 2 ∆HfR1(T) 2 4 ∆HfR2(T)
(4)
einen Verlauf der Reaktionsenthalpie in Abhängigkeit von
der Temperatur erhält (Abb. 2), der mit den experimentell
optimierten Reaktionsbedingungen gut übereinstimmt.
Für die Reaktionsführung bedeutet dieser Verlauf der Reaktionsenthalpie:
Abb. 2 Verlauf der Reaktionsenthalpie für die Reaktion von Siliciumtetrachlorid und Titantetrachlorid mit Bis(trimethylsilyl)-carbodiimid in Abhängigkeit von der Temperatur.
1. Es gibt für beide Reaktionen ein lokales Minimum der
Reaktionsenthalpie, d.h., es gibt eine optimale Temperatur,
bei der die Reaktionen mit maximaler Geschwindigkeit und
Ausbeute ablaufen werden. Diese Temperatur liegt nach
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den Rechnungen für die Reaktion von SiCl4 bei etwa 340 K,
für TiCl4 bei etwa 280 K.
2. Das lokale Minimum ist breit, d.h., mäßige Abweichungen von der optimalen Reaktionstemperatur werden sich
nicht drastisch ausbeutemindernd bemerkbar machen.
3. Der absolute Wert des Minimums der Reaktionsenthalpie
liegt für die Reaktion mit TiCl4 etwa 50 kcal/mol niedriger
als für die Reaktion mit SiCl4. Das bedeutet, daß neben der
niedrigeren optimalen Reaktionstemperatur die Reaktion
mit TiCl4 leichter vonstatten gehen wird (z.B. ist kein Katalysator erforderlich, wie im Falle der Reaktion mit SiCl4).
Die Rolle des Katalysators bei der Reaktion und der
Ausbildung des Übergangszustandes
Bei der Reaktion von Bis(trimethylsilyl)-carbodiimid mit Siliciumtetrachlorid ist auch bei erhöhter Temperatur ohne
Katalysator keine akzeptable Reaktionsgeschwindigkeit erreichbar. Dagegen läuft die Reaktion mit Titantetrachlorid
bereits bei 0 °C ohne Katalysator mit guten Ausbeuten
[325].
Um die Rolle von Pyridin als Katalysator zu klären, wurden semiempirische quantenchemische Rechnungen durchgeführt.
Für eine Wechselwirkung mit Pyridin kommen in erster
Linie das Edukt Bis(trimethylsilyl)-carbodiimid sowie das
Nebenprodukt Trimethylchlorsilan in Frage. Da sich die katalysierende Rolle von Pyridin bei Reaktionen von Bis(trimethylsilyl)carbodiimid mit verschiedenen Elementchloriden ACln zeigt, kann angenommen werden, daß vorwiegend eine Wechselwirkung von Pyridin mit Bis(trimethylsilyl)carbodiimid für die katalytische Aktivität verantwortlich
ist [3] und nicht die Wechselwirkung mit dem Elementchlorid. Dies scheint ein wesentlicher Unterschied zu Elementfluoriden zu sein [19]. Daher wurden von Greiner [3] NMRSpektren von reinem Bis(trimethylsilyl)carbodiimid, Mischungen von Bis(trimethylsilyl)-carbodiimid mit Pyridin,
sowie von Trimethylchlorsilan mit Pyridin, gelöst in deuteriertem Chloroform, aufgenommen. Während sich bei Trimethylchlorsilan vor und nach Zugabe von Pyridin keine
außergewöhnliche Änderung der Form und chemischen
Verschiebung der Spektren erkennen läßt, finden sich bei
der Mischung aus Pyridin und Bis(trimethylsilyl)-carbodiimid deutliche Veränderungen gegenüber den Reinsubstanzen. Auffällig ist bei diesen Untersuchungen die Aufspaltung des scharfen Singuletts der Methyl-Wasserstoffatome
der Trimethylsilylgruppe im 1H-NMR-Spektrum in ein Dublett mit Intensitätsverhältnis 2:1 bei Zugabe von Pyridin.
Dies läßt auf eine veränderte chemische Umgebung und
veränderte Bindungswinkel einer Methylgruppe schließen,
die sich in sterisch ungünstiger Position zu einem am Siliciumatom komplexierten Pyridinmolekül befindet. Auch im
dazugehörigen 1H-NMR-Spektrum des Pyridins sind entsprechende Veränderungen der Feinstruktur erkennbar. Die
chemische Verschiebung des 29Si-Resonanzsignals der Trimethylsilylgruppe findet sich unter dem Einfluß des Pyri599
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dins leicht hochfeldverschoben, was auf eine stärkere Abschirmung des Siliciumkernes schließen läßt.
Aufgrund dieser spektroskopischen Anhaltspunkte, die
für eine Anlagerung des Pyridins an die Trimethylsilylgruppe des Bis(trimethylsilyl)carbodiimids sprechen, wurde
in der vorliegenden Arbeit eine quantenchemische Berechnung des vermuteten Komplexes aus beiden Molekülen mit
dem PM3-Verfahren vorgenommen. Da hierbei auch
schwache elektrostatische intermolekulare Kräfte berücksichtigt werden (im Gegensatz zu den semiempirischen Verfahren der ersten Generation), wurde eine Geometrieoptimierung nach der BFGS-Methode [18] für diesen Komplex
einbezogen. Neben den optimalen geometrischen Parametern wurden die Energie-Eigenwerte, die Partialladungen an
den betreffenden Atomen sowie das molekulare elektrostatische Potential in der räumlichen Umgebung des Molekülkomplexes berechnet. Abbildung 3 zeigt eine graphische
Darstellung der optimierten Geometrie des Molekülkomplexes nach der PM3-Rechnung. Neben der Molekülgeometrie ist das molekulare elektrostatische Potential in einer
Schnittebene zwischen beiden Molekülen dargestellt, so daß
die Wechselwirkung zwischen Pyridin-Stickstoff- und Siliciumatom sichtbar wird. Es besteht eine elektrostatische Anziehung zwischen diesen beiden Atomen (rot), und es
kommt zu einem partiellen Ladungsausgleich. Weiterhin erfolgt eine Aufweitung des Tetraederwinkels, der zwischen
dem Siliciumatom und den drei Methylgruppen aufgespannt wird. Diese Verhältnisse sind in Tabelle 1 zusammengefaßt.
Das Pyridinmolekül mit dem freien Elektronenpaar des
Stickstoffatoms wirkt offenbar als Elektronendonor für das
Siliciumatom, wodurch die Abspaltung eines Trimethylsilyl-
Tabelle 1 Strukturelle und elektronische Parameter von Bis(trimethylsilyl)-carbodiimid, Pyridin und des Komplexes aus beiden
Molekülen.
Bis(trimethylsilyl)carbodiimid
Torsionswinkel -Si(CH3)3
Partialladung am Si-Atom
Partialladung am
Pyridin-N-Atom
Pyridin
35.2°
10.44
Molekülkomplex
21.9°
10.34
20.68
10.002
kations erleichtert wird. Dadurch kann der nucleophile Angriff der Carbodiimidgruppe am Elementchlorid unter
gleichzeitiger Abspaltung eines Chloridions erleichtert werden. Unter der Annahme eines bimolekularen nucleophilen
Substitutionsmechanismus (SN2) zeigt Abbildung 4 den
möglichen Ablauf dieser Reaktion.
Betrachtet man den Abstand des Si- bzw. Ti-Atoms des
angreifenden Elementchloridmoleküls vom Stickstoffatom
der Carbodiimidgruppe als Reaktionskoordinate, so läßt
sich der Verlauf der Reaktion thermodynamisch verfolgen
und ein Übergangszustand postulieren (Abb. 5). Mit Hilfe
semi-empirischer Verfahren sind Geometrie und energetischer Abstand des Übergangszustandes vom Grundzustand
berechenbar [20]. Abbildung 6 zeigt die optimierte Geometrie des postulierten Übergangszustandes sowie das molekulare elektrostatische Potential auf der van-der-WaalsOberfläche des Molekülkomplexes. Zur Ermittlung des
Übergangszustandes wird der Abstand zwischen dem Heteroatom des Elementchlorids und dem Stickstoffatom der
Carbodiimidgruppe vorgegeben, und alle anderen Geome-
Abb. 3 Wechselwirkung zwischen Pyridin und Bis(trimethylsilyl)-carbodiimid. Darstellung der Geometrie des Komplexes sowie des elektrostatischen molekularen Potentials in einer Schnittebene zwischen beiden Molekülen.
blau: Core-core-repulsion-Energie in unmittelbarer Nähe der Atome.
rot und gelb: Elektrostatische Anziehung.
PM3-Rechnung mit BFGS-Optimizer.
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Abb. 4 Postulierter SN-Mechanismus für die Reaktion von Bis(trimethylsilyl)-carbodiimid mit Elementchloriden ACln und Pyridin
als Katalysator.
trieparameter werden optimiert (Abb. 7). Die Geometrie
des Übergangszustandes im Verlauf des angenommenen
Reaktionsmechanismus unterscheidet sich von der Geometrie des Grundzustandes: Während im Grundzustand des
Bis(trimethylsilyl)carbodiimids die Carbodiimidgruppe linear gebaut ist (siehe Abb.3), schließen die drei Atome
2N5C5N2 im Übergangszustand einen Winkel von 132°
ein (Abb. 6). Betrachtet man die Enthalpien ∆H, die sich
aus den Differenzen der Bildungsenthalpien ∆Hf des Molekülkomplexes der Abbildung 6 und der beteiligten Edukte
ergeben, ohne und mit Pyridin als Katalysator (Gln. 5a
bzw. 5b),
Abb. 6 Übergangszustand für die Reaktion von Bis(trimethylsilyl)-carbodiimid mit Siliciumtetrachlorid ohne (oben) und mit Pyridin (unten) als Katalysator. Darstellung der Geometrie und des
elektrostatischen molekularen Potentials auf der van-der-WaalsOberfläche des Molekülkomplexes.
Einfluß auf seine Lage in Abhängigkeit von der Reaktionskoordinate. Offensichtlich ist die Lewis-Acidität von Titantetrachlorid von einer Stärke, die den Einsatz eines Katalysators überflüssig macht.
Abb. 5 Postulierter Übergangszustand für die SN2-Reaktion von
Bis(trimethylsilyl)-carbodiimid mit Elementchloriden. Reaktionskoordinate R ist hier der Abstand d zwischen dem Heteroatom A
und dem Stickstoffatom der Carbodiimidgruppe.
1 ∆HfSiCl4]
∆H 5 ∆Hf 2 [∆HBis
f
(5a)
1 ∆HfSiCl4 1 ∆HfPyridin]
∆H 5 ∆Hf 2 [∆HBis
f
(5b)
in Abhängigkeit von der Reaktionskoordinate (vgl. Abb. 7),
so läßt sich der Einfluß des Katalysators im Falle der Reaktion mit Siliciumtetrachlorid an zwei Fakten erkennen:
1. Die Enthalpie des Übergangszustandes wird durch Pyridin als Katalysator um 15.2 kcal/mol erniedrigt.
2. Der Übergangszustand wird früher erreicht.
Im Gegensatz dazu bewirkt Pyridin bei der Reaktion mit
Titantetrachlorid weder eine Erniedrigung der Enthalpie
des Übergangszustandes noch hat es einen wesentlichen
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Tautomerie zwischen Carbodiimid und Cyanamid
Zwischen Carbodiimid und Cyanamid besteht eine Strukturtautomerie, die für monomere organische Carbodiimide
in Abbildung 8 dargestellt ist. Strukturelemente polymerer
Carbodiimide werden durch Cluster gemäß Abbildung 9
wiedergegeben. Für die Polymerisationsreaktion vom Typ
(3) ist das tautomere Verhältnis von Carbodiimid- und Cyanamid-Struktur von Bedeutung, da der postulierte Reaktionsmechanismus und der erwünschte hohe Polymerisationsgrad vom Vorhandensein der Carbodiimidbindung abhängen. Wie orientierende semiempirische Rechnungen zeigen, sind die energetischen Unterschiede zwischen beiden
Formen gering. Daher wurden ab-initio-Rechnungen auf
der Basis der Dichtefunktionaltheorie durchgeführt, um
Aussagen über absolute Energien beider tautomerer Formen zu gewinnen. Das Verhältnis beider Tautomere hängt
vom Lösungsmittel und der Temperatur ab. Daher wurden
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soluten Energie in Abhängigkeit von der Anzahl der Lösungsmittelmoleküle wurde verfolgt. Relevant ist hierbei
die Größe
Abb. 8 Carbodiimid und Cyanamid als tautomere Formen:
a 2 N,N9-Dicyclohexylcarbodiimid (DCCD)
b 2 N,N-Dicyclohexylcyanamid
Abb. 7 Enthalpie des Reaktionskomplexes [ACl3][Si(CH3)32N5
C5N-Si(CH3)3] für die Reaktion von Bis(trimethylsilyl)-carbodiimid mit Siliciumtetrachlorid (a, A5Si) und Titantetrachlorid (b,
A5Ti) ohne (Kurve 1) und mit Pyridin (Kurve 2) als Katalysator.
Als Reaktionskoordinate R wurde der Abstand d zwischen dem
Stickstoffatom der Carbodiimidgruppe und dem Heteroatom A in
Å gewählt. Das Maximum der Kurven stellt den Übergangszustand
für die jeweilige Reaktion dar.
die Rechnungen für beide Formen für jeweils ein isoliertes
Molekül im Vakuum, für ein Molekül in einem hydrophoben (n-Hexan) und einem hydrophilen Lösungsmittel (Wasser) durchgeführt. Hierfür wurde das Molekül in 5, 10 und
20 Lösungsmittelmoleküle eingebettet, zunächst eine semiempirische Rechnung mittels des PM3-Verfahrens mit
Geometrieoptimierung des gesamten Molekül-Lösungsmittelkomplexes und anschließend eine DFT-Rechnung durchgeführt. Das asymptotische Verhalten der berechneten ab602
Abb. 9 Cluster zur Simulation tautomerer Formen metallorganischer Carbodiimide:
a 2 Cluster mit Carbodiimidbindungen
b 2 Cluster mit 3 Carbodiimid- und einer Cyanamidbindung
c 2 Cluster mit 4 Cyanamidbindungen
A 5 Si oder Ti, R1 5 H oder Alkyl.
E 5 E9 2 n · EL
(6)
wobei E9 die berechnete Energie des Gesamtkomplexes, EL
die Energie eines Lösungsmittelmoleküls und n die Anzahl
der in der Rechnung berücksichtigten Lösungsmittelmoleküle darstellt. In die Größe E geht somit neben der WechZ. Anorg. Allg. Chem. 2002, 628, 5962607
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selwirkung des Lösungsmittels mit dem Carbodiimid / Cyanamid auch die Wechselwirkung der Lösungsmittelmoleküle untereinander ein.
Um auch einen experimentellen Nachweis des Tautomerieverhältnisses Carbodiimid-Cyanamid durch IR-spektroskopische Messungen in Lösung führen zu können, wurde
das monomere N,N9-Dicyclohexylcarbodiimid (DCCD) in
die Untersuchungen einbezogen. Als organische monomere
Verbindung ist DCCD in vielen Lösungsmitteln gut löslich
und kann somit in Lösung spektroskopiert werden. Aus diesem Grund wurde für DCCD außer n-Hexan und Wasser
auch Tetrachlorkohlenstoff als Lösungsmittel für die DFTRechnungen ausgewählt, da DCCD in CCl4 spektroskopiert
wurde. CCl4 eignet sich in diesem Fall als Lösungsmittel,
da es selbst nicht im spektralen Bereich der asymmetrischen
Valenzschwingung der Carbodiimid-Bindung wie auch der
Valenzschwingung der Cyanamid-Bindung absorbiert.
Abb. 11 Maxwell-Boltzmann-Verteilung für das Verhältnis der
tautomeren Formen von N,N9-Dicyclohexylcarbodiimid und N,NDicyclohexylcyanamid in Tetrachlorkohlenstoff in Abhängigkeit
von der Temperatur.
Abb. 10 Absolute Energien von N,N9-Dicyclohexylcarbodiimid
(- - - - -) und dem tautomeren N,N-Dicyclohexylcyanamid
) im Vakuum, in Tetrachlorkohlenstoff, n-Hexan, Ace(
tonitril und Wasser.
DFT-BP-DN*-Rechnung.
Die DFT-Rechnungen zeigen folgendes Ergebnis (Darstellung der Größe E gemäß Gl. (6) in Abb. 10): Im Vakuum, in Tetrachlorkohlenstoff und in n-Hexan ist das Carbodiimid gegenüber dem Cyanamid energetisch begünstigt.
Die Energieunterschiede zum Cyanamid sind in Tetrachlorkohlenstoff mit ∆E 5 0.16 eV am geringsten. Nimmt man
für das quantitative Verhältnis der Tautomere V 5 n1/n2
näherungsweise eine Maxwell-Boltzmann-Verteilung
V (∆E,T) 5 1 / exp (∆E/kT)
(7)
an, so kann dieses Verhältnis in Abhängigkeit von der Temperatur abgeschätzt werden. Abbildung 11 zeigt, daß bei
Raumtemperatur in Tetrachlorkohlenstoff etwa 99,82 %
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Abb. 12 FT-IR-Spektrum von N,N9-Dicyclohexylcarbodiimid in
Tetrachlorkohlenstoff.
Carbodiimid und 0,18 % des tautomeren Cyanamids vorliegen werden. Durch die im Vakuum und lipophilen Lösungsmitteln höhere Energiedifferenz der tautomeren Formen wird sich hier das Gleichgewicht noch weiter zugunsten des Carbodiimids verschieben.
Abbildung 12 zeigt das FT-IR-Spektrum von DCCD in
CCl4. Durch Vergleich mit den Ergebnissen von PM3-Rechnungen mit anschließender force-calculation können die intensitätsreichsten Absorptionsbanden im Infrarotbereich
zugeordnet werden (Tab. 2 und 3): Bei 2136 cm21 findet
man die asymmetrische Valenzschwingung der Carbodiimidgruppe mit hoher Absorptionsintensität. Die Valenz603
O. Lichtenberger, J. Woltersdorf, R. Riedel
schwingung der dazu tautomeren Cyanamidgruppe ist mit
geringerer Intensität bei 2361 cm21 nachzuweisen. Auch die
Wellenzahl der C-H Valenzschwingung an dem zur Carbodiimidgruppe α-ständigen Kohlenstoffatom der Cyclohexanringe zeigt eine Abhängigkeit von der Tautomerie:
2856 cm21 im Falle des Carbodiimids, 2792 cm21 im Falle
des Cyanamids. Im Bereich von 2927 bis 2940 cm21 treten
weitere Absorptionen infolge von C-H Valenzschwingungen
an den Cyclohexanringen auf, die nicht näher aufgelöst
wurden.
Tabelle 2 Vergleich von berechneten Schwingungseigenwerten
und gemessenen Absorptionen im FT-IR-Spektrum von N,N9-Dicyclohexylcarbodiimid. Wellenzahlen in cm21.
2N5C5N2 cm21
asym. Valenz
α-C-H Valenz cm21
C-H Valenz
cm21
PM3-Rechnung 1 force calc.
DCCD
DCCD
(Vakuum)
(in CCl4)
experimentell
gefunden
(FT-IR in CCl4)
2153
2159
2136
2868
2945...2951
2827
2922...2950
2856
2927...2940
Tabelle 3 Vergleich von berechneten Schwingungseigenwerten
und gemessenen Absorptionen im FT-IR-Spektrum von N,N9-Dicyclohexylcarbodiimid. Wellenzahlen in cm21.
2C;N Valenz cm21
α-C-H Valenz cm21
C-H Valenz
cm21
PM3-Rechnung 1 force calc.
DCCD
DCCD
(Vakuum)
(in CCl4)
experimentell
gefunden
(FT-IR in CCl4)
2368
2796
2945...2956
2361
2792
2927...2940
2363
2792
2910...2961
keine IR-Spektren der polymeren metallorganischen Carbodiimide in Lösung aufgenommen werden.
Hingegen lassen sich für organische monomere Verbindungen Aussagen zum Gleichgewicht der Tautomere in Abhängigkeit vom Lösungsmittel auch durch UV-Spektroskopie gewinnen: DCCD wurde in 1024 molarer Lösung in nHexan und Acetonitril im Wellenlängenbereich von 190 bis
400 nm spektroskopiert. Zur Interpretation der Spektren
wurden PM3-Rechnungen von N,N9-Dicyclohexylcarbodiimid und N,N-Dicyclohexylcyanamid mit Berücksichtigung
der Konfigurationswechselwirkung ausgeführt. Dabei wurden die Energieeigenwerte der drei höchsten besetzten und
der drei niedrigsten unbesetzten Molekülorbitale einbezogen. Die Ergebnisse sind in der Abbildung 13 sowie der
Tabelle 4 zusammengefaßt: Die Lösung von DCCD in nHexan zeigt nur eine intensitätsreiche Absorptionsbande
bei 202 nm (Abb. 13a), die einem Elektronenübergang in
einen angeregten Singulettzustand des Carbodiimids zugeordnet werden kann (Tab. 4). In Acetonitril verschiebt sich
diese Absorptionsbande zu höheren Wellenlängen
(212 nm), außerdem treten eine Schulter bei ca. 245 nm und
eine breite Bande mit geringer Intensität bei ca. 305 nm auf
(Abb. 13b). Ob es sich bei der Absorption bei 212 nm um
eine bathochrome Verschiebung der auch in n-Hexan beob-
i: 2x, y, 1/22z
Der Vergleich von gemessenem FT-IR-Spektrum und berechneten Schwingungseigenwerten zeigt, daß in Tetrachlorkohlenstoff als Lösungsmittel tatsächlich beide tautomeren Formen des DCCD nebeneinander existieren. Weiterhin ergeben die DFT-Rechnungen, daß in unpolaren
Lösungsmitteln wie n-Hexan die Carbodiimidform energetisch begünstigt ist. In polaren Lösungsmitteln wie Acetonitril oder Wasser kehrt sich dagegen das Verhältnis von Carbodiimid und Cyanamid um (Abb. 10): In Wasser ist das
Cyanamid gegenüber dem Carbodiimid deutlich energetisch
begünstigt, und zwar um 0,85 eV.
Informationen zum Tautomeriegleichgewicht von polymeren Silicium- und Titancarbodiimiden, die in Form von
Feststoffen vorliegen und für die IR-Spektroskopie in KBr
gepreßt werden können, sind schwieriger zu erhalten: Infolge der im polymeren Festkörper gekoppelten asymmetrischen Valenzschwingungen der Carbodiimidgruppen werden in diesem Fall sehr breite Banden im Wellenzahlbereich
zwischen 2060 bis 2270 cm21 beobachtet, die eine eindeutige Zuordnung zur Carbodiimid- bzw. Cyanamid-Valenzschwingung verhindern [5]. Da sie in den üblichen organischen Lösungsmitteln schwer löslich sind, können auch
604
Abb. 13a UV-Spektrum einer 1024 molaren Lösung von N,N9Dicyclohexylcarbodiimid in n-Hexan.
Abb. 13b UV-Spektrum einer 1024 molaren Lösung von N,N9Dicyclohexylcarbodiimid in Acetonitril.
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Polymere Carbodiimide als Vorstufen für keramische Werkstoffe
achteten Bande des Carbodiimids aufgrund von Lösungsmitteleffekten handelt (Solvatochromie) oder um eine Elektronenanregung des tautomeren Cyanamids (Tab. 4) kann
zunächst nicht entschieden werden. Die beiden anderen zusätzlich beobachteten Merkmale des Spektrums lassen sich
jedoch eindeutig Anregungen des Cyanamids zuordnen,
und zwar einem angeregten Singulett- (Schulter bei 245 nm)
und einem Triplettzustand (305 nm). Die UV-Spektren zeigen somit eine Abhängigkeit des Gleichgewichts der Tautomeren von der Polarität des Lösungsmittels, wie es auch aus
den Ergebnissen der DFT-Rechnungen (Abb. 10) zu erwarten ist: In polaren Lösungsmitteln bzw. solchen mit hohem
Dipolmoment wird das Cyanamid nachgewiesen.
Tabelle 4 Vergleich von gemessenen UV-Absorptionsbanden für
N,N9-Dicyclohexylcarbodiimid in n-Hexan und Acetonitril mit berechneten Energien von Elektronenübergängen von N,N9-Dicyclohexylcarbodiimid und N,N-Dicyclohexylcyanamid.
Lösungsmittel
n-Hexan
UV-VIS-Spektrum,
gemessene Absorptionsbande
λ nm
202
N,N9-Dicyclohexylcarbodiimid
N,N-Dicyclohexylcyanamid
λ (nm)
189.2
209.7
242.3
308.2
Acetonitril
212
245 (Schulter)
305
PM3-CI-Rechnung
E (eV)
Multipl.
6.5531
S
5.9125
S
5.1170
S
4.0229
T
Wegen der strukturellen Ähnlichkeit von Cyanamid und
der Cyangruppe in Acetonitril scheint es zunächst nicht
selbstverständlich, daß Acetonitril als Lösungsmittel für die
UV-Spektroskopie von Cyanamiden geeignet ist. Die konjugative Wirkung des zusätzlich an die Cyangruppe gebundenen Stickstoffatoms führt jedoch zu den spektroskopisch
nachgewiesenen und auch durch PM3-CI-Rechnungen bestätigten beiden langwelligen Übergängen, die im bis
190 nm gut UV-durchlässigen Acetonitril gemessen werden
können.
In einem weiteren Schritt wurden DFT-Rechnungen zum
Tautomerieverhältnis für Struktureinheiten der polymeren
Silicium- und Titancarbodiimide, wie sie durch die jeweils
drei Cluster der Abbildung 9 repräsentiert werden, durchgeführt. Die Abbildung 14 zeigt die nach Gleichung (6) ermittelten absoluten Energien aus DFT-Rechnungen für diese
Cluster im Vakuum, in n-Hexan und in Wasser. Daraus lassen sich sowohl für die Silicium- wie auch für die Titanverbindungen folgende Aussagen treffen:
1. Im Vakuum ist immer das Carbodiimid energetisch begünstigt.
2. In n-Hexan kommt offenbar dem Molekül die energieärmste Form zu, das sich durch Carbodiimid- und Cyanamidbindungen am Heteroatom auszeichnet (repräsentiert
durch einen Cluster mit jeweils drei Carbodiimid- und einer
Cyanamidbindung am Si- bzw. Ti-Atom). Der energetische
Abstand dieser Form zum reinen Carbodiimid in n-Hexan
Z. Anorg. Allg. Chem. 2002, 628, 5962607
Abb. 14a Absolute Energien von Clustern bestehend aus einem
Siliciumatom mit 4 Carbodiimidbindungen (- - - - -), drei Carbodiimid- und einer Cyanamidbindung (2 2 2), sowie vier Cyanamid) im Vakuum (links), einer Umgebung aus
bindungen (
n-Hexan (Mitte) und Wasser (rechts). DFT-BP-DN*-Rechnung.
Abb. 14b Absolute Energien von Clustern bestehend aus einem
Titanatom mit 4 Carbodiimidbindungen (- - - - -), drei Carbodiimid- und einer Cyanamidbindung (2 2 2), sowie vier Cyanamidbinim Vakuum (links), einer Umgebung aus ndungen (
Hexan (Mitte) und Wasser (rechts). DFT-BP-DN*-Rechnung.
605
O. Lichtenberger, J. Woltersdorf, R. Riedel
beträgt allerdings in beiden Fällen (Si- und Ti-Verbindung)
weniger als 0.1 eV.
3. In wäßriger Umgebung ist in allen Fällen die Cyanamidform die energetisch günstigste (repräsentiert durch einen Cluster mit vier Cyanamidbindungen am Heteroatom).
Für die Synthese läßt sich aus diesen Rechnungen ableiten, daß die Substitutions- und Polymerisationsreaktionen
günstigerweise in Lösungsmitteln mit geringem Dipolmoment und kleiner Dielektrizitätskonstante durchgeführt
werden sollten, da endständige Cyanamidgruppen, wie sie
vorzugsweise in polaren Lösungsmitteln auftreten, zu einem
veränderten Polymerisationsverhalten führen können.
Zusammenfassung
1. Der Verlauf der Reaktionsenthalpie für die Reaktion
von Bis(trimethylsilyl)carbodiimid mit Silicium- und Titantetrachlorid konnte mit Hilfe von Post-Hartree-FockRechnungen in Abhängigkeit von der Temperatur ermittelt werden. Daraus ließen sich Temperaturbereiche für
eine maximale Reaktionsgeschwindigkeit ableiten.
2. Die Reaktion von Bis(trimethylsilyl)carbodiimid mit Silicium- und Titantetrachlorid kann auf einen bimolekularen nucleophilen Substitutionsmechanismus (SN2-Reaktion) zurückgeführt werden. Die geometrischen und
elektronischen Eigenschaften des Übergangszustandes
dieser Reaktion wurden mit Hilfe semiempirischer quantenchemischer Verfahren charakterisiert.
3. Die Rolle von Pyridin als Katalysator bei der Reaktion
mit Siliciumtetrachlorid konnte geklärt werden: Pyridin
bewirkt
a) eine Aufweitung des Tetraederwinkels, der im Molekül Bis(trimethylsilyl)carbodiimid zwischen dem Siliciumatom und den Methylgruppen aufgespannt wird,
b) einen Ladungstransfer vom Stickstoffatom des Pyridins auf das Siliciumatom, so daß die Abspaltung eines
Trimethylsilylkations erleichtert wird,
c) eine Verringerung der Energie des Übergangszustandes. Dieser wird darüber hinaus durch den Einfluß des
Pyridins früher auf der Reaktionskoordinate erreicht.
(Diese Eigenschaften sind nur bei der Reaktion mit Siliciumtetrachlorid zu erwarten: Aufgrund der höheren Lewis-Acidität von Titantetrachlorid ist bei dieser Reaktion kein Katalysator erforderlich.)
4. Unter Anwendung von ab-initio-Verfahren (Dichtefunktionaltheorie) konnten Aussagen zum Verhältnis der
Tautomere Carbodiimid - Cyanamid in Abhängigkeit
von der Polarität des Lösungsmittels gewonnen werden.
Ein organisches Carbodiimid (N,N9-Dicyclohexylcarbodiimid) wurde für spektroskopische Untersuchungen als
Modellsubstanz eingesetzt, da es in zahlreichen Lösungsmitteln leicht löslich ist. In Tetrachlorkohlenstoff
wurden IR-, in n-Hexan und Acetonitril UV-Spektren
aufgenommen, die die theoretischen Aussagen zum Tautomerieverhältnis bestätigen: In Lösungmitteln hoher
Polarität (Acetonitril, Wasser) nimmt die Wahrschein606
lichkeit für die Bildung der Cyanamidform zu; in unpolaren Lösungsmitteln (n-Hexan) ist die Carbodiimidform
energetisch begünstigt. Für die Substitutionsreaktion
von Bis(trimethylsilyl)carbodiimid mit Elementchloriden
wie auch für die anschließende Polymerisationsreaktion
bedeutet dies, daß in Lösungsmitteln mit geringem Dipolmoment und kleiner Dielektrizitätskonstante sowie
unter Feuchtigkeitsausschluß zu arbeiten ist.
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