MATTHIAS MAHLMANN, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 2

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MATTHIAS MAHLMANN, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 2. Auflage, BadenBaden, Nomos Verlagsgesellschaft, 2012, 368 S., 23,– €.
Matthias Mahlmanns Lehrbuch Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 2010 in erster
Auflage erschienen, richtet sich vor allem an
Studierende, eignet sich aber auch für jeden,
der sich einen Überblick über wichtige rechtsphilosophische Quellen und über die Grundfragen der Rechtsphilosophie verschaffen
will. Der Autor ist Ordinarius für Philosophie
und Theorie des Rechts, Rechtssoziologie
und internationales öffentliches Recht an der
Universität Zürich. Sein Buch ist zum Teil aus
Lehrveranstaltungen hervorgegangen. Der
rund 250seitige historisch-chronologische
Abriss des ersten Teils soll die Grundlage legen für die rund 100seitigen systematischen
Erwägungen im zweiten Teil, die beabsichtigen, eine konstruktive Rechtsphilosophie zu
entwickeln.
Im ersten Teil geht Mahlmann nach dem
Muster vor, die jeweilige rechtsphilosophische Quelle in Grundzügen vorzustellen,
um dann eine kritische Einschätzung vorzunehmen. Er will eine „Hilfestellung bei der
eigenen Urteilsbildung“ leisten (16) und zu
„moralischer Mündigkeit“ beitragen (17). Die
einzelnen Theorien diskutiert er fair und ausgewogen, „nicht mit Erledigungsabsicht“ (17).
Sein Credo lautet, dass nahezu jeder theoretischen Quelle ein weiterführender Aspekt
entnommen werden kann.
Das Werk ist klar gegliedert, didaktisch
gut aufgebaut, auf den Punkt geschrieben.
Einen zusätzlichen Reiz erhält es dank eines
Fazits, das in einen interessanten Vorschlag
mündet, das menschliche Moralvermögen
neu zu deuten (s. u.).
Der Titel ist im Sinne einer Gleichsetzung
von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie
aufzufassen. Mahlmann sieht so gut wie keinen Unterschied und meint, eine Differenzierung lohne die intellektuelle Anstrengung
nicht. Die historisch und normativ orientierte
Rechtsphilosophie arbeite auch analytisch
und begriffsorientiert, wie der Rechtstheorie
historische Rückblicke und eine normative
Ausrichtung nicht fremd seien. Diese Position kann man vertreten, man muss sie nicht
teilen.
Beim Nachdenken über das Recht gehe
es um die Leitfrage, wo das „unentdeckte
Land des Guten und Gerechten“ liege (17).
Mahlmanns Buch zeigt, dass im Laufe der
Jahrhunderte viele und große Anstrengungen unternommen wurden, dieses Land zu
finden. Letztlich hat jeder Weg einen Makel
und verliert das große Ziel aus den Augen.
Jedoch rückt es immer näher und wird vielleicht doch irgendwann erreicht. Mahlmann
vertritt die Auffassung eines sukzessiven
Rechtsfortschritts. Das rechtliche Niveau war
vielleicht noch nie so hoch wie in der Gegenwart.
Die Lektüre- und Interpretationsleistung
ist beachtlich. Mahlmann zieht den „frischen
Blick auf die Primärquellen“ den traditionellen
Interpretationen vor, die den Blick verstellen
statt erhellen könnten (16). Man kann bemängeln, dass etwa Machiavelli, Nietzsche
und auch Carl Schmitt fehlen (Letzter wird
kurz unter dem Stichwort Geltungstheorien
erwähnt). Diese Autoren sind offensichtlich
herausgefallen, weil ihre Werke moralkritische, wenn nicht amoralische Implikationen
haben. Die Rechtssoziologie von Max Weber
wird nicht aufgegriffen. Im Komplex neuere
Kritische Theorie kommt Jürgen Habermas
mit seiner Diskurstheorie ausführlich zu Wort,
Axel Honneth („Anerkennung“) und Rainer
Forst („Rechtfertigung“) jedoch bleiben unberücksichtigt.
Mahlmann behandelt zentrale rechtsphilosophische Quellen in der Antike, im Mittelalter und in der Moderne. Sein rechtsphilosophisches Fortschrittsmodell deutet sich in
der Überschrift des ersten Teils an: „Der Weg
zu Demokratie und Menschenrechten“. Mahlmann beginnt seine ideengeschichtliche Theorienschau mit einer der ältesten erhaltenen
schriftlichen Rechtssammlungen: mit dem
Kodex des Königs Hammurabi im Babylonien
in der Zeit um 1700 v. Chr. Auf die Repräsentanten der griechischen und hellenistischen
Philosophie folgen die Vertragstheoretiker,
dann Hume, Kant, Wilhelm von Humboldt,
Mill, Hegel, der Utilitarismus und Marx. Die
gegenwärtigen Theorieströmungen sind reich
vertreten: analytische Philosophie, Pragmatismus und Positivismus, Gustav Radbruchs
Rechtsphilosophie wird aufgegriffen, Rawls,
Kritische Theorie. Dem Feminismus und der
ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), Band 100/4 (2014)
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Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in
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Rezensionen
ökonomischen Rechtsanalyse widmet er eigene Kapitel.
Mahlmann paraphrasiert in der Regel. In
einigen Darstellungen geht er mehr analytisch vor. Das kann ein Zeichen dafür sein,
dass er diese Quellen für weiterführender
hält. Die Darstellung der Praktischen Philosophie Kants ist dafür ein Beispiel. Sie erhält
auch mehr Raum. Trotzdem kann Mahlmann
Kants Friedenstheorie nur anreißen, die Geschichtsphilosophie, die einen wichtigen Untergrund bildet, kommt nicht zur Sprache.
Mahlmanns Verfahren hat Grenzen. Er
behandelt zwar eine große Menge rechtsphilosophischer Quellen, aber nicht immer kann
er in die gebotene Tiefe gehen. Um ein Beispiel zu geben: Lässt sich ein Werk wie die
Dialektik der Aufklärung auf vier Seiten darstellen? Mahlmann kann auf diesem begrenzten Raum weder auf die Entstehungsgründe
des Buches, auf die spezifische Methodik,
auf die sprachlichen Mittel (Übertreibung),
auf das Selbstverständnis des Buches („Flaschenpost“), aber auch auf die Komplexität
und Differenziertheit der Kernthese (der Mechanismus des Umschlags von Aufklärung
in Herrschaft, das „disponierende Denken“,
der „Rigorismus der Aufklärung“, „ihr kaltes
Gesetz“, die Kritik des Nützlichkeitsdenkens,
die Auslöschung von Individualität) nicht eingehen. Das Lebensideal von Adorno wird
kürzest angesprochen („passives Sein“) und
angezweifelt (201), ohne sich auf die Suche
nach Hinweisen im Buch selbst zu machen.
Der Begriff „Glück“ im Odysseus-Exkurs
spielt für Adorno eine wichtige Rolle (Dialektik
der Aufklärung, 70-71) wie auch das Lachen
(84-85), die „authentische“ Kunst und das
(angeblich) unbeschwerte Leben der Gaukler
und Artisten. Bei Horkheimer sind es die Liebe und das Mitleid (116-117). Mahlmann kritisiert, die ältere Kritische Theorie habe die humanisierende Wirkung des Rechts verkannt
(202). Nach heutigen Maßstäben ist diese
Kritik berechtigt, aber wie sollten die Autoren
dieses Potenzial erkennen in einer Situation,
in der das blanke Unrecht herrschte?
Den (amerikanischen) Pragmatismus
handelt Mahlmann auf zweieinhalb Seiten
ab und kehrt einseitig den Nützlichkeits- und
Erfahrungsaspekt hervor. Zustimmend zitiert
er die ganz und gar unsachliche Kritik von
Bertrand Russell, wird damit jedoch der Philosophie des Pragmatismus nicht gerecht.
Diese richtet sich gegen ein erfahrungsunabhängiges, apriorisches Denken, erhebt die
Fallibilität des Wissens zum Grundsatz und
hat dezidiert antidogmatische, pluralistische
Konsequenzen. Sie hat zudem eine Implikation der Toleranz und verdiente deshalb
rechtsphilosophische Beachtung. Vor allem
aus James‘ Pragmatismus-Vorlesungen von
1907 lässt sich dies herausarbeiten. Das
Werk führt Mahlmann im Literaturverzeichnis
auf. Ein zeitgenössischer Neopragmatist wie
Richard Rorty wird nur erwähnt, jedoch könnte man auch seine Arbeiten mit der Grundannahme von Kontingenz bei gleichzeitiger
Verteidigung von zeitlos gültigen Werten wie
Demokratie, Gewaltlosigkeit und das Recht
auf Bildung (vgl. die Essays in Philosophie
& die Zukunft, 2000) als rechtsphilosophisch
relevant ansehen.
Fundiert sind Darstellung und kritische
Einschätzung der Diskurstheorie von Habermas, deren zentrale Schwäche Mahlmann in der Formalität der entworfenen Ethik
sieht. Daraus zieht er den Schluss, dass
das prozeduralistische Rechtsparadigma eines materialen Fundaments bedürfe (213).
Gegenüber Luhmanns Systemtheorie lässt
Mahlmann große Vorbehalte erkennen. Ihr
Funktionalismus führe nicht zuletzt zu einer
Geringschätzung der Menschenrechte. Der
Systemtheorie hält Mahlmann zu Gute, dass
sie die „skeptisch-distanzierte Stimmung“ der
Gegenwart treffe (217), die er allerdings für
bedenklich und auch unbegründet hält. Den
Postmodernen zeigt Mahlmann ihre Selbstwidersprüchlichkeit auf. Der ideengeschichtliche Teil endet mit der „kognitiven Revolution“,
die die modernen Kognitionswissenschaften, die Hirnforschung und die Theorien des
menschlichen Geistes ausgelöst hätten.
Der systematische Teil handelt u. a. vom
Verhältnis zwischen Moral und Recht, das
Mahlmann als untrennbar ansieht. Wer von
Recht spreche, dürfe von Moral nicht schweigen. In der Einheit von Recht und Moral sieht
er den roten Faden der rechtsphilosophischen Ideengeschichte von der Antike bis in
die Moderne. Mahlmann behandelt die Frage
der Legitimität von Rechtsnormen, den Komplex Sprache und Recht und die Gerechtigkeit. Gegen einen „breiten Strom des Würdeskeptizismus“ in der Jurisprudenz (313)
verteidigt er die Idee der Menschenwürde.
Eine schöne These ist, dass das, was wir
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heute Moral nennen, in früheren Zeiten das
Naturrecht gewesen sei (244). Als Merkmale für Moral hebt Mahmann das Fehlen von
Positivität und von formalisierten Sanktionen
hervor, darüber hinaus die Letztverbindlichkeit und die Generierung in einem Wissen
bzw. im Konzept der praktischen Vernunft
(bei Kant), ferner die Orientierung am Wohl
aller sowie die Grundsätze der Gerechtigkeit.
Mahlmann vertritt einen vorsichtigen Universalismus, den er auch als „liberalen und
egalitären Humanismus“ bezeichnet (332).
Prinzipien wie Freiheit und den Grundsatz
der proportionalen Gleichheit als Ausfluss
von Gerechtigkeit, die Menschenwürde sowie den Altruismus hält er für kulturunabhängig und überzeitlich gültig. Im Recht sieht
er auch die Aufgabe der Organisation der
menschlichen Fürsorge (330). Kulturrelativistische Positionen, die den Universalismus
ablehnten, und die in einem fortschrittlichen
Gewand aufträten, nützten vor allem autoritären Herrschaftsregimen (332). Hinter einer
vermeintlich toleranten Haltung verbirgt sich
also in Wahrheit die Intoleranz.
Im systematischen Teil bekommt man
eine guten und soliden Überblick über Grundfragen der Rechtsphilosophie. Originell ist
die Schlussbetrachtung. Mahlmanns These
ist, dass es ein spezifisch menschliches moralisches Urteilsvermögen gibt, das sich nicht
erst sekundär, in einem Lern- und Aneignungsprozess bildet, sondern a priori gegeben ist. Damit richtet er sich vor allem gegen
den einflussreichen Empirismus von John
Locke, der in seinem Essay concerning Human Understanding behauptet, der Mensch
sei ein „Stück weißes Papier“, ein Blatt, das
erst im Laufe des Lebens beschrieben werde.
Mahlmann gewinnt seine These in Auseinandersetzung mit der Theorie des menschlichen Geistes und der modernen Linguistik,
die davon ausgehen, dass bestimmte geistige Strukturen beim Menschen von vorneherein vorhanden sind, noch bevor sie sich
aufgrund von Informationen oder Umwelteinflüssen herauszubilden vermögen. Ganz
ähnlich zeigt die moderne Linguistik, dass
es ein angeborenes Sprachvermögen gibt.
Diese theoretischen Innovationen überträgt
Mahlmann auf die Moraltheorie. Das traditi-
Literatur
onelle empiristische Modell müsse deshalb
stark relativiert werden (344).
Wohl inspiriert von Noam Chomskys
„Universalgrammatik der Sprache“ nennt er
sein Konzept eine „Universalgrammatik der
Moral“ (345). Ihre Elemente sind das Gebot
einer proportionalen, differenzierten Gleichheit und der Altruismus. Mahlmann behauptet, dass der Mensch von Natur aus, rein intuitiv, ein Gespür dafür hat, was gerecht und
moralisch gut ist. Diese Universalgrammatik
impliziert keine bestimmte moralische Konzeption, sondern legt ein „kognitives Fundament“, „auf dem moralische Regeln gebildet
und ethische Theorien formuliert werden“
können (345).
Bei seinem „mentalistischen“ Modell lässt
er sich von Sokrates‘ Idee des daimonion inspirieren, also der Vorstellung einer „inneren
Stimme“. Der „Dämon“ zieht im Hintergrund
zwar nicht alle, aber doch die entscheidenden Fäden: Er lenkt den Menschen in die
Richtung eines moralischen Lebens. Dies ist
die abschließende und beabsichtigt Mut machende Botschaft dieses höchst lehrreichen
Buches.
Wolfgang Hellmich
Dr. W. H., In den Fischergärten 3, 72074 Tübingen, [email protected]
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