VDD Von kaltem Spinat und heißen Datteln Ein ethnologischer Blick auf Ernährung, Krankheit und Gesundheit1 Magdalena Stülb und Yvonne Adam, AMIKO – AG Medizinethnologie & Interkulturelle Kommunikation, Freiburg Ethnologie ist die Wissenschaft vom Exotischen, Fremden, Befremden, Anderen, aber auch vom Eigenen. Warum ethnologische Aspekte auch eine Bedeutung für den Bereich Ernährung, Krankheit und Gesundheit haben, will der folgende Beitrag klären. Dazu wird theoretisch Bezug genommen auf die Medizinethnologie, zu der auch die Ernährungsethnologie zählt. Ein wichtiger Faktor im Umgang mit dem Ernährungsverhalten von Migrantinnen und Migranten ist die Kultur. Am Beispiel tamilischer Einwanderer in die Schweiz sollen zudem die Zusammenhänge von Migration, Schwangerschaft und Ernährung beleuchtet werden. Ethnologie, Kultur und Ernährung Die „Ethnologie ist die Wissenschaft von den Lebensweisen menschlicher Populationen, die voneinander abgegrenzte Gruppierungen bilden und sich durch eben diese Lebensweisen voneinander unterscheiden. Lebensweisen bedeutet hier alles, was zur Gestaltung und Bewältigung des Daseins benötigt und benutzt wird. Anstatt von Lebensweisen kann man auch von Kulturen sprechen“ [10]. Die Ethnologie beschreibt also als Kulturwissenschaft Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Lebensweisen menschlicher Gemeinschaften und versucht sie zu erklären. Das Schlüsselkonzept „Kultur“ wirft allerdings zahlreiche Fragen auf: Was ist „Kultur“? Wie definiert man beispielsweise die deutsche Kultur? Oder die türkische? Was versteht man unter „Esskultur“? Eine klare Definition von „Kultur“ gibt es nicht, über dreihundert unterschiedliche Definitionen sind bekannt. Zunächst ging man davon aus, dass Kultur lokal abgrenzbar ist, wie es in dem Satz „das ist die Kultur der Inder“ zum Ausdruck kommt. Im Laufe der Begriffsgeschichte hat sich dann die Vorstellung entwickelt, dass wir durch Kultur in Wahrnehmung, Denken, Sprache und Empfinden geformt sind und dass wir gleichzeitig unsere Kultur erschaffen. Kultur wird heute als ein offenes System von 1 Vortrag anlässlich der 47. Fortbildungstagung des VDD im Mai 2005 in Nürnberg 322 Erklärungsmöglichkeiten, mit der Menschen diese Erfahrung zu benennen suchen. Sie ersetzt jedoch nicht den Blick auf die sozialen und politischen Bedingungen eines Landes mit Zuwanderung, auf beispielsweise Diskriminierung und Rassismus. Dies muss man im Kontext der Migration immer mitbedenken. Auch ersetzt das Erklärungsmuster „unterschiedliche Kultur“ nicht die Ebene der Individualität. Denn jeder Mensch ist Mitglied einer Gemeinschaft, aber auch ein Individuum [20]. Was löst aber das Befremdungsgefühl aus, wenn wir einem Menschen aus einem anderen Herkunftsland begegnen? Im interkulturellen Kompetenztraining wird mit dem so genannten „Eisbergmodell“ gearbeitet (Abb. 1). Darin werden die drei Ebenen von Kultur als Eisberg dargestellt: Die Spitze besteht aus Artefakten und Verhalten in Form von Sprache, Ritualen und Umgangsformen. Diese sind zwar sichtbar, aber interpretationsbedürftig und nicht immer unbedingt verständlich. Werte und Normen, die Maximen, Richtlinien und Verbote umfassen, sind vorwiegend unausgesprochen, können aber auch explizit dargelegt werden. Sie sind zum Teil noch sichtbar, zum Teil befinden sie sich aber auf einer unbewussten Ebene. Auf dieser Bedeutungen gedacht, das sich in direkter Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Bedingungen konstituiert. Praktikabel wird dieser dynamische Kulturbegriff, wenn man ihn schichtet, das heißt Kultur wird nicht in Oberkategorien wie Nationalitäten untersucht, sondern zum Beispiel auf der Gender-Ebene – Wie verhalten sich Frauen im Unterschied zu Männern? – oder auf der Ebene der Religion. Die selbstdefinierte Zugehörigkeit zu einer Gruppe/Kultur ist dabei das entscheidende Moment [20]. Besonders im Kontext der Migration und der interkulturellen Begegnung ist es wichtig, herauszustellen, dass Kultur ein Konzept zur Erklärung von Unterschieden sein kann, aber nicht deren Ursache ist. Kultur ist kein naturgegebener Tatbestand an sich, sondern eine konstruierte Kategorie zur Beschreibung einer sozial erfahrbaren Reasichtbar, aber nicht sichtbar,aber nichtimmer immer lität, eine theoverständlich verständlich Artefakte & retische Linse, Verhalten durch die Leben betrachtet und geordnet wird. meist aber meistunbewusst, unbewusst,aber Werte & Normen Menschen erlebewusstseinsfähig bewusstseinsfähig ben sich in allen möglichen Zuunbewusst unbewusst Basisannahmen sammenhängen und Situationen als unterschiedlich voneinanAMIKO Freiburg AMIKO -Freiburg der, und kulturelle Differenz ist eine unter vielen Abb. 1: Das „Eisbergmodell“ von Kultur Ernährungs-Umschau 52 (2005) Heft 8 VDD Ebene befindet sich ebenfalls die aus Kernsubstanz einer Kultur, die aus Basisannahmen besteht, die wiederum unsichtbar sind und unbewusst ablaufen. Wenn nun zwei Eisberge aufeinander zu treiben, sprich zwei Kulturen sich begegnen, sind nur die Spitzen sichtbar, die Linie beschreibt die Wasseroberfläche. Schon bald werden die grundlegenden Basisannahmen und Werte zusammenstoßen, ohne dass an der Wasseroberfläche die Ursache dafür erkennbar wäre. Mit diesem Bild vor Augen kann man sich vorstellen, wie schnell und leicht ohne ersichtlichen Grund interkulturelle Begegnungen Konflikte und grundlegende Missverständnisse hervorrufen bzw. zu „Zusammenstößen“ führen können [15]. Die Ethnologie hat es sich zur Aufgabe gemacht, dabei auf die grundlegenden Basisannahmen aufmerksam zu machen. Dies sind: ■ die Beziehungen der Menschen untereinander, wobei entweder der Einzelne oder die Gruppe im Vordergrund stehen, ■ die Aktivität, die entweder durch Sein oder Tun geprägt ist, ■ die Orientierung zur Zeit und ■ das Verhältnis des Menschen zur Natur und Umgebung. Der „ethnologische Blick“ dient dabei dazu, Fragen zu stellen, Alltägliches und Hintergründiges, also nicht Sichtbares, in den Vordergrund zu rücken, Kultur als Hintergrundphänomen wahrzunehmen und auf die kulturelle Bedingtheit aufmerksam zu werden. Die Ethnologin Beatrix PFLEIDERER [14] hat einmal gesagt, wer in der Fremde hinter die Kulissen schaut, beginnt dies spätestens bei seiner Rückkehr aus der fremden Kultur auch in der eigenen Kultur zu tun. Denn Beschäftigung mit Kultur bringt es mit sich, sich auch mit der eigenen Kultur auseinander zu setzen. Im Folgenden soll dieser ethnologische Ansatz auf die kulturelle Vielfalt der Ernährung im Zusammenhang mit Gesundheit angewandt werden. Ernährung als soziales Totalphänomen Ernährung wird in der kulturwissenschaftlichen Forschung als soziales Totalphänomen verstanden: Jeder Mensch isst mehrmals täglich, sein ganzes Leben lang. Er isst bestimmte Lebensmittel aus bestimmtem Grund Ernährungs-Umschau 52 (2005) Heft 8 zu bestimmten Zeiten mit beQuerbeziehungen zu anderen Ordnungen: Glaube, Brauch, Sprache etc. stimmten anLebensrhythmus deren MenHerstellung schen zusamMahlzeitenordnung Zutaten men – oder Zubereitung auch nicht – an Mahlzeit Tageszeit bestimmten Jahresrhythmus Feste Orten. Das EsArt und Zahl der Speisen sen ist kulturelSpeisenfolge len Regeln und Ess-Sitten Zeitpunkt, Dauer Normen unterworfen [8]. Die strukturalistiNatur/Umwelt, Wirtschaft, Staat, Kirche, Medizin,Werbung, etc. sche Theorie AMIKO geht davon AMIKO- Freiburg Freiburg aus, dass die Ernährung wie Abb. 2: Die Mahlzeiten als Zentralkomplex ethnologischer Nahein Kommuni- rungsforschung kationssystem zu verstehen ist und dass deshalb die Einführung in die MedizinAnalyse des Ernährungsverhaltens ein ethnologie Instrument zur Entschlüsselung der Struktur des menschlichen ZuDie Medizinethnologie beschäftigt sammenlebens darstellt [2]. Dabei sich mit Gesundheit und Krankheit steht die Mahlzeit als Akt des Essens und zwar in ihren jeweiligen kulturelim Mittelpunkt der ethnologischen len Kontexten. Sie hat sich in den letzNahrungsforschung (Abb. 2, nach [19]. ten Jahrzehnten in Deutschland zu eiAuf die Esskultur wirken verschiedenem wichtigen Forschungszweig entne Faktoren ein wie: wickelt [6]. ■ die Natur, z. B. konnte sich in Neben der Wahrnehmung dessen, Deutschland keine Kultur des Robwas als Gesundheit und Krankheit bebenessens ausbilden, zeichnet und gesellschaftlich als sol■ die Kirche, z. B. servieren Kantinen che akzeptiert wird, sind auch die Beheute freitags immer noch Fischgehandlungsmethoden ein wichtiges richte, Themengebiet der Medizinethnologie. ■ die Werbung, ohne die der VerbrauIn der Therapie, aber auch in der Vorcher weniger Tütensuppen verzehbeugung von Erkrankungen, also im ren oder koffeinhaltige Limonaden Bereich der Gesundheitserhaltung, trinken würde, oder spielt die Ernährung eine wesentliche ■ die Wirtschaftslage, z. B. kann der Rolle. Dabei muss das, was als gesunde Durchschnittskonsument in Osteuund als ungesunde Nahrung bewertet ropa derzeit kaum argentinische wird, nicht immer unserem biomediSteaks oder französische Austern zinischen Denksystem entsprechen. essen [8]. Lebensmittel können auf sehr vielfältiAndererseits steht die Mahlzeit in Verge Weise klassifiziert werden. bindung mit übergeordneten BereiDie Medizinethnologie betrachtet chen, wie der Sprache, mittels der die die Biomedizin als nur eines von vieSpeisen benannt werden usw. So erlen medizinischen Systemen. Beigibt sich ein komplexes Geflecht, das spielsweise ist die Ayurvedische Mediman zu Recht als (Mahlzeiten-)System zin Indiens bzw. Südasiens ein eigenbezeichnen kann. Dieses steht wiedeständiges Denksystem. Im Verständnis rum mit anderen Systemen in Verbinder Ethnologen gibt es folglich auch dung: über die Herstellung beispielskeine universellen Krankheiten, sonweise mit dem ökonomischen und ledern – gemäß dem Zitat von GEERTZ [4] bensmittelchemischen System, über – ist Kranksein immer kulturgebunden Lebensrhythmus mit Vorstellunden. Das Gleiche gilt für die Gesundgen über den Organismus, mit Geheit und das Sich-Gesund-Fühlen. Das sundheits- und Krankheitskonzepten, zeigt sich auch an der Definition von mit der Weltanschauung u. a. zum meGesundheit. dizinischen System (vgl. Abb. 2). Eine jugendliche Teilnehmerin eiDeshalb wird die Ernährung der nes Gesundheitsworkshops beschreibt Medizinethnologie zugeordnet, die Gesundheit folgendermaßen: „Ich weltweit medizinische Systeme unterfühle mich gesund, wenn ich viel Vitasucht. mine und Gesundes (Essen) esse.“ [ei- 323 VDD gene Erhebung, April 2005]. Das Gesundheitsverständnis eines gläubigen Muslims in Deutschland umfasst dagegen andere Aspekte: „Zur Gesundheit gehört, dass wir das Gebet – vorschriftsmäßig – durchführen, dass wir unsere Familie gut versorgen können, dass wir eine Begegnungsmöglichkeit für die Gemeinde haben, und dass wir einen wohnortnahen Platz zum Sterben wissen.“ [5] Und die Teilnehmerin einer Studie zu Gesundheit in Deutschland fühlt sich unter folgenden Bedingungen gesund: „Also, ich Interessant ist bei diesem Modell die Machtebene. Denn die Definition von Krankheit, die in vielen Gesellschaften – wie auch unserer – Sache medizinischer Experten ist, ist der Ebene der subjektiven Kranksein-Konzepte der Laien übergeordnet. Wir unterscheiden meist zwischen „richtigem“, weil wissenschaftlichem Wissen und „nicht richtigem“, weil subjektivem Wissen [9]. Diese Unterscheidung spielt vor allem in der Erklärung von spezifischen Krankheitssituationen eine Rolle. Für die Ebene des Krankseins, des „Ohne Kultur wüssten wir nicht, wie wir uns fühlen sollten“. Clifford Geertz, 1987 [4] kann voll für meine Kinder da sein. Überhaupt für meine Familie ...“ [16]. Diese Beispiele zeigen, dass das Gesundheitsverständnis der Menschen abhängig ist von vielen Faktoren, wie sozialen, religiösen oder auch sozioökonomischen, beispielsweise von dem Zugang zu bestimmten Lebensmitteln, oder der Fähigkeit und Möglichkeit zur Ausübung religiöser und sozialer Pflichten. Die Wahrnehmung von Gesundheit, also des individuellen Wohlbefindens, unterliegt somit offensichtlich kulturellen Faktoren. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Krankheitsbegriff. Die Medizinethnologie trifft hier in Anlehnung an den US-amerikanischen Arzt und Ethnologen Arthur KLEINMAN eine analytische Unterscheidung zwischen Krankheit-Haben und Kranksein [11]. Krankheit-Haben bezieht sich auf die Störung körperlicher oder psychischer Prozesse. Krankheit wird hier verstanden als ein Komplex von Symptomen, die, integriert in ein jeweiliges medizinisches Denkmodell, eine rationale Einheit darstellen. Das heißt, dass es sich hierbei um die Wissenskonstruktion zum Krankheitsgeschehen seitens der Experten handelt [9]. In unserer Gesellschaft liegt dieses Definieren von Krankheiten in der Hand der Biomedizin. Auf der anderen Seite des Expertenwissens über Krankheiten steht die psychosoziale und subjektive Wahrnehmung und Erfahrung der Erkrankten selbst. Denn wie eine Erkrankung wahrgenommen wird, wie sie gefühlt wird von dem Erkrankten, wie sie von der Familie und dem sozialen Umfeld interpretiert wird, umfasst weitere Ebenen neben der rein körperlichen. 324 Sich-Krank-Fühlens, ist der Begriff der Erklärungsmodelle wichtig, der ebenfalls auf KLEINMAN zurückzuführen ist. Erklärungsmodelle umfassen Vorstellungen von der Krankheitsursache, den Krankheitsvorgängen und den Funktionsstörungen, dem Verlauf der Erkrankung und der Behandlung. Erklärungsmodelle haben sowohl die Experten als auch die Erkrankten [11]. Diese können durchaus konträr sein. Aber auch bei Erkrankten gibt es eine Tab. 1: Heiß-Kalt-Klassifikation von Nahrung bei Indern in England [nach 7] heiß kalt Datteln Spinat Weizen Reis Kartoffeln Zwiebeln Büffelmilch Kuhmilch Fisch Bohnen Karotten Kürbis Rettich Bananen Vielfalt an Erklärungen für Krankheitsursachen. Erkrankt man zum Beispiel an einem Schnupfen, so gibt es in unseren Breitengraden dafür verschiedene Erklärungsmodelle: Man hat sich ein Schnupfenvirus eingefangen, also angesteckt, bei einem Spaziergang nasse Füße bekommen, man ist gestresst von der Arbeit oder das Immunsystem ist geschwächt. Diese Erklärungen sind in Deutschland im sozialen Umfeld bekannt und können nachvollzogen werden. Im letzteren Fall würden Ernährungsfachkräfte sicher eine vitaminreiche Ernährung empfehlen. Ein Angehöriger der Bergstämme in Nordthailand hingegen würde vermutlich eine ganz andere Erklärung anführen. Für ihn könnte ein Grund für seine Erkrankung sein, dass er religiöse Rituale, mit denen er regelmäßig die Schutzgeister zufrieden stellt, vernachlässigt hat und dass nun die Geister ihm die Krankheit geschickt haben. Nach seinem Verständnis muss er nun verschiedene Rituale zur Versöhnung der Schutzgeister durchführen, um wieder gesund zu werden. An diesem Beispiel wird deutlich, dass Erklärungsmodelle einer Krankheit immer mit der Religion, der Gesellschaftsstruktur, den Werten und der Lebensweise korrespondieren [18]. Dies wird auch deutlich, wenn man die verschiedenen Vorstellungen vom Aufbau und der Funktion des Körpers betrachtet. So finden sich in Industriegesellschaften häufig an technische Entwicklungen angelehnte Konzepte. Das Organ- und Gefäßsystems, wird zum Beispiel als Rohrmodell gedacht, das bei bestimmten Erkrankungen „verstopfen“ kann [7]. Zur Beschreibung kognitiver Prozesse wird neuerdings das Computermodell herangezogen, dem man Metaphern wie „falsch programmiert sein“ oder „etwas im Kopf gelöscht oder falsch gespeichert haben“ entlehnt [1]. In anderen Kulturen finden sich dagegen Körperkonzepte, die in der spirituellen Welt angesiedelt sind. So wird beispielsweise in der Ayurvedischen Medizin der Mensch als Mikrokosmos gedacht, der sich aus den selben Grundelementen zusammensetzt wie der Makrokosmos, also das Weltall. Diese Elemente sind Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther [17]. Theoretisch lassen sich danach holistische von monistischen Körperkonzepten unterscheiden. Die Ayurvedische Medizin kann dabei als Beispiel für eine holistische Auffassung dienen, in der von einem harmonischen Ganzen ausgegangen wird. In monistischen Konzepten spielt dagegen die Komplementarität eine große Rolle. Dies kann am Beispiel des Heiß-Kalt-Systems, das in vielen Kulturen der Welt zu finden ist, dargestellt werden [1]. Klassifikationen der Ernährungsethnologie In das Heiß-Kalt-System werden geistige und körperliche Zustände, natürliche und übernatürliche Kräfte, Krankheiten, Medizin und Lebensmittel eingeteilt. „Heiß“ und „kalt“ beErnährungs-Umschau 52 (2005) Heft 8 VDD ziehen sich dabei nicht auf die De-facto-Temperaturen, sondern auf symbolische Werte, die der jeweiligen Kategorie zugeordnet sind. Nach Tabelle 1 ist Spinat in der indischen Lehre zum Beispiel auf der kalten Seite zu finden, obwohl er heiß gegessen wird, und Datteln werden heiß zugeordnet, obwohl Obst meist roh und damit kalt verzehrt wird. Entscheidend ist, dass beide Kategorien in Balance gehalten werden. Zum Beispiel empfinden Lateinamerikaner in den USA Arthritis als eine kalte Krankheit, die mit heißer Nahrung oder heißen Medikamenten behandelt wird. In Marokko gilt der Sonnenstich als eine heiße Krankheit, die mit kalten Substanzen ausgeglichen werden muss [7]. Verbreitet ist diese komplementäre Einteilung in der islamischen Welt, auf dem indischen Subkontinent, in Lateinamerika und China. Während man die Ursprünge des Konzeptes in China und Indien im Yin-Yang bzw. im Ayurvedischen System vermutet, diskutiert man für Lateinamerika und auch Nordafrika die Einflüsse der Humoralmedizin mit der Vier-Säfte-Lehre (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle). Die Säfte wiederum sind den vier Elementen Luft, Wasser, Feuer und Erde zugeordnet, die es im Gleichgewicht zu halten gilt [22]. Auf welchen Grundlagen diese Einteilungen auch immer zustande gekommen sein mögen, wichtig ist, dass sie in der individuellen Anwendung nicht auf einem konsequenten Prinzip beruhen, denn es werden individuelle persönliche Erfahrungen eingeflochten. Ebenso muss das, was in der einen Kultur an einem Ort als „heiß“ eingeteilt wird, an einem anderen Ort nicht auch „heiß“ sein. Man kann es als universelles menschliches Phänomen bezeichnen, Typologien und Klassifizierungen vorzunehmen, wobei auch mehrere Einteilungen in einer Gesellschaft gleichzeitig vorkommen können. Aufschlussreich ist es, sich weitere Klassifizierungen der Lebensmittel anzuschauen. Die Ethnologie geht von fünf Gruppen aus [7]: ■ parallele Lebensmitteleinteilung (z. B. das Heiß-Kalt-System), ■ Nahrung versus Nichtnahrung, ■ heilige versus profane Nahrung, Speisetabus, ■ Nahrung als Medizin, Medizin als Nahrung, ■ soziale Nahrung. Grundlegend ist die Unterscheidung – die jede Kultur vornimmt – in essbar 326 Tab. 2: Religiöse Speisetabus [nach 7] Hinduismus Verbot, jegliches Tier zu töten und zu essen, besonders die Kuh; Milch und Milchprodukte können gegessen werden, soweit sie nicht mit der Tötung des Tieres in Verbindung stehen Islam Kein Schweinefleisch und Produkte, die Schwein enthalten; erlaubt ist Fleisch von wiederkäuenden Paarhufern, das rituell geschlachtet wurde (halal); kein Alkohol Judentum Wie im Islam sind alle Schweinefleischprodukte und Fisch ohne Flossen und Schuppen verboten; nur Wiederkäuer und Paarhufer dürfen gegessen werden, wenn sie rituell geschlachtet wurden (koscher); Fleisch und Milchspeisen werden niemals in einem Mahl gemischt und nicht essbar. Interessanterweise wird überall auf der Welt nicht alles Essbare genutzt, auch nicht bei extremem Hunger. Hunde, Katzen, Eichhörnchen oder Mäuse stehen bei uns nicht auf dem Speisezettel. Die Einteilung in Nichtnahrung kann historische Gründe haben. Beispielsweise aßen die Briten keine Milz, weil sie gemäß GALENS Humorallehre dachten, sie sei der Sitz der Melancholie [7]. Die Ablehnung von Nahrung kann aber auch religiöse Gründe haben. „Heilige“ Nahrung gilt dabei als wertvoll, „profan“ ist die verbotene, tabuisierte Nahrung, von der bei Kontakt die Gefahr der Verunreinigung ausgeht. Diese Dichotomie ist gewöhnlich Teil eines größeren moralischen Rahmenkonzeptes, ebenso können Kleidung, Verhalten, Sprache und Rituale in heilig und profan unterschieden werden. Einige religiöse Speisetabus sind in Tabelle 2 aufgelistet. Strenge Speisetabus sind immer mit strengen Ritualen verbunden, wie z. B. mit rituellen Waschungen vor oder nach dem Essen oder anderen Reinigungsmaßnahmen. Priester müssen sich dabei noch konsequenter an die Regeln halten als die Gläubigen. Zu bestimmten Anlässen oder Zeiten können alle Lebensmittel profan sein, z. B. während des Ramadans, der Fastenzeit der Muslime. Bestimmte Formen von zeitweiser Nahrungsabstinenz gibt es in allen Religionen. Provozierend könnte man sagen, dass sich die Dichotomie heilig/profan auch in der Unterscheidung in „natürliche“ und „künstliche“ Nahrung, in „ganzheitliches“ Essen und „Junk Food“ wiederfindet, wobei letzteres mit Unreinheit und Gesundheitsgefährdung assoziiert wird [7]. Eine Aufwertung können Lebensmittel nicht nur durch religiöse oder weltanschauliche Bezüge erfahren, sondern auch dadurch, dass man sie als Medizin definiert. So gilt bei uns vitaminreiche Kost als Therapie bei Erkältungen. Die Hausa im Norden Nigerias essen Cashewkerne zur Behandlung von Darmwürmern, Durchfall und Verdauungsstörungen. Andererseits können Medikamente den Status von Nahrung annehmen, wenn sie lebenswichtig sind, z. B. Herz- und Blutdruckmittel, Insulin, Schilddrüsenhormone und andere HormonErsatz-Therapien. Sie werden zu den Mahlzeiten eingenommen, darin integriert und somit zu symbolischer Nahrung. Allerdings können auch Vitamine, Psychopharmaka, Alkohol und andere Genussmittel den Status von Nahrung annehmen [7]. Hier gilt es aus kulturwissenschaftlicher Sicht zu hinterfragen, warum sich ein Mensch genau so ernährt, wie er sich ernährt, und was das über die Gesellschaft aussagt, in der er lebt. Im Mittelpunkt der Abbildung 2 steht die Mahlzeit. Stellt man sich beispielsweise als Mahlzeit ein Festessen vor, so kann alles – die Wahl der Speisen, der Ablauf des Festessens, die Tischsitten und -manieren, die Aufgabenverteilungen, wer kocht, wer serviert, wer bekommt wann was usw. – als eine Art Sprache verstanden werden, die uns von den Werten einer Gesellschaft und den Beziehungen der Menschen untereinander, aber auch von den Beziehungen der Menschen zu ihrer Umwelt und ihren spirituellen Mächten erzählt. Das „soziale Essen“ hat also multiple Funktionen: Es dient zur Bildung und Festigung sozialer Beziehungen, es ist Ausdruck des sozialen Status, Berufs- und Genderrollen werden widergespiegelt, es markiert wichtige Lebensveränderungen/-abschnitte und gibt die religiöse, ethnische oder regionale Identität wieder [7]. Das „Prestige-Essen“ ist ein Teil des sozialen Essens. Von Bedeutung ist es, weil es in unmittelbarem Zusammenhang mit Fehlernährung steht. Es symbolisiert den sozialen Status und besteht aus seltenen und teuren Zutaten, Ernährungs-Umschau 52 (2005) Heft 8 VDD ist gewöhnlich proteinreich und oft angereichert mit Fleisch, welches schwierig zu beschaffen oder zuzubereiten ist. Beispiele für „Prestige-Essen“ sind Wild und Jagdvögel in Nordeuropa, das T-Bone-Steak in Amerika, Kamelhöcker für arabische Beduinen oder das Schwein in Neu-Guinea. Neben dem Fleischkonsum allgemein kommt weltweit gesehen auch dem hellen Mehl ein hohes Prestige zu. Überhaupt wird Helles – Weißbrot oder weißer Reis – mit Wohlstand und der westlichen Welt in Verbindung gebracht und ist daher für Menschen aus ärmeren Herkunftsländern ein erstrebenswertes Lebensmittel [7]. Wie will man also einem Menschen vermitteln, dass helles Brot nicht gesundheitsförderlich ist, wenn er damit Fortschritt und die westliche Welt assoziiert und wenn er Gesundheit mit Wohlstand und Fettsein – im symbolischen Sinne von „gewichtig“ sein – verbindet? Zusammengefasst haben die kulturellen Einflüsse zwei Wirkungen auf die Ernährung [7]: 1. Sie schließen einige Lebensmittel von der Ernährung aus – weil sie als Nichtnahrung, profan, fremd oder als Unterschicht-Essen definiert werden oder weil sie auf der falschen Seite der Heiß-Kalt-Einteilung stehen. 2. Sie ermutigen zum Verzehr bestimmter Speisen und Getränke – weil sie als Nahrung, heilig, Medizin oder als Zeichen sozialer, religiöser oder ethnischer Identität definiert werden. Beides kann zu Fehl-, Mangel- oder Unter- bzw. Überernährung führen. Letzteres wird besonderes deutlich in unserer eigenen Kultur am Beispiel der Adipositas und deren Konsequenzen. Kulturwandel führt zu Änderungen im Ernährungsverhalten, was wiederum so genannte „neue“ Krankheiten hervorruft. Migration und Ernährung Im Zusammenhang mit der Migration gelten Nahrungsgewohnheiten als wichtiger identitätsstiftender Faktor, als Indikator für die Auseinandersetzung mit der Kultur des Einwanderungslandes. So wird an bestimmten Ernährungsgewohnheiten festgehalten, andere werden übernommen und in die eigene Esskultur integriert [7]. Die Zuwanderung nach Deutschland stellt alle Berufsgruppen im GeErnährungs-Umschau 52 (2005) Heft 8 sundheitsbereich vor die große Herausforderung, sich mit der eigenen Kultur, aber auch mit den kulturellen Hintergründen ihrer Klienten und Patienten auseinander zu setzen. Zu betonen ist, dass nicht alle Differenzen auf kulturelle Faktoren reduziert werden dürfen: Diskriminierung oder Ablehnung durch die Aufnahmegesellschaft, Arbeitslosigkeit, physische Gewalterfahrung oder Verfolgung, geringes Einkommen, soziale Isolation und Stress durch Kulturwechsel sind viele weitere Faktoren, die die Lebensweise von Migrantinnen und Migranten beeinflussen [7]. Fallbeispiele zu Migration, Schwangerschaft und Ernährung Die Schwangerschaft ist eine sensible Phase, eine Übergangsphase im Leben von Frauen, in der sie gerne auf Wissen und Erfahrungen anderer Frauen und Mütter zurückgreifen. In den vergangenen Jahrzehnten ist es in unserer Gesellschaft jedoch üblich geworden, hinsichtlich eines präventiven Verhaltens während der Schwangerschaft Rat von Experten wie Ärztinnen, Hebammen, Still- und Ernährungsberaterinnen etc. einzuholen. Doch in vielen anderen Kulturen spielt vor allem die informelle Weitergabe von Laienwissen eine große Rolle. Werdende Mütter wälzen keine Ratgeberliteratur, sondern fragen ihre Mütter, Tanten, Großmütter und Freundinnen um Rat. In der Migration kann aber gerade dieser informelle, persönliche Austausch erschwert sein, wenn nahestehende Familienmitglieder im Heimatland verblieben sind. Migrantinnen nutzen, sofern möglich, vielfältige Kommunikationsmedien wie Telefon, Post und E-Mail, um vor allem während der Zeit der Schwangerschaft die unverzichtbaren Ratschläge ihrer Familien einzuholen. Viele dieser Empfehlungen beziehen sich auf die jeweils als „richtig“ empfundene Ernährungsweise. In einer kürzlich von den Autorinnen durchgeführten Studie zu Migration und Schwangerschaft zeigte sich, dass die Ernährung unabhängig vom Herkunftsland in der Migration allgemein, vor allem aber in der Umbruchsphase einer Schwangerschaft von großer Bedeutung ist. So besann sich eine der befragten Frauen aus Rumänien auf Kuchenrezepte ihrer Mutter, die sie sich zuschicken ließ und regelmäßig ausprobierte. Schwieriger war es für eine Frau aus China, die von ihrer Mutter empfohlenen Speisen zuzubereiten: Die Zutaten waren hier entweder nicht erhältlich oder sehr teuer. Eine algerische Interviewpartnerin ließ sich von der Mutter selbst hergestelltes Couscous von Bekannten mitbringen. Als nach der Geburt Komplikationen auftraten, gelangten auf diesem Weg auch Teekräuter zu ihr. In der Ernährungsweise wird oft die Gratwanderung des Integrationsprozesses deutlich: einerseits das Festhaltenwollen an Werten und Normen des Herkunftslandes und andererseits der Wunsch, sich an die Kultur des Einwanderungslandes anzupassen. Die Wechselwirkung von Migration und Ernährung und deren Einfluss auf die Schwangerschaft lässt sich auch am Beispiel von in die Schweiz zugewanderten Tamilinnen darstellen. Dorthin reisten seit 1983 vor allem Flüchtlinge aus Sri Lanka in Folge der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der singhalesischen Mehrheitsbevölkerung und der tamilischen Minderheit ein. In Studien konnte gezeigt werden, dass es zu einem gehäuften Auftreten von Geburtskomplikationen bei dieser Bevölkerungsgruppe kam, u. a. zu einer höheren Sektiorate. Diese betrug in Basel bei Tamilinnen 14 % gegenüber 7 % bei Nicht-Tamilinnen. Bei vaginal-operativen Entbindungen lag die Rate bei Tamilinnen bei 20 % gegenüber 10 % bei Nicht-Tamilinnen [21]. Auch zeigte sich, dass Tamilinnen in der Schweiz größere Kinder gebären als in Sri Lanka (ohne auffallende Gewichtszunahme in der Schwangerschaft). Parallel dazu untersuchte man die Ernährung tamilischer Frauen in Basel während der Schwangerschaft. Vermutet wurde ein Zusammenhang mit den veränderten Essgewohnheiten. Für die höheren operativen Eingriffsraten machen die Mediziner das im Vergleich zum indischen Subkontinent höhere Geburtsgewicht der tamilischen Kinder verantwortlich. Die Ernährungsempfehlungen für tamilische Schwangere sind traditionell gewachsen und eng verbunden mit der Ayurvedischen Medizin in Indien und Sri Lanka. Danach resultiert Gesundheit unter anderem aus dem Gleichgewicht von „erhitzenden“ und „kühlenden“ Lebensmitteln, indem diese ihre Qualitäten auf den Körper der essenden Person übertragen [13] (Tab. 3). Eine ausgewogene Ernährung bedeutet danach, Nahrung zu sich zu nehmen, die den Körper weder erhitzt noch zu stark abkühlt. Diese Klassifi- 327 VDD der Mittagsmahlzeit einen Schluck „erwärmenden“ Branntwein zu sich [13]. Wenn diese Ernährungsregeln auch nicht immer strikt eingehalten werden, so dienen sie doch der überwiegenden Zahl an Tamilinnen als Richtlinie. LÜTHI [13] befragte tamilische Migrantinnen in Bern nach den Gründen für die höheren Geburtsgewichte ihrer Kinder bei scheinbar gleichem Ernährungskonzept. Die Befragten nannten zwei wesentliche Faktoren: Der erste bezog sich auf die Bewegungsarmut im Alltag in der Schweiz, der zweite auf die fettreiche Ernährung. Das auf der Heiß-Kalt-Einteilung beruhende Ernährungskonzept greife in der Schweiz nicht, da es sich auf ein Land mit sehr viel höheren Durchschnittstemperaturen bezieht. Die Autorin der Berner Studie, Damaris LÜTHI [13], fasst dies wie folgt zusammen: „Im tropischen srilankischen Klima wird es fast dauernd als notwendig empfunden, den Körper zu kühlen, weshalb erfrischende Nahrungsmittel bevorzugt werden. In der Schweiz nun, so die verbreitete Ansicht, sei ein Problem, dass viele Landsleute die kühlenden Ernährungsgewohnheiten beibehalten.“ So nehme der Konsum von fettreicher Nahrung, die eben als kühlend gilt, in der Schweiz im Vergleich zur Heimat deutlich zu: Anstelle von Mahlzeiten, die aus einer großen Menge Reis mit Gemüse- und Fischbeilagen bestehen, werde in der Schweiz nur noch wenig Reis mit umso mehr Beilagen und insbesondere viel mehr Fleisch genossen. Dies scheint sich vor allem „im heißen Zustand“ der Schwangerschaft auszuwirken. Durch die fett- und proteinreiche Kost, so die Vermutung, ist das Geburtsgewicht bei tamilischen Kindern in Empathie der Schweiz deutlich höher als in Südasien. Das dies nicht allein für eine erInteraktion höhte Komplikationsrate bei der Geburt verantWissen, Erfahrung Selbstreflexion wortlich ist, zeigen weitere Studien, die auch Dagmar Domenig 2001 das soziale UmAMIKO- Freiburg Freiburg AMIKO feld der schwangeren MigrantinAbb. 3: Interkulturelle Kompetenz in der Ernährungsberatung nen einbezogen [12]. Jedoch ist von Migrant/innen kation der Lebensmittel wird, wie dies bereits am Beispiel von indischen Migranten in England gezeigt wurde (Tab. 1), ungeachtet der tatsächlich messbaren Temperatur der Speisen vorgenommen. Nach dieser Einteilung gelten in den meisten Gegenden Südasiens beispielsweise Schweinefleisch, Milchprodukte, die Mehrzahl der Früchte und fettes Fleisch als kühlend, dagegen Huhn, Ananas und fettarmes Fleisch als erhitzend, ebenso wie Alkohol [13]. Wie bereits erwähnt, werden den Kategorien „heiß“ und „kalt“ nicht nur Lebensmittel zugeordnet, sondern auch körperliche Zustände, die durch die entsprechende Ernährung dann wieder ausbalanciert werden können. So gilt die Schwangerschaft als ein heißer Zustand. Bezüglich der Ernährung werden daher eher kühlende Speisen empfohlen wie Milch, Joghurt, Kokosmilch und frisches Gemüse [21]. Basierend auf der Vorstellung, dass der Körper einer Schwangeren sich durch die „Stauung des Menstruationsblutes“ bis zur Geburt hin erwärmt und dann durch den Verlust des Blutes schlagartig abkühlt [13], gilt das Wochenbett dann als kalter Zustand. Wöchnerinnen nehmen aus diesem Grund regelmäßig heiße Bäder und richten auch ihre Ernährungsweise auf eine „Erwärmung“ des Körpers hin aus. So zeigte eine Studie in Bern, dass Wöchnerinnen unmittelbar nach der Geburt zunächst nur Zwieback, dünne Reisnudeln oder Brot aßen. Später kamen weitere „heiße“ Speisen dazu wie Huhn, Mehl, Aubergine, Eier und Sesamöl [13]. Erwähnt werden ebenso Lauch, Zwiebeln und Knoblauch [21]. Auch nahmen viele Tamilinnen, die normalerweise strikt abstinent lebten, während des Wochenbettes jeweils vor 328 die Ernährungsweise ein sicher sehr wichtiger Faktor, an dem mit entsprechenden Aufklärungs- und Beratungsprogrammen angesetzt werden könnte. Das Beispiel zeigt allerdings auch die Komplexität und kulturelle Eingebundenheit der Ernährungsregeln, die eine kultursensible Ernährungsberatung nicht unberücksichtigt lassen kann. Wie der kulturelle Hintergrund in eine Diätberatung integriert werden kann, zeigt ein Projekt zu Gestationsdiabetes am Krankenhaus Neukölln in Berlin. Ziel war es, die Blutzuckerwerte von schwangeren türkischen Frauen Tab. 3: Heiß-Kalt-Klassifikation von Nahrung bei tamilischen Migranten heiß kalt Huhn Milch Mehl Joghurt Aubergine Kokosmilch Eier frisches Gemüse Sesamöl Lauch, Zwiebel, Knoblauch mit Hilfe einer Diät zu verringern. Dazu untersuchte man auch soziokulturelle Einflüsse auf die Ernährung. Es zeigte sich, das als Beweis für eine gute Versorgung der türkischen Schwangeren durch ihre Schwiegereltern die Geburt eines großen Kindes erwünscht ist. Der werdenden Mutter wird geraten, für zwei zu essen. Dieses Ernährungskonzept kann zu Gestationsdiabetes führen. Der starke Einfluss der Umgebung auf die Ernährung türkischer Schwangerer machte das Einhalten einer kohlenhydratarmen Diät schwierig. Im diesem Projekt wurde daher eine spezifische Diätberatung durchgeführt, die auf die Bestandteile der türkischen Küche einging und Diätpläne unter Berücksichtigung türkischer Essgewohnheiten erstellte. Zudem wurden Schwiegermütter und Ehemänner in die Beratung einbezogen, um die Einhaltung einer Diät zu gewährleisten [13]. Dabei fanden individuelle und kulturelle Erklärungsmodelle Berücksichtigung. Kultursensible Ernährungsberatung Die Ethnologie öffnet in einem Zeitalter wachsender Mobilität und enormer Migrationsbewegungen den Blick Ernährungs-Umschau 52 (2005) Heft 8 www.ernaehrungsumschau.de 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. Literatur: 1. Adam, Y.: Gesundheit, eine anthropologische Dimension. Reflexionen aus medizinethnologische Sicht. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (1999). 2. Back, K. W.: Food, Sex and Theory. In: Fitzgerald, Th. K. (Hrsg.): Nutrition and Anthropology in Action. Assen, Amsterdam: van Corum, pp. 24-34 (1977). 3. Domenig, D. (Hrsg.): Professionelle transkulturelle Pflege. Handbuch für Lehre und Praxis in Pflege und Geburtshilfe. Bern: Verlag Hans Huber (2001). 4. Geertz, C.: Dichte Beschreibung. 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Das Wissen für Oecotrophologen, Diätassistenten und alle, die mit dem Thema Ernährung zu tun haben – alles mit einem Klick! ■ Komfortable Recherche in der Artikeldatenbank ■ Einfache DownloadMöglichkeiten Anschrift der Verfasserinnen: Magdalena Stülb Yvonne Adam AG Medizinethnologie & Interkulturelle Kommunikation Heinrich-von-Stephan-Str. 15B 79100 Freiburg E-Mail: [email protected] Ernährungs-Umschau 52 (2005) Heft 8 FORSCHUNG & PRAXIS Foto: mauritius images für die kulturelle Vielfalt. Im beruflichen Alltag kann dies Ernährungsfachkräften zu Gute kommen, die mit Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern und mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen zu tun haben. Professionelles Arbeiten erfordert interkulturelle Kompetenz, wie in Abbildung 3 veranschaulicht. In der Interaktion zwischen zwei Individuen unterschiedlicher kultureller Identität ist die Wahrnehmung der eigenen kulturellen Prägung und Eingebundenheit ebenso wichtig wie das Hintergrundwissen über die andere Kultur. Die dritte Ebene der Interaktion bezieht sich auf den emotionalen Anteil: Empathie bedeutet Neugier und Aufgeschlossenheit für Andersartiges, Fremdes, auch für das, was für uns nicht sofort verständlich ist, weil es sich, entsprechend dem Modell des Eisbergs, unter der (Wasser-)Oberfläche befindet [3].