nzz 10.08.09 Nr. 182 Seite 18 fe Teil 01 Pendeln zwischen den Kulturen Das 24. Davos Festival «Young Artists in Concert» Das Bild des Nomaden, des suchenden Wanderers, hat die Intendantin des 24. Davos Festival «Young Artists in Concert», Graziella Contratto, nicht nur zum anregenden Festivalprogramm inspiriert, sondern auch in der Auswahl der jungen Künstlerinnen und Künstler beeinflusst. Sie stammten aus aller Welt, und nicht nur Musik der europäischen Kultur war vertreten. Einen Auftritt erhielt beispielsweise die türkische Musik mit Taylan Arikan, der die Langhalslaute Bağlama spielt. Er wurde in ein Konzert eines Barockensembles um Meret Lüthi integriert. Wie lebenskräftig und frech spielt diese junge Barockgeigerin Musik von Biber, Muffat oder Fux. Vor allem in der zweiten Konzerthälfte hat Taylan Arikan die um die Zeit der Wiener Türkenschlacht entstandenen Werke facettenreich kontrastiert. Musiknomaden Auch China war präsent mit den beiden Chinesinnen Yin Shu, welche die Laute Pipa perfekt beherrscht, und Xin Lihuan, die eine grosse Virtuosin auf der Geige Erhu ist. Sie hatten Auftritte sowohl mit dem klassischen chinesischen Repertoire als auch mit zeitgenössischen Werken aus China. Als composer in residence wurde mit Deqing Wen (geb. 1958) ein Pendler zwischen den Kulturen eingeladen. Der bereits in China ausgebildete Wen kam dreissigjährig in die Schweiz und studierte in Genf ein zweites Mal Komposition. Unterdessen ist er Schweizer geworden und unterrichtet am Konservatorium von Schanghai. Deqing Wen erzählt gerne von den Momenten, die seine Phantasie entfachten: Beobachtungen oft alltäglicher Art, aber auch Anregungen aus der chinesischen Weltwahrnehmung. Er lässt einen an den berühmten Satz des Begründers des Taoismus, Laotse, denken: « Wenn das Tao durch unseren Mund geht, ist es fade und ohne Geschmack.» «Traces III», ein Duo für Oboe und chinesische Kalligrafie (mit der hervorragenden Pilar Fontalba und Wen selber als Kalligrafen), ist ein schönes Beispiel für das positiv zu erlebende Fade. Die Bewegungen der Schrift und der Musik verbinden sich fliessend. Heftig und virtuos muss der Pianist Artur Avanesov im Klavierstück «Love Song and River Chant» agieren; hier zeigt sich das Fade eher negativ in einer etwas floskelhaften Tonsprache. Im Duo «Two Birds in One Cage» für Oboe und Englischhorn lässt Wen die Musikerinnen Pilar Fontalba und Elena Gonzalez geschwätzig aufeinander los wie zwei im Käfig zusammengesperrte Vögel: ein Witz. «Kung-fu» für Schlagzeug solo ist ein Wurf. Ganz genau sind die Gleichgewichte zwischen heftiger Aktion und Ruhe, Yang und Yin, ausgehört. Das packt unmittelbar, auch dank der Präsenz der Schlagzeugerin Rie Watanabe. «Piping and Drumming» (2000) für Blasinstrumente und Schlagzeug geht auf rituelle Freiluftmusik in China zurück. Der Klangreichtum frappiert, die Mitglieder des Ensemble Laboratorium sind auch vokal aktiv, gestimmte Flaschen werden angeblasen und ergeben raffinierte Klangmischungen (wobei man nicht alles, was man sieht, auch hört). Begegnungen Ein Werk voller eindringlicher Momente also; doch dann erklingen plötzlich Motive, die dem französischen Neoklassizismus entstammen könnten, und man wundert sich, was sie in diesem Kontext verloren haben. Eine kurze Versuchung, ganz antitaoistisch? Termingerecht ist auch eine Compact Disc mit einem Porträt von Deqing Wen erschienen, die zur Auseinandersetzung mit dem vielseitigen Schaffen dieses Komponisten einlädt. Überzeugend sind vor allem die beiden konzertanten Werke mit chinesischen Instrumenten: «Traces IV» für die Oboe Suo-Na und grosses Orchester und «Spring, River and Flowers on A Moonlit Night» für die Laute Pipa und Kammerorchester (Grammont-Portrait, MGB Musiques Suisses CTS M-116). In einem Workshop und einem Uraufführungskonzert kam es zur Begegnung von Deqing Wen mit den beiden nach Davos eingeladenen «young composers», dem Schweizer Andreas Zurbriggen (geb. 1986) und der Chinesin Tao Yu (geb. 1981). Zurbriggen hat im feinen, ruhigen Sextett «Post Scriptum» viel riskiert und Einflüsse offengelegt. Es ist das Werk eines jungen Begabten mit sensiblem Gehör, der nach seinem eigenen Kern sucht. Demgegenüber wirkt das kraftvolle «White Water» für Flöte, Erhu, Pipa und zwei Schlagzeuger der um fünf Jahre älteren Tao Yu selbstbewusst und durchaus persönlich; eine körperhafte Musik, in welcher vielfältige Klangmaterialien stringent zusammenkommen. Zwischen Neuem und Bekanntem Mit Wen, Zurbriggen und Yu hat das exzellente Ensemble Laboratorium zusammengearbeitet, das sich im Rahmen der Lucerne Festival Academy 2004 kennengelernt und auf zeitgenössische Musik spezialisiert hat. Laboratorium und sein gegenwärtiger Dirigent, der genaue und temperamentvolle Gregory Vajda, gaben auch ein attraktives Konzert, in welchem dem Begriff der Freiheit nachgespürt wurde. Ein Stück aus Mauricio Kagels «Staatstheater» etwa wurde entstaubt, die zeitgeschichtliche Patina jedoch belassen. Autark bewegten sich die Klänge in der delikaten, installativen Arbeit «Stirrings Still» von Rebecca Saunders, anregende Fragen offen liess Francesc Prats «Fresco». Zum Abschluss gab es Gustav Mahlers «Lieder eines fahrenden Gesellen» in der Ensemblefassung von Arnold Schönberg mit dem ausgezeichneten Schweizer Bariton Tobias Hächler. – In einem Jahr wird Davos Festival zum 25. Mal stattfinden, und das in einer Zeit, wo Alpenfestivals entstehen und wieder verschwinden. Graziella Contratto indes scheint der Spagat zwischen dem Neuen und den Erwartungen der Davoser Tourismusbranche erstaunlich gut zu gelingen. Alfred Zimmerlin