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SCHWERPUNKT STRESS
Wann das Gedächtnis profitiert
Wie das Immunsystem reagiert
Wo er in der Schule lauert
# 24
Jahrgang
Nr. 2 | 2014
4,00 Euro
STRESS IST BESSER
ALS SEIN RUF
Der Abruf von Gelerntem unter Stress funktioniert zwar nicht gut.
Aber Stress kann auch beim Lernen helfen.
Und er schützt die Seele vor belastenden Erinnerungen.
S
fragt: An was erinnert man sich aus einer stressigen Episode?
Für die Studie im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 874
„Integration und Repräsentation sensorischer Prozesse“ wurden 60 Versuchspersonen in zwei Gruppen eingeteilt. Beide
Gruppen nahmen an einem fingierten Bewerbungsgespräch
teil. Die eine vor einem zweiköpfigen Gremium in weißen Kitteln mit unbewegten Gesichtern, das neutral agierte (Abb. 1).
Dabei wurden die Teilnehmer auf Video aufgezeichnet. Die andere Gruppe traf auf dasselbe Gremium, allerdings ohne Kittel, freundlich und zugewandt, lächelnd und nickend (Abb. 2).
Eine Videoaufzeichnung gab es nicht. Während des achtminütigen freien Vortrags der Probanden hantierte das Gremium in beiden Fällen beiläufig mit verschiedenen Gegenständen wie einem Anspitzer oder einem Wasserglas. Andere
Gegenstände, zum Beispiel ein Locher, lagen zwar auf dem
Tisch, wurden aber nicht benutzt. Den Stresslevel bestimmten die Forscher zu verschiedenen Zeitpunkten vor und nach
der Stresssituation bzw. der Kontrollsituation, indem sie den
Cortisolgehalt im Speichel maßen.
Am folgenden Tag zeigten die Wissenschaftler den Versuchspersonen Fotos von den Gegenständen, die in der Bewerbungssituation auf dem Tisch gelegen hatten, sowie von denen,
mit denen das Gremium agiert hatte, und solchen, die in
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Fotos: mn
tress hat einen schlechten Ruf. Er fühlt sich nicht gut an,
macht uns unruhig und blockiert unsere Erinnerung:
Warum sonst fallen einem ausgerechnet in der mündlichen Prüfung die entscheidenden Antworten nicht mehr ein,
die man sonst im Schlaf geben würde? „Teilweise hat Stress
diesen schlechten Ruf zurecht, aber er hat zwei Seiten“, sagt
Prof. Dr. Oliver T. Wolf, Neurowissenschaftler der Fakultät für
Psychologie der RUB.
Was viele selbst aus Prüfungssituationen kennen, stimmt tatsächlich: Unter akutem Stress fällt es uns schwerer, gelernte Informationen aus dem Gedächtnis abzurufen. Schon vor
einigen Jahren konnten Oliver Wolf und Kollegen allerdings
auch zeigen, dass Stress durchaus auch positive Wirkungen
auf das Gedächtnis hat. Wenn Stress direkt vor oder nach dem
Wissenserwerb auftritt, verbessert sich die Konsolidierung
des Gedächtnisses, das heißt, Informationen werden besser dauerhaft abgespeichert. Ausschlaggebend dafür ist das
Stresshormon Cortisol – der Effekt trat in Studien auch auf,
wenn die Probanden es als Tablette kurz vor oder nach dem
Lernen einnahmen.
Um das Verhältnis von Stress und Gedächtnis genauer zu untersuchen, rückten die Forscher die Stressphase selbst in den
Fokus: Wie funktioniert Lernen unter Stress? Oder anders ge-
Abb. 1: Unbewegte Gesichter, Kittel, Videoaufzeichnung: Ein
Vorstellungsgespräch unter diesen Umständen erzeugt Stress.
Abb. 2: Lächeln und freundliche Rückmeldung schaffen eine
Atmosphäre, in der es sich stressfrei erzählen lässt.
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Foto: rs
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Abb. 4: Prof. Dr. Oliver T. Wolf gibt einer Probandin Watte zum
Sammeln von Speichel für einen Cortisoltest. (Foto: mn)
der Situation gar nicht vorgekommen waren. Die Probanden
mussten angeben, ob sie die entsprechenden Gegenstände am
Vortag gesehen hatten oder nicht (Abb. 3). „Es kam heraus,
dass die gestressten Personen sich besser an die Gegenstände
erinnern konnten als die entspannten“, fasst Oliver Wolf (Abb.
4) zusammen. „Ganz besonders die Dinge, mit denen sich die
Mitglieder des Gremiums beschäftigt hatten, waren ihnen im
Gedächtnis geblieben.“ Letzteres führte zu der Interpretation,
dass es beim Erinnern besonders darauf ankommt, wie eng
ein Gegenstand mit dem Stressor verbunden war. „Darin liegt
möglicherweise ein evolutionärer Vorteil: Emotional wichtige
Dinge sind in Stresssituationen bedeutender als neutrale und
werden daher besser abgespeichert“, meint Oliver T. Wolf.
Diese Erkenntnisse geben auch Hinweise auf Mechanismen,
die bei der Entstehung von sogenannten posttraumatischen
Belastungsstörungen ablaufen. Dabei werden Menschen, die
eine lebensbedrohliche Situation durchlebt haben, immer
wieder von Erinnerungen und Albträumen heimgesucht, die
mit dem bedrohlichen Ereignis in Verbindung stehen.
Ebenfalls für klinische Fragen bedeutsam ist die Arbeit im
Rahmen der DFG-Forschergruppe 1581, an der Oliver Wolf
beteiligt ist. Sie befasst sich mit einem anderen Phänomen
im Zusammenhang von Stress und Gedächtnis: dem Extinktionslernen, also der „Löschung“ von Gedächtnisinhalten.
Zwar kann vom eigentlichen Löschen nicht die Rede sein,
da Gedächtnisinhalte nicht verschwinden, sondern eher von
einer zweiten Gedächtnisspur überlagert werden. Der Effekt
aber ist ähnlich: Einmal Gelerntes – in klinischen Zusammenhängen zum Beispiel übersteigerte Angst vor etwas – wird verlernt. Auch hier fragten sich die Forscher, welche Rolle Stress
spielt: Wenn er den Abruf von Gedächtnisinhalten behindert,
dann vielleicht auch den Abruf von gelernter Angst.
An einem entsprechenden Experiment (Abb. 5) nahmen 40
Männer teil. Alle Probanden unterzogen sich zunächst einer
Lernphase: Eine Elektrode, über die Stromstöße verabreicht
werden konnten, wurde an ihrem Schienbein befestigt. Gemeinsam mit den Probanden fanden die Forscher die Stromstärke heraus, die unangenehm, aber nicht schmerzhaft war.
Am Bildschirm wurde den Probanden dann das Bild eines Büros gezeigt, in dem sich eine Schreibtischlampe befand, die
in verschiedenen Farben aufleuchtete. Leuchtete sie rot oder
gelb, wurde dem Probanden in zwei Dritteln der Fälle kurz
danach ein Stromstoß versetzt. Bei blauem Licht folgte kein
Stromstoß. Messungen der Hautleitfähigkeit, die Aufschluss
über die emotionale Erregung geben, zeigten, dass die Probanden mit der Zeit die Stromstöße immer stärker vorwegnahmen, also fürchteten.
Dann präsentierten die Forscher den Probanden ein Bild von
einem anderen Büro, das die gleiche Lampe enthielt, sie erschien also in anderem Kontext. Diesmal wurde bei gelbem
und blauem Licht kein Stromstoß versetzt, rotes Licht kam gar
Abb. 5: Lernen: Die Versuchsperson bekommt einen elektrischen
Stoß versetzt, wenn die Lampe auf dem Monitor gelb oder rot aufleuchtet. Bei blauem Licht passiert nichts.
Verlernen: Bei einem anderen Bild gibt es weder bei blauem noch
bei gelbem Licht einen Stromstoß. Rotes Licht wird nicht gezeigt.
Die Teilnehmer verlieren die Furcht vor gelbem Licht.
Intervention: Dann folgt für die Hälfte der Probanden eine Stresssituation: Hand in Eiswasser tauchen vor laufender Videokamera.
Die andere Hälfte der Gruppe wird nicht gestresst.
Fotos: mn
Test: Zum Schluss sehen die Probanden noch einmal in zufälliger
Reihenfolge beide Situationen – Lern- und Verlernkontext – mit
Lampen in allen drei Farben. Fürchten sie sich noch vor einer
Farbe?
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Oliver T. Wolf. Das galt für beide Büro-Kontexte, sowohl das
Bild aus der Lernsituation als auch das Bild aus der Extinktionssituation.
„Diese Ergebnisse sind wichtig für die Behandlung von Angstpatienten“, sagt Oliver Wolf. „Bei ihnen kehrt die Angst, die
sie in der Therapie verlernt haben, im Alltag häufig zurück.
Die Angst ist also kontextabhängig.“ Dass bei gestressten Probanden die Furcht auch beim Betrachten des Büro-Kontexts
aus der Lernsituation weniger stark zurückkehrte, lässt hoffen, dass Stresshormone dabei helfen können, die Angst kontextunabhängig zu verlernen.
Die Erkenntnisse der Studie passen zu älteren Befunden der
Arbeitsgruppe, die besagen, dass unter Stress besonders der
Abruf von emotionalem Material blockiert wird. „Hier scheint
Stress also durchaus eine schützende Funktion zu haben“, unterstreicht Wolf. md
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nicht vor. Dadurch „löschten“ die Forscher die gelernte Information, dass bei gelbem Licht mit großer Wahrscheinlichkeit
ein unangenehmer Reiz folgt.
Am folgenden Tag wurde die Hälfte der Probanden gestresst:
Sie mussten ihre Hand für drei Minuten in Eiswasser tauchen
und wurden dabei per Video aufgezeichnet. Die andere Hälfte
der Gruppe tauchte die Hand in körperwarmes Wasser und
wurde nicht gefilmt, wurde also nicht gestresst. Zwanzig Minuten später testeten die Forscher dann, wie erfolgreich die
Extinktion der gelernten Angst vor dem Stromstoß war. Sie
zeigten beiden Gruppen beide Bildschirme vom Vortag. Diesmal wurde den Teilnehmern beim Aufleuchten der Lampe in
egal welcher Farbe kein Stromstoß versetzt. „Die Probanden,
die vorher ihre Hand in Eiswasser gehalten hatten, fürchteten
den unangenehmen Reiz wesentlich weniger stark als diejenigen, die keine Stresssituation durchgestanden hatten“, sagt
Schwerpunkt · Stress
Abb. 3: Der Interviewer spitzt einen Bleistift an. Nimmt die Versuchsperson das während der Befragung wahr
und erinnert sie sich später daran?
Foto: rs
REDAKTIONSSCHLUSS
F
ür RUBIN zu recherchieren wird nie langweilig. Immer neue Labore gilt es zu erkunden und spannende
Persönlichkeiten kennzulernen. Nicht selten passiert
dabei etwas völlig Unerwartetes. So zum Beispiel als wir
Biologiedidaktikerin Nina Minkley besucht haben, die Stress
im Schulunterricht erforscht (siehe Seite 30). Ihre Büronachbarn findet man nicht auf jedem Flur. Es waren nämlich Blattschneiderameisen.
Nicht nur das Verhalten von Menschen erforscht die Arbeitsgruppe Verhaltensbiologie und Didaktik der Biologie, geleitet von Prof. Dr. Wolfgang Kirchner. Auch für das Verhalten
sozialer Insekten interessieren sich die Wissenschaftler.
Zu diesem Zweck halten sie Tiere nicht nur auf den Fluren
der RUB. Sie pflegen auch Bienenvölker im Freiland oder begeben sich zur Feldforschung nach Südafrika. So vielfältig können Forschungseinheiten sein!
Was erforschen die Biologinnen und Biologen
an diesen Tieren? Die Antwort: http://rubin.rub.de/
de/ungewoehnliche-nachbarn
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Redaktionsschluss · Impressum
IMPRESSUM
HERAUSGEBER: Rektorat der Ruhr-Universität Bochum in Verbindung mit dem
Dezernat Hochschulkommunikation
POSTPRODUKTION: Jana Zöllner, RUB
WEBAUFTRITT: Andreas Rohden, Abteilung Markenbildung, RUB
WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT: Prof. Dr. Astrid Deuber-Mankowsky (Philologie), Prof. Dr. Reinhold Glei (Philologie), Prof. Dr. Achim von Keudell (Physik und
Astronomie), Prof. Dr. Ulrich Kück (Biologie), Prof. Dr.-Ing. Ulrich Kunze (Elektrotechnik/Informationstechnik), Prof. Dr. Alfred Ludwig (Maschinenbau), Prof. Dr.
Denise Manahan-Vaughan (Medizin), Prof. Dr. Käte Meyer-Drawe (Philosophie und
Erziehungswissenschaft), Prof. Dr. Christian Tapp (Katholische Theologie), Prof.
Dr. Klaus T. Überla (Medizin)
GRAFIK, LAYOUT UND SATZ: VISUELL MARKETING GMBH, Springorumallee 2,
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REDAKTION: Dr. Julia Weiler (jwe, Redaktionsleitung), Meike Drießen (md)
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RUBIN erscheint zweimal im Jahr, ein Teil der Auflage als Beilage zur Universitätszeitschrift RUBENS.
BILDREDAKTION: Marion Nelle (mn), Roberto Schirdewahn (rs), RUB Agentur,
Dezernat Hochschulkommunikation
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