Leitartikel: Krisendynamiken in Lateinamerika von Joachim Becker

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Krisendynamiken in Lateinamerika
Die Unterschiede in den Strukturen der Wirtschaft und speziell der
Außenwirtschaftsbeziehungen hat dazu geführt, dass die aktuelle globale Krise die
verschiedenen Regionen des Subkontinents unterschiedlich stark erfasst hat.
Joachim Becker
Von der ersten Phase der globalen Krise 2008/2009 war Lateinamerika weniger
betroffen als manche andere Peripherien, speziell als die Peripherien im Süden und
Osten Europas. Der Grund für die tendenziell begrenzte Krisenbetroffenheit war die
teilweise Abkehr von neo-liberaler Politik in großen Regionen Lateinamerikas, die
relativ große Bedeutung des Binnenmarktes in Ländern wie Brasilien oder
Argentinien, aber auch der Aufbau von – sehr teuren – Sicherheitspolstern in Form
von Währungsreserven. Es gelang der Region, so der der bekannte kolumbianische
Ökonom José Antonio Ocampo, ihre finanzielle Verwundbarkeit abzubauen“. Damit
schlugen plötzliche Kapitalabflüsse nicht so stark durch wie in der Vergangenheit.
2008/2009 wurden die lateinamerikanischen Länder auch nicht hauptsächlich über
den Finanzkanal, sondern vor allem über den starken Rückgang der Exporte
getroffen. Doch bleiben erhebliche Verwundbarkeiten im Bereich von Finanzflüssen
und Wechselkursen bestehen. Das zeigt die Zeit seit 2009.
ZT: Unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen
Doch sind die Muster der Krisendynamiken in Lateinamerika nicht einheitlich. Grob
kann man Lateinamerika ökonomisch in drei Ländergruppen aufteilen. Brasilien,
Argentinien und Uruguay sind Länder mit einer nach wie vor starken Orientierung
auf den Finanzsektor, aber auch einer substanziellen, eher binnenorientierten
Industrie und einer stark – aber nicht ausschließlich – durch Rohstoffe geprägten
Exportstruktur. Die Länder des andinen Raums wie auch Venezuela sind primär als
Rohstoffexporteure zu charakterisieren, obgleich in Chile auch Aktivitäten, die mit
dem Finanzbereich zusammenhängen, eine erhebliche Rolle spielen. Die Ausfuhr der
südamerikanischen Länder geht meist in unterschiedliche Weltregionen, China hat als
Exportmarkt für einen Teil des andinen Raums, aber auch für Brasilien stark an
Bedeutung gewonnen. Im Gegensatz hierzu zeichnen sich Mexiko und die Länder
Zentralamerikas (und auch Venezuela) durch eine sehr einseitige Orientierung der
Außenwirtschaftsbeziehungen, gerade auch des Exportes, auf die USA aus. Für die
Ausfuhr hat neben dem traditionellen Rohstoffexport auch die ausgelagerte
Teilfertigung von Industriegütern an Bedeutung gewonnen.
Im Gegensatz zu Brasilien oder Argentinien ist in Mexiko von der binnenorientierten
Industrie nicht viel übrig geblieben. Die Außenorientierung ist in den letzten drei
Jahrzehnten deutlich verstärkt worden. Hierbei ist die Arbeitsmigration in die USA
für die Länder der Region ein immer stärkerer Faktor geworden. Diese Unterschiede
in den Strukturen der Wirtschaft und speziell der Außenwirtschaftsbeziehungen hat
dazu geführt, dass die aktuelle globale Krise die verschiedenen Regionen des
Subkontinents unterschiedlich stark erfasst hat.
ZT: Anti-zyklische Wirtschaftspolitik im Cono Sur
Den Cono Sur, den südlichen Teil Lateinamerikas, hat die Krise diesmal relativ mild
erwischt und vor allem eine abnehmende Wachstumsdynamik beschert. In den Jahren
1998-2002 hatte die schwere Krise in Brasilien, Argentinien und Uruguay zu einer
deutlichen Kurskorrektur bei der Wirtschaftspolitik geführt. Die Währungen wurden
damals deutlich abgewertet. Dies begünstigte den Export, der zusätzlich durch
steigende Rohstoffpreise beflügelt wurde, und ermöglichte eine deutliche
Verbesserung der Handelsbilanzen und, zumindest im Fall von Brasilien, den Aufbau
erheblicher Devisenreserven. Die Währungsabwertung verteuerte aber auch die
Importe und bot damit der einheimischen Industrie, die für den Binnenmarkt
produziert, Schutz. Zudem favorisierten die Mitte-Links-Regierungen reale
Lohnerhöhungen. Während die Frente Amplio in Uruguay die Rolle der
Gewerkschaften institutionell stärkte, erhöhten die von der Arbeiterpartei (Partido do
Trabalhadores, PT) geführten Regierungen in Brasilien systematisch die
Mindestlöhne, an die auch bestimmte Sozialleistungen gekoppelt sind. Ebenso wie
die Beschäftigung und auch der Anteil sozialversicherter Beschäftigungsverhältnisse.
Die expansive Lohnpolitik und die steigende Beschäftigung waren die wichtigsten
Faktoren bei der Stärkung der Binnennachfrage und dem Abbau der Armut. Die
Verbesserung der Handelsbilanz und die partielle Re-Orientierung der
Wirtschaftsentwicklung auf die Binnenwirtschaft reduzierten die Krisenanfälligkeit
der Ökonomien Brasiliens, Argentiniens und Uruguays.
Über den Finanzkanal wurden die drei Länder in der frühen Phase der aktuellen Krise
nur begrenzt getroffen. Am stärksten noch Brasilien, wo einige Firmen hohe Verluste
bei spekulativen Geschäften einstecken mussten. Stärker schlugen die zeitweiligen
Einbrüche im Export zu Buche, allerdings wurden die Rückgänge in der Ausfuhr in
die USA oder die EU durch die stabilere Entwicklung der Export nach China
abgemildert. Die Regierungen verringerten die Krisenwirkungen durch eine milde
Form anti-zyklischer Wirtschaftspolitik, beispielsweise durch die Fortsetzung des
öffentlichen Investitionsprogramms, ab. Das Bruttoinlandsprodukt ging 2009 in
Brasilien nur um 0,3% zurück, während in Argentinien und Uruguay sogar ein
leichtes Wirtschaftswachstum von 0,9% bzw. 2,2% zu verzeichnen war.
Danach erholten sich die Ökonomien rasch. 2010 und teils 2011 wurden hohe
Wachstumsraten registriert. In der Folge flachte sich das Wachstum allerdings
deutlich ab. Hierfür gibt es verschiedene Gründe. Der Binnenkonsum war nicht allein
von steigenden Löhnen, sondern auch von einer deutlich steigenden Verschuldung der
Privathaushalte getragen. Hier sind kritische Grenzen erreicht. Die öffentliche
Infrastruktur hat nicht mit dem Wirtschaftswachstum mitgehalten. In beiden Ländern
stellt das Steuersystem eine Grenze für den Ausbau der Infrastruktur dar. In Brasilien
findet die PT, die im Kongress weit von einer eigenen Mehrheit entfernt ist, nicht
genug parlamentarische Unterstützung für Steuererhöhungen. In Argentinien ist die
Regierung mit starken Widerständen bei der Frage der Erhöhung von Exportsteuern
konfrontiert, die sich auch in massiven Protesten ausdrückten.
ZT: Der Unmut der Mittelschicht
In Brasilien war die mangelhafte öffentliche Infrastruktur einer der Auslöser für
Sozialproteste, die in dieser Hinsicht eine durchaus progressive Komponente hatten.
Sie haben und hatten aber auch eine sozial reaktionäre Komponente. Einen Teil der
Protestierenden aus der Mittelschicht in Brasilien, aber auch Argentinien stört das
Abnehmen der sozialen Distanz zu ärmeren Bevölkerungsgruppen.
Eine zweite Quelle der Unzufriedenheit in Argentinien macht sich an
außenwirtschaftlichen Problemen fest. Trotz der bedeutsamen Reduktion der
Auslandschulden, die vor knapp einem Jahrzehnt ausgehandelt wurde, sieht sich
Argentinien derzeit mit hohen Zahlungsverpflichtungen für die verbliebenen
Schulden konfrontiert. Das Problem wird durch starke Kapitalflucht verschärft. Daher
hat die argentinische Regierung immer schärfere (und administrativ nicht unbedingt
optimal konzipierte und durchgeführte) Devisenkontrollen eingeführt, diese aber
gegenüber der Öffentlichkeit unzureichend begründet. Diese Kontrollen führ(t)en zu
Unmut, vor allem in der Mittelschicht. Wie in der Vergangenheit führt die starke
soziale Polarisierung in Argentinien auch derzeit wieder zu beschleunigter Inflation,
die aber offiziell nicht eingestanden wird. Die Wechselkurse wurden lange Zeit nicht
an die Inflation angepasst, so dass der argentinische Peso real stark aufwertete. Dies
wiederum wirkt sich ungünstig auf die Industrie aus und verschlechterte die
Handelsbilanz.
Brasilien hat sich starken destabilisierenden Kapitalbewegungen gegenüber gesehen.
Angesichts der schlechten internationalen Konjunktur und den hohen brasilianischen
Zinsen flossen von 2009 bis 2012 jährlich netto zwischen 37 und 64 Mrd. US-Dollar
nach Brasilien. Dadurch wertete der Real stark auf, die Industrie litt erheblich unter
der Aufwertung. Selbst eine Verstärkung der – allerdings immer noch inkonsequenten
– Kapitalverkehrskontrollen vermochte den Kapitalzufluss zunächst nicht zu stoppen.
Die Ankündigung einer etwas weniger lockeren Geldpolitik in den USA führte
hingegen zu plötzlichen Kapitalabflüssen, besonders spektakulär zu Beginn dieses
Jahres. Sowohl der Real als auch der argentinische Peso verloren daraufhin stark an
Wert. Striktere Formen von Kapitalverkehrskontrollen wären, vor allem in Brasilien,
für eine wirksamere Form der Eindämmung der Destabilisierung durch starke
Kapitalzuflüsse und –abflüsse von zentraler Bedeutung. Das linksreformistische
Wachstumsmodell des letzten Jahrzehnts stößt allerdings auch auf innere
ökonomische, soziale und ökologische Grenzen.
ZT: Krisenverwundbarkeit durch Rohstoffexportorientierung
Die andinen Länder wie auch Venezuela wurden vor allem durch rückläufige Exporte
und Exportpreise betroffen. Besonders starke Auswirkungen hatte die Krise auf
Venezuela, wo als einzigem südamerikanischem Land das BIP sowohl 2009 als auch
2010 zurückging. Die bolivarischen Regierungen bauten zwar die
Einkommensungleichheit und Armut sehr stark ab, aber eine Diversifizierung der
venezolanischen Ökonomie und speziell ihrer Exportstruktur gelang ihnen nicht. Öl
ist weiterhin sehr dominant – und der Ölexport ist zudem sehr stark auf den USMarkt orientiert. Dies ist eine sehr enge Abhängigkeitsstruktur. Auch das
venezolanische Budget ist äußerst abhängig von den Öleinnahmen. Eine
nennenswerte Einkommensteuer kennt Venezuela bis heute nicht. Damit ist das
Budget extrem anfällig gegenüber fallenden Ölpreisen. Im Gegensatz zu Brasilien
oder Argentinien verfolgte die Regierung Chávez – bedingt durch die
Einnahmenstruktur des Budgets – eine prozyklische, krisenverschärfende
Budgetpolitik. Ähnlich wie in Argentinien findet die politisch-soziale Polarisierung
auch in Venezuela ihren Ausdruck in Inflation und hoher Kapitalflucht. Ähnlich wie
in Argentinien, zögerte die Regierung in Venezuela die überfällige
Währungsabwertung lange hinaus, da diese auf die Konsumgüterpreise voll
durchschlägt. Verfügbarkeit und Preis von Importgütern sind in Venezuela, wo die
Konsumkultur sehr importbasiert ist, ein Politikum. Und daran macht sich die
Mobilisierung der rechtsorientierten oberen Mittelschichten auch stark fest. Die
Resonanz dieses Themas reicht aber über deren Reihen hinaus.
Auch die andinen Länder leiden unter ähnlichen Krisenverwundbarkeiten wie
Venezuela, wenngleich diese 2008/2009 nicht ganz so stark durchschlugen. Exporte
nach China – oder im Fall Boliviens in die Nachbarländer – erwiesen sich etwas
stabiler als jene in die Zentrumsländer. Teils konnten die Budgets noch von der
Erschließung stärkerer Einnahmequellen im Rohstoffsektor, die erst kurz zuvor
vorgenommen worden waren, profitieren. Die Grundproblematik der fiskalischen
Einnahmensstruktur ist jedoch ähnlich: eine sehr hohe – und sogar noch gestiegene –
Abhängigkeit der budgetären Einnahmen vom Rohstoffexport. Die
Einnahmensdiversifizierung wäre politisch allerdings schwierig – die Einführung
ernsthafter und progressiver Einkommenssteuern würde vermutlich zu erheblichen
Widerständen führen. Für die Linksregierungen, die, wie die Proteste in Venezuela
und das jüngste Ergebnis der Kommunalwahlen in Ecuador zeigen, politisch ziemlich
verwundbar sind, ist die Besteuerung des Rohstoffsektors der politisch leichter
durchhaltbare Weg. Somit ruhen der Ausbau der Sozialpolitik und Infrastruktur, aber
auch Maßnahmen zur wirtschaftlichen Diversifizierung, auf einer instabilen
Grundlage. Hohe Abhängigkeit von der internationalen Konjunktur ist ein Grundzug
der Ökonomien, die sehr einseitig auf den Rohstoffexport orientiert sind. Außerdem
zeichnet sich dieser durch große ökologische Kosten aus.
ZT: Regionale Integration
Die Mercosur-Länder i haben zwar im letzten Jahrzehnt ihre nationalen
Entwicklungsstrategien modifiziert, das ursprüngliche (neo-)liberale
Integrationskonzept wurde aber den neuen Bedingungen nicht angepasst. Im
institutionellen Bereich und bei Fragen wie Migration oder Kultur machte der
Mercosur zwar Fortschritte, bei ökonomischen Kernfragen hingegen nicht.
Stattdessen haben die Handelskonflikte innerhalb des Mercosur zugenommen. ALBA
ii
weist einen originelleren Kooperationsansatz als der Mercosur auf. Doch ruht das
zentrale venezolanische Engagement stark auf dem Ölsektor – und damit auf einem
problematischen Pfeiler. UNASUR iii als südamerikanische Gruppierung ist primär
ein politisches Forum, wenngleich die subkontinentale Infrastrukturpolitik unter das
Dach von Unasur integriert wurde. Insgesamt hat die regionale Integration bei der
Bearbeitung der Krise keine zentrale Rolle gespielt, vielmehr hat die Krise
bestehende Schwächen der Integrationsbestrebungen deutlicher hervortreten lassen.
ZT: Mexiko und Zentralamerika – die Abhängigkeit von den USA verstärkt die
Krisenverwundbarkeit
Mexiko und die zentralamerikanischen Staaten sind nicht Teil von Unasur und auch
ansonsten nur vereinzelt in die südamerikanischen Kooperationsbestrebungen
integriert. Durch die Freihandelsabkommen mit den USA hat sich die Abhängigkeit
vom großen Nachbarn im Norden weiter akzentuiert. Die US-Krise hat sich auf
Mexiko und die zentralamerikanischen Länder überdurchschnittlich stark ausgewirkt.
Mexiko erlebte 2009 mit einer Schrumpfung des BIP um 4,7% den stärksten
Einbruch aller lateinamerikanischen Länder. Der mexikanische Finanzsektor war von
der US-Finanzkrise verhältnismäßig stark tangiert. Die Banken in Mexiko schränkten
die Kreditvergabe deutlich ein. Die US-Krise traf Exporte und Überweisungen der
ArbeitsmigrantInnen aus Mexiko und Zentralamerika empfindlich. Aufgrund der
starken Außenorientierung dieser Ökonomien schlugen die Einbrüche in der
Außenwirtschaft voll auf die jeweilige Gesamtwirtschaft durch.
Abgesehen von kleineren, die Krisenfolgen abmildernden Maßnahmen setzte die
mexikanische Regierung auch in der Krise weiter auf eine Sparpolitik, die sogar
grundsätzlich rechtlich verankert ist. Die orthodox neo-liberale Orientierung der
mexikanischen Regierungen hat auch deutliche soziale Folgen: So sind
Arbeitslosigkeit und Armut höher als in Argentinien oder Brasilien. Mexiko stellt
zuletzt mit seiner steigenden Armut eine negative Ausnahme auf dem Subkontinent
dar.
Insgesamt milderte eine stärkere Binnenorientierung und Diversifizierung die
Krisenfolgen ab. Potenziell waren in einem solchen Fall auch größere Spielräume für
die Krisenbekämpfung gegeben. Diese wurden von den Mitte-Links-Regierungen in
Argentinien, Brasilien und Uruguay auch genutzt. Allerdings zeigen sich auch beim
Entwicklungsmodell dieser Länder Grenzen. Für die Linksregierungen in Venezuela
und den andinen Ländern schuf die einseitige Orientierung ihrer Ökonomien auf den
Rohstoffexport eine erhebliche Krisenverwundbarkeit und schränkte die Optionen der
Krisenbekämpfung empfindlich ein. In den durch Freihandelsabkommen eng an die
USA gebundenen Ländern Zentralamerikas und Mexiko schlug die globale Krise
besonders stark durch. Die Anti-Krisen-Politik der mexikanischen Rechtsregierung
zeichnete sich durch einen besonders orthodoxen Zuschnitt mit besonders negativen
sozialen Folgen aus.
Joachim Becker ist a.o. Professor am Institut für Außenwirtschaft und Entwicklung
der Wirtschaftsuniversität Wien
16.000 Z
i
Vollmitglieder Argentinien, Brasilien, Uruguay, Paraguay und Venezuela; assoziierte Mitglieder Chile, Bolivien,
Peru, Kolumbien und Ecuador.
ii ALBA (Bolivarische Allianz für die Amerikas), von Venezuela initiiertes linksorientiertes Staatenbündnis mit
Venezuela, Kuba, Nicaragua, Ecuador und Bolivien sowie vier kleinen karibischen Inselstaaten als
Mitgliedsländern.
iii 2008 in Brasilien gegründete „Union südamerikanischer Nationen“, der alle 12 Staaten Südamerikas angehören.
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