Kompetenzmessung und Lerntransfer – eine verschwiegene Beziehung? Richard Fortmüller Kompetenzen Franz E. Weinert (2001): „Unter Kompetenzen versteht man die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volationalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“ Eckhart Klieme (2004): „Kompetenz stellt die Verbindung zwischen Wissen und Können her und ist als Befähigung zur Bewältigung unterschiedlicher Situationen zu sehen.“ 2 Kompetenzbegriff von Klieme aus lerntheoretischer Perspektive Wissen Können • Fakten • Fertigkeiten • Zusammenhänge • Fähigkeiten Verbindung Kompetenz Disposition zur Bewältigung unterschiedlicher Situationen (einer Aufgabenklasse – z.B. Verbuchung laufender Geschäftsfälle) Aufgabe 1: z.B. Verbuchung Wareneinkauf – Fallbeschreibung, Buchungssatz Aufgabe 2 - z.B. Verbuchung Wareneinkauf – Belege, Kontenraster Aufgabe 3 - z.B. Verbuchung Retourwaren – Belege, Kontenraster Aufgabe 4 - z.B. Verbuchung Rabatt – Fallbeschreibung, Belege, Multiple Choice Test Aufgaben 5, 6, 7 ………….. Kompetenzen – Beispiele Rechnungswesen • Laufende Geschäftsfälle verbuchen können • Auswirkungen (der Verbuchung) von Geschäftsfällen auf die Bilanz und den Gewinn beurteilen können • Deckungsbeiträge von Produkten (pro Stück und gesamt) berechnen können Marketing • Preiselastizität der Nachfrage ermitteln können • Einfluss preispolitischer Maßnahmen auf den Umsatz beurteilen können Marketing & Rechnungswesen • Einfluss preispolitischer Maßnahmen auf den Deckungsbeitrag von Produkten (pro Stück und gesamt) beurteilen können 4 Beispiel Preispolitik Wissen zur Preiselastizität Kennzahl, die angibt, wie Preisänderung die Nachfrage beeinflusst: Prozentuelle Veränderung der Nachfrage Preiselastizität = Prozentuelle Veränderung des Preises > 1 elastisch < 1 unelastisch Können zur Preiselastizität Lösen von Aufgaben der Form: Preissenkung um 10 % führt zur Nachfragesteigerung um 25 %. Berechnen Sie die Preiselastizität und geben Sie mit Begründung an, ob eine elastische oder unelastische Nachfrage vorliegt. Kompetenzmessung – Beispiel 1 Aufgabe 1: Die Espressomaschine Wake up wird gegenwärtig zu einem Preis von € 300,- angeboten. Da der Verkauf unter den Erwartungen liegt, soll der Preis um 10 % auf € 270,- gesenkt werden. Gemäß Markstudien kann dadurch die verkaufte Menge um 25 % von 4.000 auf 5.000,- Espressomaschinen pro Jahr erhöht werden. a) Berechnen Sie die Preiselastizität der Nachfrage b) Geben mit Begründung an, ob eine elastische oder unelastische Nachfrage vorliegt. c) Führen Sie mit Begründung aus, ob die geplante Preissenkung zu einer Umsatzsteigerung führen würde. 6 Kompetenzmessung – Beispiel 2 Aufgabe 2: Die Espressomaschine Wake up wird gegenwärtig zu einem Preis von € 300,- angeboten. Da der Verkauf unter den Erwartungen liegt, soll der Preis um 10 % auf € 270,- gesenkt werden. Gemäß Markstudien kann dadurch die verkaufte Menge um 25 % von 4.000 auf 5.000,- Espressomaschinen pro Jahr erhöht werden. a) Berechnen Sie die Preiselastizität der Nachfrage b) Geben mit Begründung an, ob eine elastische oder unelastische Nachfrage vorliegt. c) Führen Sie mit Begründung aus, ob die geplante Preissenkung zu einer Umsatzsteigerung führen würde. 7 Kompetenzmessung – Beispiel 3 Aufgabe 3: Ein Marktforschungsinstitut hat Preissensibilität der potenziellen Kunden des Marktsegmentes erhoben, in dem auch die Espressomaschine Wake up angeboten wird. Den Zusammenhang zwischen dem Verkaufspreis und der Nachfrage können Sie der beigefügten Marktstudie entnehmen. a) Berechnen Sie näherungsweise die Preiselastizität der Nachfrage b) Geben mit Begründung an, ob eine elastische oder unelastische Nachfrage vorliegt. c) Führen Sie mit Begründung aus, ob die geplante eine Preissenkung zu einer Umsatzsteigerung führen würde. 8 Kompetenzmessung – Marktstudie zu den Beispielen 3 und 4 Marktstudien Preisakzeptanz Espressomaschinen – Marktsegment Wake up 120% 100% Preisakzeptanz Produkt A 80% Preisakzeptanz 60% 40% 20% 0% 40 80 120 160 200 240 280 320 Verkaufspreis Produkt A 9 360 400 440 Kompetenzmessung – Beispiel 4 Aufgabe 4: Die Espressomaschine Wake up wird gegenwärtig zu einem Preis von € 200,- angeboten. Da der Verkauf unter den Erwartungen liegt, soll der Preis um 10 % auf € 270,- gesenkt werden. Den Zusammenhang zwischen dem Verkaufspreis und der Nachfrage können Sie der beigefügten Marktstudie entnehmen. a) Berechnen Sie näherungsweise die Preiselastizität der Nachfrage b) Geben mit Begründung an, ob eine elastische oder unelastische Nachfrage vorliegt. c) Führen Sie mit Begründung aus, ob die geplante Preissenkung zu einer Umsatzsteigerung führen würde. d) Berechnen Sie näherungsweise, zu welcher Umsatzänderung die geplante Preissenkung führen würde 10 Kompetenzmessung Kompetenz Disposition zur Bewältigung unterschiedlicher Situationen (Klasse verschiedener Aufgaben) Verhalten Lernen Testaufgaben aus den Aufgabenklassen Lernsituationen • Informationen • Übungsaufgaben • Problemstellungen Kompetenzeinschätzung Leistung Testergebnisse bei den einzelnen Aufgabenklassen Kompetenzmessung aus lerntheoretischer Perspektive Kompetenz Lernergebnisse • Kenntnisse • Fertigkeiten • Fähigkeiten Lernen Disposition zur Bewältigung unterschiedlicher Situationen (Klasse verschiedener Aufgaben) Anwenden Verhalten Testaufgaben aus den Aufgabenklassen Lernsituationen • Informationen • Übungsaufgaben • Problemstellungen Kompetenzeinschätzung Leistung Testergebnisse bei den einzelnen Aufgabenklassen Anwendbarkeit der Lernergebnisse in Testsituation (Lerntransfer) Lernergebnisse • Kenntnisse • Fertigkeiten • Fähigkeiten Lernen Kompetenz Disposition zur Bewältigung unterschiedlicher Situationen (Klasse verschiedener Aufgaben) Anwenden abgestimmt? Verhalten Testaufgaben aus den Aufgabenklassen Lernsituationen • Informationen • Übungsaufgaben • Problemstellungen gleichartig? Kompetenzeinschätzung Leistung Testergebnisse bei den einzelnen Aufgabenklassen Anwendung des Gelernten außerhalb der Lernsituation - Lerntransfer (eng) Lernergebnisse • Kenntnisse • Fertigkeiten • Fähigkeiten Form des Lerntransfers Widergeben Anwendungssituation • Wissensfragen • Übungsaufgabenanaloge Routineaufgaben • Lernsituationsanaloge Problemstellungen Ausführen Lernen Gleiche Aufgabenstruktur Lernsituationen • Informationen • Übungsaufgaben • Problemstellungen Gleiche Vorgehensweise notwendig Anwendung des Gelernten außerhalb der Lernsituation - Lerntransfer (weit) Lernergebnisse • Kenntnisse • Fertigkeiten • Fähigkeiten Lernen Lernsituationen • Informationen • Übungsaufgaben • Problemstellungen Form des Lerntransfers Interpretation Problemlösen Anwendungssituation • Verständnisfragen • Neuartige Aufgaben • (Komplexe) Probleme Veränderte Aufgabenstruktur Andere Vorgehensweise notwendig Kompetenzmessung aus Transferperspektive Kompetenz Lernergebnisse • Kenntnisse Widergeben • Fertigkeiten Ausführen • Fähigkeiten Problemlösen • Informationen • Übungsaufgaben • Problemstellungen Verhalten Testaufgaben Lernen Lernsituationen Disposition zur Bewältigung unterschiedlicher Situationen (Klasse verschiedener Aufgaben) aus den Aufgabenklassen gleichartig? Kompetenzeinschätzung Leistung Testergebnisse bei den einzelnen Aufgabenklassen Lerntransfer auf Kostenrechnungsaufgaben anderer Schulbücher Schulbuchgruppe Berlinger (n = 29) Schulbuchgruppe Haberl (n = 120) Schulbuchgruppe Gründl (n = 94) 80,00 70,00 60,00 50,00 40,00 30,00 20,00 10,00 0,00 Aufgabe 1 (Berlinger) Aufgabe 2 (Haberl) Aufgabe 3 (Gründl) Aufgabe 4 (Haberl) Aufgabe 5 (Berlinger) Resümee 1. 2. 3. Kompetenz ist ein relationaler Begriff, denn er beschreibt einen potenziellen Person-Umwelt-Bezug • Kompetenz ist untrennbar mit der Person verbunden • Kompetenz ist aber nur situationsabhängig leistungsrelevant Kompetenzmessungen ohne Beachtung der Lerngeschichte übersehen das Transferproblem • Testaufgabe ist Routineaufgabe, wenn übungsbeispielanalog • Testaufgabe erfordert Transferleistungen, wenn verändert Ergebnisse von Kompetenzmessungen sind nur eingeschränkt interpretierbar, wenn Lerngeschichte unbekannt • Ergebnis durch passende Übung oder Transferleistungen erzielt? • Über welches Potenzial verfügt daher die Person? • Ist daher Kompetenzmessung nur eine Leistungsmessung? Resümee 4. 5. 6. Wie eng oder weit können/sollen die Aufgabenklassen definiert werden? • Enge Fassung: Problem der bloßen Fertigkeitsmessung • Weite Fassung: Problem der gleichen Transferweiten Erfordern daher Kompetenzmessungen immer eine Berücksichtigung der Lerngeschichten? • Vermutlich nicht, wenn die Tests nach den Kriterien der Item Response Theory erstellt und überprüft sind • Dies ist aber in der Schulpraxis kaum möglich Sind daher schulübergreifende Kompetenzmessungen mangels Kenntnis der Lerngeschichten und mangels empirischer Überprüfung der Testeigenschaften in der Praxis doch nur Leistungsmessungen? Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! 20 Theorie identischer Elemente Theoretische Grundlage: Behavioristische Lerntheorie von Thorndike Grundannahmen: Lernen besteht im Aufbau von Reiz-Reaktions-Verbindungen • durch Verstärkung • des in einer Situation (Reize) • gezeigten Verhaltens (Reaktionen) Positiver Transfer tritt auf, wenn in Lern- und Anwendungssituation • dieselben Reize gegeben und • dieselben Reaktionen gefordert sind Folie 21 Richard Fortmüller Transfer von Prinzipien Theoretische Grundlage: Kognitive Lerntheorie Grundannahmen: Lernen besteht im Verstehen von Grundprinzipien (deklaratives Wissen) • durch Herausarbeiten der allgemeinen Regel, • Erläuterung anhand konkreter Beispiele, • Bearbeitung von Anwendungsaufgaben Positiver Transfer tritt auf, wenn in Lern- und Anwendungssituation • dieselbe Problemstruktur gegeben und • die Anwendung derselben Regel gefordert ist Folie 22 Richard Fortmüller Transfer von Prozeduren Theoretische Grundlage: Kognitive Lerntheorie Grundannahmen: Lernen besteht im Aufbau von Denkwegen (prozedurales Wissen) • Bearbeitung von Anwendungsaufgaben • Finden von Lösungswegen • Üben mit variierenden Aufgabenstellungen Positiver Transfer tritt auf, wenn in Lern- und Anwendungssituation • dieselben Aufgabenarten gegeben und • dieselben Vorgehensweisen (Lösungswege) gefordert sind Folie 23 Richard Fortmüller Situierte Kognition Theoretische Grundlage: Radikaler Konstruktivismus Grundannahmen: Lernen besteht in der Entwicklung von (Wirklichkeits-)Konstruktionen • durch Auseinandersetzung mit authentischen Problemen, • Entwicklung von passenden (variablen) Lösungen (Sichtweisen), • die aber keine objektive Gültigkeit (Wahrheit) beanspruchen können Positiver Transfer tritt auf, wenn • die Lernsituation authentisch ist und • somit der Anwendungssituation entspricht Folie 24 Richard Fortmüller