Die Türkei vor richtungweisenden Parlamentswahlen

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Die Türkei vor richtungweisenden Parlamentswahlen
Mögliche Wahlergebnisse und ihre Konsequenzen
Von Dr. Hans-Georg Fleck, Leiter des Stiftungsbüros in Istanbul, Türkei
CC BY-SA 2.0 Dennis Jarvis/ Flickr/ bearbeitet
Am 01.11. 2015 sind knapp 60 Mill. stimmberechtigte Bürger der Türkei zum
zweiten Mal innerhalb weniger Monate aufgerufen, ein neues Parlament zu
wählen. Die Wahl ist erforderlich geworden, da die aufgrund des Wahlresultats
vom 07. Juni notwendige Bildung einer Regierungskoalition nicht im von der
Verfassung vorgesehenen Zeitraum zustande gekommen war. Der
Staatspräsident hatte daraufhin – gemäß seinen verfassungsmäßigen Rechten
– Neuwahlen angesetzt.
Nach den Juni-Wahlen hat sich das ohnehin - zumindest seit den Gezi-ParkUnruhen des Frühsommers 2013 – angespannte politische Klima im Lande drastisch
verschärft und weiter polarisiert. Die hier zu nennenden Stichworte sind: Weiteres
Anziehen
der
Repressionsschraube
gegen
jede
Form
oppositioneller
Meinungsäußerung in den Medien bis hin zu physischen Übergriffen auf unliebsame
Journalisten und – noch belastender – die Beendigung des von der AKP-Regierung
2011 eingeleiteten Friedensprozesses mit der kurdischen PKK, was zu nahezu
täglichen, gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitsorganen und
PKK-Kämpfern, insbesondere in den kurdischen Gebieten Südostanatoliens, führt.
Zuletzt ist das Sicherheitsempfinden der türkischen Bürger auch außerhalb dieser
Region auf eine harte Probe gestellt worden: Das offenkundig von der islamistischen
Terrororganisation „Islamischer Staat“ verübte Massaker von Ankara mit über 100
Todesopfern hat gezeigt, dass die Frontlinien des Syrien-Krieges, der längst mehr als
ein Bürgerkrieg ist, nun auch direkt auf das Territorium der Türkei ausstrahlen.
In dieser von vielen Bürgern der Türkei als bedrohlich empfundenen politischen Lage
finden nun erneut Parlamentswahlen statt. Die Mehrzahl der bisher publizierten
Wahlforschungsergebnisse – zumeist minder zuverlässiger Natur – deuten dabei auf
eine annähernde Repetiton des Wahlresultats vom 07. Juni hin. Das würde bedeuten
– anders als es manche in der Regierungspresse publizierten Zahlen zu suggerieren
versuchen -, dass sich der Wunsch der AKP und vor allem ihres unangefochtenen
politischen Führers Recep Tayyip Erdoğan nach Wiedererringung der absoluten
Parlamentsmehrheit wohl eher nicht realisieren dürfte. Allerdings sind die in Rede
stehenden Margen zu gering, um heute ausschließen zu können, dass es der AKP
doch noch – begünstigt durch die Gegebenheiten des türkischen Wahlsystems –
gelingen könnte, die zur Mehrheit erforderlichen 20 Mandate (von insgesamt 550)
hinzuzugewinnen. Auch ein jeweils nur geringfügiger „swing“ der Wähler auf der
Ebene der 85 Wahlkreise des Landes könnte dies möglich machen.
Szenarien für den Wahlausgang
Im folgenden sollen mögliche Szenarien des Wahlausgangs hinsichtlich ihrer
Wahrscheinlichkeit resp. hinsichtlich ihrer politischen Konsequenzen erläutert
werden.
Zusammenstellung der Parlamentswahlen 2011 und 2015 I sowie der jüngsten Umfrage des
Meinungsforschungsinstituts „Konda“
(Quelle: http://www.sozcu.com.tr/2015/gundem/iste-kondanin-son-secim-anket-sonuclari-966122/)
Option 1: Nur drei Parteien ziehen ins Parlament ein
Diese Option würde die Rückkehr zum
Zwei- bzw. Drei-Parteien-Parlament
bedeuten, dass die Türkei seit dem Jahre 2002 besessen hat. Die von der
Militärjunta der frühen 1980er Jahre im Sinne der innenpolitischen Stabilisierung
erlassene, in ihrer Wirkung weltweit einzigartige 10%-Sperrklausel bedeutet, dass
nur solche politischen Parteien bei der Sitz-Zuteilung auf der Ebene der 85
Mehrmandats-Wahlkreise berücksichtigt werden, die auf gesamtstaatlicher Ebene
mehr als 10% der Wählerstimmen erhalten haben.
Wie stets bei Wahl-Sperrklauseln würde ein Scheitern der HDP an der Wahlhürde
den anderen, weiterhin an der Mandatszuteilung partizipierenden Parteien zugute
kommen. Eine Wiedereringung der absoluten Mehrheit durch die AKP wäre die
natürliche Folge. Die kurdisch bestimmten Wahlkreise würden dann z. B.
voraussichtlich von AKP-Kandidaten vertreten werden, weil ihnen – als
Repräsentanten der dort zweitstärksten Partei – nahezu alle Sitze in den HDPHochburgen des Ostens zufallen würden. Rund 80% der dortigen Wähler wären
dann – so sieht es das Wahlsystem vor – ohne Repräsentanz im Staatsparlament.
Bei den Juniwahlen stand das erstmalige Bemühen einer als kurdisch geltenden
Partei, landesweit die 10%-Hürde zu überspringen, im Zentrum des Wahlkampfes.
Die AKP sah ihr Ringen um eine verfassungsändernde Parlamentsmehrheit durch
die Kampfansage der kurdischen HDP konterkariert. Viele Gegner der
Alleinherrschaft der AKP hingegen sahen in einem Parlamentseinzug der HDP die (!)
Chance, dem zunehmenden Autoritarismus der Regierungspartei und ihrer
politischen Führungsclique Einhalt zu gebieten. Das Votum für die sich um ein neues,
nicht ethnisch beschränktes Profil bemühende HDP wurde so zum taktischen
Schachzug für viele Bürger, ohne dass sie ihre Bindung an andere
Oppositionsparteien gänzlich aufgegeben hätten.
Der HDP war es so durch einen in seiner Höhe unerwarteten Wahlerfolg - vor allem
auch in nicht kurdisch-dominierten Gebieten der Westtürkei - gelungen, als vierte
Kraft ins Parlament einzuziehen. Nach den Wahlen hat sich die Agitation des
Präsidenten, seiner Partei und der ihnen zur Verfügung stehenden breiten Front der
Regierungsmedien auf die HDP „eingeschossen“, die – zumal nach der
Aufkündigung der sogenannten „Kurdischen Lösung“ – wieder vornehmlich als der
„verlängerte Arm des kurdischen Terrorismus“ dargestellt worden ist.
Bei den Wahlen vom 01. November dürfte es der HDP wohl erneut gelingen, die
10%-Hürde zu überwinden und ins Parlament einzuziehen. Dafür gibt es zwei
Voraussetzungen: Die Wahlen müssen in den HDP-Hochburgen des Südostens, wo
ihr Stimmenanteil zwischen 70-85% lag, frei und fair durchgeführt werden. Es wird
u.a. an den OSZE-Wahlbeobachtern sein, hier ein sehr aufmerksames Auge auf den
Wahlvorgang zu richten. Zudem benötigt die HDP auch weiterhin „Leihstimmen“, vor
allem aus dem Lager der kemalistischen CHP. Sollten zuviele Wähler – z. B. aus
Sorge um die innere Stabilität der Türkei – diesmal wieder für die CHP oder andere
kemalistische Kleinstparteien votieren, dann könnte der Parlamentseinzug der HDP
doch noch ins Wanken geraten.
Option 2: Weitgehende Wiederholung des Wahlresultats vom 07.06. (4 Parteien
im Parlament, keine absolute Mehrheit, Koalitionsbildung erforderlich)
Sollte sich das Wahlresultat des 07. Juni am 01. November – bis auf zu erwartende
kleinere Korrekturen – erneut einstellen, so wird sich das nach den Juniwahlen
praktizierte, verfassungskonforme Prozedere wiederholen: Der Führer der stärksten
Parlamentsfraktion - und das wird zweifellos der Führer der AKP sein - wird mit der
Regierungsbildung beauftragt werden. Grundsätzlich stellen sich in einem solchen
Falle jedoch folgende Alternativen:
a) Bildung einer Koalition aller Oppositionsparteien
Diese von großen Teilen der Zivilgesellschaft geforderte „Anti-AKP-Koalition“, die
arithmetisch im Juni 2015 möglich gewesen wäre, hatte sich sehr rasch als politisch
nicht durchsetzbar erwiesen, insbesondere weil die rechtsnationalistische MHP sich
(und vor allem ihren Wählern) ein Zusammengehen mit der (kurdischen!) HDP - und
wenn auch nur für befristete Zeit zur Korrektur zentraler Übel der AKP-Herrschaft
(Stichwort: Korruption und Nepotismus) - nicht glaubte zumuten zu können.
Aufgrund der wachsenden, ethnisch motivierten Spannungen der letzten vier Monate
ist diese Möglichkeit unabhängig von den neuen Mehrheitsverhältnissen noch
unrealistischer als zuvor.
b) Bildung einer AKP-CHP-Koalition
Diese Koalitionsvariante ist nach den Juni-Wahlen intensiv ausgelotet worden, ihr
Zustandekommen aber letztlich an der Ablehnung jeder Koalitionsversion durch den
Staatspräsidenten gescheitert. Die CHP hat einen breiten wirtschafts- und
sozialpolitisch akzentuierten Reformkatalog vorgelegt. Sie wird auch auf die
Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen mit der PKK als auch auf das
Wiederaufrollen der von der AKP mit brachialen Eingriffen in den türkischen
Rechtsstaat erstickten Korruptionsverfahren gegen führende Repräsentanten der
AKP dringen. Auch auf außenpolitischem Felde würde eine solche „Große Koalition“
neue Optionen eröffnen, hat sich die CHP doch von Beginn der syrischen Krise
gegen den einseitigen, die Türkei heute isolierenden Anti-Assad-Kurs gestemmt.
Auch sich aus den erdbebengleichen Veränderungen der „Flüchtlingskrise“
ergebende, neue Chancen für eine Wieder-Annäherung der Türkei an die EU fänden
mit einer solchen Koalition ein fruchtbareres Umfeld.
Eine Koalitionsbildung mit dem evtl. durch die Wahl gestärkten Erzrivalen CHP wäre
für die Parteiführung der AKP und insbesondere für Tayyip Erdoğan ein äußerst
schwerverdaulicher Brocken, zumal der Präsident mit der Forderung – evtl. sogar
aus den eigenen Reihen – konfrontiert werden dürfte, sich zukünftig doch in seiner
Amtsausübung mehr vom eindeutig auf eine Repräsentationsfunktion verweisenden
Wortlaut der Verfassung leiten zu lassen. Bisher agiert der Präsident ja – ganz im
Sinne seines persönlichen Demokratieverständnisses – eher als ein Volkstribun aus
eigener, plebiszitärer Machtvollkommenheit denn als Staatspräsident eines sich als
Rechtsstaat verstehenden Verfassungsstaates.
Ist diese Koalitionsvariante wahrscheinlich? Sie ist zwar die einzige Variante, die den
Koalitionären eine verfassungsändernde Zweidrittel-Mehrheit im neuen Parlament
verschaffen würde – Chance für die Umsetzung der überfälligen Verfassungsreform.
Aber die sicher bestehende Möglichkeit, ein kleineres „Koalitionsübel“ zu wählen,
wird die AKP wohl kaum geneigt machen, sich in die Abhängigkeit vom
Koalitionspartner CHP zu begeben. Die CHP ist sicher an einem Heranrücken an die
„Futtertröge der Macht“ nach einer langen, vom Wählervotum verhängten Karenzzeit
interessiert. Sie weiß aber, dass sie ihrer Wählerklientel in den Großstädten des
türkischen Westens klare Signale des Fortschritts und der Veränderung schuldig ist –
soll ihr nicht in absehbarer Zukunft in Gestalt der HDP ein gefährlicher Wettbewerber
auf dem eigenen „Geläuf“ erwachsen.
c) Bildung einer AKP-MHP-Koalition
Die Bildung einer solchen Koalition der islamischen mit der nationalistischen Rechten
ist die wahrscheinlichste der möglichen Koalitionsvarianten. Nachdem die AKP die
sogenannte „Kurdische Lösung“ u.a. dem Kampf gegen PKK und HDP geopfert hat,
ist der wesentliche Hinderungsgrund für einen Regierungseinstieg der MHP aus dem
Weg geräumt. Auch wenn die MHP bereits im Wahlkampf Abwanderungstendenzen
aus den eigenen Reihen zur AKP zu verzeichnen hatte, dürfte sie am ehesten bereit
sein, im Interesse ihrer großen politischen Ziele (Erhalt des türkisch dominierten
zentralistischen Einheitsstaates ohne jegliche Konzession an ethnische Minderheiten
oder
andere
Föderalisierungsbestrebungen)
auf
eine
Klärung
der
Korruptionsvorwürfe zu verzichten. Schwieriger dürfte es für die MHP-Führung sein,
eine Fortsetzung des verfassungsbezogenen „Geisterfahrer-Kurses“ des Präsidenten
hinzunehmen. Hier könnte Erdoğan im Interesse des ansonsten weitgehend
unangefochtenen Machterhalts seiner Partei gezwungen sein, Konzessionen zu
machen.
Die dickste zu schluckende „Kröte“ allerdings dürfte für den Präsidenten die
(vorläufige) Aufgabe der Idee eines politischen Systemwechsels hin zu einer
„Präsidialdemokratie“ mit einer bisher ungekannten Machtfülle des Präsidenten
sein.Um dieser Korrektur seiner stets klar und unmißverständlich artikulierten
politischen Absichten entgegenzuwirken, bleibt Erdoğan nur ein Schritt: Das erneute
Anvisieren von Neuwahlen.
d) Verweigerung der Koalitionsbildung – Neuwahlen
Noch am Wahlabend des 07. Juni hatten die Flagschiffe der Regierungspresse kein
Hehl daraus gemacht, was sie – ganz nah am Mund des Präsidenten – von der
Bildung einer Koalitionsregierung halten: rein gar nichts! Nimmt man die auch hier
wieder in ihrer Zielrichtung klaren Äußerungen des Präsidenten in den NachwahlWochen zum Entscheidungsmaßstab, dann ist es eindeutig: Der Präsident wird alles
in seinen politischen und verfassungsmäßigen Möglichkeiten Stehende tun, um das
für ihn in jeder Koalitionsoption bestehende „Restrisiko“ bis auf Weiteres
auszuschließen. Der §116 der Verfassung gibt ihm die Handhabe, im Falle des
Nichtzustandekommens einer mehrheitsfähigen Regierung „in Absprache mit dem
Parlamentspräsidenten“ Neuwahlen anzuberaumen.
Es ist also nur erforderlich, erneut eine Koalitionsvereinbarung zu hintertreiben oder
dafür zu sorgen, dass eine verabredete Koalitionsregierung das erforderliche
Vertrauensvotum im Parlament verfehlt, um den §116 wirksam werden zu lassen.
Der Präsident könnte zur Begründung auch auf die – objektiv bestehenden,
zumindest regionalen – Einschränkungen der öffentlichen Sicherheit verweisen, um
Zeit zu gewinnen für einen erneuten Urnengang, dann voraussichtlich im April/Mai
2016. Da der Präsident das Steuer politischer und wirtschaftlicher Machtausübung
ohnehin in den bestgeeigneten Händen – d.h. den seinen – weiß, drängt es ihn nicht,
formal eine neue parlamentarisch abgesicherte Mehrheitsregierung ins Amt zu
bringen. Schon jetzt regiert die AKP de facto weiter, ohne im Parlament über eine
Mehrheit zu verfügen. Warum sollte sie dies nicht auch fünf weitere Monate tun
können?
Option 3: Die AKP gewinnt die absolute Mehrheit der Parlamentssitze zurück
Natürlich ist die AKP-Wahlkampfstrategie einzig auf ein solches Wahlresultat
konzentriert. Ein Gewinn von knapp 20 Mandaten bedeutet schon die absolute
Mehrheit der Parlamentssitze und die Fortsetzung der Alleinregierung – die AKP
wäre frei von in ihren Auswirkungen schwer abzuschätzenden „Zumutungen“ seitens
etwaiger Koalitionäre. Ein solches Wahlresultat ist aufgrund des Wahlsystems
ebenso wenig auszuschließen, wie es eindeutig sein dürfte, dass der Präsident
erneut das von ihm vor den Juniwahlen von seiner Partei (und den Wählern)
geforderte Treuebekenntnis in Form einer verfassungsändernden Zahl der Mandate Erdoğan hatte schlicht 400 Mandate gefordert – verfehlen wird.
Die Erdoğansche Präsidialdemokratie à la turca dürfte durch keine der
realistischerweise zu erwartenden Wahlresultatsoptionen befördert werden. Solange
man jedoch nicht sicher sein kann, dass die stärkste Parlamentsfraktion zum Zwecke
der Durchsetzung des zentralen Wunsches ihres Parteigründers auch
„außerkonstitutionelle Mittel“ anwenden könnte, wäre es zu früh zu erklären: Die
Präsidialdemokratie à la turca ist vom Tisch!
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