Glücksspiel aus kultursoziologischer Perspektive Kurzer Aufriß zur Genesis und zur Bedeutungsverschiebung des Spiels und der Spielsucht in der Gegenwart von Bernd Ternes1 Abstract Die gegenwärtige Zunahme sozialer Handlungen im Modus des Gewinn-, Glücks- und Freizeitspiels sowie die Zunahme der definierten Sozial- und Psychopathologien (Suchtverhalten, Deprivation) läßt sich für ein Erkenntnisinteresse fruchtbar machen, das man als ein historisches und zugleich kulturtheoretisches Interesse bezeichnen kann. Dieses Interesse vermutet gegenwartsdiagnostisch einen vielfachen Umbau der kulturellen Grundlagen europäischmoderner Gesellschaften, also einen Umbau der psychosozialen Infrastruktur moderner Gesellschaften, der unter anderem in Erscheinung tritt am Erkenntnisgegenstand Spiel resp. Spielsucht. Zentral ist die These, daß die psychosoziale Integration der Individuen in modernen Gesellschaften nicht mehr ausreichend gespeist wird oder nur noch rhetorisch gespeist wird aus der kulturellen Semantik eines protestantischen Arbeits- und Lebensführungsethos, nicht mehr ausreichend gespeist wird aus der kulturellen Übereinkunft einer kausalen Beziehung zwischen Leistung und dem Erwerb finanziellen, sozialen und kulturellen „Kapitals“ (im Sinne Pierre Bourdieus), schließlich nicht mehr ausreichend gespeist wird durch die sozialintegrative Überzeugung an die individuelle Karriere (über Arbeits- und Bildungsleistungen). Diese gesellschaftlichkulturelle Tendenz führt zu einem erhöhten Bedarf nach Alternativen zur psychokommunikativen Währung namens „Sinn“ (zeitresistenter Lebenssinn) wie auch nach Alternativen zur abnehmenden lebensbiographischen Kontinuität als Gestalt der Währung „Sicherheit“ (zeitresistente Identität). Die bis dato vorherrschende „Schieflage“ zwischen Bewußtseinskultur und Spiel- resp. Konsumkultur – Spielhandlungen sind den rational motivierten Leistungshandlungen immer untergeordnet: Spiel passiert innerhalb des „ernsten Lebens“, nicht umgedreht – bricht auf: und damit auch die Gesellschaft als imaginäre Institution (Cornelius Castoriadis), also die Vorstellung von Gesellschaft in den Köpfen der Menschen in ihr. Die Erwartungs- und Anspruchsnormierungen der in ihr lebenden Menschen stellen sich langsam um: von der lebensrationalen Erwerbs- und Wohlstandsgesellschaft hin zu einer lebensrelevanten Risiko-, Wahrscheinlichkeits- und Chancengesellschaft. Dem Spiel verpflichtete Verhaltens- und Handlungsweisen, Erwartungs- und Anforderungsweisen, die bis jetzt in insularen Bereichen innerhalb der rationalen Gesellschaft kultiviert und praktiziert wurden, werden nun relevant für die grundlegende soziale Verortung innerhalb und zur Gesellschaft. Für diese psychosoziale „Kulturrevolution“ steht allerdings noch keine gesellschaftlich akzeptierte Kultur bereit, die jenseits des finanzökonomischen Systems („Börsenspekulationshandeln“) akzeptiert wird. In letzter Konsequenz geht es darum, Sucht, speziell Spielsucht, nicht als Störung einer ansonsten funktionsfähigen Kulturleistung zu verstehen, sondern selbst als Kulturleistung der psychosozialen Mimesis (nachahmende Darstellung), die nur graduell von einer ‚nichtkrankhaften’ Mimesis an die sozialen Normen und Pflichten zu unterscheiden ist. 1 Bernd Ternes, Dr. phil. habil., PD am Institut für Soziologie der FU Berlin, Gründer der wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft „menschen formen e.V.“, Mitbetreiber des Berliner Verlages „sine causa“; zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: „Technogene Nähe“, Berlin 2007. Kontakt: [email protected] 1 „Methodologische“ Vorklärungen Die wissenschaftliche Analyse von Spielverhalten, Spielhandeln und Spielsucht ist zumeist geprägt von einem mehr oder weniger expliziten systemtheoretischen Design. Spiel ist ein multifaktorielles Gebilde der Analyse, ein Ensemble von verschiedenen Systemen. Gemäß den jeweiligen Systemgrenzen des Spiels selbst (Spieltheorie), des Rechts, des Rechtsstaates, der Ökonomie, der medizinischen Pathognostik und der Psyche werden spezifische Merkmale und Merkmals-Cluster des Spielsyndroms untersucht. Das Maximum möglicher Interdisziplinarität dieser Analysen kommt in den Begriffen „strukturelle Kopplung“ und „Interpenetration“ zum Ausdruck, bei Wahrung der System/Umwelt-Grenzen der jeweiligen Systemmedien und -formen. Möglich werden mit dieser Art der wissenschaftstheoretischen Herangehensweise Aussagen vom Typ mittlerer Reichweite – also mesogesellschaftlich ausgerichtete Aussagen. Dies sichert die Operationalisierbarkeit der Erkenntnisinteressen in Gestalt neuer Gesetze, neuer Regelungen, neuer Therapien, neuer Medikamente – und neuer Expertisen auf empirischer Grundlage. Ergänzt man diese systemtheoretische und operationalisierungstheoretische Anleitung mit einer solchen, die grundlagentheoretisch im sozialphilosophischen Begriff der „gesellschaftlichen Totalität“ verankert ist (Theodor W. Adorno), so läßt sich der aussagenlogische Umfang der Aussagen zum Erkenntnisproblem Spiel/Spielsucht erheblich erweitern; und zwar um ein Deutungswissen, daß in makrogesellschaftlicher Ausrichtung die mesogesellschaftlichen Resultate der wissenschaftlichen Analysen einzuordnen vermag. Ein solches Deutungswissen ginge über den Radius der Gegenwartsdiagnostik hinaus und würde das Syndrom Spiel/Spielsucht vornehmlich aus kultursoziologischer und modernitätstheoretischer Perspektive in den Blick nehmen – und damit auf die kulturellen Grundlagen der europäischen endmodernen Gesellschaften stoßen, die sich am Erkenntnisgegenstand Spiel als instabile und in Veränderung befindliche Grundlagen erweisen. – Die Aussagen, die dabei möglich werden, lassen sich jedoch nicht ohne weiteres umsetzen in rechtliche, psychologische und soziale Antworten. Sie dienen vorerst nur dem weitergehenden Verständnis des Zusammenhangs zwischen Spiel, Sucht, Kultur und Moderne. Kultur/Zivilisation/Rationalität Seitdem Spielen als lebendiger Ausdruck kognitiven Lebens (auch Tiere spielen) für das Lebewesen Mensch auch zu einem wesentliches Handeln wurde für die langwierige Initiierung von Prozessen, die als Sozialisationsprozesse und als sogenannte Anthropomorphisierungsprozesse bezeichnet werden – seitdem also Spielen einen wesentlichen Beitrag zu liefern begann für die Menschwerdung (Humanisation) jedes einzelnen homo sapiens innerhalb seiner Ontogenese, lieferte es gleichzeitig auch einen wesentlichen Beitrag für die Kulturisation der sich langsam herausbildenden sozialen Beziehungen der Menschen – und das bis heute. Denn soziale Kultur ist die in der Evolution von Leben bisher einzig bekannte Alternative zu dem, was man Phylogenese (Stammesgeschichte) nennt (so wie die Erfindung der sprachlichen Kommunikation bisher die einzige Alternative zur Mutation darstellt). Allerspätestens seit der Erfindung der Technik namens Städtebau 3000 v.u.Z. also hatte Spiel nicht mehr nur die Funktion, das einzelne Individuum im Modus des lernextensiven Probe- und Experimentierhandelns für die Gesellschaft zu entwickeln, sondern auch die Funktion, ein neues Bedürfnis der Menschen zu erfüllen: das Bedürfnis bestand darin, einer Anschauung der neuen sozialen Sphäre namens arbeitsteilige Gesellschaft habhaft zu werden, in der man nun war und die über die sozialen Wahrnehmungsgrenzen der Familie, der Gruppe, des Clans, des Dorfes hinausreichte. Die Macht, die Wirkung der neuen Gesellungs- und später Vergesellschaftungsweisen traf auf Menschen, denen für das Erkennen, für den Umgang und für die Handhabung dieser neuen Macht noch keine Kulturtechniken zur Verfügung standen: die mußten nun miterfunden, mitausgebildet werden. Indes: Daß diese dringend nötigen Kulturtechniken des ‚Adressierens’ von Gesellschaft fehlten und also ein Bedürfnis nach ihnen herrschte, war evi- 2 dent. Es drückte sich aus in der Erfindung von – aus heutiger Sicht betrachtet – magischanimistisch-religiös geformten Erfindungen unsichtbarer Mächte, Kräfte und Götter, die anstelle der unsichtbaren Gesellschaft adressiert wurden. Die Erfüllung dieses Bedürfnisses bestand also in den zumeist religiösen öffentlichen Zeremonien, Ritualen und Initiationen, nahm aber auch die Gestalt von Wettkämpfen, Potlaschs (Rivalitätsgeschenk-Zeremonien) und Feiern an. Mußte, ontogenetisch (die Entwicklung des Individuums betreffend) betrachtet, im Spiel das Individuum für die Gesellschaft „umgebrochen“, sozialisiert werden, so nun, kulturell betrachtet, die Gesellschaft für den einzelnen Menschen. Die auch heute noch gängige Form dieses Umbruchs der Gesellschaft fürs ‚Individuum’ heißt Anschauung. Die beginnende abstrakte, der Anschauung sich entziehende Gesellschaft (Distanzrationalität) mußte dafür Sorge tragen, daß genügend Foren der Anschaulichkeit und Nähe für den Menschen zur Verfügung gestellt wurden. Emile Durkheim wies in seiner großen Studie Les formes élémentaires de la vie religieuse 1912 nach, daß die praktischen Formen des religiösen Lebens auch den Sinn hatten, in der Interaktionssphäre der Menschen dasjenige verfügbar zu machen, was genuin jenseits der Interaktion der Menschen sich befindet: genuin soziale Tatsachen (holistische Theorie: das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile). Das Spiel, das nun hintergründig die ‚Vergesellschaftung der Menschen’ performierte, also anwendete (vordergründig besaß es weiterhin andere performances: Wettkampf, Spaß, körperliche Artistik usw.), besaß also noch durchgehend eine religiöse Matrix und wurde dennoch als erste gesellschaftliche Kulturleistung (nicht Arbeitsleistung!) von der Sozialität der abstrakter werdenden Gemeinschaften als genuine „Sozialtechnik“ cooptiert, aufgenommen. Das Spiel als Vergesellschaftungsinstitution (real-praktisch wie imaginär-ideologisch) war also die erste „soziale Fläche“ für die Menschen, ihre Kulturfähigkeit zu erwerben, um die neuen Lebensverhältnisse, in denen sie hineingestellt wurden (Rationalisierung der Lebenswelt), sowohl lernend zu adaptieren wie auch spielerisch zu kontrapunktieren, d.h.: umbrechend sich entgegenzusetzen (eine Art der „Vergegenständlichung“ also). Eine der ausholendsten Praktiken der Kontrapunktion der rationalen sozialen Welt war der Potlasch („Rivalitätsgeschenk“; Georges Batailles), also die Reinform eines Kurzschlusses der Sphäre der zweckrationalen Produktion und des Besitzes mit der Sphäre der zweckleugnenden Verschwendung und des Sich-aufs-Spiel-Setzens (die normale Realität wird aufs Spiel gesetzt, also als Illusion performiert; illusio geht etymologisch auf il-ludere zurück). Bataille, der den sogenannten ostentativen Schenkungen in rezenten Kulturen Mexikos und Nordamerikas nachging, schreibt dazu: „Eine der Funktionen des Herrschers, des ‚Hauptes der Menschen’, der über immense Reichtümer verfügte, war es, sich ostentativen Vergeudungen hinzugeben. [...] Er mußte schenken und spielen“ (Bataille 1975, 93). Aber auch Formen der streng zeremonialisierten und hoch geregelten Initiationsriten stellten erste Lösungen des Problems dar, wie Menschen auf Anschauungs- und Erfahrbarkeitsebene die unsichtbare und abstrakte Realität ihrer zunehmend komplexer werdenden sozialen Beziehungen kulturell einholen konnten (Hans Peter Weber 2006; Jörg Zirfaß 1993). Das Problem dieser kulturellen Einholung (Einbergung) ist eines der Zivilisation des Menschen: Denn die Abstraktheit, Distanziertheit und Unsichtbar- sowie Nichtwahrnehmbarkeit, kurz: die Rationalität, die sich mittlerweile innerhalb des Verhältnisses der Menschen zur Natur eingestellt hatte (Entbergung), war und ist weit größer als diejenige Rationalität, die zwischen den Menschen und vor allem Menschengruppen herrschte. Bewußtseinskultur und Spiel Norbert Elias bringt den letzten Punkt in aller Dringlichkeit auf den Punkt: „Auf der Ebene des menschlichen Zusammenlebens, auf der sozialen Ebene, bleibt das Maß der Distanzierung im Denken und Handeln weit hinter dem zurück, das wir auf der physikalischen und biologischen Ebene erreicht haben. Auf den sozialen Ebenen läuft die Kreisbewegung, in der eine relativ hohe Affektivität des Denkens und Handelns in Reaktion auf unkontrollierbare Gefah- 3 ren, die von Menschengruppen ausgehen, erhalten bleibt und vice versa, weiterhin auf hohen Touren; ihr Niveau ist dem von vorwissenschaftlichen Beziehungen der Menschen zur nichtmenschlichen Natur in früheren Tagen vergleichbar.“ (Elias 1983, 120) Das Spiel als kulturelles Phänomen ist genau dort anzusiedeln: bei der relativ hohen Affektivität des Denkens und Handelns!; doch abzüglich der unkontrollierbaren Gefahren der Wirklichkeit, da Spiel in den meisten Fällen keine direkten sozialen Konsequenzen zeitigt. Eine kulturhistorische Rekonstruktion der Aufklärungsepoche wie auch der Moderne kann zeigen, wie im Zuge der Bewußtseins- und Vernunftphilosophie sowie der Etablierung einer rationalistisch-wissenschaftlich-technischen Gesellschaft nicht nur die „Affektivität des Denkens und Handelns“ der Menschen systematisch ignoriert wurde, sondern auch zeigen, daß diesen „unteren Vermögen“ der Menschen kein eigenständiger Status zugesprochen wurde. Neue Verhaltens-, Handlungs-, Wahrnehmungs-, Erwartungs- und Sinnformen der kapitalistisch-industriellen Gesellschaft trafen nun auf eine noch zum Teil vorindustrielle „Infrastruktur des Gemüts“, also auf eine nichtmodernisierte psychosoziale Konstitution. Karin und Dieter Claessens weisen in ihrer Studie Kapitalismus als Kultur von 1979 nach, daß während der Epoche, in der die kapitalistische Industrialisierung traditionelle Kulturen und Deutungsmuster revolutionierte, kaum eigenständige kulturelle Verarbeitungspraxen als kontrapunktierende Praxen mitentstanden sind. „Die Stärke des kapitalistischen Systems lag in seiner Fähigkeit, Altes niederzureißen“, schreiben Dieter und Karin Claessens. Doch seine „Schwäche bestand darin, neben dem Aufbau eines riesenhaften maschinentechnischen ‚Verwertungssystems’ keine eigenen neuen ‚Institutionen’ aufbauen zu können“ (Claessens/Claessens 1979, 140). Auch nicht die gesellschaftliche Institution „Spiel“, die gerade im 18. Jahrhundert kulturell dringend benötigt gewesen wäre. Eine vormoderne Vita contemplativa ist im Zuge der Aufklärung beinahe restlos in eine Vita activa übergegangen, ohne Zwischenstufen, ohne Alternativen (Reinhard 2007). Doch das Ausbleiben einer modernisierten Spielkultur hatte gleichsam auch kulturelle Gründe. Der psychosoziale Umbau im Verlaufe der Modernisierung war eindeutig gerichtet auf eine rationale Lebensführung unter Führung einer kognitiven Einstellung zur sozialen Welt. Die „protestantische Ethik“ war eine maßgebende Quelle der Menschen, um die sich revolutionierenden Welt- und Umweltverhältnisse im aufsteigenden Kapitalismus unter einer individualistischen Perspektive deuten zu können – freilich unter enormen Aufwand an Lektion und Disziplinierung („leben, um zu arbeiten“), die beide schon Ende des 16. Jahrhunderts ihren Start hatten. Die Schnittmenge dieses Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft besaß die Etiketten Karriere und Leistung. Schon in diesem Modus der Vergesellschaftung und Individuation entstanden schwerwiegende kulturelle Widersprüche, die man als Gleichzeitigkeit von Leistungs- und Konsumgesellschaft ausdrücken kann. Der US-amerikanische Soziologie Daniel Bell stellte fest, daß das moderne Individuum unter zwei Anforderungsregimen steht, die nicht polar, sondern nur dualistisch miteinander in Verbindung stehen: dem Regime der rationalistischen, ökonomistischen, planenden und zweckgebunden ‚Arbeitswelt’ auf der einen Seite, dem Regime der irrationalen, ungeplanten, zweckungebundenen, dem reinen Erlebnis verpflichteten ‚Konsumwelt’ auf der anderen Seite. Gilles Deleuze und Felix Guattari erweiterten diese Diagnose 1972 bis hin zum Begriff der Schizophrenie als Grundmerkmal moderner Individuen. Indes: Es bestand noch auf lange Zeit eine ungleiche Beziehung zwischen diesen beiden Welten dergestalt, daß die Konsumwelt eindeutig als Appendix der Arbeitswelt galt (die sogenannte Freizeit). Gerhard Schulze diagnostizierte für die 1980er Jahre dann im Begriff der ‚Erlebnisgesellschaft’ ein allmähliches Zerbrechen dieser Ordonnanz von Pflicht und Erleben: Die Konsumwelt in anspruchsloser wie anspruchsvoller Version sei nun psychosozial das Primäre, Arbeit der Appendix („arbeiten, um zu leben“). Bemerkbar machte sich dies maßgebend in einer erhöhten Aufmerksamkeit und einer erhöhten Kommerzialisierung von Erlebensmöglichkeiten, die vor allem die Sphäre des sportlichen Spiels betraf. Indes: Die duale Beziehung – Pflicht versus Erleben – 4 wurde als Struktur beibehalten, nur die Plätze wurden getauscht – Erleben versus Pflicht. Diese Beibehaltung (pejorativ als „Spaßgesellschaft“ etikettiert) kommt nun zu Beginn der 2010er Jahre an einen Umkipp-Punkt. Denn da die meist kommerziellen Angebote der Befriedigung des Erlebnisbedürfnisses selbst nur minimales kulturelles Bindungspotential, und das heißt: kaum inhärente Begrenzungen besitzen (folgt man der Individualisierungsthese), ermäßigt sich die Gratifikation des Erlebnishandels als Entgegensetzung zur harten Realität der Pflichterfüllung. Das alte Modell „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“, eine Popularisierung protestantischen Ethos’, verliert ihre polare Struktur. Der heutige, in Ansätzen schon digital werdende Kapitalismus (Pal Dragos) erschöpft damit seine psychokulturalen Quellen der rationalen Motivierung von Individuen, die eigene Lebenszeit mit der gesellschaftlich vermittelten Weltzeit zu synchronisieren (Helga Nowotny). Die in der klassischen Arbeitsgesellschaft vorzufindende Polarität, die Sicherheit der rationalen Lebensführung kulturell und spielerisch im Modus des „Als ob“ aufs Spiel zu setzen (Bewußtseinskultur: Literatur und Theater, seit der Mitte des 20. Jahrhunderts vornehmlich der Film), wechselt nun zu einer Affirmation der Unsicherheit der Lebensführung, die geprägt ist durch die Umstellungen von der Kontraktgesellschaft zur Kontaktgesellschaft, von der Kontinuität zur Volatilität der Biographie, vom Wohlstandserwerb zur Chancenergreifung, und die schließlich geprägt ist durch die Umstellung einer linearen Zeitauffassung, der gemäß die eigene Zeit irreversibel ist (Fortschritt, Karriere, Erwerb), auf eine zirkuläre Zeitauffassung, der gemäß es nur noch (die Gefahr der) Wiederholung gibt, die sich alleine in der Dosierung der Mittel unterscheidet („Suchtkultur“). Damit bricht indes eine noch halbwegs funktionierende Dualität zwischen sinnvermittelter und zukunftsorientierter Lebensführung auf der einen Seite und einer eben diese Lebensführung interpunktierende spielerische Lebensintensität auf der anderen langsam ab – gesellschaftskulturtheoretisch gesehen ist dies eine der Hauptursachen für Suchtbeziehungen, gleich ob zur Arbeit oder zur Spielerlebniswelt. Dietmar Kamper führt für die Beschreibung dieses Verhältnisses eine Differenz zwischen Sucht und Rausch ein, um zu folgender Aussage zu kommen: „Beide, Sucht und Rausch, stehen in einem Drehtürverhältnis. Sie sind gegeneinander exklusiv. Gleichzeitig bilden sie Gegensätze zu dem, was man seit der Aufklärung ‚Nüchternheit’ nennt. Das ist eine Form des ‚Nichtglücks’, aber als solches Grundlage für Normalität, Kontinuität, Identität. Sucht ist die Kehrseite von ‚Nüchternheit’, ihr historischer Schatten. Wie Wahnsinn die Kehrseite von Vernunft ist. Wer den Menschen die Rauschfähigkeit nimmt und sie zur ‚Nüchternheit’ verurteilt, macht sie süchtig. ‚Nüchternheit’ ist Dasein ohne Wegsein, Gegenwart ohne AbwesenheitSucht ist Wehsein ohne Dasein, Abwesenheit ohne GegenwartRauschfähigkeit ist dem rhythmischen Wechsel von Dasein und Wegsein, von Gegenwart und Abwesenheit gewachsen.“ (Kamper 2002, 129f.) Conclusio Die Industrialisierung, Kognitivierung und Modernisierung der Gesellschaften im Verlaufe der letzten dreihundert Jahre hat die Annahme Dieter Claessens bestätigt, daß neben der „Hauptfähigkeit zur Distanzierung von der ‚alten Natur’ das Hauptdefizit des Menschen seine evolutionär bedingte Unfähigkeit ist, zum Organisieren großer Populationen und den sich dabei unvermeidlich ergebenden Komplikationen ein direktes emotionales, d.h. unmittelbar motivierendes Verhältnis zu finden“ (Claessens 1980, 17).2 Dieses nichtausgebildete Vermögen 2 Siehe auch Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Derselbe, Werkausgabe in 2 Bänden, hg. v. Anna Freud u. Ilse Grubich-Simitis, FFM 1978, Bd.2, S. 367-424 (siehe auch: GW, Bd.9, FFM 1974, S. 197- 5 wurde vormodern zu einem nicht geringen Anteil über öffentliche, d.h. gesellschaftliche Spielzeremonien kultiviert. Die Moderne hat dieses Vermögen als Bedürfnis aus ihrem Menschenbild entfernt und damit die Menschen in eine Dekultivierung des gesellschaftlich akzeptierten Rausches versetzt. Die kulturellen Grundlagen rationaler Lebensführung wurden beinahe in Gänze auf eine protestantische Motivierung umgestellt, die gesellschaftliche Anerkennung, Selbstbewußtsein und Identität mit Leistung, Besitzerwerb und Karriere verkoppelte. Dieses kulturelle Modell unterliegt seit der Restruktuierung der politischen Ökonomie („Globalisierung“) einer zunehmenden Durchlöcherung (gepaart mit den üblichen Gegentendenzen: Bildungsbegriff-Aufwertung, Familienbegriff-Aufwertung, GeschichtsbegriffAufwertung), die deutlich werden läßt, wie wenig ausgebildet und wie wenig vergesellschaftet eine Spiel- und Risikokultur des Rausches ist, die eine kontrapunktierende Funktion zur sich transformierenden rationalisierten Lebenswelt spielen könnte (Ausnahme: gemeinschaftlich-kulturelle Experimente im World Wide Web). Wissenschaftlich steht demgemäß die Aufgabe an, Problemformulierungen zu finden, die den Umbau der kulturellen Grundlagen – als Konsequenz des Umbaus der Industriegesellschaften – fokussieren auf die Herausforderung, eine Alternative zur protestantischen Ethik als psychosoziale Motivationalität zu finden, die befähigt, daß Millionen von Menschen ihr eigenes Leben sozialintegrativ und sanktionssensibel orientieren, ohne weiterhin implizit und unproblematisch auf die Modi der gesellschaftlichen Leistungs-Anerkennung, der Karriere und der Selbstverwirklichung zurückgreifen zu können. Die Operationalisierung dieser Aufgabe der Problemformulierung findet in der wissenschaftlichen Analyse kultureller Potentiale, die durch die gegenwärtigen Spielangebote und Spielverhalten repräsentiert werden, ihren positiven Anhalt – in der Analyse der Spielsüchte ihren negativen. Für die Analyse der Spielsüchte ist dementsprechend und hier abschließend von einem mindestens dreifachen Modell der Sucht in der modernen Gesellschaft auszugehen, das Bernhard Vief in folgenden Thesen ausdrückt (Vief 1997, 904f.): „Süchtige handeln nach einem aufgeklärten Erkenntnismodell, das entgegen einem verbreiteten Klischee auf festen Subjekt-Objekt-Grenzen basiert. [...] Süchtige handeln nach einem ökonomischen Modell, das sich nur graduell, nicht aber in seiner Struktur von modernen Erscheinungen der Werbung und des Massenkonsums unterscheidet – und der Ware-GeldBeziehung überhaupt. [...] Süchtige handeln nach einem erotischen Modell.“ Literatur Adorno, Theodor W., Negative Dialektik, Bd. 6 der GS, FFM 1997 Bataille, Georges, Das theoretische Werk, Bd.1: Die Aufhebung der Ökonomie, München 1975, 9-234 Bateson, Gregory, Eine Theorie des Spiels und der Phantasie, in: ders., Ökologie des Geistes. 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Eine Einführung in Theorie und Bedeutung, Weinheim/ München 2004 Huizinga, Johan, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel (1956), Reinbek bei Hamburg 2006 Kamper Dietmar, Rauschfähigkeit. Die Balance des Glücks, in: Bernd Ternes und RG-Verein (Hg.), Das rigorose Glück. Erste Annäherung, Marburg 2002, S. 129-132 Nowotny, Helga, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, FFM 1989 Piaget, Jean, La formation du symbole chez l’enfant. Imitation, jeu et rêve. Image et représentation, Neuchâtel 1959 Reinhard, Wolfgang, Die frühneuzeitliche Wende von der Vita contemplativa zur Vita activa, in: Paragrana, Heft 1/2007: Muße, S. 15-25 Schulze, Gerhard, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, FFM/ New York 1993 Spaemann, Robert, Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart 1989 Veyne, Paul, Brot und Spiele, München 1994 Vief, Bernhard, Sucht, in: Christoph Wulf (Hg.), Vom Menschen. 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