Psychiatrie Dekubitus Psychiatrie Dekubitus

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H 64122
ISSN 1439-1139
4/2006
August
8. Jahrgang
Psychiatrie
Dekubitus
@ P S Y C H I AT R I E
Frühe Bindungserfahrungen und Demenz
@ P S Y C H I AT R I E
Lesen Sie mehr
dazu ab
Seite 9
Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit
@ P S Y C H I AT R I E
Geschäfts- und Einwilligungsfähigkeit
@ DEKUBITUS
Entstehung, Prophylaxe und Versorgung
www.gerikomm.de
EDITORIAL
Bindungen, Alkoholismus
und Geschäftsfähigkeit
hängig, weitere 1,7 Mio. praktizieren einen gesundheitsschädigenden, missbräuchlichen
Konsum von Alkohol. In der Regel sind Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit im Senium seltener und der Alkoholkonsum nimmt
im Alter ab. Neuere Studien
zeigen jedoch, dass der Anteil
der älteren Menschen mit Alkoholproblemen ansteigt und
es ist davon auszugehen, dass
er angesichts der demografischen Entwicklung weiter anwachsen wird. Alkoholmissbrauch im Alter wird häufig
übersehen oder die damit verbundenen Symptome werden
als „Alters-Krankheiten“ interpretiert. Depressivität, Schlafstörungen, Stürze und Durchfall können jedoch möglicherweise in Zusammenhang mit
einer Alkoholabhängigkeit stehen. Hinweise
zu Diagnostik und Therapie gibt Dr. Dirk K.
Wolter in seinem Beitrag ab Seite 17.
Durch die zunehmende Verrechtlichung
des Verhältnisses von Arzt und Patient und die
damit verbundenen Probleme hinsichtlich der
Einwilligungsfähigkeit von alten und psychisch kranken Menschen werden geriatrisch
tätige Ärzte im Rahmen von zivilrechtlichen
Auseinandersetzungen zunehmend bei Gericht Stellung zur Geschäfts- und Einwilligungsfähigkeit ihrer Patienten nehmen müssen. Dr. Lutz M. Drach erläutert in seinem
Artikel ab Seite 27 anhand von zwei Fallbeispielen die Problematik und gibt Hinweise für
eine fundierte ärztliche Stellungnahme.
Foto: bernhard_pixler/Pixelquelle.de
J
ohn Bowlby (1907-1990) war ein britischer Arzt und Psychoanalytiker und gilt
als Begründer der modernen Bindungsforschung. Bowlby geht davon aus, dass es ein
Bindungssystem gibt, das einen Säugling und
ein Kleinkind dazu veranlasst, bei Gefahr die
Nähe eines Menschen – die Bindungsperson
– zu suchen. Diese Bindungsperson hat zwei
Aufgaben: sie soll Schutz und Sicherheit bieten und gleichzeitig die sichere Basis für die
aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt
sein. Die Erfahrungen, die ein Kind mit seiner Bindungsperson sammelt, begleiten es
sein Leben lang und machen sich – je nach
Intensität und Dauer besonders bei Bindungsstörungen – noch im Erwachsenenalter bemerkbar. Dies wiederum wirkt sich auf
den Umgang mit Belastungen im Alter und
der Bewältigung von Verlusten, Unsicherheit
oder Abhängigkeit aus.
Untersuchungen zu Persönlichkeitsveränderungen bei Demenzerkrankungen lassen
den Schluss zu, dass demente Personen auf Verhaltensmuster zurückgreifen, mit denen sie früher bestimmte Situationen bewältigt haben.
Diese Erfahrungen von Kompetenz sind im
Altgedächtnis gespeichert und werden – zeitversetzt – zur Bewältigung gegenwärtiger Situationen eingesetzt. Diese Kompetenz ist
allerdings nur in der Zeitreise zu verstehen,
in der auch die ursprünglichen Bindungspersonen und die durch sie geprägten Verhaltensmuster eine Rolle spielen. Das Wissen
über vorhandene Kompetenzen und Bindungsbeziehungen können bei Betreuung und
Pflege von dementen Personen genutzt werden. Näheres darüber und wie die Kenntnisse
bei älteren Menschen eingesetzt werden können, erläutert der Artikel von Dr. Wilhelm
Stuhlmann (Seite 9 ff.).
1,6 Mio. Menschen sind, so der Sucht- und
Drogenbericht 2006 des Bundesministeriums
für Gesundheit, in Deutschland alkoholab-
Eine informative Lektüre wünscht Ihnen
Jola Horschig
Redakteurin Geriatrie Journal
I N H A LT
EDITORIAL
Bindungen, Alkoholismus und Geschäftsfähigkeit
Jola Horschig, Springe
3
NACHRICHTEN: TRENDS & THEMEN
Foto: Tom Schmucker – Fotolia
Wichtige Informationen in Kürze
Neuere Studien zeigen, dass der
Anteil der älteren Menschen mit
problematischem Trinkverhalten
ansteigt. Der Artikel erläutert Epidemiologie und Diagnostik und gibt
Hinweise zur Therapie.
Seite
6
L I T E R AT U R : R E F E R I E R T & K O M M E N T I E R T
Assessment- Instrumente: Das Sturzrisiko nach Schlaganfall ermitteln
Einfache Intervention fördert Selbstständigkeit:
Multiprofessionelle Therapie verhindert funktionellen Abbau
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8
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P S Y C H I AT R I E : D E M E N Z
Frühe Bindungserfahrungen und Demenz
Wilhelm Stuhlmann, Erkrath
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P S Y C H I AT R I E : A L K O H O L I S M U S
Foto: htuller – Fotolia
Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit im Alter
Dirk K. Wolter, Münster
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P S Y C H I AT R I E : J U R I S T I S C H E A S P E K T E
Geschäfts- und Einwilligungsfähigkeit in der Geriatrie
Lutz M. Drach, Schwerin
Im Zuge der demografischen Entwicklung müssen sich geriatrisch
tätige Ärzte zunehmend mit Fragen
der rechtlichen Einwilligungsfähigkeit und Geschäftsfähigkeit ihrer
Patienten befassen.
Seite
27
4
27
D E R M AT O L O G I E : D E K U B I T U S
Dekubitus – Entstehung, Prophylaxe und Versorgung
Kerstin Protz, Hamburg
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GERIATRIE JOURNAL 4/06
I N H A LT
K A R Z I N O LO G I E : E R N Ä H R U N G
Malnutrition und Krebs im Alter
G. Röhrig, G. Wucherpfennig und B. Wullenkord, Bornheim-Merten
36
Patienten mit eingeschränkter Mobilität können insbesondere in den
Körperbereichen, in denen die Knochen aufliegen, Dekubitalulzera
entwickeln. Der Artikel erläutert
Risikofaktoren, Prophylaxe und
Behandlung.
Seite
31
ERNÄHRUNG: KNOCHENMINERALSTOFFE
Knochengesund Essen und Trinken
Dr. Susanne Nowitzki-Grimm, Schorndorf
ZUR
DEFINITION
Multimorbidität im Alter
Martin Holzhausen, Ulrike Bornschlegel und Andrea Mischker, Berlin
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Foto: Baxter Deutschland GmbH
M U LT I M O R B I D I T ÄT : A N R E G U N G E N
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P H A R M A : S Y M P O S I E N & P R A X I S I N F O R M AT I O N E N
Erektile Dysfunktion: Zusammenhang mit endothelialen Schäden
Erkrankungen des Bewegungsapparates: Stellenwert des Acemetacins
Tumorschmerzen/Opioide: Zirkadianer Schmerzrhythmus
erfordert flexible Medikation
Behandlung des hormonrefraktären Prostatakarzinoms:
Empfehlungen zur Chemotherapie mit Docetaxel
Intraokularlinsen: Brillenfreies Sehen für mehr Lebensqualität
Rheumatoide Arthritis Ankylosierend Spondylitis:
Frühe Therapie mit TNF alpha-Blocker verhindert Glenkzerstörung
Feuchte, altersabhängige Makuladegeneration:
Neuer Therapieansatz durch Hemmung des VEGF165
46
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GERIATRIE JOURNAL 4/06
37
Titelbild
DIVERSES
Termine/Impressum
Da die Inzidenz der Krebserkrankungen im höheren Alter zunimmt, wird
auch die Zahl der Tumorpatienten
deutlich ansteigen. Vorhandensein
und Ausmaß von Malnutrition spielen in Bezug auf Prognose und
Krankheitsverlauf eine bedeutende
Rolle.
Seite
51
© photodisc
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NACHRICHTEN: TRENDS & THEMEN
Prof. Dr. med. Robert Heinrich
verstorben
Am 4. Juli 2006 ist Prof. Dr. med. Robert Heinrich, Chefarzt des Zentrums für
Akutgeriatrie und Frührehabilitation
(ZAGF) am Klinikum Neuperlach, im
Alter von 58 Jahren verstorben.
Prof. Heinrich hat in Berlin Medizin
studiert. Von dort führte ihn sein Weg
über Tübingen 1987 nach Herne, wo er
nach seiner Habilitation erste Erfahrungen in der Geriatrie sammelte. Am 1.
Oktober 1991 wurde er zum Chefarzt der
neu zu gründenden Akutgeriatrie in
München berufen. Die Besonderheit seiner chefärztlichen Tätigkeit liegt in Gründung, Strukturierung und Etablierung
der ersten Abteilung für Akutgeriatrie
und Frührehabilitation Münchens.
Gegründet wurde die Geriatrie als Internistisches Fachkrankenhaus Gauting.
Im Mai 1993 zog sie in das Städtische
Krankenhaus München-Neuperlach um.
Bedarfsgerechte klinische Versorgung
akut erkrankter multimorbider geriatrischer Patienten benötigt u.a. einen hohen Grad innerklinischer Leistungsdifferenzierung. Prof. Heinrich gelang es
in hervorragender Weise, diese Aufgabe
im städtischen wie innerklinischen Umfeld zu lösen, das auf keine geriatrische
Tradition zurückgreifen konnte.
Innerhalb der Weiterentwicklung des
ZAGF hat Prof. Heinrich im Mai 1995
in Neuperlach die erste akutgeriatrische
Tagesklinik Bayerns ins Leben gerufen.
Diese umfasst heute 30 Behandlungsplätze, wovon 15 als „Memory-Klinik“
Prof. Robert Heinrich war Chefarzt des
Zentrums für Akutgeriatrie und Frührehabilitation am Klinikum Neuperlach.
ausgelegt sind. Seine unermüdliche Arbeit wurde durch den Stadtrat durch die
Ernennung des ZAGF zum Kompetenzzentrum Geriatrie für die Landeshauptstadt München gewürdigt.
Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt Prof.
Heinrichs war die Weiterentwicklung
der Bayerischen Geriatrie. So wurde unter seiner Leitung eine zentrale Datenbank der geriatischen Einrichtungen Bayerns einschließlich der Entwicklung der
entsprechenden Software unter Berück-
Psychosomatische Tagesklinik 55+
Am Klinikum Nürnberg hat Anfang
April 2006 die bundesweit erste Psychosomatische Tagesklinik, die speziell für
Menschen über 55 Jahre eingerichtet
wurde, ihre Arbeit aufgenommen. Sie
verfügt über neun Plätze und wird von
Chefarzt Prof. Dr. Wolfgang Söllner geleitet. Neben Gruppentherapie werden
dort Einzelgespräche, Gespräche mit Angehörigen, Kunst- und Gestaltungstherapie sowie Entspannungs- und Bewe-
6
gungstraining angeboten. Die Patienten
kommen für zwei bis vier Wochen, im
Einzelfall auch länger, täglich zur Therapie in die Klinik. Danach werden sie
– falls nötig – an niedergelassene Psychotherapeuten überwiesen.
Die Psychosomatische Tagesklinik arbeitet eng mit der Klinik für Geriatrie im
Klinikum Nord (Chefarzt Prof. Dr. Cornel Sieber) zusammen, die bei Bedarf die
medizinische Behandlung übernimmt.
sichtigung geriatrischer Besonderheiten
aufgebaut. Diese ist Grundlage des multizentrischen GIB-DAT Forschungsprojektes, das von der Bayerischen Landesstiftung bzw. dem Bayerischen Gesundheitsministerium gefördert wurde.
Daneben engagierte sich Prof. Heinrich in mehreren Fachgesellschaften. Von
1991-1993 war er 2. Vorsitzender der
Gesellschaft für geriatrische Medizin.
1993 wurde er zum Präsidenten der
Deutschen Gesellschaft für Geriatrie gewählt, der er bis 1997 vorstand. Als Tagungspräsident richtete er im Oktober
1997 den Jahreskongress dieser Gesellschaft aus.
Die Besonderheiten des Bayerischen
Geriatrieplanes legten eine Vereinigung
der Geriatrie in Bayern nahe. So wurde
federführend von ihm 1997 die „Ärztliche Arbeitsgemeinschaft zur Förderung
der Geriatrie in Bayern“ (AFGIB) gegründet, deren erster Vorsitzender er lange Jahre war.
Bei mehreren wissenschaftlich-geriatrischen Fachzeitschriften war Prof. Heinrich Mitglied der Herausgebergremien.
Zusätzlich arbeitete er in projektbezogenen Geriatrie-Arbeitskreisen des Bayerischen Sozialministeriums, regionaler
und überregionaler Kostenträger, des
Bayerischen Städtetages und der Bayerischen Krankenhausgesellschaft.
In der Lehre engagierte er sich über den
PJ-Unterricht hinaus auch in der studentischen Ausbildung nach neuer Approbationsordnung, wofür dem ZAGF
der Titel „extrauniversitäre Lehrabteilung für Geriatrie der LMU München“
verliehen wurde.
Trotz dieser großen inner- und außerklinischen Arbeitsbelastung hatte Prof.
Heinrich sowohl für seine Patienten als
auch für seine Mitarbeiter immer ein offenes Ohr für ihre menschlichen Ängste,
Sorgen und Nöte. Er war ein ganz besonderer Mensch und eine herausragende Persönlichkeit, die für alle eine nicht
zu schließende Lücke hinterlässt.
ZAGF
GERIATRIE JOURNAL 4/06
NACHRICHTEN: TRENDS & THEMEN
Neubau des Harz-Klinikums
Wernigerode-Blankenburg eröffnet
Anfang Juli 2006 ist in Wernigerode der
Neubau des Harz-Klinikums eröffnet
worden.
Herzstück des Gebäudes ist die Geriatrische Klinik mit Tagesklinik. Außerdem beherbergt das Gebäude u.a. ein La-
bor, die Physiotherapie, 64 Patientenbetten sowie einen Raum der Stille. Das
Geriatrische Zentrum wird von Dr. Susanne Perpeet-Kasper, Chefärztin der
Klinik für Innere Medizin/Geriatrie, geleitet.
Verbesserung der Frühdiagnose
der ankylosierenden Spondylitis
Die Deutsche Vereinigung Morbus Bechterew e.V. (DVMB) hat Prof. Dr. Joachim
Sieper und PD Dr. Martin Rudwaleit
von der Charité in Berlin für ihre Arbeit
„Rationale Frühdiagnostik der ankylosierenden Spondylitis (Morbus Bechterew)“ mit dem diesjährigen Forschungspreis ausgezeichnet. Das Preisgeld in Höhe von 5.000 Euro wurde
diesmal von Abbott Immunology gestiftet.
mit dem ein Verdacht auf eine AS überprüft werden kann.
Ausgehend von chronischen Rückenschmerzen, die in etwa 5% aller Fälle auf
einer ankylosierenden Spondylitis oder einer Frühform dieser Erkrankung beruhen,
entwickelten sie ein diagnostisches Verfahren, bei dem verschiedene für die Erkrankung typische Aspekte untersucht
werden. Für jedes Untersuchungsergebnis errechneten die Preisträger eine Wahr-
Foto: Deutsche Vereinigung Morbus Bechterew e.V.
Von links:
Alexander Würfel
(Abbott), die
Preisträger Prof.
Dr. Joachim
Sieper, PD Dr.
Martin Rudwaleit
(beide Charité
Berlin), Franz
Gadenz (DVMB),
Prof. Ernst
Feldtkeller
(München).
In ihrer Arbeit fassen die Wissenschaftler ihre Vorschläge zur Früherkennung der ankylosierenden Spondylitis
(AS) zusammen. Da die Diagnostik einer AS besonders im Frühstadium schwierig ist, vergehen im Mittel ca. 5-9 Jahre
bis zur Diagnosestellung. Während dieser Zeit aber kommt es in der Regel zu
irreversiblen Schädigungen der Wirbelsäule, so dass eine dann einsetzende Therapie in ihrer Wirksamkeit reduziert ist.
Um diese Situation zu verbessern, haben
die Preisträger ein Verfahren entwickelt,
GERIATRIE JOURNAL 4/06
scheinlichkeit für das Vorliegen eines
Morbus Bechterew. Aus diesen Ergebnissen kann eine Gesamtwahrscheinlichkeit berechnet werden. Beträgt sie
über 90%, ist vom Vorliegen einer ankylosierenden Spondylitis auszugehen,
und es sollten geeignete Therapiemaßnahmen ergriffen werden. Mit diesem
Verfahren wird Ärzten ein Instrument
zur Verfügung gestellt, mit dem sie nach
einem standardisierten Vorgehen den Verdacht auf eine AS erhärten bzw. entkräften können.
L I T E R AT U R : R E F E R I E R T & K O M M E N T I E R T
Assessment- Instrumente
Das Sturzrisiko nach Schlaganfall
ermitteln
Die meisten der in der Geriatrie Verwendung findenden Balance- und Mobilitäts-Scores sind nicht speziell an die
Situation nach Schlaganfall adaptiert.
S
tudie: Es handelt sich um eine prospektive Kohorten-Studie, die multizentrisch an sechs Schlaganfall-Rehabilitationskliniken in Nordengland durchgeführt wurde. Studien-/BeobachtungsDauer: sechs Monate. Erfasst wurden der
Barthel-Index, die Mobilität per Rivermead-Mobilitäts-Index, die Kognition per eines verkürzten Minimental-Status, der Neglect mittels Albert’s Test. Messzeitpunk-
te: wöchentlich und zusätzlich 48 Stunden
vor geplanter Entlassung. Nachuntersuchung: drei Monate nach Entlassung. Erfasst wurden die bezeichneten Assessments
in Korrelation mit Sturzereignissen.
Ergebnisse: Von den 387 in die Studie
eingeschlossenen Patienten nahmen 225 bis
zum Tag 28 teil, 234 nahmen den Nachuntersuchungstermin wahr. Die verwendeten Assessment-Instrumente erwiesen
sich nicht als geeignet für die Vorhersage
von Stürzen nach Schlaganfall. Bezogen
auf die ersten 28 Tage ergab sich eine Sensitivität von 11,3%, eine Spezifität von
89,5%. Im Nachuntersuchungszeitraum
Einfache Intervention fördert Selbstständigkeit
Multiprofessionelle Therapie
verhindert funktionellen Abbau
Eine amerikanische Studie prüfte die
Hypothese, ob eine multiprofessionelle
Therapie einen funktionellen Abbau im
Alter verhindern kann.
S
tudie: In die Studie wurden 319 zu
Hause lebende ältere Personen (Durchschnittsalter 79 Jahre) eingeschlossen. Die
Studienteilnehmer, zu 80% weiblich, waren kognitiv unauffällig, bei mindestens
einer Alltagsaktivität in ihrer Selbstständigkeit eingeschränkt, hatten aber keine
professionelle Pflege. Die Probanden wurden durch Randomisation auf zwei Gruppen verteilt. In der Interventionsgruppe
ermittelten die Therapeuten durch ein teilstrukturiertes Interview die funktionellen
Defizite der älteren Probanden. Es folgten
eine physiotherapeutische und vier ergotherapeutische Therapieeinheiten von 90
Minuten Dauer, in denen durch gezielte
Maßnahmen wie Balance- und Krafttraining die Problembereiche der Teilnehmer
behandelt wurden. Die häusliche Umgebung wurde je nach Bedarf mit Hilfsmit-
8
teln wie Handläufen oder Toilettensitzerhöhungen versehen. Zudem gab es einen
20-minütigen Telefonkontakt. In der Kontrollgruppe erfolgte keinerlei Therapie oder
Beratung.
Ergebnisse: Nach sechs Monaten berichteten die Probanden aus der Interventionsgruppe signifikant weniger über Probleme bei den instrumentellen Aktivitäten
des täglichen Lebens (p = 0,04) und bei den
Alltagsaktivitäten (p = 0,03), wobei sich der
größte Erfolg beim Baden und bei der Toilettenbenutzung nachweisen ließ. Die Probanden gaben zudem deutlich seltener
Angst vor Stürzen an, hatten weniger häusliche Unfälle und setzten erfolgreicher Anpassungsstrategien zur Kompensation ihrer Defizite ein. Bei den meisten Punkten
ließ sich der Nutzen auch noch nach zwölf
Monaten belegen. Die Kosten pro Intervention lagen bei 1.222 $, von denen etwa ein Drittel auf die Maßnahmen zur
Umgebungsmodifikation entfiel.
Diskussion: Die Studie konnte zeigen,
dass unter hoch motivierten, kognitiv in-
nach Entlassung eine Sensitivität von
16,3% und eine Spezifität von 86,4%.
Diskussion: Die verwendeten Assessment-Instrumente, die nachweislich als
gute Prädiktoren zur Vorhersage von Stürzen geeignet sind, versagen im Fall von
Schlaganfällen.
Kommentar: Die klinische Erfahrung,
dass eine entsprechende Schwere des Handicaps nach Schlaganfall vorausgesetzt die
nicht unterstützte Fortbewegung ein eigenes Risiko darstellt, umgekehrt aber das Immobilitäts-Handicap wiederum die beste
Sturzprophylaxe darstellt, wird durch die
vorliegende Studie – natürlich – bestätigt.
Prof. Dr. Dr. Gerald F. Kolb, Lingen (Ems)
Smith J., Forster A., Young J. Use of the
„STRATIFY“ falls risk assessment in
patients recovering from acute stroke.
Age and Ageing 2006; 35: 138-143.
takten, zuhause lebenden älteren Personen
eine einfache Intervention funktionelle
Einbußen wirksam verhindern kann. Der
Effekt dieser wenig aufwändigen Therapie
war auch mehr als ein halbes Jahr nach Beendigung der Intervention nachweisbar.
Die Kosten von 1.222 $ ergeben rechnerisch auf ein Jahr bezogen Tagestherapiekosten von 3,34 $ – eine Summe, die hinter mancher medikamentösen Therapie
zurücksteht. Unklar ist, ob der hier beobachtete Nutzen auch in anderen Kollektiven, insbesondere bei weniger motivierten
oder kognitiv beeinträchtigten Personen,
nachweisbar ist.
Kommentar: Es handelt sich um typische geriatrische Studie: Hauptendpunkte sind funktionelle Parameter älterer Patienten unabhängig von zugrunde liegenden Erkrankungen; die Intervention besteht
aus einer multiprofessionellen Komplextherapie. Damit die wissenschaftliche Basis der Geriatrie breiter wird, sind mehr Studien dieser Art sehr zu wünschen.
PD Dr. Rupert Püllen, Frankfurt am Main
Gitlin LN: A Randomized Trial of a
Multicomponent Home Intervention to
Reduce Functional Difficulties in Older
Adults J Am Geriatr Soc 2006; 54:
809-816
GERIATRIE JOURNAL 4/06
P S Y C H I AT R I E : D E M E N Z
Frühe Bindungserfahrungen
und Demenz
Wilhelm Stuhlmann, Erkrath
Bindung ist ein emotionales Band, das sich während der Kindheit entwickelt, dessen Einfluss aber nicht auf diese frühe Entwicklungsphase
beschränkt ist, sondern sich auch auf alle weiteren Lebensabschnitte
erstreckt. Somit stellt Bindung eine emotionale Basis während des ganzen Lebens bis ins höhere Lebensalter hinein dar. Bindungen beeinflussen die Art und Weise, wie wir Beziehungen wahrnehmen, bewerten
und gestalten.
D
ie Erfahrungen mit den ersten Bezugspersonen sind gleichzeitig
auch die ersten Muster, nach denen Bindungen und Beziehungen erlebt
und gestaltet werden. Die Bindungsforschung hat wesentliche Erkenntnisse über
die Grundlagen menschlicher Bindungen und deren Auswirkungen auf das spätere Leben untersucht. Der entwicklungspsychologische Begriff der Bindung ist
eng mit dem Namen John Bowlby verbunden, der als Begründer der modernen
Bindungsforschung gilt [1].
Der Begriff der Bindung nach Bowlby
Foto: Deutsche Seniorenliga e.V.
Bowlby geht davon aus, dass es ein biologisch angelegtes Bindungssystem gibt,
das einen Säugling und ein Kleinkind
dazu veranlasst, im Falle einer Gefahr die Nähe eines
Menschen zu suchen, der
Schutz und Sicherheit garantieren kann – zu einer Bindungsperson. Hauptbindungsperson ist normalerweise diejenige Bezugsperson,
mit der das Neugeborene in
seinen ersten Lebensmonaten den intensivsten und häufigsten Kontakt hat. Neben
der Mutter kommt hier immer häufiger auch der Vater
ins Spiel. Erste Bezugspersonen können aber auch die
GERIATRIE JOURNAL 4/06
Daher ist ein Zeichen einer sicheren Bindung auch die konzentrierte und aktive
Auseinandersetzung mit der Umwelt und
deren Erkundung (Explorieren). Das ist
ohne Risiko möglich, wenn im Schutz der
Bindungsperson die Umwelt sicher ist
oder bei drohender Gefahr sofort Schutz
gesucht werden kann. Allein die Gewissheit, dass die Bindungsperson verfügbar
ist, oder die Möglichkeit, die Sicherheit
Großeltern, Geschwister oder andere Per- der Bindung über eine Distanz durch
sonen sein. Die Erfahrungen im Kontakt Blickkontakt oder andere Signale hermit dieser Bindungsperson sind spezi- stellen zu können, reichen in vielen Sifisch und bleiben, wie
tuationen aus. Damit wird
Untersuchungen zeidie Bezugsperson zur „BaKenntnisse über
gen, über viele Jahre – das Bindungskonzept sisstation“ im Sinne eines sivermutlich sogar lecheren Fundaments oder eikönnen in der Arbeit
benslang – wirksam.
nes sicheren Hafens. Wird
mit älteren Personen die Sicherung des GrundbeBindungen erfüllen
zwei wesentliche Funkdürfnisses nach Sicherheit
sehr hilfreich
tionen. Sie sollen so(mit dem Ziel der Reduzieumgesetzt werden
wohl Schutz und Entrung von Stress und Angst)
spannung bei Angst
nicht gewährt oder gefährund Gefahr sicherstellen als auch eine det, wird ein psychisches System aktiaktive Auseinandersetzung mit der Um- viert, damit Fürsorge, Zuwendung und
welt von einer sicheren Basis aus fördern. Entspannung wieder hergestellt oder erBeide Aspekte sind notwendige Voraus- halten werden.
setzungen für Anpassung und UmweltDie grundlegenden Bindungsmuster
erkundung auch im biologischen Sinn. konnte Bowlby [1, 4] bereits bei Kindern im Alter von 12-18 Monaten nachweisen, wenn diese in eine (experimentelle) Situation gebracht werden, in
der durch vorübergehende
Trennung von der Bezugsperson Bindungsverhalten
aktiviert wird. Dabei werden
im Allgemeinen zwei grundlegende Bindungstypen beInsbesondere die Feinfühligkeit der Bezugsperson hat
sich als wesentlicher Faktor
zur Unterstützung einer sicheren Bindung erwiesen.
9
P S Y C H I AT R I E : D E M E N Z
obachtet: die sichere und die unsichere
Bindung. Die unsichere Bindung teilt
sich in drei Unterformen, die unsicher
ambivalente, die unsicher vermeidende
und die unsicher desorganisierte Bindung.
dungsmuster zu entwickeln. Nähe wur- naler Verschaltungen, erhalten. Diese
de oft mit Angst und Gefahr erlebt. Ge- Muster können unter belastenden oder
lingt es nicht, diese Erfahrungen zu in- retraumatisierenden Bedingungen wietegrieren, können schwerwiegende psy- der aktiviert werden. Das hat auch Auschische Probleme im späteren Leben wirkungen auf den Umgang mit Belasauftreten. Auch Mütter, die selbst trau- tungen im Alter und der Bewältigung
Sicher gebundene Kinder bringen der matisiert sind, können oft kein sicheres von Verlusten, Unsicherheit, Krankheit
Bindungsperson Vertrauen entgegen. Sie Bindungsmuster weitergeben.
oder Abhängigkeit [7].
haben die Erfahrung maNeue Forschungen zur Entwicklung
Bindungsunsicherheit
Die Grundlinien der
chen können, dass sie von
entsteht durch das Erle- des neuronalen Netzwerkes in den ersten
der Bezugsperson nie im
Bindungsmuster sind ben müssen von Unzu- Lebensjahren haben gezeigt, dass frühe
Stich gelassen werden.
verlässigkeit, Wechsel- Prägungen und Erfahrungen die Strukauch bei Personen mit
Aber auch die Fähigkeit,
haftigkeit, von Hunger tur des Netzwerkes mit lebenslangen AusDemenz erkennbar
negative Emotionen wie
und Durst sowie der wirkungen formen. Die frühe Plastizität
Trauer und Ärger der BeNichtverfügbarkeit, Ver- und Lernfähigkeit dieses Netzwerkes sind
zugsperson gegenüber zeigen zu können weigerung oder Entzug der Unterstüt- eine Grundlage für die spätere geistige
oder zeigen zu dürfen, ist für die Ent- zung. Auch Überbehütung, starke Kon- Leistungsfähigkeit und die Entwicklung
wicklung einer sicheren Bindung ent- trolle oder Überstimulation wirken sich von Begabungen und Interessen (Bilscheidend. Als Belastung beim Aufbau negativ aus.
dung).
einer sicheren Bindung wirken sich beDie Wechselwirkungen zwischen Binsonders von Seiten der Mutter nicht verdung und Bildung werden in letzter Zeit
Veränderung und Konstanz der Binarbeitete traumatische Erlebnisse aus. Perhäufig diskutiert. Bildung hat in der
sonen, die in emotional belastenden Si- dungsmuster im Verlauf des Lebens
Demenzforschung eine Bedeutung als
tuationen auf eine sichere Bindungsbasis Zwar werden in der frühen Kindheit we- Risikofaktor erlangt. Hüther [8] weist
zurückgreifen können, entwickeln siche- sentliche Weichen für das spätere Erleben darauf hin, dass die Qualität der frühre innere Muster über das eigene Selbst und Verhalten gestellt, es besteht aber kindlichen Bindungsbeziehungen in Verimmer die Möglichkeit, durch neue Er- bindung mit emotionaler Aktivierung
und die Bindungsfigur.
fahrungen den eingeschlagenen Weg zu und Vertrauen die Entwicklung und AusUnsicher-ambivalent gebundene Kin- verändern und in sich in eine neue Rich- differenzierung neuronaler Verschaltunder erleben ihre Bindungsfigur als unbe- tung zu bewegen. So können durch gu- gen, sowohl im positiven als auch im nerechenbar und unzuverlässig. Entspre- te Erfahrungen im späteren Leben auch gativen Sinn, entscheidend beeinflusst.
chend reagieren diese Kinder mit ge- frühe negative Bindungserfahrungen Bindungserfahrungen werden so in langgensätzlichen, das heißt ambivalenten kompensiert werden. Zu den guten Er- fristigen Denkmustern und GefühlsGefühlen der Bezugsperson gegenüber. fahrungen kann auch eine Psychothera- strukturen verankert.
Ambivalent gebundene Kinder sind oft pie gehören [3].
Die neuere empirische BindungsforJe nach Intensität und Dauer der frü- schung hat die Konstanz der vier grundzwischen Ärger und Aggression oder anklammerndem, ängstlichen und abhän- hen Erfahrungen bleiben besonders bei legenden Bindungsmuster, die bei KleinBindungsstörungen, die Spuren lebens- kindern gefunden werden, auch bei Jugigen Verhalten hin und hergerissen.
lang erfahrbar [2]. Latente Muster von la- gendlichen, bei Erwachsenen und bei
Unsicher-vermeidend gebundene Kin- bilem Grundvertrauen bleiben, u.a. auch Personen mit den verschiedensten psyder vermeiden die Nähe zur Bindungs- in strukturellen Veränderungen neuro- chischen Störungen nachweisen können
person. Das vermeidende Muster hat sich
aus oftmaliger Zurückweisung oder VerTab. 1: Bindungsmuster beim Kleinkind und bei Erwachsenen
weigerung von Trost und Schutz durch
@ Untersuchungsmethoden
die Bezugsperson entwickelt. Es konnte
Im Alter von 12-18 Monaten
Als Erwachsener
gezeigt werden, dass vermeidend gebunInduzierung
von
kurzdauerndem
Bindungsinterviews
(AAI u.a.),
dene Kinder in belastenden Situationen
Trennungsstress
(sog.
fremde
Situation)
Fragebögen,
Ratingskalen,
Projektinegative Gefühle nach außen nicht zeiver Bindungstest [Überblick bei 5, 11]
gen (scheinbar autonom), dabei aber
innerlich unter hohem Stress stehen.
@ Bindungsmuster
Unsicher-desorganisiert gebundene
Kinder haben durch Erfahrungen des
Missbrauchs oder der Misshandlung keine Chance gehabt, eines der anderen Bin-
10
sicher
Unsicher – vermeidend
Unsicher – ambivalent
Unsicher – desorganisiert
sicher
Unsicher – distanziert
Unsicher – verstrickt
Unbewältigtes Trauma
GERIATRIE JOURNAL 4/06
P S Y C H I AT R I E : D E M E N Z
[3, 11]. Die Frage nach der individuel- in anderen Beziehungen, z.B. der Pflege,
len Konstanz wurde, überwiegend aus wirksam sind und im Umgang genutzt
methodischen Gründen bei Langzeitstu- werden können, um Bindungssicherheit
dien, bis heute noch nicht zufriedenstel- zu fördern (Tab. 2).
lend beantwortet.
Werden Bindungstypen bei Kindern
Gefährdung der sicheren
im 2. Lebensjahr und Bindungsmuster bei
Jugendlichen oder Erwachsenen mit ei- Bindungsanteile bei Demenz
nem Bindungsinterview, einem Frage- Kenntnisse über das Bindungskonzept
bogen, einer Skala oder einem Test unter- können in verschiedenen Pflege- und
sucht, finden sich weitgehend überein- Therapieansätzen in der Arbeit mit ältestimmend die von Bowlby eingeführten ren Personen sehr hilfreich umgesetzt
werden. In der Arbeit mit DemenzkranGrundmuster von Bindungen (Tab. 1).
In späteren Phasen des Lebens trägt ken können wir an Bindungserfahrungen
Bindung dazu bei, ein sicheres Gefühl zu aus der Lebensgeschichte anknüpfen –
im Umgang mit verschieentwickeln, sich vor VerIn späteren Phasen denen Bindungsmustern
lust von Zuneigung zu
soll ein möglichst großer
schützen, Besitz oder Kondes Lebens trägt
Anteil an sicherer Bindung
trolle zu behalten und kann
Bindung dazu bei,
(wieder) aktiviert werden.
helfen, die negativen Folein sicheres Gefühl
Die Grundlinien der
gen eines Verlustes zu bezu entwickeln
Bindungsmuster sind auch
wältigen. Die Bindungsbei Personen mit Demenz
muster sichern die soziale
Anpassung und lassen bei positivem Ver- erkennbar. Dabei bestätigen sich die Erlauf, eine effektive sozio-emotionale Kom- fahrungen im Pflegealltag, dass es eine
petenz entstehen. Sie können unter unter- Gruppe von Demenzkranken gibt, die
schiedlichen Lebensbedingungen entwe- Hilfe dankbar annehmen kann, Wohlder einen positiven, bei der Bewältigung befinden äußern und mit der Situation
von Krisen stärkenden Effekt haben oder der vollkommenen Abhängigkeit von ansie können bei negativen oder traumati- deren, im Allgemeinen jüngeren Pfleschen Bindungserfahrungen die psycho- genden, gut zurechtkommt [10]. Andesoziale Anpassung schwächen und den rerseits gibt es Demenzkranke, für die
Boden für psychische Störungen bereiten Nähe eine Bedrohung (ihrer Autonomie)
darstellt oder die mit einer abweisend[4, 12].
Sichere Bindung stellt nach der der- misstrauischen Bewältigungsstrategie auf
zeitigen Auffassung einen lebenslang wirk- die Situation in der Pflege reagieren [13].
samen Schutzfaktor bei der Bewältigung Durch die Demenzerkrankung stehen die
von Lebenskrisen dar. Auch das Selbst- bisherigen Bewältigungsmuster nicht
wertgefühl, das Leistungsverhalten, die mehr zur Verfügung. Es werden Muster
Flexibilität im Denken und Handeln und wirksam, die auf frühere oder sehr frühe
die Möglichkeiten das soziale Netzwerk Erfahrungen zurückgehen.
Die rechte Spalte der Tab. 3 beruht auf
positiv zu gestalten, stehen im Zusamder Beobachtung von Verhaltensmustern
menhang mit der Bindungsbasis.
Günstige Eigenschaften der
Bezugsperson
Aus der Bindungsforschung hat sich insbesondere die Feinfühligkeit der Bezugsperson als der wesentliche Faktor zur
Unterstützung einer sicheren Bindung
erwiesen. Feinfühligkeit ist die Fähigkeit
zur Wahrnehmung und Umsetzung von
Grundbedürfnissen. Diese umfasst ein
Bündel von Verhaltensweisen, die auch
12
im Pflegealltag, deren Ursprünge aus der
Biographie oft nachvollziehbar sind. Die
Perspektive der Bindung gibt nicht nur
eine Erklärung für problematisches Verhalten, sondern weist auch auf das dahinterliegende Bindungsmuster hin.
Bindung als Ressource bei Demenz
Auch bei Demenz werden bindungssuchendes Verhalten und die Aussendung
der entsprechenden Signale zur Sicherstellung einer zuverlässigen Bindung mit
dem Ziel der Beruhigung beobachtet.
Die gewünschte Nähe umfasst die Grundbedürfnisse nach Schutz, Geborgenheit,
Sicherheit sowie gewärmt und genährt
zu werden. Ein relativ neuer Aspekt dabei ist, Bindung und Bindungsverhalten
als Ressource zu sehen und in der Versorgung und Pflege von Personen mit
Demenz nutzbar zu machen. Insbesondere die sichere Bindung wird dabei als
stabile und emotional bedeutungsvolle
Beziehung zu versorgenden Personen gesehen. Zu diesen Personen besteht zudem auf Grund von Pflegebedürftigkeit,
Veränderungen der Alltagskompetenz u.a.
eine besondere Form der Abhängigkeit.
Bei eher unsicheren Bindungsanteilen
wird die in der Pflege zunehmend notwendig werdende Nähe als Bedrohung
der Autonomie bis hin zur Wiederbelebung von traumatischen Ängsten erlebt.
Das entsprechende innere Bindungsmodell zur Wahrnehmung und Bewertung von Beziehungen wird in Bindungssymbolen sichtbar, die der Welt des
Kranken mit Demenz durch besondere
Weisen des Erlebens und Verhaltens entsprechen. Diese zu verstehen bedeutet
auch, sich den Ressourcen zu nähern und
ein Verhalten, dass nach außen als Stö-
Tab. 2: Elemente der Feinfühligkeit [nach 13]
@ Wahrnehmung von Signalen – durch aufmerksames Beobachten von Mimik,
Gestik, Stimme u. a.
@ Richtige Interpretation der Signale aus der Sicht der Person heraus, d.h. nicht
gefärbt durch die Bedürfnisse und Erwartungen der Bezugsperson
@ Prompte Reaktion – damit wird das Erleben der eigenen Wirksamkeit der
(pflege)abhängigen Person verstärkt
@ Angemessene, die Würde wahrende Reaktion, (situations-, alters- und
krankheitsangemessen)
Anwendung
in den Alltagssituationen der Betreuung, Pflege und Behandlung
@
GERIATRIE JOURNAL 4/06
P S Y C H I AT R I E : D E M E N Z
rung erscheint, in Wirklichkeit als notwendige Suche nach Sicherheit und Geborgenheit (als bindungssuchendes Verhalten) zu verstehen.
Kolanowski und Whall [9] untersuchten die Persönlichkeitsveränderungen im
Verlauf einer Demenzerkrankung. Sie kamen zu dem Schluss, dass Personen mit
Demenz auf Verhaltensmuster zurückgreifen, mit denen sie früher einmal erfolgreich waren oder bestimmte Situationen bewältigt haben. Im Altgedächtnis gespeicherte Erfahrungen von
Kompetenz werden zeitversetzt auf eine
Situation in der Gegenwart übertragen
und zur Bewältigung eingesetzt. Im Bewusstsein bleibt ein Erleben von Kompetenz, das allerdings nur in der Zeitreise zu verstehen ist. In dieser Zeitreise
treten auch die ursprünglichen Bindungspersonen wieder auf und die Muster, die diese Beziehungen geprägt haben.
Häufig haben Demenzkranke, den
Wunsch nach Hause zu wollen. Oft ist
dies der Ausdruck der Suche nach Geborgenheit und Sicherheit (Elternsuche).
Häufig ist der Wunsch nach Hause zu
wollen oder zu müssen mit wieder erinnerten Verpflichtungen verbunden.
„Die Kinder kommen aus der Schule, da
muss ich zu Hause sein.“ Die Akzeptanz
des Gefühls der Sorge um die Kinder und
ihrer Kompetenz als zuverlässige, sich
sorgende und helfende Mutter führen zu
Beruhigung und geben die Möglichkeit
der Ablenkung auf eine aktuelle Situation
zur Folge. Hier spielt neben den transformierten Kompetenzen auch der Bindungsaspekt der guten, zuverlässigen und
nährenden Mutter eine wesentliche Rolle. Im Alltag der Betreuung und Pflege
können diese Zeit versetzten Kompetenzen genutzt werden, wenn ihre Bedeutung
aus der Lebensgeschichte verstanden wird.
Es ist schützend für das Selbstwertgefühl,
Tab. 3: Bindungstypen
Bindungstyp
Sicher
Unsicherambivalent
bzw. verstrickt
Unsicher –
distanziert
Unsicher –
desorganisiert
Erwachsener vor der
Demenzerkrankung
Wertschätzung von Bindung,
ausgeglichen, einfühlsam,
gutes Selbstvertrauen, Selbstsicherheit, Sicherheit gebend,
hilfsbereit, positive Gefühlsäußerungen, Gleichgewicht
von Nähe und Distanz in
Beziehungen
Unsicher in Beziehungen, Neigung zu Panik, Depressionen
und Ängsten, überstarke Abhängigkeit und Verlustängste,
Sicherheit fordernd, Idealisierung und Abwertung von
Beziehungen
Sich autonom gebend, nach
außen abweisend und scheinbar unbeeindruckt – nach
innen angespannt, Betonung
von Autonomie, weniger
Empathie, mehr Misstrauen,
Probleme mit Nähe und
Körperkontakt, kann nicht
gut Hilfe annehmen
Ungelöstes Trauma,
stark wechselnde Affekte,
keine Integration oder
Zugang zum Trauma
GERIATRIE JOURNAL 4/06
Demenzkranker
Akzeptanz von Hilfe und
Umgehen mit Abhängigkeit,
Dankbarkeit zeigen, Vertrauen
in Bezugspersonen, Freude,
selber helfen wollen, weitgehendes Wohlbefinden
Anklammernd, ängstlich, Hilflosigkeit betonend und Hilfe
suchend (rufen), Regression,
Wechselnde Stimmungslage,
stark aktiviertes Bindungsverhalten (s. Tab. 5)
Verleugnung, Projektion,
Misstrauen,wahnhafte
Erlebnisverarbeitung und
Fehlinterpretation von Situationen, mehr Verhaltensauffälligkeiten mit dem Ziel der
Distanzierung, wenig
kooperationsfähig
Situationen der Trauma-Reaktivierung wie z. B. bei (notwendigen?) Grenzüberschreitungen in der (Intim)Pflege
oder Erinnerungen an ältere
traumatische Ereignisse
weiterhin als zuverlässig und fürsorglich
anerkannt zu werden.
Dieses Beispiel macht auch deutlich,
dass Ressourcen nur aus der subjektiven
Sichtweise erschlossen werden können.
Bei Demenz sehen wir eine Schwächung
der Ressourcen durch Vergessen und
gleichzeitig das Entstehen neuer Ressourcen aus alten Quellen. Oft zusammen mit dem Erleben von Unsicherheit
und Angst – manchmal aber auch mit Zufriedenheit und innerer Beruhigung.
Zugänge zu Ressourcen zu suchen bedeutet für die Bezugspersonen auch, Zugang zu der Welt des Kranken zu suchen
und zu finden sowie sein Bedürfnis nach
Sicherheit aus Lebenserfahrungen u.a.
anzuerkennen. Es ist aber auch zu respektieren, dass dies kein kontinuierlicher
Prozess ist, sondern ein ständiges Ausgleichen und Aushandeln erfordert.
Die Pflegenden haben die Aufgabe, die
Einschränkungen und Veränderungen
durch die Krankheit über einen Zeitraum
so zu kompensieren, dass eigene Bewältigungs-Ressourcen noch wirksam werden
können. Dies sind im Pflegealltag Strukturen, die Halt geben – aber nicht erdrücken und entmündigen. Ein Rahmen,
der Halt gibt, schützt und begrenzt –
und lässt damit einen Freiraum für den
Inhalt. Er schafft auch einen Raum für
Begegnungen und Erleben von Zugehörigkeit und Vertrautheit.
Arbeiten mit dem Bindungskonzept
Durch die Beachtung der Wechselseitigkeit von Bindungsprozessen in der Pflege ergeben sich neue Perspektiven. Sie
ermöglichen die Einleitung von Entwicklungen, die vorher verschlossen waren. Im idealen Fall sollte die Pflegeperson ungehindert auf ihre eigenen
Ressourcen zurückgreifen können – diese müssen gestärkt und entwickelt werden. Immer ist auch der Bezug zur eigenen Person und der eigenen Entwicklung gegeben [14].
Je sicherer der Anteil der Bindung ist,
desto mehr können Ressourcen und
Kompetenzen mobilisiert werden – akutes bindungssuchendes Verhalten blockiert dagegen Kompetenzen. Wer ständig auf der Suche nach Schutz und Nä-
13
P S Y C H I AT R I E : D E M E N Z
he ist oder Angst vor übermächtigen Bindungspersonen hat, ist nicht in der Lage, sich den Erfordernissen der Umgebung anzupassen oder Neues zu verarbeiten bzw. einen Ortswechsel (immer
verbunden mit Verlusten) zu verkraften.
Die Präsenz einer Sicherheit vermittelnden Bindungsperson wirkt Angst
mindernd. Deren Anwesenheit kann
durch alle Bindungssignale unterstützt
werden, die in einer Situation möglich
sind. Bei Vergrößerung der räumlichen
Distanz müssen die Bindungssignale, die
eine Entfernung überbrücken, eingesetzt
werden. Ein wesentliches Element ist dabei die Möglichkeit, jederzeit Blickkontakt aufnehmen zu können oder zumindest die Bezugsperson im Blick haben zu
können. Bestätigende Signale wirken zusätzlich beruhigend. Wichtigstes Ziel der
Pflege auf dieser Grundlage ist die Bildung von gegenseitigem Vertrauen und
Wertschätzung, ohne das eine sichere Basis nicht gestärkt werden kann.
Die sicheren Bindungsanteile der Pflegenden müssen so herausgearbeitet und
gestärkt werden, dass die psychischen Belastungen in der Pflege auf dieser Basis
besser bewältigt werden können. Mit qualifizierenden und unterstützenden Maßnahmen, wie Fallbesprechungen unter
besonderen Aspekten oder Teamsuper-
vision, können diese Chancen genutzt Struktur gekennzeichnet sind, kann das
werden.
Störungsbild des Hospitalismus beobEine besondere Rolle für die sichere achtet werden. Die Kranken schaffen sich
Basis spielen Strukturen. Strukturen be- selbst einfachste Strukturen der Selbststehen aus klar bestimmbaren einzelnen stimulation, indem sie stundenlang mit
Elementen, die sich in einer vorhersag- dem Oberkörper vor- und zurückschaubaren Weise wiederholen. Es entstehen keln (Tab. 4).
Muster, Rhythmen, Schablonen oder RiAuch bei Personen mit Demenz lassen
tuale. Strukturen übernehmen die Auf- sich Situationen beobachten, in denen
gaben einer Rahmenfunktion, die Inhal- sie auf ihre Weise versuchen, sich selbst
te zur Geltung bringen,
einen haltenden Rahsie aber auch begrenmen zu schaffen. Die..., dass Personen mit
zen und schützen. Sie
se eigenen Strukturen
Demenz auf Verhaltenssollen die Übersichtaus vorhersehbaren und
muster zurückgreifen,
lichkeit verbessern. Im
sich wiederholenden
mit denen sie früher
täglichen Leben helfen
Elementen, schafft sich
Strukturen, sich auf Sider Kranke durch stäneinmal erfolgreich waren
tuationen einzustellen,
oder bestimmte Situatio- dige Wiederholungen
zu planen und dabei
von Fragen, von Wornen bewältigt haben
die Kräfte optimal einten oder von Handzusetzen. Die Vorherlungen. Gelegentlich
sagbarkeit von Ereignissen gibt Sicherheit sind sie auf Rituale und feste Umgeund spart somit auch Kräfte der An- bungsbezüge festgelegt und reagieren unspannung, Konzentration und Sorge, die ruhig auf kleinste Veränderungen.
nun wieder zur Verfügung stehen. Sind
Eine Person mit Demenz, die ständig
die Strukturen neu, unvorhersagbar oder dieselbe Frage stellt, ist nicht primär an
ständig im Wechsel, werden unverhält- der richtigen Antwort interessiert, sie
nismäßig viele Kräfte gebunden, Kräfte möchte eine Bestätigung und einen Bedie im Falle einer gleichzeitigen anderen weis, dass sie sich sicher fühlen kann,
Anforderung nicht mehr zur Bewälti- dass alles in vorhersehbaren Weise abgung ausreichen. In länger andauernden laufen wird und dabei als zuverlässig
Situationen, die durch einen Mangel an (pünktlich) anerkannt wird. Daher sind
(Zeit-)Fragen mit den Inhalten: „Wann
kommt …“? oder „Wann müssen wir
Tab. 4: Elemente einer sicheren Bindungs-Basis [13]
nach …“? besonders häufig. Diese VerWas gehört zu einer sicheren Basis bei der Pflege von Demenzkranken?
haltensweisen geben einen Hinweis auf
Pflegeperson
Konstanz der Bezugspersonen (Bezugspflege), absolute Zudas Erleben von Unsicherheit und sind
verlässigkeit bei Zusagen, Reflektion der eigenen BindungsAusdruck eines Bindungsbedürfnisses im
geschichte und Bindungsbedürfnisse durch Supervision, KläSinne einer Sehnsucht (Suche) nach
rung von Rollen und Aufgaben, Teamzugehörigkeit und UnterWahrgenommen werden, Bestätigung
stützung durch die Leitung.
und Sicherheit. Die Verlässlichkeit und
Im Umgang mit Teilhabe am gesellschaftlichen Leben soviel und solange es
Demenzkranken möglich ist, Stützen der Identität aus der Biographie – der
Vorhersagbarkeit der Ereignisse kann bei
rote Faden der Lebensgeschichte, Anerkennen und Bestätigen
Personen mit Demenz in unübersichtder Gefühle, Gespür für das Gleichgewicht zwischen Nähe und
lichen Situationen nicht mehr durch das
Distanz entwickeln, Erkennen von bindungssuchendem Verinnere Gefühl der Sicherheit gewährleishalten und Verhaltensweisen anderer Ursachen, eindeutiges
tet werden. Die Schaffung klarer StrukRespektieren von Grenzen und Schutz vor Grenzüberschreituren und Abläufe ist eine Möglichkeit
tungen, Förderung von jeglichem konkreten Verhalten – Stabider Mobilisierung und Unterstützung
lisieren durch Handeln stärkt das Erleben von Autonomie und
eigener Handlungsfähigkeit.
von Ressourcen, sie sind wesentliche EleUmgebung
Normalität, Übersichtlichkeit, Sicherheit und Vertrautheit der
mente der sicheren Basis, wie sie in Tab. 4
Umgebung, Erkennbarkeit der Individualität der Person an der
zusammengestellt sind.
biographisch orientierten Einrichtung des Zimmers.
Die Beziehung wird als positive ResStrukturell
Verlässlichkeit der Zeitabläufe, Prinzip der Handlungskette:
source inhaltlich thematisiert. Dabei helein Element nach dem anderen, Prinzip der Einzeitigkeit – nur
fen Formulierungen wie: „Wir kommen
eine Information zur selben Zeit, Realitätsbezug herstellen.
gut miteinander aus.“, „Zusammen kön-
14
GERIATRIE JOURNAL 4/06
P S Y C H I AT R I E : D E M E N Z
nen wir was erreichen.“, „Gelernt ist gelernt.“ oder „Gut, dass sie uns helfen wollen.“ Die Bezugspersonen verhalten sich
so, dass der Patient die Beziehung als positiven Teil seines Daseins erleben kann.
Die Qualitäten der zwischenmenschlichen Beziehungen werden in ihrer positiven Bedeutung hervorgehoben. Dabei
ist Bindungsverhalten keine Persönlichkeitseigenschaft, sondern ein Charakteristikum der Beziehung zwischen zwei
Personen. Typische Situationen, die eine
Aktivierung von Signalen der Bindungssuche zur Herstellung von Bindungssicherheit auslösen, sind in Tab. 5 dargestellt.
Abschließend sollen noch einmal die
Chancen der Arbeit nach dem Konzept
der Bindungsressourcen [nach 12] zusammengefasst werden:
@ Biographiebezug bis in die ersten Lebensjahre zurückgehend,
@ ganzheitliche systemische Sichtweise,
@ Integration verschiedener Ansätze, wie
Bezugspflege, Validation, aktivierende
Pflege und verschiedene milieutherapeutische Ansätze,
@ Generationen übergreifende Sichtweise
(Oma – Kind – Enkel), rasche Identifikation und richtige Deutung von Bindungsverhalten,
@ direkt ableitbare Konsequenzen für den
Umgang mit Demenzkranken,
@ gute Umsetzbarkeit in Stations- und
Pflegekonzepten,
@ Beachtung der eigenen Bindungsbedürfnisse der Pflegenden,
@ Ansatz zur Burn-out-Prophylaxe der
Pflegenden,
@ wirksamer Ansatz zur Prävention von
Gewalt in der Pflege,
@ besseres Verstehen von problematischem und herausfordernden Verhalten
unter dem Aspekt der Aktivierung der
Bindungssuche,
@ Einbeziehung von Übergangsobjekten
(Puppen, Stofftiere, Spielzeug oder Tiere) als Bindungsvermittlern.
Die Beschäftigung mit dem Bindungskonzept im Umgang mit demenzkranken
Personen bietet eine doppelte Chance.
Problematisches oder herausforderndes
Verhalten kann häufig als Suche nach
Bindung und als Versuch, mit Beziehungen in der Pflege entsprechend umzugehen, verstanden werden. Der alte Mensch
kann Verluste in seiner Beziehungsfähigkeit im Kontakt mit der Pflegeperson
aufarbeiten und positiv bewältigen. Auch
die Pflegenden werden mit ihrem eigenen Beziehungs- und Bindungsmustern
konfrontiert und lebensgeschichtlich gu-
Tab. 5: Typische Situationen
Verhalten zur Bindungssuche und Bindungsvermeidung bei Demenzkranken
Bindungssuche
Bindungsvermeidung
Auslösende Einschränkung der Autonomie, Einschränkungen der AutonoSituationen Einschränkung der Bewegungs- mie durch Zulassen müssen von
freiheit, Trennung (real oder
Nähe und Grenzüberschreitunbefürchtet) Bedrohung, Übergen bei der (Intim)pflege, unforderung, Erschöpfung, Krank- erwünschte oder unangenehme
heit, Schmerzen, Isolation,
Berührungen, Fehlinterpretation
Umgebungswechsel, ständig
von Situationen, wahnhaftes
wechselnde Bezugspersonen,
Erleben, Retraumatisierung –
realer oder vermeintlicher
real oder (re)aktiviert
Verlust von Besitz, Angst und
aus früheren Erfahrungen
Panik, Krankenhausaufenthalt,
diagnostische Maßnahmen,
schmerzhafte Eingriffe
Verhaltens- Rufen, Weinen, ständiges Wie- Misstrauen, (Wieder)herstellen
weisen
derholen von Fragen (häufig
der Kontrolle durch Rückzug,
Zeitfragen), Schreien, (Hin)lau- Verweigerung (Essen, Trinken,
fen, Elternsuche, Überzeugung Pflege, Medizin), Zurückweiverlassen worden zu sein, Nach- sung, Abwehr, verbale und/oder
laufen, Sammeln und Horten,
körperliche Aggressivität,
aber auch helfen wollen, helUmdeuten von Situationen der
fen dürfen, Dankbarkeit zeigen Nähe als Bedrohung
16
te oder negative Erfahrungen werden
(überwiegend unbewusst) wiederbelebt.
Dies kann bei ungeklärten Beziehungen
zu Verstrickungen und zur Verhinderung
von feinfühligem, zu grenzüberschreitendem oder vernachlässigenden Verhalten führen. Entscheidender als Techniken
sind die menschliche Basis der Beziehung, die Haltung, die Bereitschaft und
die Fähigkeit, sich als feinfühlige und zuverlässige Bindungsperson zur Verfügung
zu stellen.
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Lesebuch zur therapeutischen Arbeit. dgvt Verlag,
Tübingen
Dr. med. Dipl.-Psych. Wilhelm Stuhlmann, Arzt für Psychiatrie und Neurologie, Psychotherapie – Klinische
Geriatrie, Rathelbecker Weg 3D,
40699 Erkrath
GERIATRIE JOURNAL 4/06
P S Y C H I AT R I E : A L K O H O L I S M U S
Alkoholmissbrauch und
-abhängigkeit im Alter
Dirk K. Wolter, Münster
Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit sind im Senium seltener als im
mittleren Erwachsenenalter und üblicherweise nimmt Alkoholkonsum
mit dem Lebensalter ab. Neuere Studien zeigen jedoch, dass der Anteil
der älteren Menschen mit problematischem Trinkverhalten ansteigt.
Auch sich wandelnde Lebensstile und verändertes Konsumverhalten
tragen dazu bei, dass künftige Seniorengenerationen mehr Alkohol trinken als frühere. Der Artikel erläutert Epidemiologie und Diagnostik und
gibt Hinweise zur Therapie.
I
GERIATRIE JOURNAL 4/06
Von „Missbrauch“ bzw. „schädlichem
Gebrauch“ (ICD-10) spricht man, wenn
eine Substanz trotz negativer Folgen und
des Wissens darum konsumiert wird. Bei
der Definition fokussiert die ICD-10 ausschließlich auf negative gesundheitliche
Folgen (körperlich, aber auch psychisch),
während das DSM-IV in der Definition
des Substanzmissbrauchs auch die soziale Dimension einbezieht:
@ wiederholter Konsum mit Folge von
Versagen in Schule/Beruf/Familie,
Foto: Tom Schmucker – Fotolia
m Jahre 1964 empfahl die WHO,
den Begriff „Sucht“ (engl. addiction)
als unwissenschaftlich aufzugeben und
durch „Abhängigkeit“ (engl. dependence) zu ersetzen, die in psychische bzw.
physische Abhängigkeit spezifiziert werden kann. Die moderne Klassifikation in
ICD-10 und DSM-IV unterscheidet daneben als unabhängige Störung den
„schädlichen Gebrauch“ (ICD-10) bzw.
„Missbrauch“ („Abusus“, engl. abuse)
(DSM-IV). Der englische Begriff misuse
bezeichnet demgegenüber den nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch von nichtpsychotropen Pharmaka (z.B. Diuretika
oder Laxanzien).
Die Definition der Abhängigkeit ist in
den beiden Klassifikationssystemen ICD10 und DSM-IV weitgehend ähnlich.
Innerhalb eines 12-Monatszeitraumes
müssen mindestens drei der folgenden
Kriterien erfüllt sein:
@ starker Wunsch nach Konsum des
Mittels (im DSM-IV alternativ erfolglose Absetzversuche),
@ verminderte Kontrolle über den Konsum (zu oft, zu viel, zu lange),
@ Entzugssymptome,
@ Toleranzentwicklung,
@ Vernachlässigung anderer Interessen,
hoher Zeitaufwand für Konsum bzw.
Beschaffung der Substanz,
@ anhaltender Konsum trotz schädlicher
Folgen.
Alkoholmissbrauch wird häufig übersehen oder fehldiagnostiziert, bei älteren
Menschen deutlich häufiger als bei
jüngeren.
wiederholter Konsum in Situationen, in
denen es dadurch zu körperlichen Gefährdungen kommen kann,
@ wiederkehrende Probleme mit dem Gesetz im Zusammenhang mit dem Substanzkonsum,
@ fortgesetzter Konsum trotz häufiger sozialer Probleme, die auf den Substanzkonsum zurückgehen.
Das Vorliegen von Entzugssymptomen ist
das entscheidende Kriterium zur Unterscheidung zwischen psychischer und physischer Abhängigkeit. Neben Abhängigkeit und Abusus werden Störungen durch
den Substanzkonsum (substanzinduzierte Störungen) unterschieden: Intoxikation, Entzug (mit oder ohne Delir) sowie
andere psychische Störungen (z.B. psychotische Störungen, amnestisches Syndrom, Persönlichkeits- oder Verhaltensstörungen, Demenz).
@
Epidemiologie
Das Phänomen „Sucht“ wird gemeinhin
überwiegend mit illegalen Drogen und
dem Jugend- bzw. Adoleszenzalter verbunden. Sucht im Alter war bis vor einigen Jahren weder für die Wissenschaft
noch für die Öffentlichkeit oder das Gesundheitssystem ein Thema. In der Tat
sind Abhängigkeitserkrankungen im Alter insgesamt seltener. Mitunter kommt
es bei Abhängigkeitskranken im fortgeschrittenen Erwachsenenalter zu einem
Rückgang des Konsums oder sogar zu
weitgehender Abstinenz, häufig verbunden mit einem mehr oder weniger stark
ausgeprägten Residualsyndrom (Antriebsmangel, affektive Einschränkung,
sozialer Rückzug). Diese Entwicklung
wurde früher als „maturing out“ bezeichnet. Man ging davon aus, dass es im
Alter keine bedeutsame Zahl von Suchtkranken mehr gäbe, weil die Suchtpro-
17
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bleme entweder mit dem Alter durch auch auf den Wegfall sozialer Kontroll- Koma auf. Oft Amnesie. Bei tiefer Into„maturing out“ verschwinden bzw. auf instanzen bzw. äußerer Abstinenzmoti- xikation ist der Übergang zum kompliGrund der erhöhten Mortalität nur sehr vation (z.B. Berufstätigkeit) zurück zu zierten Rausch fließend.
wenige Suchtkranke das
Die Existenz des pathologischen Rauführen sein; in diesen
Das Phänomen
Senium erreichen würFällen ist als Hinter- sches ist umstritten; das Syndrom ist in
den. Diese Einschätzung „Sucht“ wird gemeinhin grund eine bis dahin der forensischen Psychiatrie von Bedeuist heute nicht mehr gülkompensierte psychi- tung: schwere Verhaltensentgleisungen
überwiegend mit
tig – zumal die Medikasche Störung zu disku- mit Amnesie bei geringer Alkoholmenillegalen Drogen und
mentenabhängigkeiten
tieren. Dasselbe gilt für ge auf dem Boden einer zerebralen Vordem Jugend- bzw.
einen deutlichen Altersdie Fälle, in denen alte schädigung.
gang aufweisen.
Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit
Menschen trotz offenAdoleszenzalter
Der Alkoholkonsum
sichtlich nachlassender führen zu vielfältigen internistischen
verbunden
nimmt mit dem LebensAlkoholtoleranz ihren Komplikationen: Leberschädigung bis
alter ab. Abstinenz ist
Konsum nicht verrin- zur Leberzirrhose, Leberzellkarzinome
unter Frauen und in den höchsten Al- gern und es hierdurch zu Komplikatio- treten gehäuft auf; akute und chronische
tersklassen häufiger anzutreffen. Alko- nen kommt. Je höher der Alkoholkonsum Pankreatitiden; Schleimhautschäden im
holmissbrauch und -abhängigkeit sind im mittleren Lebensabschnitt, umso grö- gesamten Verdauungstrakt mit erhöhtem
im Senium seltener als im mittleren Er- ßer das Risiko eines Alkoholproblems im Risiko für Malignome im Rachenbereich
wachsenenalter, mit einer Jahrespräva- Alter. Raucher sind stärker gefährdet so- bei Spirituosen, Gastritiden; Kardiomyolenz von 3,1% der Männer und 0,5% wie Personen, die Problemen aus dem pathie, Hypertonie, Herzrhythmusstöder Frauen ab 65 Jahren in einer großen Weg gehen, die unter Belastung vermehrt rungen; hämotologische und immunoepidemiologischen Studie in den USA in trinken und deren Umfeld den Alkohol- logische Störungen. Im Übergangsbeden 1980er Jahren aber keineswegs un- konsum unterstützt. Funktionierende so- reich zur Neurologie sind Muskelerbedeutend [8]. Neuere Studien geben hö- ziale Netzwerke, Hilfe von Bezugsperso- krankungen und das erhöhte Schlaghere Prävalenzraten von ca. 10% der Al- nen haben einen proanfallrisiko zu nennen.
Alkoholprobleme
tenbevölkerung mit problematischem tektiven Effekt [15].
Neurologische KompliTrinkverhalten an [9]. Veränderungen Alkoholprobleme könkationen: (Entzugs-)
können mit anderen
der Lebensstile und des Konsumverhal- nen mit anderen psychi- psychischen Störungen Krampfanfälle, Kleintens führen dazu, dass bereits die heuti- schen Störungen in Zuhirnatrophie und zerein Zusammenhang
gen und wahrscheinlich in noch stärke- sammenhang stehen
bellare Ataxie, zentrale
stehen
rem Ausmaß künftige Seniorengenera- (z.B. als Selbstbehandpontine Myelinolyse,
tionen mehr Alkohol konsumieren als lungsversuch bei einer
Hinterstrangläsionen,
frühere.
Depression oder als Symptom einer Ma- Polyneuropathien, die Wernicke EnzeBei alten Menschen mit Alkoholpro- nie). Schließlich sind die alt gewordenen phalopathie sowie kognitive Beeinträchblemen wird zwischen „early onset“ und chronisch-mehrfach geschädigten bzw. tigungen [5].
„late onset“- unterschieden. Zur erstge- behinderten Alkoholiker zu erwähnen,
Alkoholmissbrauch kann auf verschienannten Gruppe gehört, wer seit dem bei denen i.d.R. ausgeprägte hirnorgani- denen Wegen direkt oder indirekt zu kogfrühen Erwachsenenalter mehr oder we- sche Veränderungen vorliegen.
nitiven Einbußen führen oder beitragen:
nig durchgängig Alkoholmissbrauch beneben (kurzfristigen – Intoxikation bzw.
trieben hat. „Late onset“-Alkoholiker haEntzug – und langfristigen) direkten neuKlinik, Komplikationen,
ben erst im Alter begonnen, in problerotoxischen Effekten des Alkohols kommatischem Umfang zu trinken, oft Folgeprobleme
men metabolische Dysfunktion (z.B.
ausgelöst durch alterstypische Belas- Eine veränderte Verarbeitung von Alko- hepatische Enzephalopathie), immunotungssituationen. In dieser Gruppe sind hol (First-pass-Metabolisierung in der logisch bedingte Schädigungen, SchädelTherapieerfolge deutlich häufiger als bei Magenschleimhaut reduziert, Körper- Hirn-Traumata, vaskuläre Schädigungen
den „early onset“-Alkoholikern, die an- wasseranteil reduziert) führt im Alter zu („Schlaganfall“, Ischämien, Blutungen)
gesichts ihrer langjährigen Suchtkarriere einer erhöhten Blutalkoholkonzentration oder nutritive Mangelzustände (Thiameist belangvolle Persönlichkeitsverän- (BAK) bei gleicher Trinkmenge [6].
min, Vitamin B12, Folsäure) in Betracht
Die Symptomatik des Alkoholrausches [16].
derungen und soziale Desintegration aufweisen und kaum auf ein erfolgreich be- (Alkoholintoxikation) ist allgemein bewältigtes Leben zurückblicken können. kannt: initial kommt es meist zu einer AkKognitive Einbußen,
„Early onset“-Alkoholiker weisen häufi- tivierung und Euphorisierung, später bzw.
ger eine positive Familienanamnese und bei höherer BAK treten Affektlabilität, Korsakoff-Syndrom und Demenz
mehr schwere Intoxikationen auf [12, kognitive und motorische Beeinträchti- Die klassische Form der alkoholassozi25]. „Late onset“-Alkoholismus kann gungen (Ataxie) sowie Sedierung bis zum ierten kognitiv-mnestischen Störung
18
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stellt die chronische Form des Wernicke-Korsakoff-Syndroms dar, bei der es
sich allerdings um ein Thiaminmangelsyndrom und damit nur um eine mittelbare Alkoholfolgekrankheit handelt. Relativ neu ist die Erkenntnis, dass sich das
chronische Stadium ohne klinisch apparente akute Wernicke-Enzephalopathie einstellen kann. Das Korsakoff-Syndrom zeichnet sich durch eine (fast) reine oder zumindest dysproportional im
Vordergrund stehende Neugedächtnisstörung aus. Hinzu tritt ein Komplex
kognitiver, affektiver und motivationaler Defizite, der einem Frontalhirnsyndrom ähnelt. Charakteristisch sind Beeinträchtigungen von Arbeitsgedächtnis,
exekutiven Funktionen und höheren
Frontalhirnfunktionen wie Urteilsvermögen, Kreativität und Krankheitseinsicht. Die pathognomonische Konfabulationsneigung erklärt sich aus der Kombination von Amnesie und frontalen
Defiziten. Ausmaß und Spektrum der
kognitiven Störungen variieren stark, viele Patienten sind vom Schweregrad her
als dement einzuordnen. Besserungen
unter Abstinenzbedingungen sind in Einzelfällen beschrieben, dann aber nur geringfügig [22]. Ein fortgeschrittenes
„Alzheimer-typisches“ Demenz-Syndrom
ohne dysproportional im Vordergrund
stehende Neugedächtnisstörungen kann
nicht auf Alkohol (allein) zurückgeführt
werden, hier liegen andere Ursachen vor
[22].
Der Begriff „Alkohol-Demenz“ („Alcohol-related dementia“) sollte nach [16]
für solche kognitiven Beeinträchtigungen
reserviert bleiben, die allein auf die direkten neurotoxischen Effekten des Alkohols zurückzuführen sind. Diese rein
alkoholinduzierten Syndrome sind relativ selten; sie zeigen nicht das typische
Bild des Korsakoff-Syndroms und die
kognitiven Beeinträchtigungen sind weniger ausgeprägt als bei degenerativen
Demenzerkrankungen. Auch hier finden sich zusätzlich oder führend unspezifisch frontal-subkortikale Symptome;
die Besserung oder zumindest Stabilität
unter Abstinenzbedingungen (ab sechs
Wochen nach Ende des Entzugs) gilt als
wesentliches diagnostisches Merkmal
[16, 22]. Bei dieser (zumindest partiell
20
reversiblen) Alkoholenzephalopathie lässt
sich häufig im Längsschnittverlauf parallel zur klinisch-neuropsychologischen
Besserung unter Abstinenzbedingungen
auch neuroradiologisch eine Rückbildung der Hirntrophie beobachten. Die
pathophysiologische Erklärung hierfür
liegt wahrscheinlich nicht, wie früher
vermutet, in Verschiebungen im Flüssigkeitshaushalt, sondern in einer reversiblen Rarifizierung der Dendritenbäume [22].
Ausgeprägte kognitive Defizite bei Alkoholabhängigkeit weisen eine hohe Korrelation mit körperlichen Alkoholfolgekrankheiten auf, die ebenfalls ursächlich
oder zumindest modifizierend von Bedeutung sind [10].
Zwischen Alkoholkonsum und (Alzheimer-) Demenzrisiko besteht offenbar
ein U-förmiger Zusammenhang: das niedrigste Risiko weisen Menschen mit ei-
nem leichten bis mäßigen Alkoholkonsum, unabhängig von der Art des Alkohols, auf. Abstinenz ist statistisch mit einem erhöhten Risiko assoziiert, ein noch
höheres ist mit starkem Alkoholkonsum
verbunden [2, 20], wobei dem Apolipoprotein E4 Status möglicherweise modifizierende Bedeutung zukommt [2].
Diagnostik
Alkoholmissbrauch wird häufig übersehen oder fehldiagnostiziert, bei älteren
Menschen deutlich häufiger als bei jüngeren [24]. Ein wichtiger Grund dafür
liegt in der fehlenden Spezifität der
Symptome bzw. Folgeprobleme (Tab. 1),
die häufig dem „Alter an sich“ angelastet werden. Die vielfältigen körperlichen
Folgeerkrankungen werden leicht als eigenständige „Alters“-Krankheiten fehlinterpretiert, die zumindest mitverursa-
Tab. 1: Symptome
Mögliche Hinweise auf Alkoholmissbrauch oder -abhängigkeit im Alter
@ Sozialer Rückzug
@ Verlust von Antrieb und Interesse
@ Depressivität
@ Schlafstörungen
@ Nachlassen der geistigen Leistungskraft
@ Vernachlässigung der (Körper-) Hygiene
@ Gangunsicherheit/Stürze
@ Verletzungen/Blutergüsse
@ Häufige Inanspruchnahme von Notarzt/Notaufnahme
@ Magen-Darm-Probleme/Durchfall
@ Inkontinenz
@ Mangelernährung/Gewichtsverlust
@ Bluthochdruck
@ Hyperurikämie
@ instabiler Diabetes mellitus
Tab. 2: Fragebogen zur Diagnosestellung
Screening auf Alkoholmissbrauch oder -abhängigkeit (CAGE)
@ Haben Sie schon einmal das Gefühl gehabt, dass Sie Ihren Alkoholkonsum
verringern sollten? (Cut down)
@ Hat Sie schon einmal jemand durch Kritisieren Ihres Alkoholtrinkens ärgerlich
gemacht? (Annoyed)
@ Haben Sie schon einmal wegen Ihres Alkoholtrinkens ein schlechtes Gewissen
gehabt oder sich schuldig gefühlt? (Guilty)
@ Haben Sie schon einmal morgens als erstes Alkohol getrunken, um sich nervlich wieder ins Gleichgewicht zu bringen oder einen Kater loszuwerden?
(Eye opener)
GERIATRIE JOURNAL 4/06
P S Y C H I AT R I E : A L K O H O L I S M U S
chende Alkoholwirkung nicht einkal- le können aber auch ohne Delir auftrekuliert. Außerdem ist Sucht für die meis- ten.
ten alten Menschen ein peinliches TheEine Gefahr besteht darin, dass in der
ma. Wichtig ist deshalb vor allem das vielfältigen akuten Symptomatik eines
„Daran-Denken“.
schweren Alkoholentzuges eine gleichScreening-Fragebögen können die zeitig vorhandene Wernicke-EnzephaDiagnosestellung erleichtern, aber nicht lopathie übersehen wird – mit der Folallein herbeiführen [19]. Im Vergleich ge eines weitgehend irreversiblen Kormit umfangreichen Instrumenten er- sakoff-Syndroms. Deshalb sollte im
weist der kurze CAGE-Fragebogen als Alkolentzug immer eine Prophylaxe erbrauchbar [3, 12] (Tab. 2). Für alte Men- folgen. Die akute Wernicke-Enzephaloschen werden ergänzend die beiden fol- pathie ist gekennzeichnet durch schwegenden Fragen empfohlen:
re kognitiv-mnestische Defizite, ausgeprägte Ataxie – oft Stand- oder sogar
@ Haben Sie das Gefühl, dass Ihr Alkoholkonsum zugenommen hat, nach- Sitzataxie – sowie äußere Augenmusdem eine nahestehende Person ver- kelstörungen. Sie entwickelt sich innerstorben ist?
halb weniger Tage und ist häufig mit einem Delir verbunden.
@ Macht Alkohol Sie so müde, dass Sie
öfter einmal in Ihrem Stuhl einschlaDer Alkoholentzug dauert i.d.R. nur
fen? [1]
wenige Tage. Medikamentöse BehandAußerdem sollen die Konsumgewohn- lung der vegetativen Symptome: β-Bloheiten und -mengen detailliert erfragt cker, Clonidin, Carbamazepin, Clomewerden.
thiazol, BZD. Medikamentöse BehandLabor: Eine Erhöhung der Transami- lung der psychiatrischen Symptome:
nasen, insbesondere der γ-GT sowie ein Halluzinationen – zusätzlich hochpohyperchrom-megalotente
Neuroleptika
zytär verändertes rotes
(Haloperidol, RisperiDie vielfältigen
Blutbild sind häufige,
don); Unruhe: Clomekörperlichen Folgeaber nicht sehr spezifithiazol, Benzodiazepierkrankungen werden
sche Auffälligkeiten.
ne, ggf. Carbamazepin,
leicht als eigenständige an niederpotenten NeuSpezifischer ist die Erhöhung des carbohyroleptika ggf. Pipampe„Alters“-Krankheiten
dratdefizienten Transron, Melperon oder
fehlinterpretiert
ferrins (CDT), der
Prothipendyl. Keine
Stellenwert in der kliSubstanzen mit antinischen Routine, namentlich bei alten cholinergen oder erheblichen vegetatiPatienten, ist noch nicht abschließend ven Nebenwirkungen wie z.B. Levomegeklärt.
promazin! Bei allen Substanzen sind die
für alte Menschen häufiger zutreffenden UAW/Kontraindikationen zu beEntzug und Entzugsbehandlung
achten! Die Anwendung von standardiDas Alkoholentzugssyndrom ist durch sierten Schemata, die sich an vegetativegetative Symptome (Puls und Blut- ven Parametern orientieren, ist im Alter
druckerhöhung, Schwitzen usw.) ge- problematisch, da häufig ohnehin karkennzeichnet, die psychischen Sympto- diovaskuläre Erkrankungen vorliegen.
me ähneln den „minor symptoms“ beim Wichtig ist die Allgemeinbehandlung
Entzug von Benzodiazepinen (BZD). (Flüssigkeitszufuhr, Elektrolyte, GlukoDas Entzugsdelir stellt einen Spezialfall sestoffwechsel usw.). Zur Behandlung
des Delirs dar; charakteristisch sind ne- (bzw. bei gefährdeten Patienten zur Proben den allgemeinen Symptomen opti- phylaxe) von Entzugskrampfanfällen ist
sche Halluzinationen von (kleinen) be- Valproat dem Carbamazepin wegen der
wegten Objekten und eine ausgeprägte besseren Verträglichkeit vorzuziehen.
Suggestibilität. Das Alkoholentzugsde- Zur Prophylaxe einer Wernicke-Enzelir wird nicht selten von einem Krampf- phalopathie sollte im Alkoholentzug
anfall eingeleitet, Entzugskrampfanfäl- stets Thiamin (bzw. wegen besserer ReGERIATRIE JOURNAL 4/06
sorbierbarkeit Benfotiamin) oral gegeben
werden. Wenn hingegen eine WernickeEnzephalopathie sicher vorliegt oder
wahrscheinlich ist, muss unverzüglich
Thiamin für mehrere Tage hochdosiert
(100-200 mg/d) i. v. verabreicht werden;
die gleichzeitige Infusion von Glukose
ist zu vermeiden, da der Thiaminumsatz
hierdurch erhöht wird.
Nach der Entgiftung –
die weitere Therapie
Suchtkrankheiten sind chronische
Krankheiten mit häufigen Rückfällen
und oft deprimierenden Verläufen – man
sollte also keine überzogenen Erwartungen hegen. Gleichwohl sind erfolgreiche
Behandlungen möglich. Bei Verdacht
auf ein Suchtproblem werden heute sog.
Früh- bzw. Minimalinterventionen propagiert, d.h. ein aufklärendes ärztliches
Gespräch. Hiernach ist ein Teil der Betroffenen in der Lage, eigenständig den
Konsum zu reduzieren oder sogar ganz
zu beenden [12].
Bei Alkoholmissbrauch bzw. -abhängigkeit erweist sich Abstinenz oft als zumindest kurz- und mittelfristig nicht erreichbares Ziel. Unerreichbare Ziele aber
erzeugen Frustration bei Patienten und
Therapeuten. Realistische, erreichbare
Ziele führen bei den Patienten zu einer
Zunahme des Selbstvertrauens und der
Überzeugung, dass sie in der Lage sind,
Kontrolle über die Situation zu gewinnen und zu behalten.
In einer Hierarchie der Therapieziele
geht es zunächst um die Sicherung des
Überlebens. Diese Aufgabe bildet gewissermaßen den Sockel einer Pyramide, erst auf dieser Basis können weitere
Therapieziele aufbauen: Zunächst geht
es um die Sicherung des „möglichst guten Überlebens”, d.h. um die Verhinderung von schweren körperlichen Folgeschäden und sozialer Desintegration
(„harm reduction“). Es folgt das Ziel der
Reduzierung der Trinkmenge und der
Trinkexzesse und der Verlängerung der
alkoholfreien Perioden (Konsumstabilisierung). Erst jetzt kommt über Einsicht
in die Grunderkrankung – wozu die konstruktive Bearbeitung von Rückfällen gehört – die Akzeptanz des Ziels dauer-
21
P S Y C H I AT R I E : A L K O H O L I S M U S
hafter Abstinenz durch den Patienten. angebote (mit entsprechenden ModiDie dauerhafte Abstinenz selbst bildet fikationen des psychotherapeutischen
immer noch nicht die Spitze der Pyra- Vorgehens) sind einem altersgemischten
mide; sie ist nicht Ziel an sich, vielmehr Setting überlegen [4, 11], die Behandsteht am Ende das eigentliche Therapie- lungsergebnisse bei älteren Suchtpatienziel der möglichst autonoten insgesamt tendenziell
Wichtig ist vor
men Lebensgestaltung und
besser als bei jüngeren, bei
-bewältigung in Zufrieden„late onset“ Alkoholikern
allem das
heit.
deutlich besser [12, 16, 23].
„Daran-Denken“
Die untersten Stufen dieSeit die Suchtmedizin erser Pyramide – die Sichekannt hat, dass mit dem rirung des Überlebens bzw. die Sicherung gorosen Abstinenzparadigma und den
des möglichst gesunden Überlebens – überkommenen Versorgungsstrukturen
spielen im Alter eine geringere Rolle. Sie (stationäre Entgiftung und stationäre
sind aber keinesfalls völlig bedeutungs- Entwöhnung in gemeindefernen Fachlos, denn auch bei alten Menschen kom- kliniken) nur ein kleiner Teil der Pamen schwere Intoxikationszustände mit tienten erreicht wurde, hat ein Umdenvitaler Gefährdung vor.
ken „von der Behandlungskette zum BeBei Alkoholabhängigen werden mit handlungsnetz“ eingesetzt. Flexible und
mäßigem Erfolg die „Anticraving“- Me- gemeindenahe Angebote sind dabei von
dikamente Naltrexon und Acamprosat großer Bedeutung; dies gilt insbesondezur Rezidivprophylaxe eingesetzt. Vor al- re für alte Menschen mit häufig eingelem in den ersten 6-12 Monaten nach ei- schränkter Mobilität. Bisher verschliener stationären Entwöhnungsbehand- ßen sich die meisten Sucht-Facheinrichlung wird das Rückfallrisiko vermindert tungen noch alten Menschen gegenüber,
[12]. Für die Behandlung alter Men- so dass einige wenige Fachkliniken mit
schen liegen keine gesicherten Daten vor. spezialisierten Programmen, die GeronDie lange Zeit wenige beachtete Aver- topsychiatrie und die Hausärzte die Besionsbehandlung mit Disulfiram erlebt handlung übernehmen müssen.
eine gewisse Renaissance; auch hier gibt
es aber keine wegweisenden Erfahrungen Literatur:
1. AMA – American Medical Association (Council on
mit der Anwendung im Alter.
Scientific Affairs) (1996): Alcoholism in the
Entwöhnungstherapie ist ein längerElderly. JAMA 275: 797-801
2. Anttila T, Helkala E-L, Viitanen M, Kåreholt I,
fristiger Prozess. Voraussetzung ist eine
Fratiglioni L, Winblad B, Soininen H, Tuomilehto J,
vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung,
Nissinen A, Kivipelto M (2004): Alcohol drinking
die Umgebung (Angehörige) sollte imin middle age and subsequent risk of mild cognitive impairment and dementia in old age: a
mer einbezogen werden. Auf dieser
prospective population based study. BMJ 329:
Grundlage kann der Patient überhaupt
539-542
erst die Motivation zur weiteren Aus3. Beullens J, Aertgeerts B (2004): Screening for
alcohol abuse and dependence in older people
einandersetzung mit seinem Suchtprousing DSM criteria: a review. Aging Ment Health
blem entwickeln („motivierende“, d.h.
8: 76-82
4. Dupree LW, Broskowski H, Schonfeld L (1984): The
nicht konfrontierende Gesprächsführung
Gerontology Alcohol Project: A Behavioral Treat[14]). Die weiteren Therapieziele werden
ment Program for Elderly Alcohol Abusers. Geronvon Patient und Therapeut gemeinsam
tologist 24: 511-516
5. Feuerlein W, Küfner H, Soyka M (1998): Alkohoformuliert; es geht um Ziele, für die es
lismus – Mißbrauch und Abhängigkeit. Stuttgart:
sich aus Sicht des Patienten lohnt, den
Thieme. 5. Aufl.
Suchtmittelkonsum weiter einzuschrän6. Gastpar M, Mann K, Rommelspacher H (Hrsg.):
(1999): Lehrbuch der Suchterkrankungen. Stuttken. Sie sollten individuell, konkret, umgart: Thieme
schrieben und lebensnah sein, der Pa7. Havemann-Reinecke U, Weyerer S, Fleischmann H
(Hrsg.) (1998): Alkohol und Medikamente, Mißtient muss einen Sinn darin erkennen
brauch und Abhängigkeit im Alter. Freiburg.
können (z.B. den Enkelkindern SpielLambertus
kamerad und Vorbild sein können). Al8. Helzer JE, Burnam A, McEvoy LT (1991): Alcohol
Abuse and Dependence. In: Psychiatric Disorders
tersspezifische Problemkonstellationen
in America: The Epidemiological Catchment Area
besitzen dabei eine herausragende BeStudy. Ed. By Robins LN, Regier DA. New York: the
Free Press. 81-115
deutung. Altersspezifische Behandlungs-
22
9. Johnson I (2000): Alcohol problems in old age:
a review of recent epidemiological research. Int J
Geriatr Psychiatry 15: 575-581
10. Kasahara H, Krasawa A, Ariyasu T, Thukahara T,
Satou J, Ushijima S (1996): Alcohol Dementia and
Alcohol Delirium in Aged Alcoholics. Psychiatr
Clin Neurosci 50: 115-123
11. Kofoed, LL, Tolson RL, Atkinson RM, Toth, RL,
Turner JA (1987): Treatment Compliance of
Older Alcoholics: An Elder-Specific Approach is
Superior to „Mainstreaming“. J Stud Alcohol 48:
47-51
12. Mann K, Mundle G, Heinz A (2002): Alkoholismus
und Alkoholfolgekrankheiten. In: Lehrbuch der
Gerontopsychiatrie und -psychotherapie. Hrsg. v.
Förstl H. Stuttgart: Thieme. 2. Aufl. 516-524
13. Michna E, Ross EL, Hynes WL, Nedeljkovic SS,
Soumekh S, janfaza D, Palombi D, Jamson RN
(2004): Predicting aberrant drug behavior in
patients treatment for chronic pain: impoartance
of abuse history. J Pain Symptom Manage 28:
250-258
14. Miller WR, Rollnick CS (1999): Motivierende
Gesprächsführung. Freiburg: Lambertus
15. Moos RH, Schutte K, Brennan P, Moos BS (2004):
Ten-year patterns of alcohol consumptionand
drinking problems among older women and men.
Addiction 99:829-838
16. Oslin D, Atkinson RM, Smith DM, Hendrie H
(1998): Alcohol related dementia: proposed
clinical criteria. Int J Geriatr Psychiatry 13: 203212
17. Oslin DW, Cary MS (2003): Alcohol-Related
Dementia. Validation of Diagnostic Criteria. Am J
Geriatr Psychiatry 11: 441-447
18. Oslin D, Pettinati H, Volpicelli J (2002): Alcoholism treatment adherence: older age predicts
better adherence and drinking outcome. Am J
Geriatr Psychiatry 10: 740-749
19. Reid MC, Anderson PA (1997): Geriatric Substance
Use Disorders. Med Clin North Am 81: 999-1016
20. Ruitenberg A, van Swieten JC, Wittemann JCM,
Mehta KM, van Duijn CM, Hofman A, Breteler
MMB (2002): Alcohol consumption and risk of
dementia: the Rotterdam study. Lancet 359: 281286
21. Sattar SP, Petty F, Burke WJ (2003): Diagnosis and
treatment of alcohol dependence in older alcoholics. Clin Geriatr Med 19(4):743-761
22. Schmidtke K (2002): Alkoholinduzierte kognitive
Defizite. In: Demenzen. Grundlagen und Klinik.
Hrsg. v. Beyreuther K, Einhäupl KM, Förstl H,
Kurz A. Stuttgart: Thieme. 354-364
23. Soeder M (1989): Abhängigkeit und Sucht. In:
Handbuch der Gerontologie, Bd. 5: Neurologie,
Psychiatrie. Hrsg.v. Platt D. Stuttgart, New York:
G. Fischer. 337-355
24. Trabert W (1998): Klinik der Alkoholabhängigkeit
im Alter. In: Havemann-Reinecke U, Weyerer S,
Fleischmann H (Hrsg.): Alkohol und Medikamente, Mißbrauch und Abhängigkeit im Alter. Freiburg. Lambertus. 97-105
25. Wetterling T, Veltrup C, John U, Driessen M
(2003): Late onset alcoholism. Eur Psychiatry 18
(3): 112-118
Dr. Dirk K. Wolter,
Chefarzt Gerontopsychiatrie,
Stellvertretender Ärztlicher Direktor,
Westfälische Klinik Münster,
Postfach 202 252,
48103 Münster
GERIATRIE JOURNAL 4/06
1. gemeinsamer Jahreskongress
der Deutschen Gesellschaft
für Geriatrie (DGG) und
der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und
Gerontologie (ÖGGG)
14. Jahreskongress der DGG und 46. Jahreskongress der ÖGGG
16.11. – 18.11. 2006 in Berlin
Alter ist Vielfalt
veranstaltungsort:
Maritim proArte Hotel Berlin
Friedrichstraße 151
10117 Berlin
In Zusammenarbeit mit der
Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG)
der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie
und -psychotherapie (DGGPP) und dem
Dachverband der Gerontologischen und Geriatrischen
Wissenschaftlichen Gesellschaften Deutschlands (DVGG)
1414
www.dggeriatrie.de
VORPROGRAMM
1. gemeinsamer Jahreskongress der
Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) und der
Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie (ÖGGG)
Allgemeines
Donnerstagabend, 16.11.2006
Festvortrag:
@ Prof. Dr. med. Roberto Bernabei, Rom
(Präsident der italienischen Gesellschaft für Geriatrie und
Gerontologie): "CGA or how to take internal medicine
away from us?"
Freitagabend, 17.11.2006
key-note lecture:
@ Prof. Dr. med. Rémy Meier, Liestal
(Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährungsmedizin): „Fasern und Bazillen anstatt Pillen“
(Prä- und Probiotika in der Geriatrie)
State of the art lectures (jeweils morgens von 08.15 - 09.00)
Freitag, 17.11.2006
Samstag, 18.11.2006
@ Dr. Daniel Grob, Zürich: Multidimensionales geriatrisches
@ Prof. Dr. Klie, Freiburg: Interdisziplinär abgestimmte Ver-
Assessment: Bedeutung für das geriatrische Weiterbildungscurriculum
@ Dr. Ann-Kathrin Meyer, Hamburg: Stand der Therapie des
Diabetes mellitus bei Betagten im Jahre 2006
sorgungsleitlinien in der stationären Pflege am Beispiel
des Qualitätsniveaus Mobilität und Sicherheit
@ Dr. Katharina Pils, Wien: Schach und Kartenspiel – eine
soziale Aktivität zur Demenzprävention
Satelliten-Symposien
Freitag, 17.11.2006 – 11.00 Uhr - 12.30 Uhr
@ Janssen-Cilag GmbH:
Demenz und Verhaltensstörungen
@ Hoffmann-La Roche AG:
Restless Legs Syndrom
@ Berlin-Chemie AG:
Herzinsuffizienz
Samstag, 18.11.2006 – 11.00 Uhr - 12.30 Uhr
@ Sanofi Pasteur MSD GmbH:
Vorbeugen statt behandeln – Impfen im Alter
@ CMA Centrale Marketing-Gesellschaft der Deutschen
Agrarwirtschaft mbH:
Mangelernährung im Alter durch frühzeitige Intervention
verhindern
@ Merz Pharmaceuticals GmbH:
Alzheimer-Therapie: vorhandene Möglichkeiten optimal
nutzen
@ Heel Biologische Heilmittel GmbH:
Homöopathie in der Altersmedizin am Beispiel „Gefässverjüngung mit Vertigoheel“
Blöcke 1-20
Block 1
Malnutrition – Metabolismus 1 – Freitag, 17.11.2006
Vorsitz: Steinhagen-Thiessen / Frühwald
(Mitorgansiation durch Bauer / Wirth)
@ Schindler, Wien: Nutrition Day in European Hospitals –
unzureichende Energieversorgung im Krankenhaus –
Mythos oder Realität
@ Frühwald, Wien: Erkenntnisseund Konsequenzen aus dem
Ernährungsassessment in einer Akutgeriatrie
@ Nitschke, Leipzig: Gerostomatologie (angefragt)
@ Lapin, Wien: Labordiagnostik der Mangelernährung im
Alter – Zwischen Erwartung und Wirklichkeit
Sieber,
Nürnberg: Allianz gegen Mangelernährung im Alter
@
@ Bauer, Nürnberg: Hormone, Appetitregulation und Ernährung im Alter
Block 2
Malnutrition – Metabolismus 2 – Freitag, 17.11.2006
Vorsitz: Nitschke / Wirth
(Mitorgansiation durch Bauer / Wirth)
@ Schulz, Berlin: Stabilisierung des Flüssigkeitshaushaltes
und parenterale Ernährung im Alter
@ Lenzen-Grossimlinghaus, Potsdam: Qualitätsmanagement in der Ernährungsmedizin
Volkert,
Erlangen: Die Ernährunfssituation in deutschen
@
Seniorenheimen – neue Daten
@ Pirlich, Berlin: Interventionen bei Malnutrition im Pflegeheimbereich (angefragt)
@ Benz, München: Zahnversorgung in Pflegeheimen
@ Wirth, Borkum: Die PEG in der Geriatrie – neue Daten
Block 3
Ernährung – Metabolismus 3 – Freitag, 17.11.2006
Vorsitz: Benz / Sieber
@ Pientka, Herne: Vorstellung der neuen DVO-Richtlinien
(angefragt)
@ Becker, Stuttgart: Vitamin D: Duale Wirkung auf Knochen
und Muskulatur (angefragt)
@ Lüttje, Osnabrück: Osteoporosetherapie aus EBM-Sicht
@ Nielsen, Hamburg: Diagnostik, Prävalenz und Therapie
von Eisenmangel im Alter
@ NN: Künstlicher Speichel
@ NN
ALTER IST VIELFALT
16.11.18.11.
2006
BERLIN
VORPROGRAMM
1. gemeinsamer Jahreskongress der
Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) und der
Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie (ÖGGG)
Block 4
Diabetes mellitus – Diagnostik und neue Therapieformen –
Samstag, 18.11.2006
Vorsitz: Egger / Meyer
(Mitorgansiation durch Meyer und Zeyfang)
@ Zeyfang, Stuttgart: Leitlinien der DGG und DGD
@ Walter, Nürnberg: Glukose-unabhängige Effekte von
oralen Antidiabetika
@ NN
@ NN
@ NN
@ NN
Block 5
Diabetes mellitus – Endorganschäden – Samstag, 18.11.2006
Vorsitz: Meisel / Zeyfang
(Mitorgansiation durch Meyer und Zeyfang)
@ Egger, Wien: Spätfolgen des Diabetes mellitus – overview
@ Meisel, Dessau: PAVK
@ Mitarbeiterin Meisel, Dessau: Mikroangiopathie (angefragt)
@ Benvenuti-Falger, Zirl: Alternsassoziierte Funktionseinschränkung bei älteren Diabetiker – Ergebnisse einer
Querschnittsuntersuchung
@ NN
@ NN
Block 6
Demenz – Freitag, 17.11.2006
Vorsitz: Böhmer / Füsgen
@ Füsgen, Wuppertal: Versorgungsproblematik bei Demenz
@ Böhmer, Wien: Somatische Begleiterkrankungen der
Demenz
@ Fruhwürth, Eisenstadt: Demenz und Lebensqualität
@ Gutzmann, Berlin: Depression und Demenz
@ Sieb, Stralsund: M. Parkinson und Demenz
@ Myllymäki-Neuhoff, Nürnberg: Neue Wohnformen bei
Demenz
Block 7
Schlaganfall 1 – Freitag, 17.11.2006
Vorsitz: Fruhwürth / Kuipers
(Mitorgansiation durch Kolb/Kuipers)
@ Leischker, Lingen: Ernährung bei Schlaganfall – Literaturübersicht
@ Heppner, Nürnberg: Pneumonien bei Schlaganfall – rationelle Therapie – Literaturübersicht (vorgeschlagen)
@ Jaeger: Schluckstörungen bei Schlaganfall – Literaturübersicht (vorgeschlagen)
@ Kapeller, Villach: Magnetresonanzuntersuchungen beim
geriatrischen Insultpatienten
@ Vieregge, AG Neurologie: (angefragt)
@ Vieregge, AG Neurologie: (angefragt)
Block 8
Schlaganfall 2 – Freitag, 17.11.2006
Vorsitz: Kolb / Neubarth
(Mitorgansiation durch Kolb/Kuipers)
@ Kuipers/Albers, Lingen: Frühkomplikationen auf der
Stroke unit
@ Hardt, Mainz: Geriatrische Schlaganfalleinheit in Mainz –
erste Ergebnisse
@ Neubart, Woltersdorf: Leitlinien Schlaganfall der DGG
(angefragt)
@ NN
@ NN
@ NN
Block 9
"The future is now" – Nachwuchsförderung 1
(BOSCH-Forschungskolleg Geriatrie) – Freitag, 17.11.2006
Vorsitz: Nikolaus / NN
@ Thiem, Herne: Determinanten ambulanter Arztbesuche
bei Patienten mit Kniebeschwerden
@ Mentoren wurden angefragt
@ Mentoren wurden angefragt
@ Mentoren wurden angefragt
@ Mentoren wurden angefragt
@ Mentoren wurden angefragt
Block 10
"The future is now" – Nachwuchsförderung 2
(Young Geriatricians of Europe) – Freitag, 17.11.2006
Vorsitz: Gross / Leischker
(Mitorgansiation Gross / Leischker)
@ Gross, Darmstadt: NN
@ Leischker, Lingen: NN
@ Landi, Rom: ADHOC project (in Italy)
@ Saltvedt, Stockholm: NN
@ NN
@ NN
Block 11
Herz-Kreislauf
Vorsitz: Gosch / Hardt
@ Lechner, Villach: Differentialtherapie der Hypertonie
@ Pinter, Klagenfurt: Stress – Depression – Herzinsuffizienz:
Komplexe Zusammenhänge bei mehrdimensional
erkrankten Menschen
@ Hardt, Mainz: Klappenprobleme beim Betagten (angefragt)
@ Gosch, Rosenheim: Stellenwert der Physiotherapie bei
herzinsuffizienten Patienten
@ Nikolaus, Ulm: Spezifika der Herzinsuffizienz beim
Betagten
@ NN
Block 12
Notfall- und Intensivmedizin
Vorsitz: Heppner / Langner
(Mitorgansiation durch Heppner / Langner)
@ Heppner, Nürnberg: NN
@ NN
@ NN
@ NN
@ NN
@ NN
Block 13
Urin- und Stuhlinkontinenz
Vorsitz: Füsgen / Pfisterer
@ Pfisterer, Heidelberg: Leitlinien Urininkontinenz
@ Füsgen, Wuppertal: Neuigkeiten 2006 zum Thema Urininkontinenz
ALTER IST VIELFALT
16.11.18.11.
2006
BERLIN
VORPROGRAMM
1. gemeinsamer Jahreskongress der
Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) und der
Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie (ÖGGG)
@ Gruss, Witten-Herdecke: Neuigkeiten 2006 zum Thema
Stuhlinkontinenz (angefragt)
@ Welz-Barth, Wuppertal: Inkontinenz bei dementen Heimbewohnern
@ Mühlich, Bamberg: Die Therapie der überaktiven Blase –
typische Fallbeispiele aus der urologischen Praxis
@ NN
Block 14
Geriatrisches Assessment – was taugt (es) wirklich? –
Freitag, 17.11.2006
Vorsitz: Höltmann / Pils
@ Trögner, Nürnberg: Qualitätssicherung in der geriatrischen Rehabilitation
@ Leischker, Lingen: Geriatrisches Assessment in der Onkologie
@ Mann, Rankweil: Standardisiertes Assessment für ältere
Menschen in der Hausarztpraxis
@ Gisinger, Wien: Vorstellung und Ergebnisse eines Messinstrumentes zur Einschätzung der medizinischen Betreuungsintensität in Geriatrischen Langzeiteinrichtungen
@ Mrak und Frank, Hörgas: Benchmarking AGR/Rehabilitation – Steirische Stichtagerhebung
@ NN
Block 15
Was ist palliative Geriatrie? – Freitag, 17.11.2006
Vorsitz: Klaschik / Kolb
(Mitorganisation durch Pfisterer)
@ Sandgathe-Husebo, Bergen: NN
@ Pfisterer, Heidelberg: Kurs in Palliativmedizin der DGG
@ Grafinger, Wien: Palliativmedizin und Geriatrie
@ NN
@ NN
@ NN
Block 16
Pharmakotherapie
Vorsitz: Mühlberg / v. Renteln-Kruse
(Mitorgansiation v. Renteln Kruse/Mühlberg)
@ v. Renteln-Kruse, Hamburg: NN
@ Mühlberg, Frankfurt: NN
@ Anditsch, Wien: Medikamentencocktails im Alter – Gefahr
von Interaktionen
@ Anders, Hamburg: NN
@ Dragonas, Nürnberg: Genpolymorphismus und Digitoxinintoxikationen
@ NN
Block 17
Strukturelle Rahmenbedingungen für die Geriatrie
(in Memoriam Robert Heinrich) – Samstag, 18.11.2006
Vorsitz: Lüttje / Schmidl
@ Lüttje, Osnabrück: Wo steht Deutschland in der geriatrischen Aus-, Fort- und Weiterbildung im europäischen
Vergleich
@ Meisel, Dessau: Schwerpunktstitel Geriatrie in Deutschland – gelebte Realität
@ Schramm, Bayreuth: GiB-DAT und der bayerische Weg
@ Van den Heuvel; Berlin: BAG – Stellung und Aufgaben im
deutschen geriatrischen Netzwerk
@ Schmidl, Wien: Geriatrische Strukturen in Wien – Gesundheitsplanung
@ Dovjak, Gmunden: Positionierung des geriatrischen
Patienten im Krankenhaus
Block 18
Geriatrie und Pflege – Samstag, 18.11.2006
Vorsitz: Klie / Thiesemann
(Mitorganisation durch Thiesemann)
@ Gerber, München: Erkenntnisse zu einem alternativen
Begutachtungsverfahren zur Pflegebegutachtung
@ Wagener, Köln: Zukünftige Herausforderungen bei der
Weiterentwicklung der Pflegeversicherung im Bereich
der PPV
@ Kieslich, Starnberg: Einbahnstrasse Pflegeheim – umkehrbar!? – Rückkehrquote von bis zu 70% der Heimbewohner in die eigene Häuslichkeit – erste Ergebnisse
einer stiftungsbasierten Studie
@ Bartelmes, Mainz: Osteuropäische Hilfskräfte in der
Pflege – Schwarzmarktarbeit oder Ergänzung des Dienstleistungsangebotes?
Thiesemann,
Bad Neuenahr: Osteuropäische Hilfskräfte
@
in der Pflege aus Sicht der klinischen Geriatrie und der
Pflegeversicherungsbegutachtung
@ Hotze, Osnabrück: Kompetenzförderung pflegender
Angehöriger und Patienten in der nachstationären Versorgungssituation
Block 19
Geriatrische Onkologie
Vorsitz: Kolb / NN
(durch Kolb organisiert)
@ NN
@ NN
@ NN
@ NN
@ NN
@ NN
Block 20
Varia 2 – Samstag, 18.11.2006
Vorsitz: Pinter / Oswald
@ NN
@ NN
@ NN
@ NN
@ NN
@ NN
Kongressorganisation:
gerikomm Media GmbH
Der Verlag der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie
Kampstr. 7
30629 Hannover
Telefon: 05 11 / 58 15 84
Telefax: 05 11 / 58 32 84
Email: [email protected]
www.dggeriatrie.de
www.gerikomm.de
ALTER IST VIELFALT
16.11.18.11.
2006
BERLIN
P S Y C H I AT R I E : J U R I S T I S C H E A S P E K T E
Geschäfts- und Einwilligungsfähigkeit in der Geriatrie
Lutz M. Drach, Schwerin
Im Zuge der demografischen Entwicklung werden sich geriatrisch
tätige Ärzte zunehmend mit Fragen der rechtlichen Einwilligungsfähigkeit oder Geschäftsfähigkeit ihrer Patienten befassen müssen. Zwei Fallbeispiele beleuchten die Problematik bei geschäfts- und einwilligungsunfähigen Patienten in der Geriatrie und geben eine Anleitung für eine
fundierte ärztliche Stellungnahme.
D
Fallbeispiel Geschäftsunfähigkeit
Eine 87jährige, bisher alleine lebende
Patientin erleidet einen akuten Verwirrtheitszustand und wird ins Krankenhaus aufgenommen. Fremdanamnestisch ergeben sich keine Hinweise
auf eine vorbestehende Demenz oder eine andere frühere psychiatrische Erkrankung.
Als Ursache des Verwirrtheitszustandes finden sich Pneumonie und Exsikkose. Unter einer antibiotischen Behandlung und Flüssigkeitszufuhr klingen Halluzinationen und Agitiertheit in
wenigen Tagen ab. Es bestehen aber noch
erhebliche Auffassungs-, GedächtnisGERIATRIE JOURNAL 4/06
Rechtliche Grundlagen
Geschäftsfähigkeit
Foto: htuller - Fotolia
urch die zunehmende Verrechtlichung des Verhältnisses von
Arzt und Patient treten insbesondere bei alten und psychisch kranken
Patienten immer häufiger Probleme der
Einwilligungsfähigkeit auf. Auch wird
der geriatrisch tätige Arzt gelegentlich als
sachverständiger Zeuge oder Sachverständiger bei Gericht zu der Frage Stellung nehmen müssen, ob ein Patient bezüglich eines geplanten oder erfolgten
Eingriffs einwilligungsfähig ist oder war.
Im Rahmen von zivilrechtlichen Auseinandersetzungen werden mit der demographischen Entwicklung zunehmend die behandelnden Ärzte zu Fragen
der Geschäftsfähigkeit ihrer Patienten
Stellung nehmen müssen.
der Sohn ein Haus der Patientin an einen seiner Geschäftspartner. Einige Monate nach Entlassung stirbt die Patientin. Es kommt im Rahmen von Erbstreitigkeiten zu einem Prozess, der die
Geschäftsunfähigkeit der Patientin zu
Zeitpunkt der Beurkundung der Generalvollmacht zum Gegenstand hat. Die
behandelnden Ärzte werden als sachverständige Zeugen geladen.
Geschäftsunfähigkeit hat die krankhafte
Störung der Geistestätigkeit zur Voraussetzung.
und Konzentrationsstörungen. Zur
rechtlichen Absicherung von Fixierungsmaßnahmen war die Tochter der
Patientin vom Amtsgericht im Eilverfahren zur vorläufigen gesetzlichen Betreuerin mit den Aufgabenkreisen Gesundheitssorge und Zustimmung zu
Unterbringung und unterbringungsähnlichen Maßnahmen bestellt worden.
Ein Sohn bringt einen Notar mit auf
die Station, der eine Generalvollmacht
beurkundet. Der Notar erkundigt sich
weder vor noch nach der Beurkundung
bei den Ärzten der Station nach dem
Gesundheitszustand der Patientin.
Mittels der Generalvollmacht verkauft
Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) billigt jedem Volljährigen Geschäftsfähigkeit zu. Dies geschieht unter der Annahme, dass ein Mindestmaß an Urteilsvermögen und intellektuellen
Fähigkeiten vorhanden ist, unabhängig
ob davon auch zweckentsprechender
Gebrauch gemacht wird. Deshalb ist
Geschäftsunfähigkeit die Fragestellung,
mit der der Arzt als Sachverständiger
oder sachverständiger Zeuge konfrontiert ist.
Das Vorliegen von Geschäftsunfähigkeit muss bewiesen werden. Ist der dafür notwendige hohe Grad von Wahrscheinlichkeit nicht zu erreichen, ist das
strittige Rechtsgeschäft wirksam. Nach
§ 104 BGB ist geschäftsunfähig:
@ wer nicht das 7. Lebensjahr vollendet
hat,
@ wer sich in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustande
krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist.
Die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen ist nach § 105 BGB nichtig.
Im selben Paragraphen werden auch die
Fälle von strittigen Willenserklärungen
geregelt, bei denen vorübergehende Stö-
27
P S Y C H I AT R I E : J U R I S T I S C H E A S P E K T E
rung der Geistestätigkeit bestanden ha- disch oder schubweise auftretenden psy- Rechtliche Würdigung des
ben. Die Formulierung „Nichtig ist auch chischen Erkrankungen wie z.B. bipola- Fallbeispiels Geschäftsunfähigkeit
die Willenserklärung, die im Zustande rer Störung (manisch-depressive Erkrander Bewusstlosigkeit
kung) oder rezidivieren- Im unserem Fallbeispiel bestand zum
oder vorübergehender
der Depression besteht Zeitpunkt der Beurkundung mit SiBei der GeschäftsunStörung der Geistestäin den gesunden Zeiten cherheit eine krankhafte Störung der
fähigkeit muss die
Geistestätigkeit (abklingendes Delir bei
tigkeit abgegeben wird“
Geschäftsfähigkeit.
krankhafte Störung
hat auf ärztlicher Seite
Beschränkt geschäfts- Pneumonie), die nach den ärztlichen
der Geistestätigkeit
schon zu viel Verwunfähig (§ 106 BGB) sind und pflegerischen Aufzeichnungen am
derung geführt. Mit
Kinder zwischen dem Tage der Beurkundung noch mit erdie freie Willens„Bewusstlosigkeit“ im
vollendeten 7. bis zur heblichen Störungen der Vigilanz, der
bildung ausschließen
Sinne des BGB ist aber
Vollendung des 18. Le- Konzentration, der Auffassung und des
nicht der medizinische
bensjahres. Ein Volljäh- Gedächtnisses einherging. Dadurch war
Begriff, sondern eine Bewusstseinsstö- riger ist mit einer Ausnahme (s.u.) ent- die Patientin krankheitsbedingt nicht in
rung z.B. infolge eines Delirs oder eines weder geschäftsfähig oder geschäfts- der Lage, den Ausführungen des Notars
Rausches gemeint.
unfähig. Allerdings kann sich die zu einer vierseitigen (!) Generalvollmacht
Die Geschäftsunfähigkeit hat die Geschäftsunfähigkeit bei psychischen zu Gunsten ihres Sohnes zu folgen und
krankhafte Störung der Geistestätigkeit Erkrankungen nur auf einen bestimm- die Konsequenzen ihrer Willenserkläzur Voraussetzung. Dies ist unabhängig ten gegenständlich abgegrenzten Kreis rung zu überblicken. Damit war auch das
von der Ursache der Störung und um- von Angelegenheiten beschränken. Die Kriterium eines Ausschlusses der freien
fasst alle Fälle, in denen infolge einer psy- psychische Krankheit äußert sich dabei Willensbestimmung gegeben. Allerdings
chischen Krankheit, abnormen seeli- nur bei bestimmten Vorgängen oder in handelte es sich ja bei dem Delir der Paschen Veranlagung, geistigen Behinde- einem bestimmten Lebensbereich z.B. tientin um eine vorübergehende und
rung, Suchtkrankheit oder anderen bei einer Wahnerkrankung, wenn das nicht eine andauernde Störung der GeiHirnschädigung das Urteilsvermögen Wahnthema betroffen ist. Man spricht stestätigkeit, da keine Hinweise auf eiund die Willensbildung so sehr gestört dann von partieller Geschäftsunfähig- ne vorbestehende Demenz oder andere
psychische Erkrankung bestanden und
sind, das mit einer normalen Motivation keit.
und Urteilsfindung nicht gerechnet werMit der Einrichtung einer gesetzlichen das Delir nach den Aufzeichnungen des
den kann.
Betreuung ist nicht mehr die konstitu- Hausarztes innerhalb einiger Wochen
Nach dem Gesetzestext muss die tive Feststellung der Geschäftsunfähig- nach Entlassung vollständig abgeklunkrankhafte Störung der Geistestätigkeit keit verbunden, wie es vor 1992 beim gen war. Somit war die Nichtigkeit der
Generalvollmacht nicht
die freie Willensbildung ausschließen. Rechtsinstitut der Entdurch GeschäftsunfäDies ist nach Gebauer der Fall, wenn der mündigung der Fall geEinwilligungsfähighigkeit nach § 104 (2)
Erklärende nicht mehr die Fähigkeit be- wesen war. Deshalb ist
keit meint die FähigBGB, sondern durch die
sitzt, die Bedeutung einer abgegebenen auch beim Betreuten
keit des Patienten,
Abgabe einer WillenserWillenserklärung zu erkennen und nach rechtlich zunächst von
rechtsgültig in
klärung im Zustand der
dieser Einsicht zu handeln. Reichsge- Geschäftsfähigkeit aus„Bewusstlosigkeit“ (Bericht (RG) und Bundesgerichtshof zugehen. Dies gilt inseinen medizinischen
wusstseinsstörung durch
(BGH) sahen als Kriterium, wenn der Be- besondere für Patienten
Eingriff einzuwilligen
das Delir) und vorübertroffene nicht mehr in der Lage ist, sei- mit funktionellen psygehender Störung der
ne Entscheidungen von vernünftigen Er- chiatrischen Erkranwägungen abhängig zu machen. Da auch kungen wie Depressionen oder Wahn- Geistestätigkeit nach § 105 (2) BGB beim normalen Rechtsverkehr Menschen erkrankungen, dagegen sind Patienten gründet. Die Tatsache, dass ein Notar die
häufig unvernünftig handeln oder Kon- mit fortgeschrittenen Demenzen ge- Generalvollmacht beurkundet hatte, besequenzen nicht bedenken, reicht das schäftsunfähig. Letzteres muss aber für gründet ebenso wenig ihre Gültigkeit,
Unvermögen, die Tragweite einer abge- das strittige Rechtsgeschäft bewiesen wie die bestehende gesetzliche Betreugebenen Erklärung zu erfassen, nicht aus werden, was bei bekannter Demenz und ung per se eine Geschäftsunfähigkeit be(BGH). Auch bloße Willensschwäche ausreichenden fremdanamnestischen deutet.
oder leichte Beeinflussbarkeit reichen Angaben zum Verlauf nicht schwer fällt,
nicht aus, wohl aber wenn sich jemand bei unzureichenden Informationen aber
Fallbeispiel
in krankhafter Weise von dem Willen schwierig sein kann. Die Anordnung eieines anderen beherrschen lässt (RG).
nes Einwilligungsvorbehaltes zur Be- Einwilligungsfähigkeit
Es wird eine „überdauernde Erkran- treuung (§ 1903 (2) BGB) stellt den Be- Ein 75jähriger grenzbegabter Patient
kung“ vorausgesetzt, wobei es auf deren treuten wie einen beschränkt Ge- (IQ 76), der mit Mühe den Abschluss
der 4. Klasse erreicht hat, Hilfsarbeiten
Heilbarkeit nicht ankommt! Bei perio- schäftsfähigen (s.o.).
28
GERIATRIE JOURNAL 4/06
P S Y C H I AT R I E : J U R I S T I S C H E A S P E K T E
in der Landwirtschaft verrichtete und
nach der Berentung zunehmend verwahrloste, hat bereits seit Jahren einen
gesetzlichen Betreuer (Berufsbetreuer)
mit allen Aufgabenkreisen. Da der Patient schon lebenslang panische Angst
vor Ärzten hat, waren größere Eingriffe (z.B. Sanierung des Gebisses in Narkose bei Kieferabszess) nur gegen den
Willen des Patienten möglich gewesen.
Ein ausgedehntes Basaliom der Nase erfordert eine mehrzeitige Operation zur
Exzision des Tumors und plastischen
Deckung. Der Patient lehnt den Eingriff
ab. Die behandelnden Ärzte werden vom
Vormundschaftsrichter um eine Stellungnahme zur Einwilligungsfähigkeit
des Patienten gebeten.
Rechtliche Grundlagen und Begutachtung der Einwilligungsfähigkeit
Die Einwilligungsfähigkeit stellt einen
Sonderfall der Geschäftsfähigkeit dar
und meint die Fähigkeit des Patienten,
rechtsgültig in einen medizinischen Eingriff einzuwilligen. Dabei gilt, dass sich
die Einwilligungsfähigkeit stets auf einen konkreten Sachverhalt bezieht und
keine globale Eigenschaft ist. Ein depressiver Patient kann so z.B. in eine
Zahnextraktion einwilligen, ist aber
gleichzeitig mit einer Entscheidung über
verschiedene Behandlungsalternativen
bei einem Tumorleiden völlig überfordert.
Bei diesem Beispiel wird deutlich, dass
es bei gleichem psychopathologischen
Befund auf die Komplexität und Tragweite der zu treffenden Entscheidung
ankommt. Es gibt keine eingeschränkte Einwilligungsfähigkeit, sondern bezüglich der konkreten medizinischen
Intervention besteht Einwilligungsfähigkeit oder nicht. Es kommen in der
Praxis drei Möglichkeiten vor:
1. Der Patient ist trotz einer psychischen
Krankheit oder Behinderung in der
Lage über den geplanten Eingriff
selbst zu entscheiden. Hier liegt Ein-
willigungsfähigkeit vor, selbst wenn
der Patient einen gesetzlichen Betreuer hat.
2. Der Patient besitzt keine Einwilligungsfähigkeit bezüglich des geplanten Eingriffs, und es muss
deshalb ein Betreuer bestellt werden,
der an Stelle des Patienten entscheidet.
3. Bei besonders risikoreichen medizinischen Eingriffen ist zusätzlich zur
Einwilligung des Betreuers die Zustimmung des Vormundschaftsgerichts einzuholen (§ 1904 BGB).
Hierbei wird die begründete Gefahr
des Todes oder eines schweren und
länger dauernden Schadens ab einer
Wahrscheinlichkeit von 20% gesehen [5].
Nach Helmchen [3] begründen die folgenden Merkmale Zweifel an der Einwilligungsfähigkeit:
1. Der Patient hat keine wirkliche Einsicht in die Natur seiner Situation
und seiner Krankheit.
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GERIATRIE JOURNAL 4/06
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P S Y C H I AT R I E : J U R I S T I S C H E A S P E K T E
2. Der Patient versteht die gegebene In- 1. Wie versteht der Patient seine konformation nicht.
krete Situation?
3. Der Patient verhält sich so, als kön- 2. Was hat er von der Aufklärung bene er eine Wahlmöglichkeit nicht nutzüglich des geplanten Eingriffs verzen.
standen?
4. Der Patient kann die verstandene Si- 3. Wie ordnet der Patient die Vorschlätuation nicht für eine realitätsbezoge der Ärzte in seine eigene Situation
gene, vernünftige und angemessene
ein?
Entscheidung nutzen.
4. Welche Schlüsse zieht er daraus?
5. Der Patient kann sich nicht authen- 5. Welche Konsequenzen seiner Enttisch selbst entscheiden, d.h. nicht
scheidung kann er benennen?
mehr in Übereinstimmung mit seinen 6. Welche Alternativen sieht er zu seieigenen „charaktergebundenen“ Werner Entscheidung und wie bewertet
ten, Zielen und Handlungen stehen.
er sie?
6. Der Patient kann seine Entscheidung Keine Zeichen von Einwilligungsfähignicht zum Ausdruck bringen.
keit sind Routineleistungen von KomAnalog zur Begutachtung der Ge- munikation und Handlungen, die nicht
schäftsunfähigkeit muss dann zunächst auf die spezifische Situation abgestimmt
das Vorliegen einer psychischen Er- werden müssen. Das bedeutet, dass das
krankung festgestellt werden. Falls dies Gespräch tiefer gehen muss, als die „Fasbejaht wird, muss in einem folgenden sade“ um die Einwilligungsfähigkeit beSchritt die Intaktheit vier komplexer urteilen zu können.
psychischer Funktionen überprüft werden [3]:
Rechtliche Würdigung des Fall1. Verständnis (des Sachverhaltes)
2. Verarbeitung (angemessene Verarbei- beispiels Einwilligungsunfähigkeit
Im Gespräch mit dem Arzt über den getung der gegeben Informationen)
3. Bewertung (angemessene Bewertung planten Eingriff, äußert der Patient stereotyp „Ich will nach Hause“. Er kann
der gegebenen Informationen)
infolge seiner angstbedingten Denk4. Bestimmbarkeit des Willens
Hierbei wird deutlich, dass die Beurtei- einengung dem Aufklärungsgespräch
lung der Einwilligungsfähigkeit ein län- nicht folgen. Der Versuch, ihm in an
geres Gespräch mit dem Patienten und seine einfache Struktur angepasster
Informationen über Biografie, Werte Form die Prognose eines unbehandelnden Basalioms zu verund religiöse ÜberzeuDie Beurteilung
mitteln, scheitert. Der
gungen erfordert. So
Patient kann nicht ankann die Ablehnung eider Einwilligungsgeben, was ohne den
ner Bluttransfusion z.B.
fähigkeit erfordert
Eingriff vermutlich mit
entweder auf einer panähere Informationen
ihm geschehen wird,
thologischen Angst vor
über Biografie, Werte
noch welcher Eingriff
AIDS bei einer schweren
geplant ist oder welche
hypochondrischen Deund religiöse
Gefahren durch den
pression beruhen oder
Überzeugungen
Eingriff drohen. Angstsie kann logische Konerfüllt äußert er auch in
sequenz einer gefestigten religiösen Überzeugung sein (Zeu- Anwesenheit des Betreuers und anderer
gen Jehovas). Im ersten Fall besteht Ein- vertrauter Personen immer wieder, dass
willigungsunfähigkeit, im zweiten ist der er nach Hause will. Da bei dem PaPatient einwilligungsfähig und kann die tienten in dieser konkreten Situation
geplante Transfusion (für die eigene Per- und für den geplanten Eingriff einerseits
son aber nicht für andere!) rechtsgültig infolge der Grenzbegabung, aber vorwiegend wegen der akuten Belastungsablehnen.
Nach Kröber [4] empfiehlt es sich, im reaktion (ICD-10: F43.0), offensichtGespräch mit dem Patienten die fol- lich keine Einwilligungsfähigkeit besteht, muss der Betreuer des Patienten
genden Punkte zu behandeln:
30
eine Entscheidung treffen. Da die Wahrscheinlichkeit des Todes oder eines
schweren und länger dauernden Schadens deutlich unter 20% liegt, kann
und muss der Betreuer die Entscheidung über den geplanten Eingriff selbst
treffen. Die Genehmigung des zuständigen Vormundschaftsgerichts ist nicht
erforderlich.
Zusammenfassung
Die Geschäftsunfähigkeit nach §§ 104,
105 BGB hat eine die freie Willensbestimmung ausschließende krankhafte
Störung der Geistestätigkeit zur Voraussetzung und betrifft – mit Ausnahme der seltenen beschränkten Geschäftsunfähigkeit bei psychotischen Patienten
– die allgemeine Fähigkeit rechtsgültige Willenserklärungen abzugeben. Dagegen bezieht sich die Einwilligungsunfähigkeit immer auf einen konkreten geplanten Eingriff und einen
umschriebenen Zeitpunkt. Das Bestehen einer gesetzlichen Betreuung bedeutet nicht zwingend Geschäfts- oder
Einwilligungsunfähigkeit, sondern ihr
Vorliegen muss gesondert überprüft
werden.
Literatur
1. Diederichsen U (2004): Zivilrecht: Juristische
Voraussetzungen. In: K Foerster (Hrsg) Psychiatrische Begutachtung. Ein praktisches Handbuch für
Ärzte und Juristen. Urban & Fischer, München
2. Foerster K (2004): Zivilrecht: Begutachtung bei
zivilrechtlichen Fragen. In: K Foerster (Hrsg)
Psychiatrische Begutachtung. Ein praktisches
Handbuch für Ärzte und Juristen. Urban & Fischer,
München
3. Helmchen H (1995): Kriterien und Konsequenzen
von Einwilligungsfähigkeit. In: R Töllner & U Wiesing (Hrsg) Wissen-Handeln-Ethik. Strukturen
ärztlichen Handelns und ihre ethische Relevanz.
Fischer, Stuttgart-Jena-New York
4. Kröber H-L (1998): Psychiatrische Kriterien zur
Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit. Rechtsmedizin 8: 41-46.
5. Wiebach K, Peters H, Wächter C, Kreyßig M,
Winterstein P (1997): Was ist „gefährlich“? Ärztliche und juristische Aspekte bei der Anwendung
des § 1904 BGB. Betreuungsrechtliche Praxis 2:
48-53.
Dr. med. Lutz M. Drach, Chefarzt
der Klinik für Alterspsychiatrie,
HELIOS-Kliniken Schwerin,
Carl-Friedrich-Flemming-Klinik,
Wismarsche Str. 393-397,
19049 Schwerin
GERIATRIE JOURNAL 4/06
D E R M AT O L O G I E : D E K U B I T U S
Dekubitus – Entstehung,
Prophylaxe und Versorgung
Kerstin Protz, Hamburg
Patienten mit eingeschränkter Mobilität können insbesondere in
den Körperbereichen, in denen die Knochen aufliegen, Dekubitalulzera
entwickeln. Der Artikel gibt Hinweise zu Risikofaktoren, Prophylaxe
und Behandlung.
D
ie Zeitspanne in der sich ein Dekubitus entwickelt, ist je nach
Patient individuell unterschiedlich lang. Als auslösende Faktoren gelten
neben der Zeit, die ein Patient, der sich
nicht selbständig ausreichend bewegt und
ohne Positionsveränderung bleibt, immer
Druck, Reibung und Scherkräfte. Besonders gefährdet sind immobile Patienten. Ein Dekubitus ist eine Schädigung
von Haut- und darunter liegendem Gewebe infolge einer andauernden Druckeinwirkung, die den arteriellen und venösen Blutfluss unterbricht.
Dekubitusentstehung
Sobald die Haut für längere Zeit einer
Druckeinwirkung ausgesetzt ist, verändert der menschliche Körper selbstständig die Position. Patienten, die beispielsweise im Koma, unter längerer Narkose
liegen oder eine Neuropathie haben, sind
besonders gefährdet, einen Dekubitus zu
entwickeln, weil dieser natürliche Reflex
bei ihnen nicht mehr greifen kann.
Die Komprimierung der Gefäße führt
zu einer Mangeldurchblutung des Gewebes bis hin zur Ischämie. Eine ausreichende Sauerstoffversorgung ist nicht
mehr gewährleistet. Zusätzlich lagern sich
saure Stoffwechselprodukte und Metabolite in den mangeldurchbluteten Gefäßen an. Die Ansammlung von solchen
Giftstoffen führt zu einer Azidose und einer dadurch ausgelösten Gefäßerweiterung, erkennbar durch eine verstärkte Rötung der Haut. Durch die aus dem Intravasalraum austretende Flüssigkeit kommt
GERIATRIE JOURNAL 4/06
es zur Ausbildung von Blasen und Ödemen. Die andauernde Hypoxie in Verbindung mit der bestehenden Ischämie
führt zum Absterben des Gewebes und
somit zur Ausbildung eines Dekubitus.
Dekubitusfördernde Faktoren und
Krankheitsbilder:
@ Erkrankungen wie z.B. pAVK, Stoffwechselerkrankungen insbesondere
Diabetes mellitus, Genuss- und Drogensucht, konsumierende Grunderkrankungen, Demenz, Frakturen, Polyneuropathie, neurologische Erkrankungen, psychische Erkrankungen
@ Bewegungseinschränkung bis zur Immobilität
@ Medikamente z.B. Sedativa (fördern
durch Ruhigstellung -> Bewegungseinschränkungen), Antibiotika (Förderung
von Resistenzen, Abwehrschwäche),
Diuretika (-> Elektrolytausschwemmung), Chemotherapeutika, Antikoagulantien
@ Blasenverweilkatheter
@ Ernährungs- und Flüssigkeitszustand
@ Hautzustand und Hautveränderungen
wie Allergien/Psoriasis/Neurodermitis
@ Hautfeuchtigkeit/Mazeration: Fieber,
Kontinenzsituation, Schwitzen
@ mangelndes Schmerzempfinden
@ langandauernde Narkosezeiten
@ Kontrakturen, Skelettdeformierungen,
Paresen
Zusammenfassend gelten als dekubitusauslösende Faktoren: Druck, Druckzeit,
Druckstelle, Motivation, Körperform,
Hautzustand und die Stoffwechselsituation.
Prophylaxe
Ein routinemäßiger Bestandteil der täglichen Pflege sind Prophylaxemaßnahmen
zur Dekubitusvorsorge. Der Pflegekraft
obliegt die Einschätzung des individuellen Dekubitusrisikos, um die notwendigen Maßnahmen einleiten zu können.
Zur Vereinheitlichung der Dekubitusprophylaxe wurde vom Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) ein Expertenstandard Dekubitusprophylaxe herausgegeben. Dieser
formuliert hierzu: „Die Pflegefachkraft beurteilt das Dekubitusrisiko aller Patienten/Betroffenen, bei denen die Gefährdung nicht ausgeschlossen werden kann,
unmittelbar zu Beginn des pflegerischen
Auftrages und danach in individuell festzulegenden Abständen sowie unverzüglich bei Veränderungen der Mobilität, der
Aktivität und des Druckes u.a. mit Hilfe
einer standardisierten Einschätzungsskala, z.B. nach Braden, Waterlow oder Norton“.
Eine Lagerung erfolgt immer in einem
individuellen Zeitabstand. Die Wirksamkeit des bekannten „Zwei-Stunden-Intervalls“ ist durch keine wissenschaftliche
Untersuchung belegt. Für einen kachektischen Patienten mit Halbseitenlähmung
nach Apoplex kann diese Zeitspanne möglicherweise bereits zu lang zu sein. Um eine genaue Aussage über die individuellen
Lagerungsabstände treffen zu können,
empfiehlt es sich den Patienten zunächst
für zwei Stunden zu lagern. Lassen sich
nach dieser Zeit bereits Hautrötungen beobachten, erfolgt eine Verkürzung des
Intervalls um eine halbe Stunde. Weist die
Haut jedoch keinerlei Schädigungen auf,
kann die Pflegekraft das Intervall um eine halbe Stunde verlängern. Dieses Procedere wird solange fortgesetzt, bis die individuell passende Zeitspanne ermittelt
ist. Ein anschließend erstellter Bewe-
31
D E R M AT O L O G I E : D E K U B I T U S
Dekubitus 1. Grades, Rötung
gungsplan hält diese Daten fest. Dieser
beinhaltet zusätzliche Fakten zur Bewegungsanalyse wie:
@ Was motiviert den Patienten, sich zu bewegen und wodurch wird dies beeinflusst?
@ Wie viel Antrieb, welche Fähigkeiten hat
der Patient?
Daraus ergibt sich: wie viel und welche
Unterstützung ist notwendig?
Der aus den Ergebnissen dieser Bewegungsanalyse erstellte Bewegungsplan ist ein
wichtiges Dokument, welches jeder Einrichtung zur Verfügung stehen sollte. Zusätzlich erforderliche Dokumente sind: der
Expertenstandard Osnabrück, eine auf die
Gegebenheiten der Einrichtung zugeschnittene Arbeitsanweisung und Richtlinien für den Einsatz eines Antidekubitussystems.
Es gibt eine Vielzahl von Lagerungsmöglichkeiten. Für alle gilt jedoch, nicht
Haut auf Haut zu lagern, die Gelenke in
Funktions- oder Mittelstellung zu belas-
Dekubitus 2. Grades, Blasenbildung
sen und für eine leichte Erhöhung der Extremitäten zur Beschleunigung des venösen Rückflusses zu sorgen. Die Lagerung
verbessert die pulmonale Situation und
erhöht die Fähigkeit zur Eigenbewegung
bei gleichzeitiger Druckentlastung der aufliegenden Regionen. Gleichzeitig bedeutet regelmäßiges Lagern für den Patienten
Zuwendung und steigert sein psychisches
Wohlbefinden. Insbesondere für depressive oder demente Patienten ist eine ausgeglichene Psyche ein leider immer noch
häufig unterschätzter Faktor der Prophylaxe. Nur wenn der Patient die Notwendigkeit zur Mitarbeit erfassen kann und
gleichzeitig ausreichend Antrieb hat, ist
die Grundlage für den Erfolg der Behandlung gelegt.
Selten ist ein Patient überhaupt nicht lagerungsfähig. Gängig und praktikabel sind
eine 30°- und 135°- sowie Weich- und
Hohllagerung. Bei der Lagerungsform
„schiefe Ebene“ wird eine aufgerollte Decke längs unter die Bettmatratze gelegt. Ei-
Tab. 1: Dekubitus-Klassifikation nach NPUAP 1989*
Grad 1: Persistierende (= nicht wegdrückbare) , umschriebene Hautrötung bei
intakter Haut. Weitere klinische Zeichen können Ödembildung, Verhärtung und lokale Überwärmung sein.
Grad 2: Teilverlust der Haut, Epidermis bis hin zu Anteilen der Dermis sind geschädigt. Die Haut ist oberflächlich geschädigt: Blase, Hautabschürfung
oder flaches Geschwür.
Grad 3: Tiefenschädigung von Haut- und Gewebe. Verlust aller Hautschichten
und Schädigung oder Nekrose des subkutanen Gewebes, die bis auf die
darunter liegende Fascie reichen kann. Der Dekubitus zeigt sich klinisch
als tiefes, offenes Geschwür.
Grad 4: Verlust aller Hautschichten mit ausgedehnter Zerstörung, Gewebsnekrose oder Schädigung von Muskeln, Knochen oder unterstützenden Strukturen (Sehnen, Gelenkkapsel)
* NPUAP = National Pressure Ulcer Advisory Panel
32
ne Bobathlagerung erfolgt bei halbseitig gelähmten Patienten durch z.B. Apoplex.
Die ehemals weit verbreitete 90°-Lagerung sollte keine Anwendung mehr finden,
da sie nur eine Problemverschiebung darstellt: der Dekubitus an der Sakralregion
wird zwar verhindert, entsteht dafür nun
aber an der Hüfte.
Die Mikrolagerung stellt eine gute Ergänzung zur Dekubitusprophylaxe dar,
kann aber im Gegensatz zu den eben beschriebenen Methoden nur prophylaktisch und nicht therapeutisch eingesetzt
werden, denn sie bewirkt lediglich eine
zeitweilige Entlastung, ersetzt aber nicht
das turnusmäßige Umlagern. Durch Verlagerung des Schwerpunktes führt der
Körper stündlich bis zu 40 kaum sichtbare
Positionsveränderungen durch. Das Prinzip der Mikrolagerung orientiert sich an
diesem natürlichen Vorgang. Durch minimale Veränderungen der Lage an Kopf,
Schultern, Hüfte und Oberschenkeln,
können kleine Entlastungen erreicht werden. Ein zieharmonikaartig gefaltetes
Handtuch wird abwechselnd unter die zu
entlastenden Körperregionen gelegt.
Durch leichtes Ziehen ergibt sich bereits
ein geringer Positionswechsel. Gerade
schmerzbeeinträchtigte Patienten nehmen
diese Lagerungsform gut an. Insbesondere in der nächtlichen Ruhephase wird die
Mikrolagerung durch den Patienten gut toleriert, denn die geringfügigen Lageveränderungen stören seinen Schlaf in der
Regel nicht.
Diagnostik
Eine umfassende Anamnese ist die Basis
für eine Diagnostik, die frühzeitig GeGERIATRIE JOURNAL 4/06
D E R M AT O L O G I E : D E K U B I T U S
Dekubitus 3.Grades, feuchte Nekrose
fährdungen aufdeckt, die Entwicklung eines Dekubitus ggf. verhindert oder minimiert und nachhaltige Schäden vermeidet:
@ Anamnese
@ Alter des Patienten
@ Alter der Wunde
@ Entstehungsursache (s.o. „Dekubitusfördernde Faktoren und Krankheitsbilder“)
@ Inspektion und Wundbeurteilung: Lokalisation, Größe/Tiefe/Taschenbildung/Fistel, Exsudation, Wundstadium,
Geruch,
Wundrand/-umgebung,
Schmerzen, Infektionszeichen, Hautzustand
@ Technische Untersuchung: ggf. Abstrich/PE, Blutanalyse b.V. auf eine Infektion und mikrobiologische Diagnostik; ggf. Nativröntgen z.A. von
Osteolysen; ggf. Fisteldarstellung
Dekubitusklassifikation. Dekubitalucera werden je nach Gewebsschädigung,
Tiefe und Aussehen in unterschiedliche
Grade unterteilt. Hierfür gibt es mehrere
Klassifikationssysteme z.B. nach Seiler,
Shea, Daniel. International gebräuchlich
ist die Einteilung des NPUAP (National
Pressure Ulcer Advisory Pannel) von 1989
(Tab. 1).
Eine Rötung der Haut kann auf einen
Dekubitus Grad I hindeuten. Gewissheit
verschafft der sogenannte Fingertest. Bleibt
das Areal unter leichtem Druck rötlich, ist
also nicht wegdrückbar (= Weißfärbung),
handelt es sich um einen Dekubitus ersten
Grades.
Die entstehende Wunde (Grad II bis
IV) kann zusätzlich in unterschiedliche
Stadien nach Seiler unterteilt werden
(Tab. 2)
GERIATRIE JOURNAL 4/06
Dekubitus 4.Grades mit Knochenbeteiligung, Stadium B
Therapie
Kausale Therapie. Sie ist darauf ausgerichtet, durch Bewegung, Lagerung und
geeignete Hilfsmittel eine Druckentlastung der betroffenen Körperregion zu erreichen. Als Lagerungshilfsmittel sind einfache Kissen, Decken oder spezielle Kissen wie zum Beispiel Corpomed®-Kissen
(= Still-/Bananenkissen) geeignet. Wasserkissen und -matratzen sowie wassergefüllte Handschuhe sind für die Dekubitusprophylaxe und -therapie nicht geeignet. In der Grundsatzstellungnahme
Dekubitus (MDS) vom Juni 2001 äußert
sich die Projektgruppe 32 in Punkt 6.3.1.3
sehr deutlich zu diesem Thema: „Wassergefüllte Kissen sind nicht nur auf Grund
ihrer hohen Wärmeleitfähigkeit und daher ihres körpertemperatursenkenden Effektes, vielmehr auch ob des Seegangeffekts
der ungekammert großen Wassermassen
und den hieraus resultierenden Scherkräften auf die druckulkusgefährdete Haut
ungünstig. Ihr Einsatz mit der Zeilerichtung einer Dekubitusprophylaxe oder auch
im Rahmen der Dekubitustherapie gilt
heute als obsolet.“ (Schröder et. al. 1997)
Lagerungsfelle und Fellfersenschoner
sind unhygienisch und bieten keine adäquate Druckentlastung. Da Patienten auf
dem Fell z.T. stark schwitzen, kann es
nicht nur zu Hautproblemen kommen,
sondern auch zu Verklumpungen, die ein
zusätzliches Druckrisiko darstellen.
Luftringe und Lochkissen ermöglichen
zwar mittig eine Entlastung, aber am Rand
ist der Druck unverhältnismäßig höher.
Daher kommt ihr Einsatz heutzutage nicht
mehr in Frage. Eine gute Alternative
stellen ROHO®-Kissen (sog. „NegerkussKissen“ -> luftgefüllte, miteinander verbundene aufrechtstehende Kammern), Vicair®-Kissen (-> mit luftgefüllten Dreiecksbeutelchen, die sich gut der Körperkontur
anpassen und eine optimale Druckentlastung ermöglichen) und individuell aufpumpbare Luftkammerkissen, zum Beispiel Airtech® oder Repose™Sitzkissen dar.
Eine angemessene Wechseldruckmatratze sollte nach Dekubitusgrad und Auswertung einer Risikoskala wie Braden oder
Norton ausgewählt werden. Ein solches
System kann allerdings keine Lagerung ersetzen. Die Lagerungsintervalle müssen
auch auf Wechseldruckmatratzen weiter
eingehalten werden. Der Heilungsprozess
des Dekubitus bei Alzheimer oder Schlaganfallpatienten kann durch ein Wechseldrucksystem u.U. negativ beeinflusst werden (-> Störung des Körperbildes, eine
Einschränkung der körperbezogenen
Wahrnehmung, Koordinationsstörungen). Zusätzlich wird eine vorhandene
Schmerzempfindlichkeit durch die He-
Tab. 2: Entstehende Wunden (–> Grad II bis IV)*
Stadium A: Wunde sauber, Granulationsgewebe vorhanden, keine Nekrosen
Stadium B: Wunde schmierig belegt, Restnekrosen, keine Infiltration des umliegenden Gewebes
Stadium C: Wunde wie Stadium B mit Infiltration des umliegenden Gewebes
und/oder Allgemeininfektion/Sepsis
* nach Seiler
33
D E R M AT O L O G I E : D E K U B I T U S
bebewegungen/Spitzendrücke der Matratze gefördert. Ebenfalls oft als störend
empfunden, sind die Vibrationen, Geräusche – insbesondere nachts. Noch teilmobile Patienten haben Probleme, von
diesen Matratzen selbstständig aufzustehen (-> weitere Mobilitätseinschränkung,
ggf. Ausbildung von Kontrakturen/Spastiken).
Moderne Micro Stimulationssysteme
(MiS), die die Eigenbewegung des Patienten durch kleine Anreize fördern, stellen möglicherweise eine Alternative dar.
Moderne Wundversorgung
Lokale Therapie. Hautbestandteil der
lokalen Therapie eines Dekubitus ist eine zeitgemäße, stadiengerechte Wundversorgung. Weitere wesentliche Faktoren dieser lokalen Therapie sind angepasster Hautschutz und -pflege. Keine
noch so gute Hautpflege kann einen Dekubitus verhindern. Bei trockener Haut
sind Wasser-in-Öl Emulsionen zu empfehlen. Der spezielle, alkoholfreie 3M™
Cavilon™ reizfreie Hautschutzfilm beugt
bei durch Inkontinenz gereizter oder mazerierter Haut weiteren Schädigungen vor.
Die Haut wird bis zu drei Tage vor Feuchtigkeit wie Stuhl und Urin geschützt.
Durch die Transparenz des Produktes ist
jederzeit eine optimale Wundbeobachtung gewährleistet.
Melkfett, Babyöl, Zink-, Lebertranpaste bedecken die Haut mit einem regelrecht dicken „Schmierfilm“ und verkleistern die Poren. Der Gasaustausch mindert sich und unterhalb dieser Substanzen
trocknet die Haut noch weiter aus. Zink
begünstigt systemisch verabreicht die
Wundheilung, kann aber lokal aufgetragen seine Wirkung nicht entfalten.
Bei der Versorgung eines Patienten mit
einem Druckgeschwür in der Sakralregion
Moderne Wundversorgung.
Von Kerstin Protz. Elsevier, Urban &
Fischer Verlag, München, 2005.
136 Seiten mit 26 Abb., kartoniert,
ISBN 3-437-27880-0, Euro 18,95
Moderne Wundversorgung bedeutet
Vernetzung von Krankenkassen,
Ärzten und Pflegeeinrichtungen. Die
Autorin beschäftigt sich tagtäglich
mit Wundmanagement und berät zu
dem Thema. Mit diesem Buch beleuchtet sie die Zusammenhänge
sowie die konträren Methoden und
Meinungen rund um die Wundversorgung. Die beilegende CD-ROM
enthält Standards, Dokumentationsvorlagen und Abbildungen zu Kompressionsverbänden
mit gleichzeitiger Stuhlinkontinenz kann
mit Hilfe eines Peristeen®-Analtampons
(Coloplast) der schädigende Einfluss der
Ausscheidung unterbunden werden. Analtampons sollten 2-3-mal täglich gewechselt werden, um nicht die Entstehung eines Ileus zu riskieren. Bei Patienten, die
unter Durchfall leiden, ist diese Versorgung
nicht möglich.
Operative Therapie. Hierbei wird ein
bestehender Dekubitus durch ggf. Wundkonditionierung/ausführliches Debridement in Narkose, Vakuumversiegelung,
Lappen- oder Verschiebeplastik behandelt. Zusätzlich erfolgt eine systemische
Therapie bei auftretenden Schmerzen
(Analgetika) oder klinisch infizierten Wunden (Antibiotika).
Unterstützende und begleitende Maßnahmen. Mobilisation verbessert die Blutzirkulation, wodurch der Heilungsprozess
Versorgungsleitfaden „Auswahl von Hilfsmitteln gegen Dekubitus“
Das Dekubitusforum des Bundesverbandes Medizintechnologie, BVMed, hat
einen Versorgungsleitfaden „Auswahl von Hilfsmitteln gegen Dekubitus“ erarbeitet und als Broschüre veröffentlicht. Der Leitfaden soll die Auswahl von Hilfsmitteln gegen Dekubitus erleichtern und nachvollziehbar machen. Zielgruppe
sind u.a. Ärzte, Pflegekräfte, Physio- und Ergotherapeuten, Sanitätshäuser und
Sachbearbeiter bei Krankenkassen. Er kann unter www.bvmed.de/publikationen/publ_hilfsmittel/ online bestellt werden.
Informationen: Bundesverband Medizintechnologie e.V., Reinhardtstr. 29b,
10117 Berlin, Tel.: 030/2462550, Fax: 030/24625599, e-mail: [email protected]
34
initiiert und beschleunigt wird. Ein Bewegungsplan sollte sich an den individuellen Bedürfnissen des Patienten orientieren. Angepasste Ernährung (eiweißreich, ggf. hochkalorisch, Vitamine: A, C,
K, B-Vitamine; Mineralstoffe: Zink,
Eisen, Kalzium, Kalium, Magnesium) und
eine Flüssigkeitszufuhr von 3040 ml/kg/KG pro Tag sind wichtige unterstützende Maßnahmen.
Generell sollten weitere Komplikationen vermieden und zusätzliche Risikofaktoren minimiert bis ausgeschaltet werden. Ebenfalls ist ein Augenmerk auf den
Schutz nicht betroffener Körperregionen
zu legen. Begleit- und Grunderkrankungen werden mittherapiert und bei Bedarf
geeignete kontinenzerhaltene Versorgungen angepasst.
Je optimaler der Patient aufgeklärt ist
und auf seine individuellen Bedürfnisse
eingegangen wird, desto besser kann die
Entstehung eines Dekubitus vermieden
oder wenn vorhanden, effizienter behandelt werden. Eine regelmäßige, adäquate
Verlaufkontrolle und Wunddokumentation ermöglichen die zeitnahe Erfassung
von Problemen und ein frühzeitiges Behandeln.
Literatur
1. Expertenstandard Dekubitusprophylaxe (Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der
Pflege (DNQP)/Fachhochschule Osnabrück/Postfach 1940/49009 Osnabrück/Fax: 0541/969-2971.
E-Mail: [email protected]. Internet:
http://www.dnqp.de
2. MDS Medizinischer Dienst der Spitzenverbände
der Krankenkassen (2001): Grundsatzstellungnahme „Dekubitus“, Essen
3. Initiative Chronische Wunde e.V. (ICW e.V.);
www.icwunden.de; Angehörigenbroschüre zur
Dekubitusprophylaxe; Leitlinie Dekubitus
4. Institut für Innovationen im Gesundheitswesen
und angewandte Pflegeforschung (IGAP);
www.igap.de; Dekubitus- Pflege Ratgeber
5. Qualitätsvergleich in der Dekubitusprophylaxe in
Hamburg; www.equip-hamburg.de; Dekubitusprojekt Hamburg
6. Robert-Koch-Institut (RKI): www.rki.de; Gesundheitsberichterstattung des Bundes Heft 12 Dekubitus
7. Universität Witten Herdecke; www.patientenleitlinien.de/Dekubitus/dekubitus.html; Leitlinie für
Betroffene, Angehörige und Pflegende
Kerstin Protz,
Gesundheits- und Krankenpflegerin,
Managerin im Sozial- und Gesundheitswesen,
[email protected]
GERIATRIE JOURNAL 4/06
K A R Z I N O LO G I E : E R N Ä H R U N G
Malnutrition und Krebs im Alter
G. Röhrig, G. Wucherpfennig und B. Wullenkord, Bornheim-Merten
Ältere Menschen erkranken häufiger an Krebs als jüngere [6]. Die
Anzahl der über 65-Jährigen liegt derzeit bei etwa 17% und wird in
den nächsten Jahren weiter ansteigen, um im Jahr 2030 bei etwa
25% bis 27% zu liegen [44]. Da die Inzidenz der Krebserkrankungen
im höheren Alter zunimmt [6, 44], wird auch die Zahl der Tumorpatienten deutlich ansteigen. Vorhandensein und Ausmaß von
Malnutrition spielen dabei in Bezug auf Prognose und Krankheitsverlauf eine bedeutende Rolle.
D
mitter, Zytokine und Hormone kommt
es zu einer verminderten Nahrungszufuhr im Zusammenhang mit einem verminderten Verlangen nach Nahrungsaufnahme [49, 53].
Die Körperzusammensetzung weist
im Alter eine Umverteilung der Fettanteile auf, mit Abnahme des peripheren zugunsten des viszeralen Fettes [36].
Gleichzeitig nimmt der Anteil fettfreier
Körpermasse ab im Sinne einer Atrophie
der Skelettmuskulatur (Sarkopenie). Die
Sarkopenie bedingt ihrerseits eine Abnahme der Muskelkraft und der Knochendichte, was eine Zunahme des
Sturz- und Frakturrisikos nach sich zieht
[68].
Weiterhin nimmt der Gesamtenergieumsatz mit zunehmendem Alter ab,
da bei nachlassender körperlicher Aktivität und abnehmender Körperzellmasse der Grundumsatz sinkt. Der
Energiebedarf älterer Menschen variiert interindividuell stark und wird
durch den Einfluss von Multimorbidität und Medikamenten zusätzlich erhöht [29]. Während jüngere Menschen
auf Grund ausreichender Energiereser-
Foto: AOK
ie Malnutrition ist in der Geria- Altersbedingte Veränderungen von
trie von großer Bedeutung: un- Nahrungsaufnahme und Stoffwechsel
abhängig von den verwendeten
Bewertungsinstrumenten und Ernäh- Im Alter treten wesentliche physiologirungsparametern zeigt die Literatur ei- sche Veränderungen auf, die den
ne bedeutende Häufigkeit von mangel- Ernährungszustand direkt beeinflussen
[79]. Diese Verändeernährten geriatriAm ausgeprägtesten
rungen betreffen die
schen Patienten auf.
Die Auswertung an- stellte sich der Gewichts- Hunger- und Sättigungsregulation sowie
thropometrischer oder
verlust bei Patienten
die Körperzusammenbiochemischer Messmit Magen- und
setzung. Auf Grund
parameter fiel bei bis
Pankreaskarzinom dar
abnehmender Sinneszu 92% der jeweils bewahrnehmungen bei
trachteten Population
pathologisch aus [3, 13, 26, 40, 55, 56]. gleichzeitig gesteigerter Aktivität gasAndere Autoren, welche gleichzeitig trointestinaler Sättigungsfaktoren und
mehrere Parameter berücksichtigten, Veränderungen diverser Neurotranswiesen so bei 16-61% der betrachteten
Patientenpopulationen auf eine Malnutrition hin [7, 8, 14, 28, 47, 54]. Die
Anwendung des Mini Nutritional Assessment nach Vellas [78] ergab bei 726% der untersuchten akut-geriatrischen
Patienten das Vorliegen einer Malnutrition, bei 26-62% bestand ein erhöhtes
Risiko für Mangelernährung [18, 19,
20, 42, 57,59].
Die retrospektive Aufarbeitung eigener Patientendaten ergab für das Jahr
2005 bei 20% der akut-geriatrischen Patienten das Vorliegen einer Malnutrition, wobei für die Diagnosestellung das
Vorliegen eines laborchemisch nachweisbaren Eiweiß- bzw Albuminmangels ausschlaggebend war. Kodierungsmängel können dabei eine möglicher- Ideenreichtum bei der Nahrungszubereitung und die soziale Integration besitzen für
weise höhere Dunkelziffer verschleiern. die Nahrungsaufnahme eine hohe Bedeutung.
36
GERIATRIE JOURNAL 4/06
K A R Z I N O LO G I E : E R N Ä H R U N G
ven metabolischen Stress gut auszu- war wie bei den ausreichend ernährten nären Aufenthaltsdauer um knapp eine
gleichen vermögen, ist diese Fähigkeit Patienten. Rich et al [67] berichteten ganze Woche während der Intervenbei älteren Menschen auf Grund gerin- ebenfalls von vermehrten Komplika- tionsphase ihrer Ernährungsstudie auf
gerer Reserven an Aminosäuren und tionen und häufigeren postoperativen die Nahrungssubstitution zurück.
Glykogen deutlich
Verwirrtheitszuständen bei
Auf eine erhöhte Mortalität bei untereingeschränkt. So sind
herzoperierten älteren Pa- ernährten geriatrischen Patienten soUntersuchungen am
ältere Menschen wetienten mit erniedrigten wohl im stationären als auch im ambueigenen Patientensentlich weniger stressAlbuminwerten im Ver- lanten Bereich nach Entlassung hat eiklientel zeigten eine
belastbar als jüngere
gleich zu geriatrischen Pa- ne Reihe Autoren bereits früher
Malnutrition bei 44% tienten mit höheren Al- hingewiesen [3, 56, 8, 18, 21, 43]. Flound relativ kurze
Stressphasen führen
buminwerten. Andere din et al [35] identifizierten den Body
der geriatrischen
schnell zu einer VerAutorengruppen assoziier- Maß Index (BMI) als Prädiktor für die
Karzinompatienten
schlechterung des Erten ein erhöhtes Infek- 1-Jahres-Mortalität, wobei in ihrer Stunährungszustandes.
tionsrisiko mit Mangeler- die 48% der Patienten mit einem BMI
Gastrointestinal kommt es im Alter nährung während des Klinikaufenthal- < 20 kg/m2 innerhalb eines Jahres nach
ebenfalls zu physiologischen Verände- tes sowohl bei gemischten Kollektiven Diagnosestellung verstarben im Verrungen, wobei die gastrospezifischen geriatrischer Patienten [8, 66] als auch gleich zu 18% der Patienten mit einem
Veränderungen die am weitesten rei- bei älteren Apoplexpatienten [7, 21, BMI > 25 kg/m2.
Zudem zeigten niedrige Albuminchenden Folgen haben. Die Reduktion 39]. Tkatch et al zeigten 1992 [73] in
der mukosalen Durchblutung hat eine ihrer Untersuchung, dass ältere Patien- werte bei enteral ernährten geriatrischen
Funktionseinbusse der Mukosazellen ten mit Oberschenkelhalsfrakturen un- Patienten eine Assoziation mit einer
zur Folge mit Einschränkung des Ener- ter oraler Eiweiß-Supplementierung ei- deutlich erhöhten Mortalität [58, 38].
giestoffwechsels. Zudem kommt es zu nen deutlich besseren klinischen Verlauf Mangelernährte Patienten haben somit
einer Einschränkung der Schleimhaut- erwiesen als Patienten ohne Eiweiß- nicht nur ein erhöhtes Risiko für Komintegrität mit sekundärer Atrophie und Supplementierung und auch eine ge- plikationen während eines stationären
Gefahr der Ulzeration. Die Minderung ringere Abnahme der Knochendichte Aufenthaltes sondern auch ein erhöhtes Mortalitätsrisiko.
der Funktionstüchtigkeit der Mukosa- aufzeigten.
zellen führt zu einer verminderten MaDer Einfluss von Malnutrition auf
gensäuresekretion und damit zur Gefahr die Wundheilung wurde von mehreren
Malnutrition in der Onkologie
einer bakteriellen Überwucherung, Arbeitsgruppen untersucht. Pathophyebenso wie zu einer verminderten Re- siologisch ist dabei von dem Vorliegen Bisher gibt es kein international akzepsorption und Bioverfügbarkeit von Kal- eines katabolen Hypermetabolismus tiertes Standardverfahren zur Erfassung
zium, Eisen und Vitamin B12 mit der auszugehen, der die ohnehin einge- des Ernährungszustandes bei onkologiGefahr der Ausbildung sekundärer Man- schränkten Reservekaschen Patienten. Gegelerscheinungen. Weiterhin führt die pazitäten geriatrischer
mäß der Deutschen
Das Ansprechen der
schwächer werdende Rektummuskula- Patienten zusätzlich beGesellschaft für ErTumortherapie
tur verbunden mit einer verminderten lastet. Durch gezielte
nährungsmedizin [46]
ist vermindert,
Rektumsensibilität im Alter zu einer Protein- und Vitamindefiniert sich eine
Zunahme der Obstipationsneigung [69, substitution kann daMalnutrition über eiLeistungsfähigkeit und
11].
nen Gewichtsverlust
bei der WundheilungsLebensqualität der
von mindestens 10%
prozess positiv beeinPatienten sind stark
des Körpergewichtes
flusst werden [51, 4].
Einfluss von Mangelernährung auf
eingeschränkt,
[9] oder eine SubjectiDass Unterernähden Krankheitsverlauf
ve Global Assessment
rung auch Einfluss auf
wenn eine Malnutrition
In mehreren Untersuchungen konnte eine Verlängerung der
Zugehörigkeit
zur
vorliegt
bisher eine erhöhte Morbiditäts-, Kom- Rekonvaleszenzdauer
Gruppe C [24]. Das
plikations- und Mortalitätsrate bei nehmen kann, zeigten
Subjective Global Asunterernährten geriatrischen Patienten Incalzi et al [43] bei einem gemischten sessment ermöglicht die Zuteilung des
im Vergleich zu ausreichend ernährten Kollektiv geriatrischer Patienten. Da- Patienten zu einer MalnutritionsstatusAltersgenossen gezeigt werden. So be- valos et al [21] kamen bei älteren Apo- gruppe über eine bestimmte Fragenschrieben Tuchschmidt und Tschantz plexpatienten zu einem ähnlichen Er- kombination zu Anamnese und kör[75] bei 250 über 65-jährigen chirur- gebnis, ebenso wie Lumbers et al [47] perlicher Untersuchung: Ergebnisse der
gischen Patienten eine Komplikations- bei älteren orthopädisch-chirurgischen Gruppe C signalisieren dabei eine
rate von 25% der mangelernährten Pa- Patienten. Pepersack et al [65] führten mittelgradig bis schwere Malnutrition,
tienten der Studie, die doppelt so hoch die dramatische Verkürzung der statio- Ergebnisse der Gruppe A schließen das
GERIATRIE JOURNAL 4/06
37
Vorliegen einer Malnutrition weitgehend aus und Ergebnisse der Gruppe B
legen den Verdacht auf eine leichtgradige Malnutrition nahe [24].
Gewichtsverlust ist ein häufig beschriebenes Symptom bei erstdiagnostizierten Tumorerkrankungen. DeWys
et al [25] beschrieben eine Prävalenz in
Abhängigkeit von der Tumorentität bei
31-87% der untersuchten Patienten.
Am ausgeprägtesten stellte sich der
Gewichtsverlust bei Patienten mit Magen- und Pankreaskarzinom dar [25].
Untersuchungen am eigenen Patientenklientel zeigten eine Malnutrition
bei 44% der geriatrischen Karzinompatienten.
Der Gewichtsverlust wird durch eine
Einflussnahme der Tumorerkrankung
auf den Stoffwechsel bedingt. Im Rahmen einer Malignomerkrankung
kommt es in unterschiedlichem Ausmaß zu systemischen, proinflammatorischen Prozessen, welche Auswirkungen
auf alle Stoffwechselwege haben [52].
Der Tumorwirtsorganismus schüttet Zytokine, katabole Hormone und andere
regulatrorische Peptide [52, 22, 23] als
Antwort auf die maligne Neubildung
aus. Diese Mediatoren konnten bei Tumorpatienten inzwischen für die Entwicklung von Appetitlosigkeit [45], und
Gewichtsverlust [80, 32, 80, 32, 37,
71] verantwortlich gemacht werden.
Zudem verhindern sie einen Zugewinn
an Körperzellmasse [30] bei kachektischen Patienten und sind mit einer verkürzten Lebenserwartung dieser Patienten assoziiert [50, 60].
Tumorpatienten weisen oft eine gestörte Glukosetoleranz auf, welche mit
Insulinresistenz im Zusammenhang
steht [48]. Bei vermehrt katabolen Hormonspiegeln zeigt sich eine vermehrte
Kortisolsekretion bei einem gesenkten
Insulin/Kortisol-Verhältnis. Daraus resultiert ein gesteigerter Glukoseumsatz
sowie eine gesteigerte Glukoneogenese.
[22].
In Bezug auf den Fettstoffwechsel
wird bei Tumorpatienten oft eine gesteigerte Lipolyse beobachtet [70, 83],
wobei jedoch die Ursachen für diese
Änderungen im Lipidstoffwechsel bis
heute nicht eindeutig geklärt sind [22].
38
Foto: Baxter Deutschland GmbH
K A R Z I N O LO G I E : E R N Ä H R U N G
Zudem wird bei Tumorpatienten die zweithäufigste Todesursache neben
meist ein gesteigerter Eiweißumsatz ge- einer Sepsis ist und somit eine nicht zu
sehen, welcher mit einer gesteigerten vernachlässigende Rolle spielt [81].
Proteolyse und damit mit einem massiven Abbau der Muskelmasse einherTherapieansätze zum Malnutritionsgeht. Gleichzeitig kommt es zu einem
Anstieg der akuten Phase Proteine. Das ausgleich bei onkologischen Patienten
Proteolysesystem der Proteasomen ist Ziele der Ernährungstherapie bei gegesteigert [82, 10], ausgelöst durch die riatrisch onkologischen Patienten sind
inflammatorischen, tumorassoziierten neben dem Vermeiden bzw. Überwinden von Tumorkachexie und dem MalMediatoren.
In mehreren Längsschnittuntersu- nutritionsausgleich auch die Verbessechungen wurde der Zusammenhang rung der Lebensqualität sowie die Steizwischen Ernährungsstatus und Krank- gerung der Effektivität therapeutischer
Maßnahmen bei Reheitsverlauf untersucht. Es
duktion der Nebenkonnte gezeigt werden, dass
Die Kachexie ist
wirkungsrate. Die
das Ansprechen der Tubei Tumorpatienten
Entwicklung einer
mortherapie vermindert ist,
die zweithäufigste
Tumorkachexie beLeistungsfähigkeit und Leruht nicht allein auf
bensqualität der Patienten
Todesursache neben
einer mangelnden
stark eingeschränkt sind,
einer Sepsis
Nahrungszufuhr, sonwenn eine Malnutrition
dern ist an mehrere
vorliegt. Auch das Überleben ist dann signifikant verkürzt [25, 5, Faktoren geknüpft [16]. Sie wird zu74, 72, 77, 64, 33, 17, 76, 61, 12, 63, dem durch individuelle krankheitsspe34, 62, 27]. Warren zeigte bereits 1932, zifische oder therapieassoziierte Verändass die Kachexie bei Tumorpatienten derungen der Stoffwechselwege beeinflusst, wie beispielsweise tumorbedingte
gastrointestinale Stenosebildungen oder
chemotherpeutikainduzierte Mukositiden. Zudem spielen marantische Prozesse im Rahmen einer fortgeschrittenen
Tumorerkrankung eine wesentliche Rolle. So konnten Fainsinger und Gramich
[31] in ihrer Todesursachenanalyse zeigen, dass bei 20% der Tumorpatienten
mit fortgeschrittener Erkrankung allein
die Kachexie als Todesursache verantwortlich zu machen war. Voraussetzung
für den Beginn einer effizienten Ernährungstherapie ist die Definition der
Malnutrition. Gärtner et al [41] identifizierten diesbezüglich eine Kombination aus anthropometrischen und laborchemischen Daten (Körpergewicht
im Verlauf, Serumalbumin, Transferrin,
Lymphozytenzahl, indirekte Kalorimetrie), wobei dieses Schema auf Grund
der individuellen und krankheitsspezifischen Unterschiede nicht unreflektiert
auf geriatrisch-onkologische Patienten
Eine supportive parenterale Ernährung
übertragen werden kann. Hier fehlt biskann die Lebensqualität von Tumorher ein validierter Algorithmus.
patienten steigern und ihre ÜberlebensGrundsätzlich unterscheidet man drei
zeit verlängern.
Formen von Ernährung: die konvenGERIATRIE JOURNAL 4/06
K A R Z I N O LO G I E : E R N Ä H R U N G
tionelle orale Form, die enterale Form Interesse gewinnenden Teilbereich der
über Sonden und die parenterale Form geriatrischen Onkologie fehlen bisher
über zentralvenöse Zugänge (Venenka- Untersuchungen von vergleichbarem
theter oder PortsysteAusmaß. Assessmentme). Zum Erhalt der
prozesse und TherapieBei 20% der TumorLebensqualität des Paalgorithmen müssen dapatienten mit
tienten sollte die Mögher derzeit noch aus den
fortgeschrittener
lichkeit einer oralen
großen Bereichen überNahrungszufuhr stets so
nommen und an die beErkrankung war
lange wie möglich aufsonderen Bedürfnisse
allein die Kachexie
recht erhalten werden.
der geriatrisch-onkoloals Todesursache
Dabei spielen regelmägischen Patienten angeßige, kompetente Erpasst werden. Mit dieverantwortlich zu
nährungsberatungen sosem Artikel wollen die
machen [31]
wie die Applikation eiAutoren auf die drinner adaptierten, jedoch
gende Notwendigkeit
den Wünschen des Patienten angepas- der Berücksichtigung und Therapie von
sten Kost wesentliche Rollen. Ein ok- Malnutrition im klinischen Alltag bei
troyierter Ernährungsplan sollte grund- geriatrisch onkologischen Patienten aufsätzlich vermieden werden. Die Bedeu- merksam machen.
tung eines angenehmen Ambientes bei
der Nahrungsaufnahme verbunden mit Literatur
1. Aulbert E, Zech D. Lehrbuch der Palliativmedizin.
einer konsekutiven Förderung des
Schattauer, Stuttgart (1997)
Ideenreichtums bei der Nahrungszube2. Adhikari D, Baxi J, Risal S et al. Oxidative stress
reitung und der sozialen Intergration
and antioxidant status in cancer patients and
healthy subjects, a case-control study. Nepal
des Patienten konnte durch UntersuMed Coll J (2005), 7 (2): 112-115
chungen belegt werden [1, 15].
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Nutritional status of the hospitalized very
Die Möglichkeit von Nahrungszuelderly from nursing homes and private homes
sätzen wie z.B. Methoxyprogesterona(abstr.). Am J Clin Nutr (1986), 43: 659
cetat (MPA) oder Selen muss im indi4. Albina JE. Nutrition and wound healing. J Parent
Ent Nutr (1994); 18: 367-376.
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mutete Einfluss von oxidativem Stress
D. Why do patients with weight loss have a
auf die Kanzerogenese macht eine ausworse outcome when undergoing chemotherapy
for gastrointestinal malignancies? Eur J Cancer
reichende Zufuhr von Antioxidantien
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notwendig [2].
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Zur adäquaten Überprüfung der EfKrebsregister in Deutschland (Hrsg) in
Zusammenarbeit mit dem Robert Koch Institut:
fizienz einer Ernährungstherapie haben
Krebs in Deutschland. Häufigkeiten und Trends.
sich klinische Parameter bewährt wie
4. überarbeitet Auflage, (2004)
7. Axelsson K, Asplund K, Norberg A, Alafuzoff I.
Gewichtsverlauf, Volumenbilanz, BlutNutritional status in patients with acute stroke.
druck, Puls und Hautturgor ebenso wie
Acta Med Scand (1988); 244: 217-224
organspezifische Laborparameter. Ganz
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Malnutrition in the hospitalized geriatric pawesentlich ist die Berücksichtigung des
tient. J Am Geriatr Soc (1982); 30: 433-436
subjektiven Befinden des Patienten, da9. Blackburn GL, Bistrian BR, Maini BR, Schlamm
mit sich die Ernährungstherapie nicht
HT, Smith MF. Nutritional and metabolic assessment of the hospitalized patient. JPEN (1977); 1:
unter kommerziellen Aspekten zu ver11-22
selbständigen droht.
10. Bossola M, Muscaritoli M, Costelli P et al.
Fazit
Bedeutung, Ausmaß und Therapie der
Malnutrition im Bereich von Geriatrie
und Onkologie sind durch eine Reihe
von Untersuchungen seit langem belegt. Für den aufkeimenden und erst in
den letzten Jahren an zunehmendem
GERIATRIE JOURNAL 4/06
Increased muscle ubiquitin mRNA levels in
gastric cancer patients. Am J Physiol Regulatory
Integrative Comp Physiol (2001); 280: R1518R1523
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of cancer patients: a prospective study. Eur J
Cancer (1985); 21: 1449-1459
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recently hospitalized free-living elderly subjects. Gerontology (1992), 38: 105-110
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status and capacity in internal medical patients.
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EBM Verlag (1997); 4-15
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Korrespondenzadresse:
Dr.med. Bert Wullenkord,
Krankenhaus zur Heiligen Familie /
Zentrum für Altersmedizin,
Klosterstr. 2,
53332 Bornheim-Merten,
eMail: [email protected]
GERIATRIE JOURNAL 4/06
ERNÄHRUNG: KNOCHENMINERALSTOFFE
Knochengesund
Essen und Trinken
Bewegung stimuliert den Knochenaufbau, Essen und Trinken liefern die
benötigten Nährstoffe. Dabei ist nicht nur der Mineralstoff Kalzium für
die Knochenintegrität essenziell, sondern auch eine ausreichende Proteinversorgung und eine ausgewogene Zufuhr weiterer Mineralstoffe
und Vitamine. Zudem greifen andere Lebensmittelinhaltsstoffe in den
Kalzium-Haushalt ein – ein komplexes System, das durch eine vielseitige
Lebensmittel- und Getränkeauswahl optimiert wird.
O
b Protein, Kalzium, Magnesium
und Phosphor, Vitamin D, Vitamin K und Vitamin C, Laktose,
Aminosäuren und Phytoöstrogene: sie alle sind für den Knochenstoffwechsel von
Bedeutung. Dennoch steht das Thema
Kalzium-Versorgung im Zusammenhang
mit Osteoporose im Vordergrund.
Warum?
Kalziumzufuhr ist oft deutlich
zu niedrig
Die deutsche Gesellschaft für Ernährung
empfiehlt alten Menschen eine tägliche
Kalziumzufuhr von 1000 mg. Nach dem
Ernährungsbericht 2000 erreichen Senioren jedoch durchschnittlich nur 80%
dieser Menge. Eine beträchtliche Zahl
alter Menschen (etwa 15%) nimmt sogar weniger als die Hälfte täglich auf. Eine Erhöhung der Kalziumzufuhr ist also
wünschenswert. Milchprodukte sind die
idealen Kalziumlieferanten. Vor allem Senioren sollten auf Grund des nachlassenden Energiebedarfs bei konstantem
Nährstoffbedarf Milchprodukte mit hoher Nährstoffdichte wie z.B. Buttermilch,
Milch und Hartkäse bevorzugen.
Aus Milch, auch Buttermilch, wird Kalzium am besten vom Körper aufgenommen. Dazu tragen Inhaltsstoffe der Milch
wie z.B. Laktose, Aminosäuren und so genannte bioaktive Peptide bei. Liegt eine
Laktoseintoleranz vor, wird sehr häufig
Joghurt und fast immer lang gereifter
GERIATRIE JOURNAL 4/06
Hartkäse vertragen. Aber nicht nur
Milchprodukte, sondern auch bestimmte Gemüsesorten wie Lauch, Fenchel und
Broccoli sowie Kräuter oder Mineralwässer (bis zu 500 mg/L) tragen zur Kalziumversorgung bei.
Vitamin D – das Sonnenvitamin
Ohne Vitamin D ist die Kalziumaufnahme in Körper und Knochen unzureichend. Seniorenstudien zeigen immer
wieder, dass die empfohlene Vitamin DZufuhr von 10 µg/Tag nicht erreicht wird.
Als Vitamin D-Quellen eignen sich z.B.
Hering und Lachs (21 bzw. 16 µg/100 g),
Hühnerei (1,2 µg/Stück) oder Champignons (2 µg/100 g).
Daneben sollten bei Senioren Spaziergänge oder Ruhephasen an der frischen
Luft zur körpereigenen Vitamin D-Synthese täglich auf dem Programm stehen.
Vitamin und Mineralstoffe –
Aufgaben im Knochenstoffwechsel
Vitamin C spielt bei der Kollagensynthese eine wichtige Rolle, Vitamin K ist
an der Bildung von Osteocalcin beteiligt. Eine Unterversorgung würde die
Knochenintegrität negativ beeinflussen.
Beide Vitamine kommen in Obst und
Gemüse, Vitamin K v.a. in grünem Gemüse vor. Bei einer vielseitigen Lebensmittelauswahl ist eine ausreichende Zufuhr gewährleistet.
Foto: CMA
Dr. Susanne Nowitzki-Grimm, Schorndorf
Milch und Milchprodukte sollten täglich
auf dem Speiseplan stehen, denn sie
liefern wichtige Nährstoffe für die Knochengesundheit.
Neben Kalzium sind Phosphor und
Magnesium wichtige Knochenmineralstoffe. Phosphor ist in Lebensmitteln
überall zu finden. Magnesium wird über
Getreideprodukte im Durchschnitt ausreichend aufgenommen.
Der lange Zeit dargestellte negative
Einfluss einer hohen Phosphorzufuhr auf
die Kalziumbilanz steht derzeit in der
Diskussion.
Protein – die Knochenbasis
Knochen bestehen zu einem erheblichen
Anteil aus Proteinen. So verwundert es
nicht, dass eine ausreichende Versorgung
einen positiven Einfluss auf die Knochengesundheit hat. Bei im Alter abnehmender Nahrungszufuhr sollten Proteinquellen mit hoher biologischer Wertigkeit wie z.B. Fleisch, Fisch, Eier und
Milchprodukte bevorzugt werden.
Knochengesund = vielseitig
Der Knochenstoffwechsel ist ein klassisches Beispiel für das vielschichtige Ineinandergreifen von Nährstoffen. Eine
vielseitige Lebensmittelauswahl verhindert Defizite in der Zufuhr einzelner
Nährstoffe und ist damit eine wichtige
Komponente der Knochenintegrität.
Dr. Susanne Nowitzki-Grimm,
Schurwaldstr. 37, 73614 Schorndorf
41
M U LT I M O R B I D I T ÄT : A N R E G U N G E N
ZUR
DEFINITION
Multimorbidität
im Alter
Martin Holzhausen, Ulrike Bornschlegel und Andrea Mischker, Berlin
Was beinhaltet der Begriff „Multimorbidität im Alter“? Umfasst er lediglich das Vorhandensein mehrerer gleichzeitig bestehender Erkrankungen? Nach Auffassung der Autoren muss er – will er den individuellen
Auswirkungen der Erkrankungen auf Autonomie und Lebensqualität der
Betroffenen gerecht werden – die Komplexität der Interaktion von Schädigungen, Behinderungen, Partizipation und insbesondere individuelle
Kontextfaktoren einbeziehen.
W
1
Im vorliegenden Kontext beschränkt sich die Betrachtung
auf körperliche Erkrankungen. Psychiatrische Erkrankungen innerhalb eines vielschichtigen Krankheitsgeschehens stellen vermutlich nochmals andere Anforderungen an eine
Definition und Bewertung von Multimorbidität.
42
Begriffsüberschneidungen
Zur Vermeidung begrifflicher Verwirrungen sollte der Begriff „Multimorbidität“ klar von verwandten Konstrukten
abgegrenzt werden. So bezeichnet nach
Böhmer [1] der Begriff „Polypathie“ das
gleichzeitige Vorhandensein von „ruhenden (Alters)leiden und Gebrechen“,
die meist nur als Nebendiagnosen geführt werden. Hingegen verweist der Ausdruck „Komorbidität“ gemeinhin auf
Foto: Stephen Coburn - Fotolia
enngleich Multimorbidität1 ein
Krankheitsphänomen ist, welches in jeder Altersgruppe auftreten kann, so besteht doch ein enger
Zusammenhang zwischen dem Alter und
der Anzahl der Erkrankungen einer Person. Die Zunahme der Erkrankungshäufigkeit mit dem Alter ist in starkem Maße durch eine Zunahme von chronischen
Erkrankungen (z.B. Osteoporose, Diabetes, kardiovaskuläre Erkrankungen) gekennzeichnet [1]. Dabei sind es in erster
Linie die differentiellen Krankheitsfolgen, nicht die Erkrankungen selbst, welche das Ausmaß der Hilfs- und Pflegebedürftigkeit sowie die Inanspruchnahme
von Versorgungsleistungen bestimmen
[19]. Will man die Charakteristika von
„Multimorbidität im Alter“ näher bestimmen, stellt sich somit die Frage, ob
Multimorbidität nicht mehr ist als das
reine Vorhandensein mehrerer gleichzeitig bestehender Erkrankungen. Die folgenden Anregungen zur Definition des
Begriffs zielen darauf ab, eine gängige medizinische Fokussierung auf die Anzahl
der Erkrankungen zu einer ganzheitlichen
Sichtweise auf die Lebenswelt alter Menschen zu ergänzen, um die komplexen Erscheinungsformen der Multimorbidität
angemessener beschreiben zu können.
„Nebendiagnosen bei einer oder mehreren Hauptdiagnosen“, welche im Vordergrund stehen [6]. In diesem Kontext ist
zudem eine Unterscheidung zwischen
kausal abhängigen Kombinationserkrankungen auf der einen und kausal unabhängigen Begleiterkrankungen auf der
anderen Seite gebräuchlich [14]. Mit dem
Alter nehmen die kausal abhängigen Erkrankungen zu, was sich in Form typischer Krankheitsketten manifestieren
kann: Ein Leiden (wie beispielsweise ein
Lungenemphysem), welches die Reservekapazität eines Organs kontinuierlich
erschöpft, kann sich durch relativ geringe externe Einflüsse (wie Infektionen) zu
einem aktiven Krankheitsbild (z.B. Pneumonie) entwickeln, welches dann wiederum andere Altersgebrechen (beispielsweise eine latente Herzinsuffizienz) dekompensiert (Beispiel nach [14]).
Eine weitere begriffliche Unschärfe tritt
im Zusammenhang mit dem Begriff
„chronische Erkrankung“ auf. Chronische Krankheit ist durch Stagnation und
Fortschreiten in unregelmäßiger Frequenz
gekennzeichnet. Manifeste chronische
Krankheiten bestehen im Allgemeinen
schon längere Zeit unentdeckt [3]. Wie
eingangs erwähnt, nehmen die chronischen Erkrankungen mit dem Alter stark
zu, sind jedoch nicht notwendigerweise
Teil eines multiplen Krankheitsgeschehens.
Im Zusammenhang mit Multimorbidität tauchen zudem häufig die Begriffe
„Polypharmazie“ oder „Multimedikation“
auf. Mit der Anzahl der Erkrankungen
nimmt in unserem Gesundheitssystem
meist auch die Anzahl der (verschriebeAus einer Schädigung resultieren
individuelle Einschränkungen, die wiederum zu einer Beeinträchtigung der
Lebensqualität führen können.
GERIATRIE JOURNAL 4/06
M U LT I M O R B I D I T ÄT : A N R E G U N G E N
ZUR
DEFINITION
nen) Medikationen zu,
Suchwort in ZusamInsbesondere im Alter
so dass einige Autoren
menfassung, Titel oder
gestaltet sich die diavon der MultimedikaStichworten führten,
gnostische Abgrenzung
tion als dem „Spiegelidentifiziert werden.
bild“ der Multimorbi- von Multimorbidität und Die Zusammenfassundität sprechen [9, 16].
gen dieser Artikel wurKomorbidität
Im Kontext von Multiden anschließend auf
vielfach schwierig
morbidität sind genuiexplizite Definitionen
ne Krankheitssymptovon Multimorbidität
me oftmals nur schwer von uner- untersucht. Lediglich in acht der 110
wünschten Arzneimittelwirkungen oder identifizierten Artikel wird in der ZuInteraktionswirkungen verschiedener sammenfassung genauer beschrieben, was
Medikamente zu trennen [15].
der Begriff Multimorbidität bezeichnet.
Der überwiegende Teil der Artikel verzichtet auf eine genauere Spezifikation
Multimorbidität in der
von Multimorbidität und verwendet den
medizinischen Fachliteratur
Begriff unbestimmt im Sinne von „mehEs mangelt in der medizinischen Fachli- rere Erkrankungen“.
teratur zwar nicht an Publikationen zu
Im Folgenden findet sich eine Auswahl
Multimorbidität, wohl aber an klaren der unterschiedlichen „Definitionen“ von
Definitionen. Wenige versuchen eine tat- Multimorbidität aus den Zusammenfassächliche Erklärung des Begriffs (diese sungen der betrachteten Zeitschriftenarist meist nur implizit zu ersehen) und tikel:
viele Ansätze entbehren jeder theoreti- @ two or more chronic illnesses
schen Begründung. Die einfachste Defi- @ three or more of eleven chronic conditions
nition liefert die direkte Übersetzung des
lateinischen Terminus: „viele Krankhei- @ cardiovascular multimorbidity, arbitrarily defined as a clinically relevant diten“ (lat. multi = viele, lat. morbus =
sease of at least two major vascular beds
Krankheit). Allgemein lässt sich in der
in a single individual
Medizin feststellen, dass Definitionen der
Multimorbidität sich entweder auf die @ more than two disorders
bestimmte (z.B. „zwei“, „mindestens @ multiple disorders
fünf“) oder unbestimmte („mehrere“) nu- @ multimorbidity, i.e. multiple impairments, disabilities and handicaps
merische Anzahl von Erkrankungen beziehen. Weitere Unterschiede bestehen @ two or more diseases
dahingehend, ob eine direkte Behand- @ three different diseases at the same time for each person
lungsbedürftigkeit vorausgesetzt wird
oder nicht, um eine Erkrankung in die Obgleich nur eine geringe Anzahl der
untersuchten Artikel den Begriff genauZählung aufzunehmen [vgl. 1, 15].
Um eine grobe Einschätzung der er spezifiziert, wird die UnterschiedlichSpannweite der Definitionen von Mul- keit und Uneinheitlichkeit dessen, was als
timorbidität in der aktuellen internatio- Multimorbidität bezeichnet wird, deutnalen Fachliteratur zu gewinnen, wurde lich. Dies ist unter anderem dadurch ereine exemplarische Literaturrecherche klärlich, dass derselbe Begriff in unterdurchgeführt. In den Datenbanken Med- schiedlichen Kontexten (z.B. Kardiologie,
line und Embase wurden alle Einträge Onkologie) Verwendung findet. Gleichder Jahre 2000 bis 2005 nach dem en- zeitig gestaltet sich insbesondere im Alglischen Stichwort „multimorbidity“2 ter die diagnostische Abgrenzung von
durchsucht. Auf diese Weise konnten 110 Multimorbidität und Komorbidität vielmedizinische Fachartikel, welche das fach schwierig. Genau diese Problematiken werden in einigen Fachbeiträgen neuEs sei darauf hingewiesen, dass im englischsprachigen Raum
eren Datums thematisiert [5, 18].
der Begriff "multimorbidity" vergleichsweise selten VerObwohl jedoch beispielsweise die Forwendung findet. Auch hier besteht eine Vielfalt an Begriffen (z.B. „comorbidity“, „multiple Diseases“), welche mehr
schungsgruppe
um van den Akker [18]
oder weniger synonym verwendet werden, um Mehrfacherkrankungen zu beschreiben.
eine einheitliche und klar systematisie2
GERIATRIE JOURNAL 4/06
rende begriffliche Klärung anmahnt,
bleibt sie dennoch dem rein medizinischen Blickwinkel verhaftet, so dass nach
wie vor lediglich Anzahl und Art der Erkrankungen von Bedeutung sind [17,
18]. Eine inhaltliche Begriffserweiterung
um beispielsweise die Komponenten
Krankheitsfolgen, subjektive Beeinträchtigung der Lebensqualität oder Inanspruchnahme verschiedener pflegerischer oder psychosozialer Leistungskomplexe steht weiterhin aus.
Objektive und subjektive Sicht auf
Morbidität im Alter
Zuverlässige und umfassende epidemiologische Daten aus Deutschland zur genauen Prävalenz von Erkrankungen im Alter sind schwer zu finden [19]. Die für die
Westberliner Bevölkerung repräsentative
Stichprobe der Berliner Altersstudie (BASE) [11, 12] erlaubt eine Abschätzung
der Morbiditätsstruktur städtischer deutscher Männer und Frauen von 65 Jahren
und älter. Im Zuge der BASE wurden im
Rahmen eines ausführlichen geriatrischen
Assessments umfangreiche physiologische,
neurologische und funktionelle Untersuchungen vorgenommen; die resultierenden Diagnosen wurden in einer Konsensuskonferenz beteiligter Geriater abgeklärt. Steinhagen-Thiessen und Borchelt
[15] definieren den Begriff der Multimorbidität als „gleichzeitiges Vorliegen
von mindestens fünf (mittel- bis schwergradigen) körperlichen Erkrankungen“.
Sie gehen dabei auf Grund ihrer Daten
von einer starken Unterdiagnostizierung
von Erkrankungen in der allgemeinen
medizinischen Primärversorgung aus.
In der BASE wurden zudem subjektiv
berichtete und objektiv festgestellte Erkrankungen unterschieden und hinsichtlich ihrer Prävalenzen verglichen [15, 12].
In Tab. 1 sind die subjektiv berichteten
und objektiv festgestellten Prävalenzen
von mittel- bis schwergradigen Erkrankungen (nach ICD-9) der repräsentativen
Berliner Bevölkerungsstichprobe über 70Jähriger aus BASE dargestellt [12]. Darin fällt zuerst die große Diskrepanz von
fast 24 Prozentpunkten zwischen objektiv festgestellter und subjektiv berichteter
Multimorbidität ins Auge. Auf der Ebe-
43
M U LT I M O R B I D I T ÄT : A N R E G U N G E N
ZUR
DEFINITION
ne einzelner Krankheitsbilder stehen subjektiv schmerzhafte Erkrankungen des
Bewegungsapparates im Vordergrund,
während z.B. die objektiv gefährlicheren
Herzerkrankungen sehr viel weniger wahrgenommen werden. Die Auswirkung einer Dauermedikation hingegen wird z.B.
besonders bei Herzerkrankungen wahrgenommen [12].
In zahlreichen Untersuchungen zeigt
sich über die Lebensspanne insgesamt ein
Zusammenhang zwischen objektivem und
subjektive Gesundheitszustand [13].
Allerdings scheint die subjektive Gesundheitseinschätzung über das Alter bei
gleichzeitig steigendem Morbiditätsrisiko relativ stabil zu bleiben. Dies zeigt sich
darin, dass ältere Menschen ihren Gesundheitszustand trotz bestehender Risiken und Einschränkungen häufig unerwartet positiv einschätzen [z.B. 2, 7, 22].
Damit scheint bei zunehmendem Alter die
subjektive Gesundheitseinschätzung immer weniger vom objektiven Gesundheitszustand abhängig zu sein. Die Stärke des Zusammenhangs variiert zudem in
Abhängigkeit von den verwendeten Indikatoren und bewegt sich im Rahmen
von 5% bis 30% gemeinsamer Varianz
[13]. Diese Beobachtungen sprechen gegen eine Betrachtungsweise von subjektiver Gesundheit als direkter Reflektion
des physischen Gesundheitsstatus.
Ein sehr enger Zusammenhang zeigt
sich hingegen zwischen Maßen der funk-
tionellen Kapazität, d.h. der Krankheits- sorgungsleistungen. Besonders wichtig
folgen und -wirkungen, und der objek- erscheinen hier die persönlichen Getiven Gesundheit [2, 22]. Es gibt Hin- sundheitseinstellungen [11] und die soweise darauf, dass mit zunehmendem ziale Situation [8]. So sind beispielsweise
Alter an Stelle von objektiven Gesund- viele Sozialindikatoren mit den Auswirheitskriterien besser ADL- und IADL- kungen funktioneller BeeinträchtigunIndikatoren zur Erklärung von Varianz in gen über die Zeit signifikant assoziiert
subjektiven Einschätzungen der eigenen [4].
Gesundheit herangezogen werden sollten [2]. So sind gerade mit MultimorbiAktuelle Weiterentwicklungen des
dität im Alter meist funktionelle Einschränkungen assoziiert, die zu einer po- Krankheitskonzeptes
tentiell dauerhaften Beeinträchtigung der Medizinische Versorgung, die sich auf
Bewältigung des Alltags und in vielen Diagnostik und Behandlung von KrankFällen zu anhaltender Pflegebedürftig- heitssymptomen beschränkt, ohne deren
Auswirkungen im Allkeit führen. Bestehende
Definitionsansätze zur
Bei zunehmendem Alter tag des Erkrankten
mit einzubeziehen
Multimorbidität im Alter
scheint die subjektive
wird mehr und mehr
fokussieren im WesentGesundheitsvon einer Medizin ablichen auf die Diagnoseeinschätzung immer
gelöst, die diese in die
und Schädigungsebene,
ohne die Auswirkungen
weniger vom objektiven Behandlungskonzepte integriert. Man
auf Handlungsfähigkeit
Gesundheitszustand
spricht auch von eioder soziale Partizipation
abzuhängen
nem „Paradigmender Betroffenen zu intewechsel in der Medigrieren. Eine wachsende
Zahl an Querschnittsstudien zeigt jedoch zin“ – von einem biomedizinischen
die zentrale Bedeutung von Fähigkeits- Krankheitsbild zu einem biopsychosozistörungen für Aussagen zu Prognose und alen Krankheitsbild. In diesem neuen
Risiko von Pflegebedürftigkeit, zur In- Rahmen wird heute nicht mehr von
anspruchnahme von Versorgungsleis- Krankheit und Krankheitsprozessen gesprochen, sondern von Behinderung und
tungen sowie zur Mortalität [vgl. 19].
Neben der Morbidität an sich und den Behinderungsprozessen [10].
Die Notwendigkeit des Managements
funktionellen Auswirkungen bestimmen
noch weitere Faktoren den Bedarf an Ver- von Behinderungen und der Akzentuierung chronischer Krankheiten (auch unter dem Aspekt der Lebensqualität der BeTab. 1: Prävalenzen mittel bis schwergradiger Erkrankungen
troffenen in einer adäquaten mediziniPrävalenz mittel- bis schwergradiger Erkrankungen
schen Versorgung) spiegelt sich ebenfalls
Diagnose
objektiv
Rang
subjektiv
Rang
in dem seit den 1970er Jahren von der
Fettstoffwechselstörung
36,9
1
–
–
WHO entwickelten KlassifikationssysVenenleiden
36,2
2
9,7
5
tem von Krankheitsauswirkungen wider.
Dieses Klassifikationssystem, die InterZerebralarteriosklerose
15,2
8
6,1
7
national Classification of Impairment,
Herzinsuffiziens
24,1
4
25,1
2
Disability and Handicap – ICIDH-1
Osteoarthrose
31,6
3
32,1
1
[20], betrachtet den Gesundheitszustand
Dorsopathien
20,6
5
20,4
3
als interaktiven, multidimensionalen ProHypertonie
18,4
6
0,8
8
zess, der sich auf drei Ebenen von ErHarninkontinenz
7,6
9
6,8
6
krankung und Erkrankungsfolgen beArterielle
wegt: Strukturelle und funktionelle
Verschlusskrankheiten
18,4
6
10,4
4
Schädigung (impairment), FähigkeitsMind. 1 Diagnose
96,0
–
71,3
–
störung (Einschränkung im Alltag, disability) und Partizipationsstörung (sozi5 und mehr Diagnosen
30,2
–
6,0
–
ale/ökonomische Krankheitsfolgen, hanModifiziert nach [15]
dicap).
44
GERIATRIE JOURNAL 4/06
M U LT I M O R B I D I T ÄT : A N R E G U N G E N
ZUR
DEFINITION
Aus einer Schädigung resultieren indi- wicklung des definitorischen Konzeptes
viduelle Einschränkungen von Fähigkei- von Multimorbidität im Alter. Multiten, die wiederum zu einer Beeinträchti- morbidität geht über eine direkte oder ingung der Erfüllung sozialer Rollen füh- direkte numerische Bestimmung und
ren können: Die Schlaganfallpatientin über die medizinische Behandlungsbemit Hemiparese, Fadürftigkeit von ErkranMit Multimorbidität im
zialisparese und Dyskungen hinaus. Multiarthrie (impairment)
Alter sind meist funktio- morbidität im Alter ist
braucht seither Untermit Funktionsverlust,
nelle Einschränkungen
stützung beim WaHilfebedarf bzw. Inanassoziiert, die zu
schen, Anziehen und
spruchnahme medizieiner dauerhaften
Essen und kann nur
nisch-pflegerischer Leismit einem Rollator als
Beeinträchtigung und in tungen und einer VerHilfsmittel laufen (disänderung der sozialen
vielen Fällen zu Pflegeability). Weil sie durch
Teilhabe verbunden. Eibedürftigkeit führen
ihre Dysarthrie in ihrer
ne Definition von MulSprechverständlichkeit
timorbidität im Alter,
eingeschränkt ist und sich ihres hängen- die den individuellen Auswirkungen der
den Mundwinkels schämt, besucht sich Erkrankungen auf Autonomie und Lenicht mehr wie früher die regelmäßigen bensqualität der Betroffenen gerecht werTreffen mit ihren Freundinnen und den will, muss die Komplexität der Intersingt nicht mehr im Kirchenchor, was aktion von Schädigungen, Behinderunihre Kontakte stark einschränkt (handi- gen, Partizipation und insbesondere
cap).
individuelle Kontextfaktoren einbezieMit dem Ansatz der ICIDH werden hen. Es sollte nicht nur die Frage gestellt
nun nicht mehr nur Diagnosen erstellt, werden, welche Anzahl und Art an Ersondern deren Folgen unter den Aspek- krankungen bei einer Person vorliegen,
ten ihrer körperlichen („Schädigung“), sondern auch, welche dauerhaften Ausindividuellen („Fähigkeitsstörung“) und wirkungen Mehrfacherkrankungen auf
gesellschaftlichen („Beeinträchtigung“) den alten Menschen und sein Leben haDimension beurteilt. Im Mai 2001 ver- ben und wie diese von ihm selbst erlebt
abschiedete die WHO die zweite behin- und bewältigt werden.
derungsspezifische Klassifikation, die
International Classification of Functio- Literatur
1. Böhmer, F. (2000). Multimorbidität. In I. Füsgen
ning, Disability and Health – ICF [21].
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Diese Weiterentwicklung der ICIDH beDiagnostik und Therapie (S. 63-69). München:
Urban und Fischer
zieht stärker als der Vorgänger Kontext2. Borchelt, M., Gilberg, R., Horgas, A. L., Geiselfaktoren als Gesundheitskomponenten
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mit in die Beschreibung des Gesundund Behinderung im Alter. In K. U. Mayer & P. B.
Baltes (Hrsg.), Die Berliner Altersstudie (S. 449heitszustandes ein. Die Komponenten
474). Berlin: Akademie Verlag
Körperfunktionen, Aktivitäten und Par3. Corbin, J.M. & Strauss, A. (2003). Weiterleben
tizipation werden in der ICF um die
lernen. Verlauf und Bewältigung chronischer
Krankheit (2., vollst. überarb. u. erw. Aufl.).
Komponenten Umweltfaktoren und PerBern: Huber
sönliche Faktoren erweitert. Somit finden
4. Grundy, E. & Glaser K. (2000). Socio-demografic
differences in the onset and progression of
nun einerseits persönliche und externe
disability in early old age: a longitudinal study.
Ressourcen (beispielsweise das soziale
Age and Aging, 29, 149-57
Netz), über die eine Person verfügt, aber
5. Fortin, M., Lapointe, L., Hudon, C., Vanasse, A.,
Ntetu, A. L., & Maltais, D. (2004). Multimorbidity
auch sozioökonomische Faktoren (beiand quality of life in primary care: a systematic
spielsweise die Wohnsituation) Eingang
review. Health and Quality of Life Outcomes, 2,
51-62
in die Beurteilung.
Multimorbidität im Alter
Die dargestellten Sichtweisen geben unseres Erachtens Anlass zur WeiterentGERIATRIE JOURNAL 4/06
6. Franke, H. & Schramm, A. (1993). Multimorbidität
und Polypathie in der Praxis. München: MMV Medizin Verlag
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Social Sciences, 48, S289-S300
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Sozialschicht und Gesundheit. Gesundheitswesen, 61, S169-S177
9. Kruse, A. (1992). Multimorbidität und Polypathie:
Analyse des subjektiven Gesundheitszustandes
und Vorschläge für ein erweitertes Verständnis
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Psychotherapie (S. 62-74). Bern: Hans Huber
10. Leistner K. (2001). Ist die ICIDH für die geriatrische Rehabilitation geeignet? Zeitschrift für
Gerontologie und Geriatrie, 34, I/30-I/35
11. Linden, M. Gilberg, R., Horgas, A. L., SteinhagenThiessen (1996). Die Inanspruchnahme medizinischer und pflegerischer Hilfe im hohen Alter.
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Altersstudie. Berlin: Akademie Verlag.
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Berliner Altersstudie. Berlin: Akademie Verlag
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Morbidität, Medikation und Funktionalität im
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Akademie Verlag
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In P.B.Baltes, J. Mittelstrass (Hrsg.), Zukunft
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and self-evaluation of health and life of oldest
old in China. Journal of Social Issues, 58,
733-748
Korrespondenzadresse:
Arbeitsgruppe „Multimorbidität“,
c/o Dipl.-Psych. Martin Holzhausen,
Charité – Universitätsmedizin Berlin,
Zentrum für Human- und Gesundheitswissenschaften,
Graduiertenkolleg Multimorbidität
im Alter,
Luisenstr. 13,
10117 Berlin,
eMail: [email protected]
45
P H A R M A : S Y M P O S I E N & P R A X I S I N F O R M AT I O N E N
Erektile Dysfunktion
Zusammenhang mit
endothelialen Schäden
Viele Arzneimittel können zu sexuellen
Dysfunktionen wie Potenz- bzw. Erektionsstörungen führen. Zu diesen zählen
auch Betablocker, deren Hauptaufgabe
die Blutdrucksenkung ist. Der Therapieerfolg ist aber nicht nur von der Wirksamkeit eines Präparates abhängig, sondern
auch von der Verträglichkeit und damit der
Compliance der Patienten. So führen unerwünschte Wirkungen oft zum Therapieabbruch bzw. zur Einschränkung der
Lebensqualität. Typische Nebenwirkungen der Betablocker sind Kältegefühl in
den Extremitäten, Kopfschmerzen und
erektile Dysfunktion. Nebivolol (Nebilet®) senkt als hochselektiver beta-1-Rezeptorenblocker den Blutdruck, wirkt protektiv auf das Gefäßsystem und reduziert
die unerwünschten „Betablocker-typischen“ Nebenwirkungen.
Den positiven Effekt von Nebivolol auf
die erektile Dysfunktion führt PD Dr.
Klara Brixius aus Köln auf die Aktivierung der endothelialen Stickstoffmonoxid-Synthase (eNOS) zurück. Dies ist ein
zusätzlicher Wirkmechanismus von Nebivolol, der für zahlreiche therapeutische
Zusatzeigenschaften verantwortlich ist,
z.B. die vasodilatierende Wirkung: die
Endothelzellen geben das synthetisierte
NO an die umliegende Gefäßmuskulatur
ab. Dadurch erweitern sich die Gefäße
und die Durchblutung wird verbessert.
Nebivolol verbessert somit die Endothelfunktion. Umgekehrt kommt es bei reduziertem NO-Angebot zu arteriosklerotischen Gefäßveränderungen. Diese sog.
endotheliale Dysfunktion stellt den Anfang
einer systemischen Gefäßerkrankung dar
mit dem Risiko eines Schlaganfalls oder ei-
Erkrankungen des Bewegungsapparates
Stellenwert des Acemetacins
Das nichtsteroidale Antirheumatikum Acemetacin (Rantudil®) ist seit mehr als 20
Jahren im klinischen Einsatz. Seine Wirksamkeit und Verträglichkeit wurden in
zahlreichen Studien nachgewiesen. Dabei
zeigte Acemetacin im Vergleich zu anderen Substanzen aus der NSAR-Klasse und
zu modernen Hemmern des Cyclooxygenase2 (Cox-2-Hemmern) eine vergleichbar gute antiphlogistische und analgetische
Wirksamkeit, jedoch deutliche Vorteile
im Hinblick auf die Verträglichkeit. Dies
gilt vor allem für die retardierte Darreichungsform mit einer rasch einsetzenden
und lang anhaltenden Wirksamkeit.
Segura et al. [1] veröffentlichen 2002 die
Ergebnisse der ETAPAM-Studie, in die
mehr als 5.600 Patienten aufgenommen
wurden. Alle Patienten erhielten Acemetacin aus unterschiedlichen Gründen:
Sportverletzungen (ca. 30%), Gelenkarthrose (ca. 20%), rheumatoide Arthri-
46
tis (ca. 17%), Fibromyalgie, Morbus Bechterew usw. Die Nachbeobachtungszeit betrug sechs Monate. In dieser Zeit wurde
u.a. die Wirksamkeit anhand der visuellen Analogskala geprüft: Zu Therapiebeginn gaben 76,9% der Patenten Werte
zwischen 6-9 an und nach sechs Monaten
lagen die Werte bei 77,7% der Patienten
zwischen 1-3. Insgesamt beurteilten 94,1%
der Patienten die Therapie als gut oder
sehr gut, eine ähnlich gute Wirksamkeit
bescheinigten auch die Prüfärzte. In 7,23%
traten Nebenwirkungen auf, 5,3% waren
gastrointestinale Symptome – im Vergleich
zu anderen NSAR eine niedrige Quote.
Leeb et al. [2] untersuchten in einer randomisierten Doppelblindstudie die Wirksamkeit von retardiertem Acemetacin im
Vergleich zu dem Cox-2-Hemmer Celecoxib an 105 Patienten mit Gonarthrose.
Hinsichtlich der Kriterien „Bewegungsschmerz“ und „Ruheschmerz“ kam es in
nes Herzinfarkts dar. Die penilen Gefäße
und das Endothel des Corpus cavernosum unterliegen denselben Mechanismen
wie die übrigen Gefäße. Zudem ist die
NO-Produktion essentiell für die physiologische Erektion. Endothelschäden können sich daher auch in Form von Erektionsstörungen bemerkbar machen. Den
Zusammenhang zwischen erektiler Dysfunktion und koronarer Herzkrankheit
belegen mehrere Studien. Auf Grund dieser Assoziation wäre es denkbar, die erektile Dysfunktion als Prädiktor für das Vorhandensein von Risikofaktoren einer KHK
bzw. einer manifesten KHK zu werten. Es
ist auch vorstellbar, so Brixius, die erektile Dysfunktion durch Aktivierung der
eNOS zu behandeln.
RM/JB
Symposium „Nicht-interventionelle
Therapie und Lebensqualität im
Alter“ im Rahmen der 72. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für
Kardiologie, 22. April 2006, Mannheim; Berlin-Chemie AG, Berlin,
www.berlin-chemie.de
beiden Behandlungsgruppen zu vergleichbar guten Ergebnissen. Beide Substanzen erwiesen sich als wirksam bei der
Beurteilung der Schmerzen, Gelenksteifheit und Gelenkfunktionalität. Unerwünschte Wirkungen traten unter Acemetacin nicht häufiger auf als unter der
Vergleichssubstanz. Dies betraf auch für
gastrointestinale Beschwerden.
Damit bestätigt Acemetacin nach wie
vor seinen festen Stellenwert in der Therapie von entzündlichen oder degenerativen Erkrankungen des Bewegungsapparates, nicht nur wegen seiner guten Wirksamkeit, sondern insbesondere auch wegen
seiner guten Verträglichkeit.
RM
Literatur
1. Segura et al.: Efficacy and Tolerability of Acemetacin,
a Non-Steroidal Anti-Inflammatory Drug, in Mexican
Patients: Result of the ETAPAM Study. Proc. West.
Pharmacol., Soc. 2002; 45: 104-107
2. Leeb et al.: Behandlung der gonarthrose. Wirksamkeit und Verträglichkeit von retardiertem Acemetacin
im Vergleich zu Celecoxib. Der Orthopäde 2004; 33:
1032-1041
Information der Meda Pharma GmbH
& Co. KG, Bad Homburg
GERIATRIE JOURNAL 4/06
P H A R M A : S Y M P O S I E N & P R A X I S I N F O R M AT I O N E N
Tumorschmerzen/Opioide
Zirkadianer Schmerzrhythmus
erfordert flexible Medikation
Aus chronopharmakologischer Sicht gelten für ein Arzneimittel folgende Forderungen: richtige Menge, richtige Substanz, Erreichen des richtigen Zielorgans
zur richtigen Zeit. Dies gilt auch für
Schmerzmittel. Wie Prof. Dr. med. Dr.
h. c. Björn Lemmer aus Heidelberg erläuterte, weiß man aus Konzentrationsmessungen von Endorphinen und Enzephalinen im Gehirn, dass sie einen zirkadianen Rhythmus aufweisen. Daher
zeigen auch Lokalanästhetika und Analgetika tageszeitliche Wirkungsschwankungen. Ein Beispiel: Bei der rheumatoiden Arthritis treten die Schmerzen
vorwiegend morgens auf, daher sollte die
Medikation abends erfolgen. In zahlreichen anderen Studien konnte gezeigt
werden, dass eine selbst gesteuerte Zu-
fuhr von Hydromorphin bei Karzinompatienten ebenfalls rhythmisch war: Den
größten Schmerzmittelbedarf hatten diese Patienten während des Tages. Diese
rhythmischen Schmerzmuster erfordern
also Medikamente, die nicht nur die Art
der Schmerzen berücksichtigen, sondern
auch ihre tageszeitliche Variation.
Die Konsequenz lautet: chronobiologische Schmerztherapie, so Dr. med.
Uwe Junker aus Remscheid. Die häufig
angewendete transdermale Zufuhr eines Schmerzmittels zeigt zwar über 24
Stunden einen konstanten Plasmaspiegel, berücksichtigt jedoch nicht den erhöhten Bedarf des Tumorpatienten etwa zwischen 10.00 und 22.00 Uhr, während der Plasmaspiegel in der Nacht
unnötig hoch ist. Dr. Junker empfiehlt
bei Tumorpatienten das retardierte und
schnell wirkende Hydromorphon (Palladon® retard) als Therapie der ersten
Wahl. Hydromorphon weist eine geringe Plasmaeiweißbindung auf und hat eine vom Cytochrom P 450-Enzymsystem
unabhängige Metabolisierung, immer
ein Vorteil bei Patienten mit einer Polypharmakotherapie. Zudem kann unter
retardiertem Hydromorphon die analgetische Bedarfsmedikation eingespart
werden – in der vorgetragenen multizentrischen Kohortenstudie sogar um
50%. Hydromorphon zeigte darüber
hinaus im Vergleich zu Fentanyl eine
bessere Wirksamkeit und Verträglichkeit mit Reduktion auch der gastrointestinalen Symptome. Eine Kombination mit Cox-2-Hemmern bietet einen
zusätzlichen antiphlogistischen Effekt,
die mit Antiepileptika empfiehlt sich
bei neuropathischen Schmerzen.
Bei den meisten Krebspatienten ist eine Opioid-Langzeittherapie erforderlich.
Die Gabe schwacher Opioide birgt die
ANZEIGE
GERIATRIE JOURNAL 4/06
47
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Gefahr, dass die Bedarfsmedikation maximal gesteigert wird und dadurch Nebenwirkungen hervorgerufen werden, ohne
einen optimalen Effekt zu erzielen. Um
dieses Risiko abzuwenden, sollte man unter Auslassung der ersten beiden Stufen
gleich mit Opioiden der WHO-Stufe III
in niedriger Dosis beginnen. Fazit: auch
unter chronobiologischen Aspekten sind
orale Opioide wie Hydromorphon wirksame und sichere Medikamente in der Behandlung starker Schmerzen.
RM
Pressegespräch „Ein Unterschied
wie Tag und Nacht – Auch in der
Tumorschmerztherapie? 24-Stunden-Rhythmus erfordert flexible
Medikation“ 25. März 2006 im
Rahmen des 27. Deutschen Krebskongresses in Berlin; Mundipharma
GmbH, Limburg,
www.mundipharma.de
Behandlung des hormonrefraktären Prostatakarzinoms
Empfehlungen zur Chemotherapie
mit Docetaxel
Mit jährlich 35.000 Erkrankungen ist
Prostatakrebs in Deutschland die häufigste Krebsart bei Männern. Diese Zahl
verdeutlicht die Notwendigkeit der jährlichen Vorsorgeuntersuchung ab dem 45.
Lebensjahr. Denn je früher mit einer Therapie begonnen wird, umso höher sind die
Überlebensraten. Therapeutisch kommen in frühen Stadien operative Entfernung und Strahlentherapie zur Anwendung, in fortgeschrittenen Fällen die Hormon- und Chemotherapie. Letztere ist ein
wichtiger Bestandteil der therapeutischen
Alternativen, vor allem bei Versagen der
Hormontherapie und wenn der Krebs
bereits gestreut hat.
Intraokularlinsen
Brillenfreies Sehen für mehr
Lebensqualität
Der Vorteil für Katarakt-Patienten, denen multifokale Intraokularlinsen (IOL)
eingesetzt werden, ist weitgehende Unabhängigkeit von der Lesebrille. Nachteile dieses optischen Prinzips sind nicht
selten beeinträchtigende Blendeffekte sowie ein verschlechtertes Kontrastsehen.
IOL ohne Korrektur für die sphärische
Aberration der Kornea zeigen bei Pupillenweiten von über 3 mm zudem abnehmende optische Qualität. Die Folgen davon können, gerade für die zumeist betagten Patienten, erhöhte Sturzgefahr und
reduzierte Nachtfahrtauglichkeit sein. Die
Tecnis® Multifokallinse ist eine wavefrontdesigned Multifokallinse, die sphärische
Aberrationen ausgleicht. Das Ergebnis ist
ein schärferes, kontrastreicheres Bild und
ein insgesamt besserer funktioneller Visus
– unabhängig von der Pupillenweite. Tecnis® ZM900, die diffraktive Multifokallinse der dritten Generation, ermöglicht
Katarakt-Patienten eine überwiegend brillenfreie Fern-und Nahsicht.
48
Ein innovativer Ansatz ist Mix &
Match. Hier werden die Vorteile einer
diffraktiven Multifokallinse mit denen
einer refraktiven kombiniert. Dem Patienten wird dabei in ein Auge eine diffraktive Multifokallinse eingesetzt, in das
andere eine refraktive. Im Zusammenspiel beider optischen Prinzipien zeichnet sich eine praktische Rundum-Lösung
für Patienten ab, die damit – entsprechend aktueller Studien (Akaishi & Fabri, ASCRS 2006) ganz ohne Brillen auskommen.
Fachpressegespräch „Brillenunabhängigkeit versus Abrechnungsdschungel: Wie Patienten und
Behandler vom Einsatz multifokaler
IOL bei Katarakt profitieren“ anlässlich des 19. Kongresses der Deutschen Ophtalmochirurgen, 26. Mai
2006, Nürnberg; AMO Advanced
Medical Optics Germany GmbH,
Ettlingen, www.amo-inc.de
Seit Ende 2004 ist das neue Präparat
Docetaxel (Taxotere®) in Kombination
mit Prednison für den Einsatz bei fortgeschrittenem hormonrefraktärem Prostatakarzinom zugelassen. In klinischen
Studien konnte nachgewiesen werden,
dass mit Docetaxel die Überlebensrate
der Patienten signifikant verbessert wurde. Damit konnte erstmals ein lebensverlängernder Effekt einer Chemotherapie bei hormonrefraktärem Prostatakarzinom nachgewiesen werden, sagte Dr.
med. Klaus Becker aus Hamburg anlässlich eines Symposiums in Berlin. Die
neue Therapie löste aber auch kontroverse Diskussionen aus, vor allem hinsichtlich des Beginns, der Durchführung
und der Dauer der Chemotherapie. Um
diese Fragen zu klären, hat sich im Juli
2005 ein interdisziplinäres Expertenteam
zusammengesetzt und Empfehlungen für
den Einsatz von Docetaxel beim fortgeschrittenen hormonrefraktären Prostatakarzinom erarbeitet.
Wie Prof. Dr. med. Kurt Miller, Berlin, erläuterte, bestand in der Expertenrunde Einigkeit über folgende Punkte:
Die Therapie mit Docetaxel soll bei Patienten erfolgen,
@ deren Erkrankung progressiv ist und
sich hierdurch klinische Symptome wie
Schmerzen zeigen,
@ die einen asymptomatischen Verlauf
aufweisen, aber ein schneller PSA-Anstieg oder eine Progression nachgewiesen wurde,
@ die einen PSA-Anstieg aufweisen und
den dringenden Wunsch nach Therapie äußern.
Zur erfolgreichen Dosierung von Docetaxel wird die drei-wöchentliche Gabe
von 75 mg/m2 per infusionem über einen
Zeitraum von 60 Minuten empfohlen.
Dies basiert auf einer Vergleichsstudie
mit Mitoxantron: Die 3-wöchentliche
Verabreichung war gegenüber dem Vergleichspräparat sowie der wöchentlichen
Gabe von 35 mg/m2 Docetaxel deutlich
überlegen.
GERIATRIE JOURNAL 4/06
P H A R M A : S Y M P O S I E N & P R A X I S I N F O R M AT I O N E N
Die PSA-Kontrolle nach drei Zyklen erlaubt die erste Beurteilung der Effektivität
der Docetaxel-Therapie. Im weiteren Verlauf der Behandlung sollten PSA-Kontrollen nach jedem Zyklus durchgeführt
werden. Studien belegen, dass die Wirksamkeit der Therapie mit den abnehmenden PSA-Werten korreliert. Die
Therapiekontrolle erfolgt anhand von
Blutbildbestimmungen: Bei einer Neutrophilenzahl unter 2/nl und Thrombozytenzahl unter 80/nl und fehlen von
schweren, nicht-hämatologischen Nebenwirkungen kann der nachfolgende Therapiezyklus begonnen werden. Andernfalls wird empfohlen, den Therapiezyklus um eine Woche zu verschieben und
bei Nebenwirkungen ggf. die 3-wöchentliche Docetaxel-Dosis auf 60 mg/m2
zu reduzieren. Bei einer PSA-Verdopplungszeit unter drei Monaten sollte die
Docetaxel-Therapie abgebrochen werden. Steigen die PSA-Werte nur langsam, entscheiden klinische Parameter
über die Fortsetzung der Chemotherapie.
In jedem Fall setzt die Chemotherapie des
Prostatakarzinoms die Erfahrung des behandelnden Arztes voraus. Mit entsprechenden Kenntnissen und Qualifikationen, so Dr. med. Götz Geiges, Berlin,
stellt der Einsatz von Docetaxel/Prednison in den oben genannten Dosierungen
eine sehr effektive Therapie mit beherrschbaren Nebenwirkungen dar.
JB/RM
Mittagssymposium „Interdisziplinäre
Therapieempfehlungen zur Behandlung des hormonrefraktären Prostatakarzinoms“ und Pressekonferenz
„Die systematische Therapie des
HRPC: Aktuelle Empfehlungen zur
Behandlung mit Taxotere®“ anlässlich des 27. Deutschen Krebskongresses, 23. März 2006 in Berlin;
Sanofi-Aventis Deutschland GmbH,
Frankfurt am Main,
www.sanofi-aventis.de
Rheumatoide Arthritis Ankylosierend Spondylitis
Frühe Therapie mit TNF alpha-Blocker
verhindert Glenkzerstörung
Die Behandlung rheumatischer Erkrankungen hat in den letzten Jahren deutliche Fortschritte erzielt. Durch Kombinationen von bis zu drei Basistherapeutika
und zusätzlichem Einsatz von Kortison
und Schmerzmitteln konnte in 50% der
Fälle ein Therapieerfolg erzielt werden,
der allerdings mit einer hohen Nebenwirkungsrate erkauft werden musste. Die
Methotrexat Monotherapie weist bei einer ähnlichen Erfolgsquote eine wesentlich bessere Verträglichkeit auf. Mit der
Einführung von TNF alpha-Hemmern
wie Etanercept wird ein weiterer großer
Fortschritt erzielt
Die Daten der TEMPO Studie (Trial
of Etanercept and Methotrexat with Radiographic Patient Outcome) zeigten für
die Kombinationstherapie von Methotrexat (MTX) und Etanercept (Enbrel®)
nach drei Jahren eine deutlich überlegene Wirkung gegenüber den MonotheraGERIATRIE JOURNAL 4/06
pien beider Substanzen erläuterte Prof.
Dr. J. Kekow, Vogelsang/Magdeburg, anlässlich eines Presseworkshops während
des EULAR in Amsterdam. Die mittleren Veränderungen des Total Sharp Scores (TTS, Summe der Punktwerte für Erosionen und Gelenkspaltverschmälerungen) gegenüber den Ausgangswerten fielen
in der Kombinationsgruppe signifikant
niedriger aus. Im Gegensatz zu den Entwicklungen des TTS in den Monotherapiegruppen lag die mittlere Veränderung
des Scores unter der Null-Linie. Die günstige Entwicklung ist in erster Linie auf
eine Abnahme der Erosionen zurück zu
führen, welches sogar auf einen Heilungsprozess in einzelnen Fällen schließen
lässt. Bei 76% der mit der Kombination
behandelten Patienten konnte das Fehlen
der Progression der Gelenkzerstörung
röntgenologisch nachgewiesen werden,
Ansprechraten, die bislang von keinem
Rheumatherapeutikum und keiner Kombination erreicht werden konnten.
Eine einjährige offen geführte Studienerweiterung von TEMPO zeigte am
Ende dieses vierten Jahres eine Remissionsrate bei 50% der Patienten bei weiterhin nachhaltig guter Wirkung und Verträglichkeit. Bei den Patienten, die in den
ersten drei Jahren eine MTX Monotherapie erhielten, konnte durch die zusätzliche Gabe von Etanercept eine verbesserte
klinische Wirksamkeit mit einer ähnlich
hohen Ansprechquote wie in der kontinuierlichen Kombinationsgruppe nachgewiesen werden. In der Etanercept
Monotherapiegruppe konnten durch Hinzufügen von MTX bei einer leicht verbesserten klinischen Wirkung, die Ansprechquoten der Kombinationsgruppe
jedoch nicht erzielt werden.
Auch für die Behandlung der AS (Morbus Bechterew) liegen überzeugende Studienergebnisse für TNF alpha- Blocker
vor, die zu einer Therapieempfehlung
(ASAS/EULAR) führten. Dabei besteht
eine deutliche Korrelation zwischen
Krankheitsdauer und Ansprechen der
Therapie, wie die von Prof. Dr. Sieper,
Berlin, vorgestellten Daten belegen. Bei
einer Krankheitsdauer von unter zehn
Jahren wird eine Verbesserung im BASDAI von 50% bei 73% der Patienten erzielt. Der Prozentsatz sinkt kontinuierlich bei späterem Therapiebeginn.
Dabei stellt die ausgeprägte Verzögerung zwischen Krankheitsbeginn und
Erstdiagnose ein größeres Problem dar.
In der Regel vergehen bis zu zehn Jahre
bis zur Diagnose. Der Rückenschmerz als
Leitsymptom einer frühen AS ist so häufig, dass der Nicht-Orthopäde oder NichtRheumatologe nur selten an diese Möglichkeit denkt. Daher wurden kürzlich
Kriterien entwickelt, die eine Diagnosestellung bereits vor röntgenologisch nachweisbaren Veränderungen der Sakroiliakalgelenke ermöglichen. Die Screening
Methoden helfen dem Hausarzt diese
Patienten aus der großen Menge von
Rückenschmerzpatienten herauszufiltern.
Bei einem hohen Prozentsatz der Patienten, die in Berlin von den nach diesen Methoden arbeitenden Ärzten überwiesen
wurden, konnte die Diagnose AS oder
frühe AS auch verifiziert werden.
49
P H A R M A : S Y M P O S I E N & P R A X I S I N F O R M AT I O N E N
Vor kurzem veröffentlichte Empfehlungen betonen auch bei der Therapie
der AS die herausragende Rolle der TNF
alpha-Blocker. Die Krankheitsaktivität
konnte bei 50% der Patienten die intensiv konventionell vorbehandelt wurden
durch zusätzliche Gabe von Etanercept um
mindestens 50% gebessert werden. Die
Besserung der Symptome geht einher mit
einem in der Kernspintomographie deutlich nachweisbaren Rückgang der Entzündung der betroffenen Knochen. Ein
Absetzen der Therapie ist wegen der dann
regelmäßigen Rezidive nicht zu empfehlen. Eine kontinuierliche Gabe ist jedoch
wegen der geringen Nebenwirkungsquote unproblematisch. Neben der Besserung
der rheumatischen Beschwerden wird
auch das Auftreten der Regenbogenhautentzündung als häufige Komplikation der
Erkrankung reduziert.
Die Ergebnisse der vorgestellten Studien
und die sich abzeichnenden Möglichkeiten die Patienten zu identifizieren, die auf
Feuchte, altersabhängige Makuladegeneration
Neuer Therapieansatz durch Hemmung
des VEGF165
Die altersabhängige Makuladegeneration
(AMD) ist die häufigste Ursache für einen
Visusverlust und für eine Erblindung bei
Personen über 50 Jahren. Bei der trockenen (atrophischen) AMD treten gelblichweiße Ablagerungen der Netzhaut,
Pigmentstörungen des retinalen Pigmentepithels, eine Atrophie und ggf. Netzhautschäden auf. Seltener, jedoch schwerwiegender ist die feuchte Form; sie führt
in 90% der Fälle zur Erblindung. Bei der
feuchten (exsudativen, neovaskulären)
AMD kommt es zur irreversiblen Schädigung der zentralen Netzhaut, basierend
auf der Ausschüttung von Wachstumsfaktoren wie VEGF (vaskulärer endothelialer Wachstumsfaktor). Diese führen zu
choroidalen Neovaskularisationen, zur Leckage und schließlich zur Schädigung der
Makula mit Verlust der zentralen Sehfunktion.
VEGF ist bei allen choroidalen Neovaskularisationen nachweisbar, sagte Prof.
Dr. Salvatore Grisanti aus Tübingen anlässlich einer Pressekonferenz. Im Tierversuch zeigte die Hemmung des VEGF
eine deutliche Inhibition der neovaskulären Prozesse. Ein therapeutisches Vorgehen durch Hemmung des VGEF muss jedoch selektiv erfolgen, da sonst auch die
physiologischen Vorgänge beeinflusst werden. VEGF121 und VEGF165 sind die
Hauptisoformen, die im Auge exprimiert
werden. Durch selektive Hemmung der
50
VEGF165-Isoform kann die pathologische
Gefäßneubildung wirksam inhibiert werden, ohne die physiologischen Vorgänge
anzugreifen.
Mit Pegaptanib-Natrium (Macugen®)
wurde ein Wirkstoff entwickelt, der nach
intravitrealer Injektion das VEGF165 spezifisch blockiert. Dadurch lässt sich ein
weiteres Gefäßwachstum verhindern und
damit die Verschlechterung des Sehvermögens aufhalten. Dies zeigt u. a. die
VISION-Studie, eine randomisierte, doppelblinde und kontrollierte Phase-III-Studie an 1.186 Patienten mit subfovealen
choroidalen Neovaskularisationen bei
AMD. Wie Prof. Dr. Frank G. Holz aus
Bonn erläuterte, trat nach 54 Wochen eine Stabilisierung (Verringerung der Sehschärfe von weniger als drei Zeilen auf einer standardisierten Lesetafel) bei 70%
der Patienten auf, die in sechswöchigen
Intervallen mit Pegaptanib-Natrium behandelt wurden (gegenüber 55% in der
Kontrollgruppe). Neuere Daten über eine Therapiedauer von 102 Wochen zeigen,
dass die längere Behandlung effektiver war
als die kürzere. Wurde die Behandlung
nach einem Jahr abgebrochen, wiesen zahlreiche Patienten erneut neovaskuläre Prozesse auf. Die Effektivität der Behandlung
war darüber hinaus vom Zeitpunkt des
Behandlungsbeginns abhängig: Bei 76%
der Patienten mit leichtem Visusverlust
und frühen Läsionen trat eine Stabilisie-
die Therapie mit TFN alpha- Blockern gut
ansprechen, lassen hoffen, dass dieses Therapieprinzip häufiger eingesetzt wird, um
gerade bei den hochentzündlichen Rheumaformen die Option eines Krankheitsstopps oder gar der Heilung zu erhalten.
RM
Presseworkshop „Remission im
Fokus – Moderne Therapie von RA
und AS“ 21. Juni 2006, Amsterdam,
Wyeth Pharma GmbH, ww.wyeth.de
rung nach 54 Wochen auf (50% in der
Kontrollgruppe). Bei etwa einem Drittel
der Patienten, die mit Pegaptanib-Natrium
behandelt wurde, konnte die Sehkraft erhalten werden (18% in der Kontrollgruppe). 12% der Patienten zeigten sogar
eine Visusverbesserung. Das Risiko eines
schweren Verlustes der Sehkraft konnte
durch Pegaptanib-Natrium deutlich reduziert werden (3% gegenüber 29% in
der Kontrollgruppe).
Damit erwies sich die Behandlung der
feuchten AMD mit Pegaptanib-Natrium
als effektiv, insbesondere bei frühen Läsionen. Die Zulassungsstudien zeigen auch
eine sehr gute Verträglichkeit der Substanz. Wie Prof. Dr. Stefan Dithmar aus
Heidelberg berichtete, kommt es durch
die intravitreale Injektion von Pegaptanib-Natrium zu keinen systemischen Nebenwirkungen oder lokalen Problemen
wie Erhöhung des Augeninnendrucks oder
Kataraktentstehung. Linsen- oder Netzhautverletzungen treten nur bei falscher Injektionstechnik auf. Die Behandlung sollte daher nur von erfahrenen Fachärzten für
Augenheilkunde mit Kenntnissen über
intravitreale Medikamentenapplikation
erfolgen. Unter streng aseptischen Bedingungen kann das Risiko für eine Endophthalmitis minimiert werden. Pegaptanib-Natrium ist seit Januar 2006 für die
Behandlung aller angiographischen Subtypen der feuchten AMD zugelassen. RM
„Selektive VEGF-Hemmung: Ein neuer
Weg in der Therapie der feuchten
AMD“, Launch-Pressekonferenz, 25.
April 2006 in Frankfurt; Pfizer Pharma
GmbH, Karlsruhe, www.pfizer.de
GERIATRIE JOURNAL 4/06
IMPRESSUM/TERMINE
Impressum
Termine 2006
Herausgeber:
@ 30. August 2006, Woltersdorf
Prof. Dr. Dr. med. G. Kolb, Lingen;
Prof. Dr. med. I. Füsgen, Wuppertal;
Prof. Dr. med. C. Sieber, Nürnberg;
Prof. Dr. med. B. Höltmann, Grevenbroich;
Prof. Dr. R. Hardt, Trier;
PD Dr. M. Haupt, Düsseldorf;
Dr. D. Lüttje, Osnabrück
Parenterale Ernährung und Diabetes
Redaktion: Jola Horschig (Ltd. Redakteurin, presserecht-
Demenz - Grundlagenwissen und Vertiefung,
lich verantwortlich), Im Kampe 9, 31832 Springe,
Telefon: 0 50 41 / 98 90 58, Telefax: 0 50 41/ 98 90 59,
e-Mail: [email protected]
Herstellung: Sabine Löffler (verantwortlich)
Informationen: Akademie bei König & Müller, Semmelstr. 36/3,
97070 Würzburg, Tel. 09 31/46 07 90-33, Fax -34,
eMail: [email protected], www.neuropsychologie.de
Grafik: Sabine Löffler (verantwortlich)
@ 20. bis 23. September 2006, Bad Ischl (Österreich)
Verlag: gerikomm Media, Kampstr. 7, 30629 Hannover
3. Internationaler Kongress für Interdisziplinäre Gerontologie –
mit Alzheimer Akademie
Verlagsleiter: Uwe Wegner, Telefon: 05 11 / 58 15 84,
Telefax: 05 11 / 58 32 84, e-Mail: [email protected]
Anzeigen: Uwe Wegner, Telefon: 05 11 / 58 15 84,
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IV. Medizinische Klinik, Theodor-Kutzer-Ufer, 68167 Mannheim,
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Internationale Gesellschaft für Präventivmedizin e.V., Gleichmannstr. 4,
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@ 21. Oktober 2006, Berlin
4. Demenz-Symposium am Evangelischen Geriatriezentrum
Berlin, „Demenz – den Menschen nicht vergessen“
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Gerichtsstand und Erfüllungsort: Hannover.
@ 17./18. November 2006, Berlin
Druck: Verlag Gödicke Druck & Consulting, Hannover
Diagnostik und Therapie von Schluckstörungen in Neurologie,
Geriatrie und freier Praxis
© gerikomm Media 2006
Druckauflage: 5.500 Exemplare
GERIATRIE JOURNAL 4/06
ISSN 1439-1139
III. Quartal 2006
Informationen: Akademie für Fort- und Weiterbildung in der Geriatrie,
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