191 PASSAUER SCHRIFTEN ZUR GEOGRAPHIE Zusammenfassung D HERAUSGEGEBEN VON ie vorliegende Untersuchung ging von dem Phänomen tief einer eigenen Reproduktion der ungleichen Verwirklichungsgreifend strukturierter sozialer Ungleichheit in Brasiliens liegen muss.GAMERITH WERNER ERNST STRUCK, DIETER ANHUF UNDchancen Metropolen aus, die sich in fragmentierten StadtlandschafDie gemäß dem Prinzip der Grounded Theory gewonnenen Schriftleitung: Erwin räumlicher Vogl Nähe treffen All- Erkenntnisse und Zwischenkonzeptionen wurden im Rahmen ten ausdrückt. In unmittelbarer tagswelten mit höchst divergierenden Lebensverwirklichungsvon Bourdieus Praxistheorie und der Theorie der Produktion chancen aufeinander; diese sozial konstruierten Wirklichkeiten des Raumes von Lefebvre analysiert. Beide Perspektiven imkönnen auch als Summe der alltäglichen Erlebnis- und Akplizieren einen gesellschaftskritischen Blick auf die sozialen tionsräume bezeichnet werden. Sie spiegeln sich in BrasiliProzesse und Missstände im Kontext der gesellschaftsinternen ens Städten im unmittelbaren Nebeneinander innerstädtischer Machtverhältnisse: Bourdieus Erkenntnisperspektive konstiMarginalviertel, den Favelas, mit den Wohnhochhäusern der tuiert sich wesentlich aus der Überwindung von individualisMittel- und Oberklasse wider. An den Grenzen dieser Stadttischer und strukturalistischer Herangehensweise, wie es eine welten kommt es zu einem latent hohen Konfliktpotenzial, kritische Analyse der sozialen Praxis im Kontext der objektidas sich in einer von der Bevölkerung erlebten und erlitteven Strukturen erfordert; Lefebvre geht von einem kritischen nen, diskursiv konstruierten, aber nicht zuletzt auch real beGesellschaft- und Raumverständnis aus, welches die Trennung obachtbaren Zunahme von Gewalt, Kriminalität und damit in materielle und gedankliche Raumkonzeptionen aufhebt und einhergehender Beeinträchtigung der Handlungsspielräume damit ein ganzheitliches Verständnis des sozial konstruierten HEFT äußert. Dies führt zu Grenzziehungen bzw. verstärkt die beRaumes ermöglicht. stehenden Grenzen innerhalb der Gesellschaft, welche die soIm Sinne einer kritischen humangeographischen Stadtforziale Alltagspraxis aller beteiligten Akteure dominant prägen. schung fokussierte die Untersuchung also die Erfassung ungleicher Stadtwelten, um den städtischen Raum als soziales Gleichzeitig scheint es jedoch Praktiken zu geben, welche das gesellschaftliche Miteinander trotz der offensichtlich hohen Produkt seiner Bewohner zu verstehen. Dabei ging es um eine sozialen Polarisierung und Konfliktzonen vor einer sozialen Geographie in der Stadt und nicht um eine Geographie der Stadt. In deren Mittelpunkt steht der verstehende Nachvollzug Entropie bewahrt. Das zentrale Forschungsinteresse galt demder Konstitution und Wirkmächtigkeit des Raumes, respektientsprechend den Wirkungszusammenhängen der subtil ablaufenden Perpetuierung sozialer Ungleichheit, räumlichen ve ungleicher Raumproduktion, als sinnhafte Wirklichkeit für und sozialen Grenzziehungen und den dafür verantwortlichen das Alltagsleben der betroffenen Akteure. Mit diesem Ziel, die Machtdifferenzialen. soziale Grammatik ungleicher Raumproduktion am Beispiel der fragmentierten Stadtwelten im brasilianischen Salvador Der Analyse dieses sozialen und räumlichen Phänomens lag eine praxisorientierte Forschungskonzeption zugrunde, mit aufzudecken, wurde mit der vorliegenden Arbeit angestrebt, welcher das Alltagslebens und speziell der Umgang der Bewoheinen konzeptionellen Beitrag für eine Geographie sozialer ner innerstädtischer Favelas mit der alltäglichen Situation aus Ungleichheit zu liefern. Eine solche untersucht den Raum als Benachteiligung und verschiedenen Ausgrenzungsformen beUngleichheitsdimension in seiner gesellschaftlichen Hervorbringung und fragt umgekehrt danach, welche Lebensverwirktrachtet wurde, um es verstehend nachvollziehen zu können. lichungschancen durch soziale Raumprodukte hervorgebracht Die Untersuchung erfolgte in zwei Favelas unterschiedlicher bzw. eingeschränkt werden. Die Arbeit verfolgte damit eine Größe in Salvador da Bahia. Die Erkenntnisse wurden wäh„Kritik am Alltagsleben“, wie Lefebvre sie forderte, zu versterend drei mehrmonatiger Forschungsaufenthalte, im Wesenthen als eine Kritik an der gesellschaftlichen Ordnung und an lichen durch die Teilnahme am Alltagsleben und durch Geder städtischen Organisation des Raumes. spräche und Interviews mit den Favela-Bewohnern sowie den Als wichtigstes Ergebnis der Datenanalyse zeigte sich das Bewohnern der angrenzenden Mittel- und Oberschichtviertel generiert. Bei den Favelas handelt es sich um die Wohnorvon vielen Favela-Bewohnern geteilte Praxisprinzip eines Hate und Lebensmittelpunkte der städtischen Unterklasse, die bitus der Scham. Dieser kann als soziale Grammatik begrifdurch die Bereitstellung ihrer Arbeitskraft zu einem minimafen werden, welche einen Schlüssel zum Verstehen ungleicher len Einkommen das Funktionieren des städtischen Lebens erMit 18 Abbildungen, 12 Tabellen und 27Raumproduktion Bildern und zur Perpetuierung des von strukturiermöglichen. Hinsichtlich ihrer gesellschaftlich eingeschränkten ter Ungleichheit gekennzeichneten Alltagslebens darstellt. Als Beachtung und Anerkennung formieren sie eine gesichtslose internes verborgenes Regelwerk, eine dem Alltagssinn kaum Masse ­Subalterner, eine Klasse aus „Entbehrlichen“, in welbewusste Struktur, kann er die soziale Praxis dirigieren. Er cher der Einzelne, als bloße Arbeitskraft betrachtet, jederzeit bewirkt, dass Alltagspraktiken, die zur Reproduktion ungleiersetzt werden kann. Gerade bei dieser Bevölkerungsgruppe cher Strukturen beitragen, von den Akteuren selbst in der Reerschienen die Widersprüche zwischen einer vermeintlichen gel nicht in dieser Wirkung bewusst wahrgenommen werden „Akzeptanz“ und einem willentlichen „Interesse“ am Erhalt ­können, da sie einem präreflexiven sozialen Sinn folgen bzw. der sozialen Missstände besonders augenscheinlich. Dies führdiesen selbst formieren. Ein Habitus der Scham kann schamte zu der Vermutung, dass in deren gelebter Alltagswelt ein zentrierte Praxisformen hervorbringen, welche bei den soziSchlüssel für die vermeintlichen „Paradoxien“ zwischen den al unterlegenen oder „beherrschten“ Akteuren nicht nur die Wahrnehmungs-, Bewertungsund Handlungsmustern und ­Mechanismen derPassau Beschämung über ihren defizitären soziaSelbstverlag Fach GEOGRAPHIE der Universität 26 Veronika Deffner Habitus der Scham – die soziale Grammatik ungleicher Raumproduktion Eine sozialgeographische Untersuchung der Alltagswelt Favela in Salvador da Bahia (Brasilien) Zusammenfassung 192 PASSAUER SCHRIFTEN ZUR GEOGRAPHIE len Status verschleiern, sondern gleichfalls stigmatisierte, beschämende Räume zu produzieren und zu reproduzieren vermögen. Die zentrale Erkenntnis der Untersuchung für eine geographische Ungleichheitsforschung ist darin zu sehen, dass Raum ein Medium zu Stärkung der Ungleichheitsstrukturen darstellt – wie ganz wesentlich an der Repräsentation der ­Favela als „Risiko- und Gewaltraum“ deutlich wird. Der aus den analyHERAUSGEGEBEN VON sierten Praxisformen abgeleitete Habitus der Scham und seine Bindung an Räumlichkeiten zeigen ein Konzept auf, mit dessen Hilfe raumbezogene Zuschreibungen als machttechnologische Instrumente zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse beschrieben werden können. Die Frage, ob dieses Konzept übertragbar ist, hängt von den Normativen der gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen und der Frage ab, inwieweit die Gesellschaft sich der Suche nach Gerechtigkeit im Sinne der „Moderne“ verschreibt und dies in der sozialen Praxis effektive Umsetzung finden kann. ERNST STRUCK, DIETER ANHUF UND WERNER GAMERITH Schriftleitung: Erwin Vogl HEFT 26 Veronika Deffner Habitus der Scham – die soziale Grammatik ungleicher Raumproduktion Eine sozialgeographische Untersuchung der Alltagswelt Favela in Salvador da Bahia (Brasilien) Mit 18 Abbildungen, 12 Tabellen und 27 Bildern Selbstverlag Fach GEOGRAPHIE der Universität Passau