FORSCHUNG Top-down oder Bottom-up? Welche Ansatzwahl und damit verbundene Therapieplanung kann die Effektivität der Therapie steigern und deren Outcome verbessern? Dieser Beitrag vermittelt eine Übersicht über aktuelle Studienergebnisse. MEHR INFOS DIE AUTORIN Foto: privat 16 Alessa Klingebiel ist Physiotherapeutin, BSc Prävention-, Therapie- und Rehabilitations­ wissenschaften (PTRW), und arbeitet in einer Praxisgemeinschaft in Vaihingen. VON OBEN ODER VON UNTEN? Diskussion um den besseren ­Therapieansatz D ie Begriffe Top-down (von oben nach unten) und Bottomup (von unten nach oben) verwendet man hauptsächlich in der Wirtschaft oder im Management. Dort werden diese wie folgt definiert: —— Top-down beschreibt eine Methode, bei der man schrittweise von allgemeinen, umfassenden Strukturen zu immer spezielleren Details übergeht. —— Bottom-up beschreibt eine Methode, bei der man von speziellen Details ausgeht und schrittweise über immer umfassendere Strukturen die Gesamtstruktur eines Systems errichtet. Die Herangehensweise: Auf die Physiotherapie übertragen bedeutet das eine unterschiedliche Herangehensweise an die Ebenen der ICF. Der Top-down-Ansatz zielt auf die Priorisierung der Partizipationsebene ab. Die Therapie findet zunächst handlungsorientiert und auf den Alltag des Patienten abgestimmt statt. Im Gegensatz dazu geht der Bottom-up Ansatz von der Ebene Körperfunktion und -struktur aus: Danach müssen zuerst einzelne Körperteile oder Bewegungsstrukturen behandelt und funktionstüchtig gemacht werden, bevor auf den Alltag des Patienten eingegangen werden kann. Diskussionen in der Neurologie: Vor allem in der neurologischen Rehabilitation wird viel über die beiden unterschiedlichen Ansätze diskutiert. In dem Fachartikel „Top-down oder Bottom-up? Diskussion therapeutischer Ansätze” von Gabriele Eckhardt und Anke Greb werden beide Ansätze aufgezeigt und miteinander verglichen (siehe Info-Grafik). Die Autorinnen kom- Code scannen, mehr lessen: Den kompletten Beitrag mit Literaturliste finden Sie auf unserer Website. men zu dem Ergebnis, dass keine klare Aussage getroffen werden kann, welcher der beiden Ansätze besser oder richtig ist. Jeder neurologische Patient zeigt ein individuelles Krankheitsbild, sodass jeweils das Clinical Reasoning entscheiden muss, wie er am besten behandelt werden sollte. „Konkret bedeutet dies, dass Patienten, denen die kognitiven, perzeptiven oder propriozeptiven Voraussetzungen fehlen, erst die Teilabschnitte der Handlung lernen müssen, bevor sie diese in die komplexe Handlung übertragen können (Bottom-up). Im Gegensatz dazu sind Patienten mit reduzierter Kraft, Koordination, Ausdauer und mit der Problematik des erlernten Nichtgebrauchs besser mit handlungsbezogenen Aufgaben versorgt (Top-down).“ In Ihrem Artikel „Greifen, halten und manipulieren“ erklärt Physiotherapeutin Claudia Pott, dass Schlaganfallpatienten mit motorischen Defiziten wiedererlernte Funktionen während der Therapie häufig nicht im Alltag umsetzen können. „Sie transferieren Aktivitäten nur dann in das reale Leben, wenn sie diese vorher ausreichend unter Alltagsbedingungen geübt haben.“ Methoden zur alleinigen Verbesserung der Funktionsebene, die im Alltag des Patienten keine Rolle spielen, sind demnach nicht das Mittel der Wahl. Prinzipien der Trainingstherapie: In der Trainingstherapie gibt es eine klare Tendenz. Die Entscheidung der Therapeuten fällt hier meist auf die Bottom-up-Methode. „Training ist regelmäßige körperliche Bewegung zum Zweck der Steigerung oder Erhaltung der körperlichen Leistungsfähigkeit auf der Basis von Wachstumsprozessen in den beanspruchten Organen.“ Gerade die Wachstumsprozesse sind hierbei der Schlüssel. Denn es muss erst ein bestimmtes Leistungslevel erreicht werden, bevor eine physiologische Steigerung möglich ist. Methodik in der Orthopädie/Chirurgie: Auch in der manuellen Therapie liegt der Schwerpunkt der Behandlung auf 08|16 VPTMAGAZIN FORSCHUNG ► Partizipation und Alltagsbetätigungen stehen in der Therapie hinten an ► handlungsorientierter Ansatz ► Partizipation, Alltag und Rolle des Patienten stehen im Vordergrund ► Erst wenn der Patient die Basisfunktionen wiedererlangt hat, spielen Aktivitäten eine Rolle ► Aktivitäten sind Inhalt und Mittel der Therapie ► Funktionsorientierter Ansatz ► Störungen der Körperfunktionen und -strukturen stehen im Vordergrund ► Therapeut legt Ziele fest ► Körperfunktionen und -strukturen berücksichtigt der Therapeut nur, wenn sie bei der Störung einer Tätigkeit eine Rolle spielen BOTTOM-UP-ANSATZ Quelle: physiopraxis 11-12/08 TOP-DOWN-ANSATZ Die Ansätze Bottom-up und Top-down im Vergleich Bottom-up-Ansätzen. Vor allem nach Operationen, aber auch bei chronischen Schmerzen wird zuerst an der betroffenen Körperfunktion oder -struktur gearbeitet, um den Weg zur Partizipation zu ebnen. Therapeutisches Vorgehen und Therapieplanung wird durch die Wundheilungsphasen geprägt. So kann ein Fußballer nach einer Weber-C-Fraktur nicht gleich an seinem Partizipationsziel (Fußball spielen) ansetzen, sondern muss erst die Wundheilungsphasen und Frührehabilitation durchlaufen. Dabei unterstützt ihn der Therapeut durch Maßnahmen auf Körperfunktions- und -strukturebene. Im Vergleich hierzu kann bei einem frischen Schlaganfallpatienten schon im Frühstadium der Rehabilitation mit Gangübungen auf dem Laufband (mit Aufhängungssystem) begonnen werden, auch wenn die Beinfunktion noch nicht wieder vollständig hergestellt ist. Internationaler Vergleich: Eine Studie der Wissenschaftlerin Sarah Tyson über die Interventionen von britischen Physiotherapeuten bei der Therapie zur Verbesserung der posturalen Kontrolle nach Schlaganfall zeigte, dass beinahe die Hälfte der Therapie mit dem Bottom-up- und nur wenige Prozent mehr mit dem Top-down-Ansatz durchgeführt wurde. Im Gegensatz dazu fand die amerikanische Physiotherapeutin Nancy Latham in einer ähnlichen Studie heraus, dass hier fast ausschließlich mit dem Top-down-Ansatz gearbeitet wurde. Deutschland selbst weist bislang noch keine Studie zu dieser Thematik auf. Top-down oder Bottom-up?Pauschal lässt sich diese Frage nicht beantworten. Es gibt zu viele beeinflussende Faktoren, um eine klare Handlungsempfehlung aussprechen zu können. Therapeuten sollten über beide Methoden informiert sein, individuell entscheiden und dabei ein gezieltes Clinical Reasoning einbeziehen. Nur so kann eine qualitativ hochwertige patientenorientierte Physiotherapie erfolgen. Eine Mischform der beiden Ansätze zu verwenden, kann durchaus sinnvoll sein. ◄ VPTMAGAZIN 08|16