Skript zur Vorlesung Physik I für die Bachelorstudiengänge Medizinische Ingenieurwissenschaften und Molecular Life Science an der Universität zu Lübeck im Wintersemester 2012/2013 4. Februar 2013 ii Inhaltsverzeichnis Inhalt ii I 1 Mechanik 1 Messungen und Physikalische Größen 1.1 Das Internationale Einheitensystem . 1.2 Natürliche Einheitensysteme . . . . . 1.3 Dimension physikalischer Größen . . 1.4 Messfehler . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Systematische Messfehler . . . 1.4.2 Zufällige Messfehler . . . . . . 1.4.3 Fehlerfortpflanzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 5 8 9 10 10 10 12 2 Kinematik 2.1 Geschwindigkeit und Beschleunigung . 2.2 Weg-Zeit-Gesetz . . . . . . . . . . . . . 2.3 Ungleichförmige Beschleunigung . . . . 2.4 Bewegung im dreidimensionalen Raum 2.5 Schräger Wurf . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Kreisbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 15 18 20 22 25 26 3 Dynamik 3.1 Newtonsche Gesetze . . . . . . . . 3.1.1 Erstes Newtonsches Gesetz . 3.1.2 Zweites Newtonsches Gesetz 3.1.3 Drittes Newtonsches Gesetz 3.2 Grundkräfte . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Gravitationskraft . . . . . . 3.2.2 Elektromagnetische Kraft . 3.2.3 Kernkräfte . . . . . . . . . . 3.3 Kontaktkräfte . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Hookesches Gesetz . . . . . 3.3.2 Reibungskräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 31 31 32 35 35 35 38 39 40 40 40 iii . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 3.5 3.6 Trägheitskräfte . . . Bewegungsgleichung Erhaltungsgrößen . . 3.6.1 Energie . . . 3.6.2 Impuls . . . . 3.6.3 Drehimpuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Mechanik des starren Körpers 4.1 Massenmittelpunkt . . . . . . 4.2 Drehmoment . . . . . . . . . 4.3 Trägheitsmoment . . . . . . . 4.4 Steinerscher Satz . . . . . . . 4.5 Kreisel . . . . . . . . . . . . . 4.6 Gleichgewicht . . . . . . . . . 4.7 Hebelgesetze . . . . . . . . . . 4.8 Translation und Rotation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 46 46 47 51 55 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 57 58 59 61 62 64 65 67 5 Mechanik der deformierbaren Medien 5.1 Feste Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Hooksches Gesetz . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Elastizitätsgesetz . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Kompressionsmodul und Kompressibilität 5.1.4 Torsionsmodul . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Flüssigkeiten und Gase . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Kompressibilität . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Hydrostatik . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Hydrodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 69 70 71 71 72 74 75 75 85 . . . . . . . . 95 95 95 96 96 97 98 100 104 . . . . 111 111 114 116 117 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Schwingungen 6.1 Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Mathematische Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Lineare Differentialgleichungen zweiter Ordnung 6.2.2 Komplexe Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Freie Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Fadenpendel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Gedämpfte Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Erzwungene Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Wellen 7.1 Gekoppelte Pendel . . . 7.2 Pendelkette . . . . . . . 7.3 Phasengeschwindigkeit . 7.4 Gruppengeschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . iv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 7.6 7.7 II Wellengleichung . . . . . . . . . . . . . . . Stehende Wellen . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.1 Zwei feste Enden . . . . . . . . . . 7.6.2 Ein stehendes und ein offenes Ende Doppler-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wärmelehre 118 120 121 122 123 125 8 Innere Energie 8.1 Thermodynamisches Gleichgewicht . . 8.2 Nullter Hauptsatz der Thermodynamik 8.3 Temperatur . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Thermometer . . . . . . . . . . . . . . 9 Wärme und Temperatur 9.1 Wärme . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.1 Wärmekapazität . . . . . . . . 9.1.2 Verdampfungswärme . . . . . . 9.2 Erster Hauptsatz der Thermodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 128 129 130 131 . . . . 133 133 133 134 134 10 Entropie 135 10.1 Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik . . . . . . . . . . . . . . . 135 11 Das Ideale Gas 11.0.1 Adiabatengleichung . . . . . . 11.1 Zustandsgleichung idealer Gase . . . 11.2 Wärmekapazität des idealen Gases . 11.2.1 Einatomige Gase . . . . . . . 11.2.2 Zweiatomige Gase . . . . . . . 11.2.3 Adiabatenexponent . . . . . . 11.3 Wärmekraftmaschinen . . . . . . . . 11.3.1 Verbrennungsmotor . . . . . . 11.3.2 Kompressionsverhältnis . . . . 11.3.3 Carnot-Prozeß . . . . . . . . . 11.3.4 Stirling-Motor . . . . . . . . . 11.4 Wärmepumpen und Kältemaschinen 11.5 Van der Waalsche Zustandsgleichung v . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 141 143 146 147 148 150 150 152 154 155 157 158 160 Anhang 162 Abbildungsverzeichnis 164 Tabellenverzeichnis 169 Errata 171 vi Teil I Mechanik 1 Kapitel 1 Messungen und Physikalische Größen Die Physik ist eine quantitative Wissenschaft, das heißt es geht in ihr nicht nur um eine qualitative Beschreibung der Natur, etwa durch Feststellungen wie Ein ” losgelassener Apfel fällt zu Boden.“ oder Die Erde dreht sich um die Sonne.“, ” sondern auch um Antworten auf Fragen wie In welcher Zeit fällt der Apfel zu ” Boden?“, Welche Geschwindigkeit hat er zu verschiedenen Zeitpunkten?“, Wie ” ” weit ist die Erde von der Sonne entfernt?“. Um solche Fragen zu beantworten, werden Modelle oder Theorien aufgestellt, die nach Möglichkeit so einfach wie möglich aber gleichzeitig auch so allgemeingültig wie möglich sein sollen. Ein solches Modell ist das Newtonsche Gravitationsgesetz, das sowohl den Fall des Apfels als auch die Bewegung der Erde um die Sonne quantitativ zu erklären vermag. Um ein Modell oder eine Theorie aufzustellen zu können, muss die Natur zunächst beobachtet werden, müssen Messungen gemacht werden. Die Fallversuche von Galilei und die von Kepler bestimmten Planetenbahnen waren solche Messungen, die am Anfang von Newtons Gravitationsgesetz standen. Sehr selten wird eine neue Theorie nur durch Nachdenken aus Grundannahmen (Axiomen) heraus abgeleitet. Ein Beispiel für diesen seltenen Fall ist die Allgemeine Relativitätstheorie von Einstein. Hier gab es vorher praktisch keine Messungen, zu deren Erklärung man die Allgemeine Relativitätstheorie benötigt hätte. Aber auch hier, wie bei jeder anderen Theorie, waren Messungen im Nachhinein nötig, Messungen die geeignet sind, die Theorie zu widerlegen oder zu bestätigen. Bestätigung ist hier nicht als Beweis im Sinne der Mathematik zu verstehen, sondern meint, dass das Vertrauen in die Gültigkeit der Theorie gestärkt wird. Gleichzeitig helfen Messungen den Bereich der Gültigkeit zu erkunden. Messungen an Teilchen mit hohen Geschwindigkeiten (in der Nähe der Lichtgeschwindigkeit) zeigen, dass die klassische Mechanik, wie sie von Newton aufgestellt wurde, hier nicht mehr gültig ist. Auch bei mikroskopisch kleinen Teilchen, wie den Elektronen, stimmen die Messungen nicht mehr mit der klassischen Mechanik überein. Messungen haben 3 also gezeigt, dass der Gültigkeitsbereich der klassischen Mechanik auf makroskopische Teilchen mit Geschwindigkeiten deutlich unter der Lichtgeschwindigkeit beschränkt ist. Messungen sind deshalb ein zentraler Bestandteil der Physik. Abbildung 1.1: Alltägliche Beispiele physikalischer Größenangaben mit und ohne Maßeinheiten Bei einer Messung wird das zu vermessende Objekt mit einem Maßstab verglichen. Ganz wörtlich geschieht dies, wenn eine Strecke mit einem Zollstock vermessen wird. Im allgemeineren Sinne können wir auch ein Eichgewicht oder die Zeitdauer einer Pendelbewegung als Maßstab“ verwenden. Das Anlegen des ” ” Maßstabs“ erfordert in diesem Fall eine genaue und eindeutige Messvorschrift (für eine Zeitmessung zum Beispiel: zähle die Anzahl der Pendelschwingungen). Welcher Maßstab verwendet wird, hängt nicht nur von der Art der Größe ab, sondern welchen Wert sie hat. Astronomische Abstände etwa müssen mit Hilfe der Winkelmessung bestimmt werden. Auch bei der Landvermessung wird diese Methode bevorzugt. Im Bereich von einigen zehn Metern bis zu Bruchteilen eines Millimeters lassen sich Maßstäbe im Wortsinne einsetzen. Unterhalb dieses Bereiches werden elektromagnetische Wellen (sichtbares Licht oder Röntgenstrahlung) eingesetzt. Das Ergebnis einer Messung wird üblicherweise als Produkt aus einer reellen Zahl und einer Maßeinheit angegeben. Die mit dem Zollstock vermessene Strecke s wird dann durch s = 3, 8 m angegeben. Dabei steht die Abkürzung m für die Maßeinheit, in diesem Fall der Meter. Im alltäglichen Leben wird die Maßeinheit manchmal weggelassen, wenn jedermann klar ist, welche Maßeinheit gemeint ist, zum Beispiel bei der Angabe von Höchstgeschwindigkeiten auf Verkehrsschildern. Bei Geschwindigkeitsübertretungen ist die Ausrede, bei dem rechten Verkehrsschild in Abbildung 1.1 seien 60 m/s gemeint, vermutlich wenig Erfolg versprechend. Wer dagegen in einer Physikklausur die zu berechnende Geschwindigkeit mit 60 statt mit 60 km/h angibt, sollte mit Punktabzug rechnen, denn in allen Natur- und Ingenieurwissenschaften ist es bei der Angabe von physikalischen Größen zwingend erforderlich, auch die Maßeinheit zu nennen. 4 Die Anzahl gebräuchlicher Maßeinheiten war in früheren Jahrhunderten unüberschaubar, was nicht nur für den Handel und sondern auch für die aufkommende Industrie und die sich entwickelnden Wissenschaften ein ernsthaftes Hindernis war. Einheiten wie Elle, Fuß, Unze, Pfund oder Pferdestärken sind heute noch bekannt, wenn auch kaum noch in Verwendung. Mittlerweile hat sich jedoch weltweit in Technik und Naturwissenschaften ein einheitliches, dezimales Einheitensystem durchgesetzt, das Internationale Einheitensystem, das in vielen Staaten der Erde und auch in der Bundesrepublik Deutschland für den amtlichen und den geschäftlichen Verkehr vorgeschrieben ist. Tabelle 1.1: Die kohärenten Basiseinheiten des Internationalen Einheitensystems. Größe Länge Einheit Meter Abkürzung m Dimension L Definition Strecke, die das Licht im Vakuum in 1/2 999 792 458 s durchläuft. Masse Kilogramm kg M Masse des Kilogrammprototyps Zeit Sekunde s T Das 9 192 631 770-fache der Schwingungsdauer des Lichts eines bestimmten Hyperfeinübergangs von 133 Cs Stromstärke Ampere A I Stärke des Gleichstroms in zwei parallelen, dünnen Leitern, der zu einer anziehenden Kraft von 2 × 10−7 N führt Temperatur Kelvin K Θ Thermodynamische Temperatur des Tripelpunktes des Wasser geteilt durch 273,16 Stoffmenge Mol mol N Stoffmenge, die der Anzahl von Atomen in 0,012 kg 12 C entspricht Lichtstärke Candela cd J die Lichtstärke von monochromatischem Licht der Frequenz 540 × 1012 Hz bei einer Strahlstärke von 1/683 W sr−1 1.1 Das Internationale Einheitensystem Das Internationale Einheitensystem (kurz SI vom französischen Système international d´unités) wurde 1960 eingeführt und ist heute das am weitesten verbreitete 5 Tabelle 1.2: Abgeleitete, kohärente SI-Einheiten mit eigenem Namen. Größe Einheit Abkürzung Ebener Winkel Raumwinkel Frequenz Kraft Druck Energie Leistung Ladung Spannung Kapazität Elektr. Widerstand Elektr. Leitwert Magnet. Fluß Magnet. Flußdichte Induktivität Celsius-Temperatur Lichtstrom Beleuchtungsstärke Radioaktivität Energiedosis Äquivalentdosis Katalyt. Aktivität Radiant Sterradiant Hertz Newton Pascal Joule Watt Coulomb Volt Farad Ohm Siemens Weber Tesla Henry Grad Celsius Lumen Lux Bequerel Gray Sievert Katal rad sr Hz N Pa J W C V F Ω S Wb T H ◦ C lm lx Bq Gy Sv kat Dimension 1 1 T−1 L M T−2 L−1 M T−2 L2 M T−2 L2 M T−3 TI L2 M T−3 I−1 L−2 M−1 T4 I2 L2 M T−3 I−2 L−2 M−1 T3 I2 L2 M T−2 I−1 M T−2 I−1 L2 M T−2 I−2 Θ J L−2 J T−1 L2 T−2 L2 T−2 T−1 N Darstellung in anderen SI-Einheiten 1 1 s−1 kg m s−2 N m−2 Nm J s−1 As J C−1 C V−1 V A−1 A V−1 Vs Wb m−2 Wb A−1 K cd cd m−2 s−1 m2 s−2 m2 s−2 mol s−1 Einheitensystem. Es gründet sich auf ursprünglich sechs, später sieben sogenannten Basiseinheiten, den drei mechanischen Basiseinheiten Meter, Kilogramm und Sekunde, der elektrischen Basiseinheit Ampere, dem Candela, dem Kelvin und dem nachträglich aufgenommenen Mol (siehe auch Tabelle 1.1). Aus den sieben Basiseinheiten des SI lassen sich durch Multiplikation und Division weitere, sogenannte abgeleitete SI-Einheiten bilden (siehe Tabellen 1.2 und 1.3). Ein Beispiel dafür ist das Newton, die SI-Einheit für die Kraft: 1 N = 1 kg × 1 m × 1 s−2 Für alle Größen der Mechanik lässt sich die zugehörige SI-Einheit eindeutig aus den drei mechanischen SI-Basiseinheiten ableiten. Für 22 abgeleitete SI-Einheiten wurden eigene Namen eingeführt (siehe Tabelle 1.2), eine davon, das Newton, wurde schon genannt. Scheinbar ist es nicht so sehr die Bedeutung einer physikalischen Größe, die darüber entscheidet, ob die SI-Einheit dieser Größe einen eigenen Namen bekommt, sondern eher die Frage, ob sich die Einheit auf einfache Weise aus SI-Basiseinheiten ableiten lässt. Quadrat- oder Kubikmeter beziehungsweise m2 oder m3 lassen sich so einfach schreiben und sprechen, dass die Notwendigkeit eines eigenen Einheitennamens nicht besteht.1 1 Der Liter ist zwar erlaubt, ist aber keine kohärente SI-Einheit. 6 Tabelle 1.3: Einige abgeleitete, kohärente SI-Einheiten ohne eigenen Namen. Größe Dimension Fläche Volumen Geschwindigkeit Beschleunigung Dichte Konzentration Impuls Drehimpuls Drehmoment Wirkung Brechungsindex L2 L3 L T−1 L T−2 L−3 M L−3 N L M T−1 L2 M T−1 L2 M T−2 L2 M T−1 1 Darstellung in anderen SI-Einheiten m2 m3 m s−1 m s−2 kg m−3 mol m−3 kg m s−1 kg m2 s−1 kg m2 s−2 Js 1 Die in den Tabellen 1.1, 1.2 und 1.3 aufgeführten SI-Einheiten werden als kohärente Einheiten bezeichnet. Alle abgeleiteten Einheiten, die durch Multiplikation oder Division kohärenter Einheiten entstehen, sind wieder kohärente Einheiten. Nicht kohärente SI-Einheiten entstehen durch das Vorsetzen eines Präfixes wie kilo oder milli (siehe Tabelle 1.4). Eine Ausnahme bilden die SI-Einheiten für die Masse: Hier ist das Kilogramm trotz des Präfixes die kohärente und das Gramm eine inkohärente SI-Einheit. In diesem Fall werden die Präfixe der inkohärenten Einheit vorangestellt, wie zum Beispiel bei Milligramm oder Mikrogramm. Eine aus nicht kohärenten Einheiten abgeleitete Einheit kann kohärent oder nicht kohärent sein. Die Verwendung von Präfixen macht die Angabe von physikalischen Größen oft viel übersichtlicher, als dies bei der Verwendung von Zehnerpotenzen der Fall wäre. Ein Bindungsabstand von 152 pm (Picometer) schreibt und insbesondere spricht sich durch die Verwendung des Präfixes viel einfacher, als wenn man ihn mit Hilfe von Zehnerpotenzen als 1, 52 × 10−12 m angeben müsste. Das Präfik verschmilzt mit der kohärenten SI-Einheit zu einer neuen, nicht kohärenten SI-Einheit. Wird die neue Einheit potenziert, bezieht sich die Potenzierung auch auf das Präfix. Deshalb ist ein Kubikmillimeter nicht etwa gleich 10−3 m3 , sondern es gilt 1 mm3 = 10−9 m3 . Trotz der genannten Vorteile der inkohärenten Einheiten kann bei der Auswertung komplexer Ausdrücke die ausschließliche Verwendung von kohärenten Einheiten sehr vorteilhaft sein. Verwendet man die Definition des Druckes p= F A (1.1) und setzt für Kraft und Fläche die in kohärenten SI-Einheiten angegebenen Werte 6 × 104 N und 2 × 10−6 m2 ein, dann sieht man auf einen Blick, dass das Ergebnis 3×1010 Pa lauten muss, da das Pascal (abgekürzt: Pa) die kohärente Druckeinheit des SI ist. Dass dagegen eine Kraft von 60 kN, die auf eine Fläche von 2 mm2 7 wirkt, zu einem Druck von 30 GPa führt, sieht sicher nicht jeder sofort. Eine Erfolg versprechende Strategie zur Berechnung von physikalischen Größen ist daher, zunächst alle gegebenen Größen in kohärente SI-Einheiten umzurechnen, und dann erst die eigentliche Berechnung durchzuführen. Die Festlegung der SI-Einheiten geschah ursprünglich durch Prototypen wie das Urmeter als Eichmaßstab oder das Urkilogramm als Eichmasse. Zunehmend geht man aber dazu über, die Einheiten durch Bezug auf Naturkonstanten festzulegen (ohne dass dabei der Wert geändert wird). Einen ähnlichen Ansatz verfolgen die natürlichen Einheitensysteme. 1.2 Natürliche Einheitensysteme In der Theoretischen Physik wählt man sich manchmal sogenannte natürliche Einheitensysteme, in denen die Maßeinheiten so gewählt werden, dass bestimmte Naturkonstanten den Wert eins annehmen. So sind etwa in atomaren Einheiten die Elementarladung e, die Elektronenmasse me und das rationalisierte Plancksche Wirkungsquantum h̄ gleich eins: e = me = h̄ = 1. Im geometrischen Einheitensystem nehmen dagegen die Planck-Einheiten, die Lichtgeschwindigkeit c, das rationalisierte Plancksche Wirkungsquantum h̄ und die Gravitationskonstante G den Wert eins an: c = h̄ = G = 1 . Viele Gleichungen lassen sich in natürlichen Einheitensystemen kürzer schreiben. Der Grund für die Wahl eines solchen Einheitensystems ist aber nicht nur bloße Schreibersparnis, sondern die Hervorhebung zuvor verborgener Symmetrien der Naturgesetze. So werden die Maxwell-Gleichungen im Vakuum symmetrisch bezüglich des elektrischen und des magnetischen Feldes, wenn die Lichtgeschwindigkeit den Wert eins hat. Die elektrischen und magnetischen Feldstärkekomponenten, die durch die Lorentz-Transformation ineinander überführt werden, haben dann dieselbe Einheit, und das Gleiche gilt für die drei Raumkomponenten und die Zeit. Setzt man in einem natürlichen Einheitensystem genügend Naturkonstanten gleich eins, braucht man überhaupt keine Einheiten mehr: Die Maßstäbe“ für Messungen sind die Naturkonstanten selbst. Die Feststellung, ” eine Masse bewege sich mit der Geschwindigkeit 0,5 in einem Einheitensystem mit c = 1, bedeutet so, die Masse bewegt sich mit halber Lichtgeschwindigkeit. Alle physikalischen Größen bestehen dann ausschließlich aus einer Zahl. Man sagt dann auch, die Größen seien dimensionslos. Der Nachteil einer solchen Vorgehensweise ist, dass man der Angabe der Größe allein nicht mehr entnehmen kann, um welche Größe es sich handelt. So kann die Größe 0,5 im geometrischen Einheitensystem einer Länge von 8, 08 × 10−36 m (der halben Planck-Länge), einer Zeitdauer von 2, 7 × 10−44 s oder einer Geschwindigkeit von 1, 5 · 108 m s−1 (der halben Lichtgeschwindigkeit) im SI-System (siehe unten) entsprechen. Aus 8 diesem und anderen Gründen wird im Folgenden ausschließlich das Internationale Einheitensystem verwendet. 1.3 Dimension physikalischer Größen Jeder physikalischen Größe ist genau eine kohärente SI-Einheit zugeordnet, die sich auf eindeutige Weise als Produkt von kohärenten SI-Basiseinheiten darstellen lässt. Umgekehrt kann ein Produkt von kohärenten SI-Basiseinheiten aber zu mehreren verschiedenen physikalischen Größen gehören. So kann man sowohl die Energie als auch das Drehmoment in der Einheit kg m2 s−2 angeben (die Energie kann auch in Joule angegeben werden, das Drehmoment nicht). Das Gleiche gilt für die Wirkung und den Drehimpuls. Deshalb fasst man alle Größen, die sich durch dasselbe Produkt von SI-Basiseinheiten beschreiben lassen, zu einer Größenklasse zusammen. Jeder dieser Größenklassen ordnet man eine sogenannte Dimension zu. Die Dimension der Größenklassen, die den SI-Basiseinheiten entsprechen, sind in Tabelle 1.1 angegeben. Die Dimension einer Größe, die zu einer abgeleiteten SI-Einheit gehört, erhält man durch Multiplikation der Dimensionen der Basiseinheiten, die die abgeleitete Einheit bilden (siehe auch Tabellen 1.2 und 1.3). So haben Energie und Drehmoment die Dimension L2 M T−2 und Wirkung und Drehimpuls die Dimension L2 M T−1 . Abgeleitete Größen, die reine Zahlen sind, wie zum Beispiel der ebene Winkel, der Raumwinkel oder der Brechungsindex, werden als dimensionslos bezeichnet. Um Missverständnisse auszuschließen, gibt man manchmal trotzdem eine Einheit an, beispielsweise das dimensionslose Radiant für den ebenen Winkel. Die Dimension einer Größe hängt offensichtlich vom Einheitensystem ab. Im geometrischen Einheitensystem etwa sind alle mechanischen Einheiten dimensionslos. Tabelle 1.4: Die Präfixe des Internationalen Einheitensystems. Präfix Yotta Zeta Exa Peta Tera Giga Mega Kilo Hekto Deka Abkürzung Y Z E P T G M k h da Wert 1024 1021 1018 1015 1012 109 106 103 102 101 Präfix Dezi Centi Milli Mikro Nano Pico Femto Atto Zepto Yokto 9 Abkürzung d c m µ n p f a z y Wert 10−1 10−2 10−3 10−6 10−9 10−12 10−15 10−18 10−21 10−24 3.8 3.06 3.6 3.04 3.4 3.02 trewsseM trewsseM 3.2 3.00 3.0 2.98 2.8 2.96 2.6 0 200 400 600 800 1000 0 Nummer der Messung (a) 200 400 600 800 1000 Nummer der Messung (b) Abbildung 1.2: Meßwerte mit systematischem (a) und zufälligem (b) Fehler. 1.4 Messfehler Messungen sind grundsätzlich mit Fehlern behaftet. Man unterscheidet dabei systematische und zufällige Fehler. 1.4.1 Systematische Messfehler Ein systematischer Fehler tritt bei einer Wiederholung der Messung in der Regel erneut auf und kann durch Mängel in der Messapparatur oder der Messvorschrift verursacht werden. Wenn eine Eichmasse beispielsweise durch Korrosion im Laufe der Zeit Masse verliert, werden die gemessenen Massen systematisch zu klein bestimmt. Verändern sich die Umgebungsbedingungen der Messapparatur wie Temperatur, Luftfeuchtigkeit oder Luftdruck, kann dies ebenfalls zu systematischen Fehlern führen. In der Abbildung 1.2 (a) werden Messwerte gezeigt, die einen (zeitabhängigen) systematischen Fehler aufweisen. Systematische Fehler lassen sich meist nur grob abschätzen, wenn man sich überhaupt ihrer Existenz bewusst ist. Wäre ein systematischer Fehler genau bekannt (zum Beispiel bei einem Zollstock, der um genau 2 % zu lang ist), dann könnte man sie vermeiden, in dem man die Messvorschrift entsprechend ändert (im Beispiel des Zollstocks: Ergebnis durch 1,02 teilen). 1.4.2 Zufällige Messfehler Zufällige Fehler dagegen ändern sich bei jeder Messung, so dass die Möglichkeit besteht, diese durch häufige Wiederholung der Messung und anschließende Mittelwertbildung (oder, bei stark schwankenden Größen, durch die Berechnung des Medians) zu verringern. Ein Beispiel für Messwerte mit zufälligen Fehlern ist in Abbildung 1.2 (b) gegeben. Wenn der zufällige Messfehler eine Reihe von 10 unabhängigen Ursachen hat und sich als Summe mehrerer Zufallszahlen mit endlicher Schwankung schreiben lässt, dann lässt sich die Häufigkeit, mit der verschiedene Werte für den Messfehler auftreten durch eine Gauß-Verteilung (auch Normalverteilung genannt) beschreiben. Dies ist in Abbildung 1.3 beispielhaft für die Messwerte aus Abbildung 1.2 (b) dargestellt. Die Höhe der Rechtecke in diesem Diagramm gibt an, wie häufig ein Wert in dem durch das jeweilige Rechteck festgelegten Intervall gemessen wurde. Besonders häufig wurden in diesem Beispiel also Werte zwischen 2,98 und 3,02 gemessen. Nur einige wenige Messungen ergaben Werte oberhalb von 3,04. Die durchgezogene Linie ist eine Gauß-Funktion (auch Glockenkurve genannt) 2 1 x−µ 1 √ exp − , (1.2) 2 σ σ 2π deren Parameter µ und σ so gewählt wurden, dass die Gauß-Funktion die durch die Rechtecke repräsentierte gemessene Verteilung so gut wie möglich anpasst. 30 25 20 tiekgifuH 15 10 5 0 2.94 2.96 2.98 3.00 3.02 3.04 3.06 Messwert Abbildung 1.3: Häufigkeitsverteilung der Meßwerte aus Abbildung 1.2 (b). Wenn für eine Größe x insgesamt N Werte gemessen werden, die mit dem Index i nummeriert werden, dann definiert man als Mittelwert N 1 1 ⟨x⟩ = xi = (x1 + x2 + . . . + xN ) . N i=1 N (1.3) Wenn die Messwerte xi ausschließlich mit zufälligen Fehlern behaftet sind, dann sollte sich der Mittelwert ⟨x⟩ immer mehr an den wahren Wert der Messgröße (dessen Existenz wir voraussetzen) annähern. Eine größere Anzahl an Messwerten sollte in Abbildung 1.3 dazu führen, dass die Rechtecke sich der durchgezogenen Linie immer mehr annähern. Die Breite der Glockenkurve bleibt jedoch unverändert: So viele Messungen auch durchgeführt werden, die Schwankung der 11 Messwerte um den wahren Wert, die zufälligen Messfehler also, werden nicht kleiner werden. Ein Maß für die Breite der Glockenkurve ist der Parameter σ, auch Standardabweichung genannt. Bei einer Normalverteilung erwartet man, dass etwa 68,3 % der Messwerte im Intervall [µ − σ, µ + σ] und 95,5 % der Messwerte im Intervall [µ − 2σ, µ + 2σ] liegen. Da die Parameter µ und σ in der Regel ja nicht bekannt sind (sonst bräuchte man auch nicht messen) muss man sie mit Hilfe der Messungen schätzen. Der Mittelwert ⟨x⟩ ist der Schätzwert für µ. Der beste Schätzwert für σ ist N 1 σN = (xi − ⟨x⟩)2 . (1.4) N − 1 i=1 Wir verwenden für diesen Ausdruck der Einfachheit halber oft ebenfalls den Begriff Standardabweichung. Für Normalverteilungen kann man zeigen, dass die Abweichung zwischen dem wahren Wert µ und √ dem berechneten Mittelwert ⟨x⟩ in gut zwei Drittel aller Fälle kleiner als σ/ N ist. Mit etwas Willkür lässt sich dann durch σN (1.5) ∆x = √ N der Fehler des Mittelwertes definieren. Grundsätzlich kann dieser Fehler beliebig klein werden, wenn nur oft genug gemessen wird (N → ∞). Allerdings ist der Aufwand dafür beträchtlich: Um den Fehler zu halbieren, muss man viermal so viele Messungen durchführen. 1.4.3 Fehlerfortpflanzung Oft ist nicht das Ergebnis einer Messung selbst von Interesse sondern eine physikalische Größe die sich aus mehreren verschiedenen Messungen ergibt. Um die für einen Flug benötigte Treibstoffmenge zu berechnen, muss das Gesamtgewicht des Flugzeugs bekannt sein. Dazu muss das Gewicht jedes einzelnen Passagiers, jedes Besatzungsmitglieds und jedes Gepäckstücks addiert werden. Sind insgesamt N Massen zu wiegen, erhält man die Gesamtmasse als M = m1 + m2 + . . . + mN . (1.6) Nimmt man an, dass der Betrag des Messfehlers für die Masse mi nicht größer als ∆mi ist, dann beträgt der Maximalfehler (oder Größtfehler) für die Gesamtmasse M ∆M = ∆m1 + ∆m2 + . . . + ∆mN . (1.7) Der tatsächliche Fehler von M ist möglicherweise deutlich kleiner, da sich die Fehler der Einzelmessungen auch gegenseitig aufheben könnten: Bei einigen Gepäckstücken wird eine zu kleine, bei anderen eine zu große Masse gemessen. Der durch Gleichung 1.7 definierte Größtfehler beschreibt also den schlimmsten 12 möglichen Fall. Für die Bestimmung des Größtfehlers ist es übrigens ohne Bedeutung, ob die Messgrößen addiert oder subtrahiert werden. Bestimmt man das Nettogewicht mnetto einer Probe, indem man vom Bruttogewicht mbrutto das Gewicht des Behälters mtara abzieht, mnetto = mbrutto − mtara , (1.8) dann gilt für den Größtfehler des Nettogewichts: ∆mnetto = ∆mbrutto + ∆mtara . (1.9) Bei Addition oder Subtraktion von Messgrößen addieren sich also die Größtfehler der Messgrößen. Etwas schwieriger ist die Fehlerfortpflanzung bei der Multiplikation oder Division zweier Messgrößen. Sei y = x1 x2 (1.10) mit dem Größtfehler ∆y = (x1 + ∆x1 )(x2 + ∆x2 ) − x1 x2 = x1 ∆x2 + x2 ∆x1 + ∆x1 ∆x2 . (1.11) Wenn die Größtfehler ∆x1 und ∆x2 klein gegen die Einzelmessungen x1 und x2 sind, dann kann der Term ∆x1 ∆x2 auf der rechten Seite von Gleichung (1.11) vernachlässigt werden. Teilt man die Gleichung dann durch y, dann erhält man den relativen Fehler ∆x1 ∆x2 ∆y = + . (1.12) y x1 x2 Bei der Multiplikation addieren sich also die relativen Fehler der Faktoren. Das Gleiche gilt für die Division. Während der absolute Fehler ∆x einer Messgröße x stets die gleiche Einheit (bis auf einen möglichen Zahlenfaktor) wie die Messgröße selbst hat, sind relative Fehler stets dimensionslos. Im allgemeinen Fall, wenn sich eine Größe y als Funktion mehrerer Einzelgrößen xi schreiben lässt, erhält man für den Größtfehler: ∂f ∂f ∂f ∆x1 + ∆x2 + . . . ∆xN . (1.13) ∆y = ∂x1 ∂x2 ∂xN Aus dieser allgemeinen Gleichung lassen sich auch die speziellen Regeln für Addition und Subtraktion beziehungsweise Multiplikation und Division herleiten. Die partielle Ableitung (siehe Anhang) ∂f /∂xi bedeutet, dass beim Grenzübergang in der Definition der Ableitung alle Variablen außer xi festgehalten werden. 13 14 Kapitel 2 Kinematik Das älteste Teilgebiet der Mechanik ist die Kinematik, die Beschreibung der Bewegung von Körpern. Abhandlungen über die Bewegungslehre sind schon aus der Antike bekannt, zum Beispiel Aristoteles’ Physik oder die Paradoxa des Zenon. Die Grundlagen der gegenwärtigen Kinematik wurden erstmals von Galileo Galilei formuliert. Die zentralen Begriffe der Kinematik sind der Ort eines Körpers, die Zeit, die vergeht, bis der Körper sich an einem anderen Ort befindet, und, daraus abgeleitet, die Geschwindigkeit des Körpers und seine Beschleunigung. 2.1 Geschwindigkeit und Beschleunigung Abbildung 2.1: Weg-Zeit-Diagramme Betrachtet man die Bewegung eines Körpers in einer Dimension, dann läßt sich der Ort des Körpers durch eine einzige Längenangabe s festlegen, die den Abstand des Körpers von einem willkürlich gewählten Nullpunkt entspricht. Dabei wird der Körper entweder als punktförmig angenommen, das heißt die Ausmaße des Körpers sind sehr klein gegenüber dem Bereich der in Frage kommenden Orte, oder es interessiert nur die Position eines speziellen Punktes des Körpers, zum Beispiel des Schwerpunktes. Werden nun für zwei verschiedene Zeitpunkte 15 t1 und t2 die Aufenthaltsorte s1 und s2 gemessen, lässt sich daraus mit Hilfe der Definition s2 − s1 v 2,1 = (2.1) t2 − t1 die mittlere Geschwindigkeit v 2,1 des Körpers bestimmen. Man bezeichnet die Paare von zusammengehörenden Zeit- und Ortsmessungen (ti , si ) auch als Ereignisse, die man als Punkte in einem Weg-Zeit-Diagramm auftragen kann (Abb. 2.1 links). Graphisch lässt sich die mittlere Geschwindigkeit dann als Steigung der durch die Punkte (t1 , s1 ) und (t2 , s2 ) verlaufenden Gerade interpretieren. Die Indizes bei der mittleren Geschwindigkeit v 2,1 geben an, auf welches Zeitintervall sich die Bestimmung bezieht. Diese Angabe ist erforderlich, denn im Allgemeinen wird man eine andere mittlere Geschwindigkeit erhalten, wenn man den Ort des Körpers zu anderen Zeitpunkten bestimmt (siehe Abb. 2.1 Mitte). Dann liegen die einzelnen Punkte (Ereignisse) nicht mehr auf einer einzigen Geraden, sondern durch je zwei Ereignisse (ti , si ) und (tj , sj ) wird eine eigene Gerade festgelegt (Abb. 2.1 Mitte). Bei realen Messungen lassen sich nur endlich viele Ereignisse (ti , si ) bestimmen. Gedanklich kann man sich dagegen auch unendlich viele Ereignisse vorstellen. Die Menge dieser Ereignisse wird als Bahnkurve s(t) bezeichnet und ist in Abb. 2.1 (schwarze Kurve, rechts) dargestellt. Die Schreibweise s(t) bedeutet dabei, dass der Aufenthaltsort s eine Funktion der Zeit t ist. Zu jedem Zeitpunkt t ist also der Ort s(t) eindeutig festgelegt. Mit Hilfe der Bahnkurve lässt sich jetzt zu jedem Zeitpunkt t die sogenannte Momentangeschwindigkeit v(t) = lim ∆t→0 s(t + ∆t) − s(t) ∆t (2.2) definieren, indem man den Zeitabstand ∆t zwischen zwei aufeinanderfolgenden Ortsmessungen beliebig klein wählt. Der Limes auf der rechten Seite von Gleichung (2.2) definiert die Ableitung der Funktion s(t) nach der Zeit t, so dass die Momentangeschwindigkeit auch in der Form v(t) = ds dt (2.3) geschrieben werden kann. Dabei ist zu beachten, dass der Ausdruck auf der rechten Seite von Gleichung (2.3) an der Stelle t ausgewertet werden muss. Manchmal schreibt man deshalb auch ausführlicher v(t′ ) = ds |t=t′ dt (2.4) Graphisch lässt sich die Momentangeschwindigkeit v(t) als Tangentensteigung der Bahnkurve s an der Stelle t interpretieren (Abb. 2.1 rechts, grüne Gerade). Bei der Bahnkurve in Abb. 2.1 (rechts) ändert sich die Momentangeschwindigkeit mit der Zeit: Die Tangentensteigung und damit v(t) wird immer kleiner. Um die 16 Änderung der Momentangeschwindigkeit quantitativ zu beschreiben, kann man analog zu Gleichung (2.1) eine mittlere Beschleunigung a2,1 = v2 − v1 t2 − t1 (2.5) definieren, wobei v1 und v2 die Momentangeschwindigkeiten zu den Zeitpunkten t1 beziehungsweise t2 sind. Die Momentanbeschleunigung lässt sich wiederum durch Grenzwertbildung definieren: v(t + ∆t) − v(t) dv = ∆t→0 ∆t dt a(t) = lim (2.6) Unter der Momentbeschleunigung versteht man also die Ableitung der Momentangeschwindigkeit nach der Zeit, die sich nach Gleichung (2.3) auch als zweite Ableitung der Bahnkurve s nach der Zeit schreiben lässt: a(t) = d2 s dv = 2 dt dt (2.7) Die Schreibweise der zweiten Ableitung symbolisiert, dass es sich hier um den Grenzwert einer zweifachen Differenzbildung handelt. Für kleine Zeitdifferenzen ∆t gilt näherungsweise a(t) ≈ [s(t + ∆t) − s(t)]/∆t − [s(t) − s(t − ∆t)]/∆t ∆(∆s) = , ∆t ∆t2 (2.8) wobei die Differenz der Wegdifferenzen, ∆(∆s), durch die obenstehende Gleichung definiert wird. Bei der Beschreibung der eindimensionalen Bewegung mit Hilfe von Weg-Zeit-, Geschwindigkeits-Zeit- und Beschleunigungs-ZeitDiagrammen werden üblicherweise drei Fälle unterschieden: 1. Bei der gleichförmigen Bewegung (Abb. 2.2 obere Reihe) ist die Geschwindigkeit konstant (v = const.) und die Beschleunigung verschwindet zu allen Zeiten (a = 0). 2. Bei der gleichförmig beschleunigten Bewegung (Abb. 2.2 mittlere Reihe) wächst die Geschwindigkeit linear mit der Zeit (v = at) und die Beschleunigung ist konstant (a = const.). Offensichtlich ist die gleichförmige Bewegung ein Sonderfall der gleichförmig beschleunigten Bewegung. 3. Der allgemeinste Fall der eindimensionalen Bewegung ist die ungleichförmig beschleunigte Bewegung (Abb. 2.2 untere Reihe). 17 Abbildung 2.2: Weg-Zeit-Diagramm 2.2 Weg-Zeit-Gesetz Wenn die Bahnkurve s(t) bekannt ist, lassen sich daraus durch Ableiten nach der Zeit die Momentangeschwindigkeit v(t) und durch erneutes Ableiten die Momentanbeschleunigung a(t) gewinnen. Auch der umgekehrte Weg ist möglich: kennen wir die Beschleunigung, erhalten wir aus dieser durch zweimalige Integration zunächst die Geschwindigkeit t v(t) = v(t0 ) + a(t′ )dt′ (2.9) t′ =t0 und danach die Bahnkurve t s(t) = s(t0 ) + v(t′ )dt′ , (2.10) t′ =t0 wobei der Ort s(t0 ) und die Geschwindigkeit v(t0 ) zum Zeitpunkt t0 als sogenannte Randbedingungen bekannt sein müssen. Statt einer Integration könnten wir näherungsweise auch eine Summe über viele kleine Zeitabschnitte ∆t 18 durchführen: s(t) ≈ s(t0 ) + [v(t0 + ∆t)∆t + v(t0 + 2∆t)∆t + . . . + v(t0 + N ∆t)∆t] N ≈ s(t0 ) + v(t0 + k∆t) ∆t (2.11) k=1 Die Anzahl N der Zeitabschnitte wird implizit durch die Bedingung t = t0 + N ∆t festgelegt. Je größer die Anzahl N wird, und damit je kleiner die Abschnitte ∆t werden, desto besser wird diese Näherung. Wir können das Integral in (2.10) auch als Grenzwert für gegen Null strebendes ∆t auffassen: N s(t) = s(t0 ) + lim v(t0 + k∆t) ∆t . (2.12) ∆t→0 k=1 Der Limes ∆t → 0 impliziert dabei den Limes N → ∞. Im Fall der gleichförmig beschleunigten Bewegung lassen sich die Integrale in (2.9) und (2.10) einfach auswerten. In diesem Fall ist die Beschleunigung a konstant und die Geschwindigkeit v(t) = v(t0 ) + at (2.13) wächst linear mit der Zeit. Nach Einsetzen von (2.13) in (2.10) bekommen wir t s(t) = s(t0 ) + [v(t0 ) + at′ ] dt′ (2.14) t′ =t0 und nach Auswertung des Integrals das sogenannte Weg-Zeit-Gesetz der gleichförmig beschleunigten Bewegung: 1 s(t) = s(t0 ) + v(t0 )[t − t0 ] + a[t − t0 ]2 . 2 (2.15) Häufig verschiebt man die Koordinatenachsen so, dass t0 = 0 und s(t0 ) = 0 sind. In diesem speziellen Fall vereinfacht sich das Weg-Zeit-Gesetz zu 1 s(t) = v(0)t + at2 . 2 (2.16) Das Weg-Zeit-Gesetz kann weiter vereinfacht werden, wenn man sich ein gleichförmig bewegtes Koordinatensystem wählt, in dem v(0) = 0 gilt: 1 s(t) = at2 . 2 (2.17) Diese einfache Beziehung kann man sich auch ohne Integralrechnung herleiten, wenn man davon ausgeht, dass die mittlere Geschwindigkeit v im Intervall zwischen 0 und t gerade 1 1 v = [v(0) + v(t)] = v(t) (2.18) 2 2 19 beträgt. Die zurückgelegte Strecke ist nach Definition der mittleren Geschwindigkeit, und da v linear mit der Zeit wächst, 1 1 s(t) = vt = v(t)t = at2 , 2 2 (2.19) was Gleichung (2.17) entspricht. 2.3 Ungleichförmige Beschleunigung Abbildung 2.3: Weg (durchgezogene rote Kurve), Geschwindigkeit (grün) und Beschleunigung (blau) eines Regentropfens in Einheiten von gτ 2 , gτ beziehungsweise g. Die gepunkteten Linien sind Näherungen für große Zeiten. Die Zeit ist in Einheiten von τ angegeben. Als Beispiel für eine ungleichförmige Bewegung wollen wir den Fall eines Regentropfens betrachten. Grundsätzlich soll der Tropfen der konstanten Erdbeschleunigung −g unterliegen. Wir wählen das Vorzeichen hier negativ, um deutlich zu machen, dass die Beschleunigung nach unten gerichtet ist, dass also die Höhe des Tropfens über dem Erdboden abnimmt. Wegen der Reibung des Tropfens mit der Luft nehmen wir an, dass sich bei zunehmender Geschwindigkeit eine entgegengesetzt gerichtete Beschleunigung bemerkbar macht, die bremsend wirkt. Ohne uns an dieser Stelle weiter mit dem Phänomen der Reibung auseinandersetzen zu wollen, nehmen wir einfach an, dass die bremsende Beschleunigung 20 proportional zur Geschwindigkeit des Tropfens ist. Wir können die gesamte Beschleunigung des Tropfens dann als v(t) (2.20) τ schreiben, wobei die Zeitkonstante τ durch die Stärke der Reibung bestimmt wird. Da die Geschwindigkeit negativ ist (der Tropfen fällt nach unten) wirkt der zweite Term auf der rechten Seite von Gleichung (2.20) dem ersten Term entgegen. Schreiben wir jetzt in Gleichung (2.20) die Beschleunigung als Ableitung der Geschwindigkeit nach der Zeit, dann erhalten wir eine sogenannte Differentialgleichung, nämlich v(t) dv = −g − . (2.21) dt τ Differentialgleichungen für eine gesuchte Funktion können sowohl die Funktion selbst als auch deren Ableitungen enthalten. Bevor wir uns darüber Gedanken machen, wie eine solche Differentialgleichung zu lösen ist, untersuchen wir, welche Schlussfolgerung wir auch ohne explizite Lösung aus der Differentialgleichung ziehen können. Ein solches Vorgehen ist insbesondere dann hilfreich, wenn die Lösung einer Differentialgleichung aufwändig oder nur durch numerische Verfahren möglich ist. Wir gehen davon aus, dass sich der Regentropfen zur Zeit t = 0 in Wolkenhöhe befindet (s(0) = 0) und zu Beginn keine Geschwindigkeit hat (v(0) = 0). Zunächst wird der Tropfen konstant nach unten beschleunigt, denn der zweite (geschwindigkeitsabhängige) Term auf der rechten Seite von (2.21) ist anfänglich vom Betrag her noch sehr klein gegenüber der Erdbeschleunigung g. Später wird der Betrag der Geschwindigkeit langsamer wachsen, da sich nun der zweite Term bemerkbar macht, und der Betrag der Beschleunigung immer kleiner wird. Offenbar wird die Beschleunigung aber nie nach oben gerichtet sein, denn würde der Tropfen eine Geschwindigkeit −gτ (nennen wir sie Grenzgeschwindigkeit) erreichen, dann verschwindet die Beschleunigung. Bei verschwindender Beschleunigung ändert sich die Geschwindigkeit nicht, und bei unveränderter Geschwindigkeit ändert sich wegen (2.21) auch die Beschleunigung nicht mehr, so dass beide Größen im Folgenden konstant bleiben. Die Frage ist aber, ob der Regentropfen in endlicher Zeit die Grenzgeschwindigkeit −gτ erreicht. Um diese Frage zu beantworten, müssen wir die Differentialgleichung lösen, und dazu ist es, wie wir bald sehen werden, vorteilhaft, die Geschwindigkeitsdifferenz a(t) = −g − u(t) = v(t) + gτ (2.22) zu betrachten. Durch Ableiten und unter Verwendung von (2.21) erhalten wir dv v u du = = −g − = − . dt dt τ τ Wir haben jetzt eine einfachere Differentialgleichung, nämlich du u =− dt τ 21 (2.23) (2.24) erhalten, die wir leicht lösen können, denn bekanntlich ist die einzige Funktion, die ihrer eigenen Ableitung gleich ist, die Exponentialfunktion. Als Lösung vermuten wir daher die Funktion u(t) = u(0)e−t/τ , (2.25) wobei wir die Konstante u(0) noch bestimmen müssen. Differentialgleichungen der Art (2.24) treten bei der Beschreibung einer Vielzahl von Phänomenen in allen quantitativen Wissenschaften auf und werden auch im Folgenden immer wieder vorkommen. Aus (2.25) erhalten wir mit (2.22) nun für die tatsächliche Geschwindigkeit v(t) = u(0)e−t/τ − gτ . (2.26) Da wir v(0) = 0 vorausgesetzt haben, können wir die noch unbekannte Konstante u(0) bestimmen und bekommen schließlich v(t) = gτ e−t/τ − 1 . (2.27) Durch Ableiten von (2.27) können wir leicht überprüfen, dass wir tatsächlich die richtige Lösung der Differentialgleichung (2.21) gefunden haben. Diese Lösung zeigt genau die Eigenschaften, die wir weiter oben schon durch bloße Inspektion der Differentialgleichung gefunden haben. Die Beschleunigung a(t) = −ge−t/τ (2.28) erhalten wir durch Ableitung von (2.27). Um die Bahnkurve zu erhalten müssen wir dagegen integrieren. Alternativ können wir auch die Funktion s(t) = −gτ t + τ e−t/τ − 1 (2.29) intuitiv erraten und durch Ableiten überprüfen, dass wir richtig geraten haben. In Abbildung 2.3 sind Weg, Geschwindigkeit und Beschleunigung (durchgezogene Kurven) des Regentropfens im Zeitraum von 0 bis knapp 4τ dargestellt. Für Zeiten t die groß gegenüber der Zeitkonstanten τ sind, können wir die Ausdrücke für die Strecke s, die Geschwindigkeit v und die Beschleunigung a wie folgt annähern (siehe auch Abbildung 2.3): s(t) ≈ −gτ (t − τ ) v(t) ≈ −gτ a(t) ≈ 0 2.4 für t ≫ τ (2.30) Bewegung im dreidimensionalen Raum Die Grundlagen der Kinematik haben wir für den Sonderfall der eindimensionalen Bewegung diskutiert, um eine möglichst einfache Darstellung zu bekommen. 22 Auch Bewegungen in der zweidimensionalen Ebene oder im dreidimensionalen Raum werden oft auf eine Bewegung auf einer eindimensionalen, gekrümmten Bahn reduziert, beispielsweise die weiter unten beschriebene Kreisbewegung. Im Allgemeinen aber erfordert eine dreidimensionale Bewegung die Beschreibung des Ortes durch einen dreidimensionalen Ortsvektor r. Eine einfache und für die meisten Zwecke angemessene Schreibweise eines Vektors ist die Anordnung von drei Skalaren in einer Zeile r = (rx , ry , rz ) (2.31) oder einer Spalte rx r = ry . rz (2.32) Hier und im Folgenden soll zwischen Zeilen- und Spaltenvektoren nicht unterschieden werden. Die Skalare rx , ry und rz werden auch Komponenten des Vektors genannt. Im Fall eines Ortsvektors handelt es sich um drei Längenangaben. Verwenden wir ein kartesisches Koordinatensystem mit drei aufeinander senkrecht stehenden x-, y- und z-Achsen, dann können die drei Vektorkomponenten geometrisch als Projektionen des Vektors auf die entsprechenden Achsen verstanden werden. Anstatt durch die Angabe seiner kartesischen Komponenten kann ein Vektor auch durch die Angabe seiner Länge und seiner Richtung festgelegt werden. Dies wird unmittelbar anschaulich, wenn man nicht kartesische Koordinaten sondern Kugelkoordinaten (r, θ, φ) verwendet. Hier gibt der Radius r den Abstand vom Ursprung an, der Polarwinkel θ ist der Winkel zwischen dem Vektor und der positiven z-Achse und der Azimutwinkel φ ist der gegen den Uhrzeigersinn gemessene Winkel zwischen der positiven x-Achse und der Projektion des Vektors in die x − y−Ebene. Durch θ und φ ist also die Richtung und durch r die Länge des Vektors gegeben. Kugelkoordinaten sind sehr nützlich, wenn ein Problem mit sphärischer Symmetrie betrachtet wird, wie etwa die Bewegung der Erde im Gravitationspotential der Sonne oder die Bewegung eines Elektrons im CoulombPotential eines Atomkerns. Auch für die Positionsangabe auf der Erdoberfläche werden sie verwendet. In diesem Fall, wenn der Radius feststeht, spricht man auch von sphärischen Koordinaten. Für die Umrechnung zwischen kartesischen Koordinaten und Kugelkoordinaten gilt: rx = r sin θ cos φ ry = r sin θ sin φ rz = r cos θ rx2 + ry2 + rz2 rz θ = arccot 2 rx + ry2 arccos √ r2x 2 rx +ry φ= 2π − arccos √ r2x (2.33) r= (2.34) für ry > 0 rx +ry2 23 für ry < 0 (2.35) Um die Entfernung zwischen zwei Orten zu berechnen, kann die Differenz der beiden Ortsvektoren r1 und r2 , der Differenzvektor r2,1 = r2 − r1 (2.36) gebildet werden. Die gesuchte Entfernung ist genau die Länge dieses Differenzvektors. In einem kartesischen Koordinaten lässt sich diese Länge durch die Wurzel aus dem Skalarprodukt des Differenzvektors mit sich selbst ausdrücken: r2,1 = |r2,1 | = √ r2,1 · r2,1 (2.37) In der Komponentendarstellung lässt sich das Skalarprodukt zwischen zwei Vektoren a und b durch a · b = ax b x + ay b y + az b z (2.38) definieren. Genauso wie der Ort, werden auch die Geschwindigkeit und die Beschleunigung im dreidimensionalen Raum durch Vektoren beschrieben. Die Komponenten dieser Vektoren haben die Dimension einer Geschwindigkeit beziehungsweise Beschleunigung. Die Definitionen der Geschwindigkeit als Ableitung des Ortes nach der Zeit und der Beschleunigung als Ableitung der Geschwindigkeit nach der Zeit lassen sich auf den dreidimensionalen Raum übertragen: v= dr dt und a = dv d2 r = 2 dt dt (2.39) Wir können dann zum Beispiel die Änderung des Ortes in einem kleinen Zeitintervall durch den infinitesimalen Differenzvektor dr = vdt (2.40) durch die Länge dt des Zeitintervalls und durch die vektorielle Geschwindigkeit v ausdrücken. Häufig werden zeitliche Ableitungen in der Physik auch dadurch kenntlich gemacht, dass ein Punkt über die Größe gestellt wird. Deshalb kann man auch v = ṙ und a = v̇ = r̈ (2.41) schreiben. In kartesischen Koordinaten gilt ein besonders einfacher Zusammenhang zwischen den Komponenten des Ortsvektors und den Komponenten der Geschwindigkeit: dri für i = x, y, z . (2.42) vi = dt Entsprechend gilt für die Beschleunigung: dvi d2 ri ai = = 2 dt dt für i = x, y, z . 24 (2.43) Dieser Zusammenhang gilt nicht für beliebige Koordinatendarstellungen: In Kugelkoordinaten etwa ist ṙ nicht die radiale Koordinate des Geschwindigkeitsvektors, wie wir später bei der Behandlung der Kreisbewegung sehen werden. Wir können eine Bewegung im dreidimensionalen Raum auch als Überlagerung von drei unabhängigen eindimensionalen Bewegungen längs der x-, yund z-Achsen verstehen, die in einem kartesischen Koordinatensystem durch die Komponenten der Vektoren beschrieben werden. Als Beispiel betrachten wir den schrägen Wurf. 2.5 Schräger Wurf Abbildung 2.4: Parameterfreie Bahnkurve eines schrägen Wurfes für Winkel α = π/6, π/4 und π/3 (rote, grüne beziehungsweise blaue Kurve). x und z sind in Einheiten von v02 /g angegeben. Ein Ball wird mit einer Anfangsgeschwindigkeit v0 = (v0 cos α, 0, v0 sin α) schräg nach oben in die Luft geworfen und unterliegt einer konstanten, senkrecht nach unten wirkenden Erdbeschleunigung g = (0, 0, −g). Bei geeigneter Wahl des Koordinatenursprungs und des Zeitnullpunktes können wir in Analogie zu (2.16) das Weg-Zeit-Gesetz in vektorieller Form schreiben: 1 r(t) = v0 t + gt2 2 25 (2.44) Betrachten wir jetzt die x- und z-Komponenten des Ortsvektors (die yKomponente bleibt hier stets Null). In Richtung der x-Achse bewegt sich der Körper gleichförmig mit der konstanten Geschwindigkeit v0 cos α und das WegZeit-Gesetz lautet: rx (t) = v0 t cos α . (2.45) In z-Richtung liegt eine gleichförmig beschleunigte Bewegung vor: 1 rz (t) = v0 t sin α − gt2 . 2 (2.46) Lösen wir Gleichung (2.45) nach der Zeit t auf und setzen wir den so erhaltenen Ausdruck in Gleichung (2.46) ein, dann erhalten wir (für α < π/2) eine sogenannte parameterfreie Darstellung der Bahnkurve, rz = rx tan α − grx2 , 2v02 cos2 α (2.47) die sogenannte Wurfparabel. Die zweite Nullstelle von (2.47) verrät uns, dass der Ball in einer Entfernung v02 2 sin α cos α g wieder zu Boden fällt. Abbildung 2.4 zeigt drei Bahnkurven für verschiedene Winkel α. Bei gegebener Anfangsgeschwindigkeit wird die größte Weite erreicht, wenn der Ball unter einem Winkel von π/4 oder 45◦ geworfen wird. Dieser Winkel ist, bezogen auf eine gewünschte maximale Wurfweite, der beste Kompromiss zwischen einer großen horizontalen Geschwindigkeitskomponente v0 cos α (möglichst flacher Winkel) und einer langen Flugzeit (möglichst große vertikale Geschwindigkeitskomponente und damit möglichst steiler Winkel). 2.6 Kreisbewegung Der Kreisbewegung, einem speziellen Fall der dreidimensionalen Bewegung, wird in Darstellungen der Kinematik üblicherweise besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Ein Grund dafür ist, dass sich anhand der Kreisbewegung Begriffe, die zur Beschreibung periodischer Vorgänge verwendet werden, besonders einfach veranschaulichen lassen. Wir betrachten ein Teilchen, das sich auf einer Kreisbahn mit dem Radius r bewegt. Für einen vollständigen Umlauf soll das Teilchen die Zeit T , Periode genannt, benötigen. Dies entspricht einer Frequenz f= 1 . T 26 (2.48) Die kohärente SI-Einheit der Frequenz ist 1 s−1 oder 1 Hertz (Hz). Eng verwandt mit der Frequenz ist die Winkelgeschwindigkeit oder Kreisfrequenz dφ . (2.49) dt Bei der gleichmäßigen Kreisbewegung ist die Winkelgeschwindigkeit konstant und gleich dem Quotienten aus dem vollen Kreiswinkel 2π und der Periode T . Damit lässt sich die Winkelgeschwindigkeit als das 2π-Fache der Frequenz schreiben: ω= 2π = 2πf . (2.50) T Für die Winkelgeschwindigkeit oder Kreisfrequenz wird 1 s−1 oder 1 rad s−1 als kohärente SI-Einheit verwendet, nicht aber das Hertz. ω= Abbildung 2.5: Kreisbewegung: Differenz der Ortsvektoren In Abbildung 2.5 ist der Ortsvektor des Teilchens zu den Zeiten t und t + dt eingezeichnet. In dem infinitesimalen Zeitintervall dt überstreicht der Ortsvektor den Winkel dφ. Der Betrag des Differenzvektors dr = r(t + dt) − r(t) läßt sich durch die Bogenlänge ds = rdφ annähern: |dr| ≈ rdφ = rωdt Für den Betrag der Geschwindigkeit erhalten wir dann dr v = |v| = = ωr dt (2.51) (2.52) Um die Kreisbewegung mit vektoriellen Größen zu beschreiben, wählen wir uns ein geeignetes Koordinatensystem, bei dem die z-Achse die Drehachse ist. In der Komponentendarstellung lautet der Ortsvektor dann r cos(ωt + φ) r(t) = r sin(ωt + φ) (2.53) 0 27 Der konstante Winkel φ, auch Phase genannt, wird durch die Anfangsbedingung für r(t) festgelegt. Bei geeigneter Wahl des Zeitnullpunkts können wir φ Null setzen. Durch zweifache Ableitung von r(t) erhalten wir zunächst den Geschwindigkeitsvektor −ωr sin(ωt + φ) dr ωr cos(ωt + φ) = v(t) = (2.54) dt 0 und dann den Beschleunigungsvektor −ω 2 r cos(ωt + φ) dv −ω 2 r sin(ωt + φ) = −ω 2 r(t) a(t) = = dt 0 (2.55) Offenbar sind der Ortsvektor und der Beschleunigungsvektor immer parallel, a ∥ r. Dagegen steht der Geschwindigkeitsvektor stets senkrecht auf den Orts- und Beschleunigungsvektoren, also v ⊥ r und v ⊥ a, wie man leicht überprüfen kann, indem man die entsprechenden Skalarprodukte bildet: v(t)·r(t) = −ωr2 sin(ωt+φ) cos(ωt+φ)+ωr2 sin(ωt+φ) cos(ωt+φ) = 0. (2.56) Um die Bahngeschwindigkeit v zu bestimmen, bilden wir den Betrag des Geschwindigkeitsvektors: √ (2.57) v = |v| = v · v = ω 2 r2 sin2 (ωt + φ) + ω 2 r2 cos2 (ωt + φ) = ωr wegen sin2 α + cos2 α = 1. Die Vektorrechnung bestätigt also den Wert für die Bahngeschwindigkeit, den wir in (2.52) aus geometrischen Überlegungen erhalten haben. Auf den ersten Blick kann es überraschend wirken, dass der Betrag der Beschleunigung |a| von Null verschieden ist, obwohl die Bahngeschwindigkeit |v| konstant ist. Hier ist es wichtig, zu beachten, dass der Betrag der Beschleunigung nicht die Ableitung des Betrages der Geschwindigkeit ist, dv d |v| , (2.58) |a| = ̸= dt dt da im Allgemeinen der Betrag des Differenzvektors zweier Vektoren nicht gleich der Differenz der Beträge ist, |v(t + dt)| − |v(t)| = ̸ |v(t + dt) − v(t)| = |dv| (2.59) (siehe auch Abbildung 2.6). Der Einfachheit halber haben wir oben das Koordinatensystem so gewählt, dass die Drehachse mit der z-Achse des Koordinatensystems übereinstimmt. Mit 28 Abbildung 2.6: Kreisbewegung: Differenz der Geschwindigkeitsvektoren Hilfe des Kreuzproduktes zweier Vektoren, das für zwei dreidimensionale Vektoren a und b durch ay b z − az b y a × b = az b x − ax b z (2.60) ax b y − ay b x oder |a × b| = |a| |b| cos ̸ (a, b) mit (a × b) ⊥ a und (a × b) ⊥ b (2.61) definiert ist (wobei die Vektoren a, b und a × b ein Rechtssystem bilden), lassen sich die Orts-, Geschwindigkeits- und Beschleunigungsvektoren bei der gleichförmigen Kreisbewegung auch für eine beliebige Orientierung der Drehachse schreiben: 1 ω × r0 sin(ωt + φ) ω v(t) = −ωr0 sin(ωt + φ) + ω × r0 cos(ωt + φ) ω × r0 sin(ωt + φ) a(t) = −ω 2 r0 cos(ωt + φ) − ωω r(t) = r0 cos(ωt + φ) + (2.62) Dabei ist r0 = r(0) und ω ist ein Vektor1 in Richtung der Drehachse mit der Winkelgeschwindigkeit als Betrag. Dabei bilden r, v und ω ein Rechtssystem. 1 Genau genommen ist ω ein sogenannter Axial- oder Pseudovektor, da ω bei einer Punktspiegelung unverändert bleibt. 29 30 Kapitel 3 Dynamik In der Kinematik werden die Grundlagen für die Beschreibung von Bewegungen gelegt. In der Dynamik wird nun nach den Ursachen der Bewegung gefragt. Der zentrale Begriff der Dynamik ist die Kraft. Isaac Newton hat 1686 in seiner Abhandlung Principia Mathematica Philosophiae Naturalis (Mathematische Prinzipien der Naturphilosophie) den Zusammenhang zwischen der Kraft, die auf einen Körper einwirkt, und seiner Bewegung in drei Gesetzen formuliert. 3.1 3.1.1 Newtonsche Gesetze Erstes Newtonsches Gesetz Das erste Newtonsche Gesetz besagt, dass ein Körper, auf den keine Kraft einwirkt, im Zustand der Ruhe oder der gleichförmig geradlinigen Bewegung verharrt. Newton verwendet in seinem ersten Gesetz bereits den Begriff der Kraft, der eigentlich erst im zweiten Gesetz definiert wird. Genau genommen reicht es aber für das Verständnis von Newtons erstem Gesetz aus, eine Vorstellung davon zu haben, wann auf einen Körper keine Kraft einwirkt. Wir können vermuten, dass dies insbesondere dann der Fall sein wird, wenn der Körper weit genug von allen anderen physikalischen Objekten entfernt ist. Das erste Newtonsche Gesetz gilt offenbar nicht in jedem Koordinatensystem. In einem rotierenden System, wird ein Körper, auf den keine Kraft wirkt, eine beschleunigte Bewegung ausführen. Betrachten wir zum Beispiel einen Himmelskörper, der weit genug von allen anderen Sternen und Planeten ist (so dass näherungsweise keine Kraft auf ihn wirkt), von der Erde aus, werden wir feststellen, dass er in unserem Koordinatensystem um die Erdachse rotiert, also eine beschleunigte Bewegung ausführt, obwohl keine Kraft auf ihn wirkt. Wir müssen also schlussfolgern, dass das erste Newtonsche Gesetz in rotierenden Koordinatensystemen nicht gültig ist. Wir bezeichnen alle Koordinatensysteme, in denen das erste Gesetz gilt, als 31 Inertialsysteme. Eine wichtige Aussage des ersten Gesetzes ist nun, dass es mindestens ein solches Inertialsystem gibt. Jedes andere Koordinatensystem, dass sich mit konstanter Geschwindigkeit geradlinig gegen ein Inertialsystem bewegt, ist dann ebenfalls ein Inertialsystem. Denn ein Körper, der sich in einem Koordinatensystem gleichförmig geradlinig bewegt, tut dies auch in einem zweiten Koordinatensystem, das gegenüber dem ersten gleichförmig geradlinig bewegt ist. Jedes Koordinatensystem, das sich gegenüber irgendeinem Inertialsystem beschleunigt bewegt (zum Beispiel rotiert), ist dagegen kein Inertialsystem.1 Das erste Newtonsche Gesetz (das Galieo Galilei schon 1638 in seinem Werk Discorsi ” e dimostrazioni matematiche“vorweggenommen hatte) widersprach der bis dahin herrschenden Bewegungslehre des Aristoteles, nach der jede Bewegung nur durch Einwirkung einer Kraft aufrechterhalten werden kann. 3.1.2 Zweites Newtonsches Gesetz Newtons zweites Gesetz besagt, dass die Kraft, die auf einen Körper wirkt, gleich der Änderung seines Impulses ist: F= dp . dt (3.1) Dabei ist der Impuls p = mv gleich dem Produkt aus der Masse und der Geschwindigkeit eines Körpers. Statt der ursprünglichen Gleichung (3.1), die sich auf analoge Weise auch in der Speziellen Relativitätstheorie formulieren lässt, wird das zweite Newtonsche Gesetz heute meist in der Form F = ma (3.2) wiedergegeben. Ebenso wie das erste Gesetz gilt auch das zweite nur in Inertialsystemen.2 Im zweiten Newtonschen Gesetz werden zwei Größen neu eingeführt, die Kraft und die Masse. Daher lassen sich nicht beide eindeutig festlegen. Eine Möglichkeit 1 Newton hat sich, offenbar gegen innere Bedenken, entschlossen, die Existenz eines absoluten Raums zu postulieren. Absolut bedeutet hier, dass dieser Raum unabhängig von allen Objekten, die sich in ihm befinden, existiert. Inertialsysteme sind all die Bezugssysteme, die sich gleichförmig gegenüber dem absoluten Raum bewegen. Zu einem der schärfsten Kritiker des absoluten Raumes wurde später Ernst Mach, dessen Überlegungen Einstein beim Entwurf seiner Allgemeinen Relativitätstheorie (ART) wesentlich beeinflusst haben. In der ART wird das Konzept eines absoluten Raums nicht mehr benötigt: die Dynamik eines Körpers hängt nur noch von seiner Bewegung relativ zu anderen Körpern ab. 2 Man könnte das zweite Gesetz als eine Verallgemeinerung des ersten auffassen. Dies ist jedoch dann nicht zulässig, wenn man die Aussage, dass es überhaupt Inertialsysteme gibt, als Aussage des das ersten Gesetzes auffasst. Möglicherweise hatte Newton aber auch nicht die Absicht, zwei voneinander unabhängige Gesetze zu formulieren, sondern hat die kräftefreie Bewegung - als herausragenden Spezialfall des zweiten Gesetzes - aus didaktischen Gründen in einem eigenen Gesetz behandelt. 32 besteht nun darin, einen sogenannten Masseprototypen festzulegen, zum Beispiel das Urkilogramm. Bezeichnen wir diesen Masseprototypen mit m0 , dann lässt sich jede Kraft Fi dadurch festlegen, dass man die Beschleunigung ai,0 misst, die diese Kraft beim Masseprototypen m0 bewirkt: Fi = m0 ai,0 . (3.3) Für die kohärente SI-Einheit der Kraft gibt es eine eigene Bezeichnung, das Newton: 1 N = 1 kg m s−2 . Durch die Festlegung des Masseprototypen lassen sich auch alle übrigen Massen mk bestimmen, indem man die Beschleunigung ai,k , die sie bei Einwirkung der Kraft Fi erfahren, mit der Beschleunigung ai,0 des Masseprototypen m0 vergleicht: mk = m0 |ai,0 | . |ai,k | (3.4) Alle Massen lassen sich so als Vielfaches des Urkilogramms ausdrücken. Elektromagnetische Masse In der klassischen Mechanik ist die Masse eines Körpers (ebenso wie seine Ladung) genau die Summe der Massen (beziehungsweise der Ladungen) seiner Bestandteile. Die Masse von Elementarteilchen, die sich nicht weiter in Bestandteile zerlegen lassen, könnte man als universelle Naturkonstanten auffassen, die sich nicht weiter erklären lassen, sondern als gegeben hingenommen werden müssen. Tatsächlich versucht man, die Masse eines Teilchens auf seine Wechselwirkung mit der Umgebung zurückzuführen. Dazu gehört auch ein derzeit weithin beachtetes Forschungsvorhaben, die Suche nach dem sogenannten Higgs-Boson, dem Austauschteilchen des Higgs-Mechanismus. Dieser Mechanismus soll erklären, wie die elektroschwachen Wechselwirkung (siehe 3.2) elementaren Teilchen eine Ruhemasse verleiht. Der Higgs-Mechanismus lässt sich nur im Rahmen von Quantenfeldtheorien diskutieren. Aber schon in der klassischen Elektrodynamik kann man ein einfaches und anschauliches, wenn auch (wegen des klassischen Ansatzes notwendigerweise) unzureichendes Modell aufstellen, das zumindest qualitativ den Zusammenhang zwischen Wechselwirkungen und Masse verständlich macht. Wir betrachten dazu ein Elektron, das sich längs der x-Achse unseres Koordinatensystems bewegt und konstant in positive Richtung beschleunigt wird. In einem Laborsystem, in dem es das Elektron vor Beginn der Beschleunigung ruht, sieht es seine Vergangenheit stets hinter sich (Abbildung 3.1, obere Hälfte). Nach Beginn der Beschleunigung wirken im Laborsystem elektrische und magnetische Kräfte (Coulomb- und Lorentz-Kraft) auf das Elektron. Das Problem lässt sich viel einfacher behandeln, wenn wir den Ursprung des Koordinatensystems so wählen, dass sich das Elektron anfänglich (t < 0) mit abnehmender Geschwindigkeit in die negative 33 Abbildung 3.1: Einfaches Modell für ein beschleunigtes Elektron: Im einem Laborsystem, in dem das Elektron vor Beginn der Beschleunigung ruht, sieht es seine Vergangenheit hinter sich, in einem geeignet gewählten Inertialsystem sieht es seine Vergangenheit vor sich . x-Richtung bewegt, bis es zur Zeit t = 0 am Ort x = 0 zur Ruhe kommt, um sich anschließend für t > 0 mit wachsender Geschwindigkeit in die positive x-Richtung zu bewegen (Abbildung 3.1, untere Hälfte). Diese Wahl des Koordinatensystems schränkt in keiner Weise die Allgemeinheit ein, sofern wir davon ausgehen, dass die physikalischen Gesetze in jedem Inertialsystem die gleiche Form haben. Man macht sich leicht klar, dass sich für jeden beliebigen Zeitpunkt t ein Inertialsystem finden lässt, derart dass das Elektron zum Zeitpunkt t in diesem ruht. In diesem Koordinatensystem sieht das Elektron zur Zeit t = 0 seine Vergangenheit vor sich. Wir stellen uns die Ladung des Elektrons gleichmäßig über eine sehr kleine Kugel verteilt vor und nehmen an, dass die Ladungsverteilung mit sich selbst wechselwirkt, sich also gegenseitig abstößt (siehe 3.2.2). Wir gehen weiter davon aus, dass sich diese abstoßende Kraft nicht unendlich schnell (sondern nur mit der Lichtgeschwindigkeit c) ausbreiten kann. Vereinfacht gesagt wirkt auf das Elektron zur Zeit t = 0 eine Kraft, die das gleiche Elektron zu einem früheren Zeitpunkt tR < 0 ausgeübt hat. Da die Kraft abstoßend ist und das Elektron sich für tR < 0 an einem Ort x > 0 befand, spürt das Elektron zur Zeit t = 0 am Ort x = 0 eine Kraft Fel in die negative x-Richtung. Eine genauere Rechnung zeigt, dass diese Kraft proportional zur konstanten Beschleunigung a ist. Wir führen daher eine Proportionalitätskonstante −mel ein und erhalten Fel = −mel a . (3.5) Um das Elektron zu beschleunigen, muss eine Kraft F aufgewandt werden, die die Selbstabstoßung des Elektrons, Fel genau kompensiert: F + Fel = 0 . (3.6) F = mel a , (3.7) Mit Gleichung (3.5) folgt daher 34 so dass wir mel auch als elektromagnetische Masse des Elektrons interpretieren können. In diesem einfachen Modell verleiht also die Wechselwirkung mit sich selbst dem Elektron seine Trägheit. Um auch zu quantitativ korrekten Ergebnissen zu kommen, müssen sowohl das Elektron als auch die elektrischen und magnetischen Felder quantenmechanisch behandelt werde. Ein solcher Ansatz gehört in den Bereich der Elektrodynamik. 3.1.3 Drittes Newtonsches Gesetz Diese Gesetz, oft auch kurz mit actio gleich reactio wiedergegeben, besagt, dass Kräfte immer paarweise auftreten. Übt Körper 1 eine Kraft F1,2 auf Körper 2 aus, dann übt Körper 2 eine gleich große, aber entgegengesetzt gerichtete Kraft F2,1 auf Körper 1 aus. 3.2 Grundkräfte Üblicherweise werden vier Grundkräfte unterschieden, durch die sich alle dynamischen Vorgänge erklären lassen: • die Gravitationskraft • die elektromagnetische Kraft • die schwache Kernkraft • die starke Kernkraft Die elektromagnetische Kraft und die schwache Kernkraft lassen sich zur elektroschwachen Kraft vereinheitlichen. Ob eine solche Vereinheitlichung auch mit der starken Kernkraft oder mit der Gravitationskraft möglich ist, ist derzeit nicht klar. 3.2.1 Gravitationskraft Von den vier Grundkräften ist die Gravitations- oder Schwerkraft die bei Weitem am längsten bekannte, da sie einfach zu beobachten ist, und wir sie jeden Tag sinnlich erfahren. Auf der Erdoberfläche können wir die Schwerkraft näherungsweise durch FG = mg (3.8) beschreiben, wobei g ein senkrecht nach unten gerichteter Vektor ist, dessen Betrag g als Erdbeschleunigungskonstante bezeichnet wird, die abhängig von der geographischen Breite und Länge und von der Höhe über dem Meeresspiegel etwa den Wert 9,81 m s−2 annimmt. Da, sofern man Reibungskräfte vernachlässigen 35 kann, alle Körper gleich schnell fallen, wie schon Galilei bei seinen berühmten Fallversuchen beobachtete, muss die auf der rechten Seite von (3.8) auftretende Masse, die wir auch als schwere Masse bezeichnen, gleich3 der trägen Masse sein, die in Newtons zweitem Gesetz definiert wird. Dann folgt aus F = ma und F = mg, dass alle fallenden Körper der gleichen Beschleunigung a=g (3.9) ausgesetzt sind. Die Beschreibung der Schwerkraft durch Gleichung (3.8) gilt nur näherungsweise auf der Erdoberfläche. Ein allgemeines Gesetz der Gravitationskraft veröffentlichte Isaac Newton 1686 in seinen Principia Mathematica Philosophiae Naturalis (Mathematische Prinzipien der Naturphilosophie). Dieses Gesetz, heute als Newtonsches Gravitationsgesetz bezeichnet, besagt, dass die Kraft, die auf der Erde einen Apfel zu Boden fallen lässt, die gleiche ist, wie die Kraft, die die Bewegung der Planeten um die Sonne bewirkt. In seiner vektoriellen Form lautet es m1 m2 (r2 − r1 ) (3.10) F2,1 = −G |r2 − r1 |3 Dabei ist F2,1 die Kraft, die die Masse m1 auf die Masse m2 ausübt. G ist die Gravitationskonstante, eine Naturkonstante mit dem Wert G = 6, 674 × 10−11 N m2 kg−2 . Da die schwere Masse eines Körpers immer positiv ist, ist die Gravitationskraft stets anziehend. Für den Betrag dieser Kraft folgt aus (3.10) F2,1 = G m1 m2 , r2 (3.11) wobei r = |r2 − r1 | der Abstand beider Körper ist. Manchmal wird auf der rechten Seite von (3.11) ein Minuszeichen eingefügt, um auszudrücken, dass die Gravitationskraft anziehend ist. Aus (3.10) und (3.11) wird deutlich, dass die Stärke der Kraft mit zunehmendem Abstandsquadrat schwächer wird. Wenn man sich allerdings auf ein Intervall [R, R + r] beschränkt, das sehr klein gegenüber dem Abstand R ist, so dass also R ≫ r ist, dann kann man, sozusagen in nullter Näherung, die Gravitationskraft als konstant ansehen: F =G mM . R2 (3.12) Setzt man für R den mittleren Erdradius von 6, 37 × 106 m und für M die Erdmasse von 5, 9736 × 1024 kg ein, erhält man durch Vergleich von (3.8) und (3.12) die Erdbeschleunigungskonstante g= GM ≈ 9, 81 m s−2 R2 3 (3.13) eine bloße Proportionalität der schweren und der trägen Masse ließe sich durch eine geeignete Skalierung der Erdbeschleunigungskonstanten g, oder allgemeiner der Gravitationskonstanten G in eine Gleichheit verwandeln. 36 Ein wichtiger Test für das Newtonsche Gravitationsgesetz stellt die Berechnung der Planetenbahnen dar, und der Vergleich der berechneten Bahnen mit astronomischen Beobachtungen und aus ihnen abgeleiteten Gesetzen, insbesondere den Keplerschen Gesetzen. Wir wollen der Kürze halber nur das dritte Keplersche Gesetz betrachten, das sinngemäß lautet: Die Quadrate der Umlaufzeiten der Planeten um die Sonne verhalten sich wie die Kuben der großen Halbachsen. Im einfachen Sonderfall kreisförmiger Bahnen4 gilt dann: T 2 ∼ R3 (3.14) Nach dem Newtonschen Gravitationsgesetz übt die Sonne auf einen Planeten mit der Masse m und dem Abstand R die Kraft F = GmM R2 (3.15) aus, wobei M die Sonnenmasse ist. Nach dem zweiten Newtonschen Gesetz entspricht dies einer radial nach innen gerichteten Beschleunigung von a= GM . R2 (3.16) Von der Betrachtung der gleichförmigen Kreisbewegungen wissen wir, dass die Radialbeschleunigung a = ω2R (3.17) beträgt. Wenn wir jetzt die beiden rechten Seiten von (3.16) und (3.17) gleichsetzen und nach Gleichung (2.50) 2π/T für ω setzen, erhalten wir 2 2π GM R= 2 (3.18) T R woraus sich das dritter Keplersche Gesetz (3.14) ergibt. Mit etwas mehr Aufwand lässt sich dieses Gesetz auch im allgemeinen Fall elliptischer Bahnen aus der Newtonschen Mechanik herleiten, ebenso wie die beiden ersten Gesetze von Kepler. Bei sehr großen Gravitationskräften oder bei sehr schnell bewegten Massen zeigen sich Abweichungen zwischen experimentellen Beobachtungen und den Vorhersagen des Newtonschen Gravitationsgesetzes. Diese Abweichungen lassen sich durch Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie, die das Newtonsche Gravitationsgesetz als Spezialfall umfasst, verstehen. 4 Tatsächlich sind die Bahnen nicht nur elliptisch sondern haben auch nicht die Sonne im Brennpunkt sondern den Schwerpunkt des Sonnensystems. Dieser liegt jedoch innerhalb der Sonne. 37 Die Aussage, dass die schwere Masse (die Eigenschaft eines Körpers, der Schwerkraft zu unterliegen) und die träge Masse (der Widerstand eines Körpers gegen Änderungen seiner Geschwindigkeit) äquivalent sind, folgt nicht aus der Newtonschen Mechanik. Würde man experimentell feststellen, dass träge und schwere Massen nicht äquivalent wären, müsste man lediglich darauf achten, im zweiten Newtonschen Gesetz und im Gravitationsgesetz jeweils die richtige Masse einzusetzen. Tatsächlich ist es jedoch bis heute nicht gelungen, einen Unterschied zwischen träger und schwerer Masse zu finden. Den derzeit genauesten Experimenten zufolge weicht das Verhältnis zwischen beiden Massen um weniger als 10−13 von 1 ab. In der Allgemeinen Relativitätstheorie folgt die Äquivalenz von schwerer und träger Masse unmittelbar aus den Grundannahmen der Theorie. 3.2.2 Elektromagnetische Kraft Elektrische Phänomene sind schon seit dem Altertum bekannt. So zum Beispiel, dass Bernstein (griechisch elektron) nach vorhergehendem Reiben in der Lage ist, kleine, leichte Teilchen anzuziehen. Erst sehr viel später, im Jahre 1785 stellte Charles Augustin de Coulomb dann das nach ihm benannte Gesetz auf, das die Kraft zwischen zwei ruhenden Ladungen Q1 und Q2 beschreibt: F2,1 = Q1 Q2 1 (r2 − r1 ) . 4πϵ0 |r2 − r1 |3 (3.19) Hier ist ϵ0 = 8, 854 × 10−12 A S V−1 m−1 die Permittivität des Vakuums (früher auch Dielektrizitätskonstante genannt). Alltägliche Erfahrungen lassen die Elektrizität im Vergleich zur Gravitation als eher schwach und unbedeutend erscheinen. Dies liegt daran, dass wir elektrische Kräfte aufgrund der fast vollkommenen elektrischen Neutralität der uns umgebenden Materie nicht als solche wahrnehmen. So ist etwa die Kraft, die ein Stahlseil auf eine Brücke ausübt, letztlich elektrischer Natur. Formal sind sich das Coulomb-Gesetz und das Newtonsche Gravitationsgesetz sehr ähnlich. In beiden Fällen ist der Betrag der Kraft proportional zum Kehrwert des Abstandsquadrates und zum Produkt zweier Größen, die die Eigenschaften der wechselwirkenden Körper beschreiben, nämlich deren Ladungen und deren Massen. Während aber Massen stets positiv sind, so dass die anziehenden Gravitationskräfte sich im Fall einer Ansammlung von Körpern gleichgerichtet aufsummieren, können Ladungen positive oder negative Vorzeichen besitzen. Nur bei ungleichnamigen Ladungen, also bei Ladungen mit unterschiedlichen Vorzeichen, ist die Coulomb-Kraft anziehend. Eine stabile Ansammlung von Teilchen muss daher immer gleich viele positiv wie negativ geladene Teilchen enthalten, muss also elektrisch neutral sein. Anders als bei der Gravitation verschwindet daher die anziehende Coulomb-Kraft zwischen zwei Ansammlungen von Teilchen (oder zwischen zwei makroskopischen Körpern) fast völlig, sofern sie sich nicht 38 unmittelbar berühren. Für die Bewegung der Planeten um die Sonne spielt die Coulomb-Kraft daher keine Rolle. Anders ist dies auf mikroskopischer Ebene. Für die Gravitationskraft zwischen dem Elektron und dem Proton eines Wasserstoffatoms gilt me mp FG = G 2 ≈ 4 × 10−47 N , (3.20) r wobei me = 9, 109 × 10−31 kg die Elektronenmasse, mp = 1, 673 × 10−27 kg die Protonenmasse und r ≈ 5 × 10−11 m der mittlere Abstand zwischen Elektron und Proton ist. Für die Coulomb-Kraft gilt zum Vergleich FC = 1 e2 ≈ 1 × 10−7 N , 4πϵ0 r2 (3.21) wobei e = 1, 602 × 10−19 C die Elementarladung, also der Betrag der Ladung des Elektrons beziehungsweise des Protons ist. Im Wasserstoffatom ist die CoulombKraft demnach etwa um den Faktor 1040 , man sagt auch um 40 Größenordnungen, stärker als die Gravitationskraft. 3.2.3 Kernkräfte Die starke und die schwache Kernkraft (auch starke und schwache Wechselwirkung genannt) unterscheiden sich von der Gravitations- und der Coulomb-Kraft durch ihre kurze Reichweite, die nicht über den Durchmesser der Atomkerne hinaus reicht. Die starke Kernkraft zwischen zwei Protonen ist etwa zwei Größenordnungen stärker als die Coulomb-Kraft, wohingegen die schwache Kernkraft um rund zehn Größenordnungen schwächer ist. Die starke Kernkraft wirkt zwischen Nukleonen (Protonen und Neutronen), den Bausteinen der Atomkerne, oder genauer gesagt zwischen den Bestandteilen der Nukleonen, den sogenannten Quarks. Die starke Kernkraft ist eine bindende Kraft, die für den Zusammenhalt der Nukleonen und darüber hinaus auch für den Zusammenhalt der Kerne verantwortlich ist. Die schwache Kernkraft, eine nicht-bindende Kraft, wirkt nicht nur auf die Quarks sondern auch auf Elektronen (und alle anderen Fermionen5 ). Durch die schwache Wechselwirkung wird die Umwandlung von Elementarteilchen erklärt, und damit auch viele Kernzerfälle. Beide Kernkräfte lassen sich nicht durch ein einfaches Kraftgesetz etwa von der Form der Gleichungen (3.10) oder (3.19) beschreiben. In diesen Fällen müssen nicht nur die Bahnen der mikroskopischen Teilchen, die diesen Kräften unterworfen sind, sondern auch die Felder, die diese Kräfte vermitteln quantisiert werden. Die Kernkräfte lassen sich daher nur durch sogenannte Quantenfeldtheorien beschreiben. 5 Elementarteilchen, deren Eigendrehimpuls ein halbzahliges Vielfaches des rationalisierten Planckschen Wirkungsquantums ist. 39 3.3 Kontaktkräfte Die Gravitations- und die Coulomb-Kraft sind Kräfte mit Fernwirkung: Zwei Körper können miteinander wechselwirken ohne sich gegenseitig zu berühren. Makroskopisch beobachten wir zusätzlich zu diesen Fernwirkungskräften auch häufig sogenannte Kontaktkräfte, die nur auftreten, wenn zwei Körper sich unmittelbar berühren. Zwar lassen sich solche Kräfte grundsätzlich stets auf elektrische Kräfte auf mikroskopischer Ebene zurückführen, doch ist dies für praktische Probleme aufgrund der großen Zahl der beteiligten Teilchen (die von der Größenordnung der Avogadro-Zahl NA = 6, 022 × 1023 ist) nicht durchführbar. Deshalb werden für viele Probleme neue Kraftgesetze formuliert, die nur näherungsweise gelten, aber auf makroskopischer Ebene einfach zu handhaben sind. Als Beispiele werden im Folgenden das Hookesche Gesetz und die Reibungskräfte vorgestellt. 3.3.1 Hookesches Gesetz Dieses nach Robert Hooke benannte Gesetz (in verallgemeinerter Form auch als Elastizitätsgesetz bezeichnet) besagt, dass die Kraft, die ein Körper einer Änderung seiner Länge l entgegensetzt, proportional zur Längenänderung ∆l ist: F ∼ ∆l . (3.22) Die dazugehörige Proportionalitätskonstante ist eine Materialkonstante und wird als Kraft- oder Federkonstante D bezeichnet. Es gilt dann F = −D∆l . (3.23) Das Minuszeichen soll daran erinnern, dass die Kraft, die in dem gedehnten oder gestauchten Körper erzeugt wird, seiner Längenänderung entgegengesetzt ist. Geht man davon aus, dass sich die Kraft, die ein gedehnter oder gestreckter Körper ausübt, in eine Taylor-Reihe entwickeln lässt, dann kann man das Hookesche Gesetz als Näherung erster Ordnung auffassen. Genügend kleine Auslenkungen ∆l aus dem Gleichgewicht lassen sich dann immer durch dieses Gesetz beschreiben, was seine grundlegende Bedeutung in der Physik erklärt. Das Hookesche Gesetz wird bei der Beschreibung von Schwingungen aller Art ebenso eingesetzt wie etwa bei der Simulation der Dynamik von Molekülen. Wir werden deshalb noch einige Male auf dieses Gesetz zurückgreifen. 3.3.2 Reibungskräfte Eine wichtige Klasse von Kontaktkräften stellen die Reibungskräfte dar. Reibung, die sich ausschließlich zwischen festen Körpern ereignet, wird auch als trockene Reibung oder als Coulomb-Reibung bezeichnet. Betrachten wir zwei feste Körper, die sich mit ebenen Flächen berühren (Abbildung 3.2). Körper 2 soll festgehalten 40 Abbildung 3.2: Reibung werden, während auf Körper 1 eine Zugkraft FA wirkt, die in der Ebene der Berührungsflächen liegt. Wenn die Zugkraft klein ist, wird sich der Körper 1 nicht bewegen. Wir erklären dies durch eine Reibungskraft FR , die der Zugkraft entgegengesetzt ist. Solange Körper 1 sich nicht bewegt, bezeichnen wir diese Reibungskraft als Haftreibungskraft. Die Haftreibungskraft ist immer genauso groß wie die Zugkraft FA , solange diese einen Grenzwert, nennen wir ihn FR,H nicht überschreitet. Diese Grenzkraft hängt von den Materialien der Körper 1 und 2 ab, sowie von der Normalkraft FN , mit der Körper 1 gegen die Oberfläche von Körper 2 gedrückt wird: FR,H = µH FN (3.24) Der dimensionslose Koeffizient µH wird auch als Haftreibungskoeffizient bezeichnet. Sobald die Zugkraft FA den Wert µH FN überschreitet, fängt Körper 1 an zu gleiten und setzt der Zugkraft nur noch die meist geringere Gleitreibungskraft FR,G = µG FN entgegen. In diesem Fall kann die Zugkraft unter den Grenzwert der Haftreibungskraft verringert werden, ohne dass der Körper 1 aufhört zu gleiten. Die Haft- und Gleitreibungskoeffizienten µH und µG lassen sich beispielsweise mit Hilfe einer schiefen Ebene bestimmen. Ein Körper wird durch seine Gewichts- F-N FR FA α FN G α Abbildung 3.3: Schiefe Ebene kraft auf eine schiefe Ebene gedrückt, die um den Winkel α gegen die Waagerechte geneigt ist. Die Gewichtskraft lässt sich als Summe einer Normalkomponente 41 senkrecht zur Ebene und einer Parallelkomponente in der Ebene, FG = FN + FA , zerlegen. Für die Beträge dieser Kräfte gilt FN = FG cos α FA = FG sin α (3.25) (3.26) Wenn der Winkel α solange erhöht wird, bis der Körper gerade eben nicht ins Gleiten gerät, dann ist die die maximale Haftreibungskraft vom Betrag her genau so groß wie Kraft FA , die den Körper die Ebene hinunter zieht: µH F N = F A (3.27) µH FG cos α = FG sin α . (3.28) und damit gilt Für den Haftreibungskoeffizienten gilt dann µH = tan α . (3.29) Sobald der Körper ins Gleiten gekommen ist, vermindert sich die Reibungskraft FR,G = µG FN , (3.30) die jetzt vom Gleitreibungskoeffizienten µG abhängt. Die Reibungskraft ist jetzt geringer als die Zugkraft FA , so dass der Körper beschleunigt wird. Gleichung (3.27) muss jetzt nach dem zweiten Newtonschen Gesetz um einen Term für die Beschleunigung ergänzt werden: µG FN + ma = FA (3.31) Für den Gleitreibungskoeffizienten gilt dann µG = FA − ma mg sin α − ma a = = tan α − FN mg cos α g cos α (3.32) Wenn der Gleitreibungskoeffizient nicht von der Geschwindigkeit abhängt, was wir hier voraussetzen, ist die Beschleunigung a konstant, und wir können sie auf einfache Weise nach dem Weg-Zeit-Gesetz (2.17) bestimmen. Dazu messen wir die Länge s der schiefen Ebene und die Zeit t, die der Körper benötigt, um die Ebenen hinunter zu gleiten. Für den Gleitreibungskoeffizienten erhalten wir dann µG = tan α − 42 2s . gt2 cos α (3.33) 3.4 Trägheitskräfte Die Newtonschen Gesetze gelten nur in Inertialsystemen, also in unbeschleunigten Koordinatensystemen. Um Vorgänge in beschleunigten Systemen zu beschreiben, müsste man eine Koordinatentransformation in ein Inertialsystem durchführen, dort die Bewegungsgleichungen aufstellen und lösen, und die erhaltene Bahnkurve anschließend wieder ins beschleunigte System zurück transformieren. Diese Vorgehensweise ist bei vielen Problemstellungen so umständlich, dass es sinnvoll sein kann, einen anderen Weg zu beschreiten, der darin besteht, dass zweite Newtonsche Gesetz so zu formulieren, dass es auch in Nichtinertialsystemen gültig ist. Dazu wird auf der linken Seite von Gleichung (3.2) eine Trägheitskraft FT (auch Scheinkraft oder Bezugssystemkraft genannt) eingeführt: F + FT = ma . (3.34) Diese Trägheitskraft tritt nicht paarweise auf, das heißt, das dritte Newtonsche Gesetz bezieht sich nicht auf Trägheitskräfte. Die genaue Form der Trägheitskraft hängt von dem speziellen beschleunigten System ab, für die sie gelten soll. Eine Eigenschaften ist jedoch allen Trägheitskräften gemeinsam: sie sind immer proportional zu der Masse des Körpers auf den sie wirken. Wir betrachten hier drei verschiedene Beispiele. Abbildung 3.4: Rotierendes Koordinatensystem 1. Beschleunigte Rakete Eine Rakete A wird im Weltraum geradlinig gleichförmig gegenüber einem Beobachter in einem Inertialsystem B beschleunigt. Ein Beobachter in B sieht, dass die ausströmenden Gase des Raketentriebwerks eine Schubkraft FS auf die Rakete ausüben, die deshalb mit a = FS /m beschleunigt wird, wenn m die Masse der Rakete ist. Ein Beobachter in A spürt ebenfalls 43 die Schubkraft FS , zusätzlich aber auch eine Trägheitskraft FT = −ma, die der Schubkraft entgegengesetzt ist. Im Koordinatensystem der Rakete verschwindet deshalb auch die linke Seite von Gleichung (3.34). Die rechte Seite dieser Gleichung ist ohnehin gleich Null, denn die Rakete ist in ihrem eigenen Koordinatensystem definitionsgemäß unbeschleunigt. 2. Frei fallender Fahrstuhl Ein Fahrstuhl A fällt frei im Schwerefeld der Erde. Ein Beobachter B auf dem Erdboden (der näherungsweise ein Inertialsystem sein soll) beobachtet, dass auf eine Person mit der Masse m im Fahrstuhl eine nach unten gerichtete Schwerkraft FG = −mg wirkt, und dass diese Person eine beschleunigte Bewegung ausführt. Die Person im Fahrstuhl dagegen sieht sich bezüglich eines im Fahrstuhl verankerten Koordinatensystems in Ruhe und außerdem kräftefrei.6 Die Kräftefreiheit im Fahrstuhl wird durch eine nach oben gerichtete Trägheitskraft FT = mg erreicht, die die Schwerkraft FG kompensiert. 3. Rotierende Scheibe Eine Scheibe A rotiert mit konstanter Winkelgeschwindigkeit ω (Abbildung 3.4). Auf der Scheibe befinden sich zwei aufeinander senkrecht stehende Einheitsvektoren er und eφ (also Vektoren der Länge eins), die ein auf der Scheibe festes Koordinatensystem aufspannen. Aus einem Inertialsystem B betrachtet rotieren er und eφ deshalb ebenfalls mit der Winkelgeschwindigkeit ω. In B ändert der Einheitsvektor er in der Zeit dt seine Position um der . Die Richtung von der ist offensichtlich tangential zur Scheibe und damit parallel zum Einheitsvektor eφ . Der Betrag von der ist nach den in Abschnitt 2.6 angestellten Betrachtungen gleich der Winkelgeschwindigkeit ω (da die Länge des Einheitsvektors nach Definition eins ist). Analog können wir auch die Änderung von eφ beschreiben und erhalten: der = ωeφ dt und deφ = −ωer . dt (3.35) Wir betrachten nun ein Teilchen, das sich auf der Scheibe mit konstanter Geschwindigkeit v = ṙ in radialer Richtung (also zum Mittelpunkt hin oder vom Mittelpunkt weg) bewegt. Aus der Sicht des rotierenden Systems A ist das Teilchen also unbeschleunigt und hat die Position r = rer . 6 (3.36) Auf Albert Einstein geht die Überlegung zurück, dass ein Beobachter im Fahrstuhl keine Möglichkeit hat, zu entscheiden, ob er sich in einem im Schwerefeld frei fallenden Fahrstuhl oder in einem unbeschleunigten Fahrstuhl außerhalb von Gravitationsfeldern befindet. In der Allgemeinen Relativitätstheorie stellt der frei fallende Fahrstuhl ein räumlich beschränktes Inertialsystem dar. Die Gravitationskraft kann so als Trägheitskraft aufgefasst werden, die nur in nicht frei fallenden Koordinatensystemen auftritt. 44 Von B aus gesehen rotiert das Teilchen mit der gleichen Winkelgeschwindigkeit wie die Scheibe. In B lässt sich die Position des Teilchens formal durch den gleichen Ausdruck wie in (3.36) beschreiben, nur ist er in B nicht fest sondern rotiert. Durch zweifache Ableitung von r nach der Zeit erhalten wir zunächst die Geschwindigkeit v= dr der d (rer ) = er + r = ṙer + ωreφ , dt dt dt (3.37) und dann die Beschleunigung d der deφ (ṙer + ωreφ ) = r̈er + ṙ + ω ṙeφ + ωr dt dt dt = r̈er + 2ω ṙeφ − ω 2 rer a = (3.38) Der erste Term im Ausdruck für die Beschleunigung, die Radialbeschleunigung r̈ verschwindet nach Voraussetzung, und wir erhalten schließlich a = 2ωveφ − ω 2 rer . (3.39) Damit das Teilchen tatsächlich die geforderte Bewegung vollführen kann, die aus der Sicht von B eine beschleunigte Bewegung ist, müssen nach dem zweiten Newtonschen Gesetz (F = ma) eine Zetripetalkraft Frad = mω 2 r radial zum Scheibenmittelpunkt (zum Beispiel eine Kontaktkraft im Falle eines Karussells oder die Schwerkraft im Falle der rotierenden Erde) und eine tangentiale Kraft Ftang = −2mω ṙ wirken, die proportional zur Masse m des Teilchens sind. Will ein Beobachter auf der Scheibe A das zweite Newtonsche Gesetz ebenfalls anwenden, obwohl A kein Inertialsystem ist, muss er zwei Trägheitskräfte, die Zentrifugalkraft FZ = −mω 2 r und die Coriolis-Kraft FC = 2mωv einführen, die Frad und Ftang gerade kompensieren. Im Ergebnis sieht der Beobachter auf der Scheibe das Teilchen dann, in Übereinstimmung mit den Newtonschen Gesetzen, als kräftefrei und unbeschleunigt an. Mit Hilfe der Zentrifugalkraft können wir zum Beispiel verstehen, warum ein geostationärer Satellit nicht infolge der Schwerkraft zum Erdboden herunterfällt, sondern kräftefrei und unbeschleunigt am Himmel steht (aus der Sicht eines Inertialsystems dagegen befindet sich der Satellit im freien Fall um die Erde). Die Coriolis-Kraft (erstmals 1835 von Gaspard Gustave de Coriolis abgeleitet) lässt sich experimentell durch ein möglichst langes Pendel nachweisen, das langsam seine Schwingungsebene dreht. Hängt ein solches Foucoult’sches Pendel7 am Nordpol, kann man es sich auch so vorstellen, dass die Erde sich unter dem Pendel dreht, das in einem Inertialsystem 7 Benannt nach Jean Bernard Leon Foucoult, der dieses Experiment 1851 durchführte. Ähnliche Versuche hatte zweihundert Jahre zuvor schon Galileis Schüler Vincenzo Viviani in Florenz durchgeführt. 45 seine Schwingungsrichtung beibehält. Auch Luftmassen, die in das Zentrum eines Tiefdruckgebietes strömen, werden durch die Coriolis-Kraft abgelenkt: Anstatt einer radialen Strömungsrichtung bilden sich spiralförmige Wirbel aus. 3.5 Bewegungsgleichung Sind alle Kräfte, die auf einen Körper wirken, explizit bekannt, kann man die entsprechenden Ausdrücke auf der linken Seite des zweiten Newtonschen Gesetzes (3.2) einsetzen. Wir erhalten dann die sogenannte Bewegungsgleichung für den Körper, eine Differentialgleichung zweiter Ordnung. Als Beispiel betrachten wir den Regentropfen, dessen Kinematik wir schon in Abschnitt 2.3 untersucht haben. Auf den Tropfen wirkt die nach unten gerichtete Gewichtskraft FG = −mg und eine entgegengesetzt gerichtete, geschwindigkeitsabhängige Reibungskraft FR = −mv/τ (v ist negativ), wobei die Zeitkonstante τ auch von der Masse abhängen kann. Die Bewegungsgleichung lautet nun − mg − m v = ma τ (3.40) und ist äquivalent zur Differentialgleichung (2.21) aus Abschnitt 2.3. Wie wir gesehen hatten, ist diese Differentialgleichung einfach und vollständig lösbar. Meist ist die Bewegungsgleichung aber nur sehr aufwändig oder sogar gar nicht geschlossen zu lösen. Schon die Bewegungsgleichungen für das Dreikörperproblem, drei Körper, die Gravitationskräfte aufeinander ausüben, sind nicht durch elementare Funktionen zu lösen. In solchen Fällen versucht man die Bewegungsgleichungen näherungsweise zu lösen, beispielsweise durch eine Störungsrechnung, bei der man das Problem zunächst auf ein einfacheres, lösbares Problem reduziert (zum Beispiel auf das exakt lösbare Zweikörperproblem), um dann die fehlenden Teile des Problems als Störung des einfacheren Problems aufzufassen. Eine Alternative zur Lösung der Bewegungsgleichungen besteht darin, einige Eigenschaften der Lösung auf anderem Wege zu erlangen, zum Beispiel durch die Anwendung der Erhaltungssätze. 3.6 Erhaltungsgrößen Manche physikalische Größen bleiben in abgeschlossenen Systemen, auf die keine äußeren Kräfte wirken, erhalten, das heißt sich ändern sich nicht mit der Zeit. Beispiele dafür sind die gesamte Energie eines Systems oder die Summe aller Impulse. Solche Erhaltungssätze haben sich aus einer Vielzahl experimenteller Untersuchungen ergeben, die in der Rückschau einfach und offenkundig wirken mögen. Tatsächlich führen im Alltag Reibungskräfte dazu, dass die Bewegungsenergie 46 eines Körpers und sein Impuls langsam zu verschwinden scheinen. Berücksichtigt man nicht, dass die Bewegungsenergie in Wärmeenergie umgewandelt wird, und dass der Impuls auf andere Körper (zum Beispiel auf die Erde) übertragen wird, dann könnte man von einer Verletzung der Energie- und Impulserhaltung ausgehen. Es hat sich gezeigt, dass sich viele Erhaltungssätze aus grundlegenden Annahmen zu den Naturgesetzen ableiten lassen. Nach dem Noether-Theorem ist jede kontinuierliche Symmetrie der physikalischen Gesetze8 mit einem Erhaltungssatz verknüpft. 3.6.1 Energie Abbildung 3.5: Federpendel (links) und senkrechter Wurf(rechts) Wenn zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort die Kraft F bekannt ist, die auf einen Körper wirkt, lässt sich mit Hilfe des zweiten Newtonschen Gesetzes die Bahnkurve r(t) des Körpers bestimmen. Wir versuchen jetzt, den Einfluss der Kraft auf die Bewegung des Körpers in einer einzigen Größe zusammenzufassen. Dazu integrieren wir die Kraft über den zurückgelegten Weg, der Einfachheit halber zunächst nur in einer Dimension. Das Ergebnis s2 W2,1 = F ds (3.41) s1 bezeichnen wir als Arbeit, in diesem Fall genauer als die Arbeit, die auf dem Weg vom Ort s1 zum Ort s2 an dem Körper geleistet wird. Wenn an einem Körper Arbeit geleistet wird, ändert sich auch dessen Bewegungszustand. Um den Zusammenhang zwischen der geleisteten Arbeit und dieser Änderung zu erhalten, 8 Genau genommen behauptet das Noether-Theorem dies nur für physikalische Gesetze, die sich aus einer Lagrange-Funktion ableiten lassen. 47 ersetzen wir in Gleichung (3.41) die Wegstrecke s durch die Zeit t als Integrationsvariable: t2 s2 ds F dt F ds = (3.42) dt t1 s1 Die Integrationsgrenzen t1 und t2 sind hier die Zeiten, zu denen der Körper sich am Ort s1 beziehungsweise s2 befunden hat. Wir können den Ausdruck in der zweiten Zeile von (3.42) weiter umformen, indem wir die Kraft entsprechend dem zweiten Newtonschen Gesetz schreiben: t2 t2 t2 ds dv ds ma dt = m v dt , F dt = (3.43) dt dt dt t1 t1 t1 wobei wir davon ausgehen, dass außer der Kraft F keine weiteren Kräfte wirken. Wir ersetzen jetzt erneut die Integrationsvariable und schreiben v t2 v2 1 dv 1 2 2 1 mv (3.44) mv dt = mv dv = = mv22 − mv12 , dt 2 2 2 t1 v1 v1 wobei v1 die Geschwindigkeit des Körpers zur Zeit t1 und v2 die Geschwindigkeit zur Zeit t2 ist. Wir definieren jetzt den Ausdruck 1 T = mv 2 2 (3.45) als kinetische Energie (oder Bewegungsenergie). Offenbar ist die an dem Körper geleistete Arbeit gleich der Änderung seiner kinetischen Energie: W2,1 = T2 − T1 . (3.46) Diese Betrachtung lässt sich auch auf den dreidimensionalen Raum übertragen: r2 t2 v2 dv dr mv · dv = T2 − T1 . (3.47) · dt = W2,1 = F · dr = m dt dt v1 r1 t1 Die Feststellung, dass die an einem Körper geleistete Arbeit gleich der Änderung seiner kinetischen Energie ist, trifft nur zu, wenn wir für die Berechnung der Arbeit, die gesamte auf den Körper wirkende Kraft einsetzen. Das folgende Beispiel soll dies illustrieren: Wir heben eine Masse m fast unendlich langsam mit der senkrecht nach oben gerichteten Kraft F vom Boden (z1 ) auf die Höhe z2 an. Die Geschwindigkeit sei zu Beginn und am Ende der Bewegung gleich Null, so dass die kinetische Energie sich nicht ändert, obwohl wir doch Arbeit an der Masse geleistet haben. Neben der von uns ausgeübten Kraft F wirkt jedoch zusätzlich die entgegengesetzte, nahezu gleich große Gewichtskraft mg. Die resultierende Gesamtkraft ma = F + mg ≈ 0 (3.48) 48 ist daher praktisch Null. Wir selbst haben jedoch die Arbeit W2,1 = |F| (z2 − z1 ) (3.49) geleistet. Durch unsere Arbeit hat sich nicht der Bewegungszustand des Körpers geändert, aber seine Lage. Wir ordnen dem Körper jetzt eine lageabhängige, potentielle Energie V (z) = mgz (3.50) zu, deren Nullpunkt wir willkürlich gewählt haben. Es gilt dann W2,1 = V (z2 ) − V (z1 ) . (3.51) Wir können nun allgemeiner schreiben W = ∆T + ∆V . (3.52) Die Arbeit die wir an einem Körper leisten, ist also gleich der Summe der Änderungen seiner kinetischen und potentiellen Energie. In einem abgeschlossenen System, indem alle Kräfte, die auf die zum System gehörenden Körper wirken, von anderen Körpern dieses Systems herrühren, ist die Summe der kinetischen Energie aller Körper und der potentiellen Energie aller Körper eine Konstante: E = T1 + T2 + . . . + Tn + V1 + V2 + . . . + Vn = const. , (3.53) es gilt also dE =0. (3.54) dt Diese Feststellung bezeichnen wir auch als Energieerhaltungssatz. Dieser Erhaltungssatze lässt sich für alle uns bekannten grundlegenden Wechselwirkungen aus der Homegenität der Zeit in Inertialsystemen ableiten, also aus der Tatsache, dass wir den Nullpunkt der Zeitachse beliebig festlegen dürfen. Wenn die von einer ortsabhängigen Kraft F(r) geleistete Arbeit W2,1 in Gleichung (3.47) nicht davon abhängt, auf welchem Weg sich der Körper von r1 nach r2 bewegt, dann können wir die Arbeit auch in folgender Weise schreiben: W2,1 = − [V (r2 ) − V (r1 )] . (3.55) Die Funktion V (r) bezeichnen wir als Potential. Die Änderung des Bewegungszustandes eines Körpers hängt nur von der Potentialdifferenz zwischen zwei Orten ab. Ist die wegunabhängige Kraft bekannt, können wir die Potentialdifferenz V (r2 ) − V (r1 ) mit Hilfe von (3.47) und (3.55) bestimmen. Da wir nur die Potentialdifferenzen bestimmen können, bleibt noch ein unbekannter konstanter Term übrig, der häufig dadurch festgelegt wird, dass wir willkürlich davon ausgehen, dass das Potential an einem unendlich weit entfernten Punkt verschwindet: V (r∞ ) = 0 wenn |r∞ | = ∞. Umgekehrt könnten wir die Kraft dV dV dV , , (3.56) F=− dx dy dz als negativen Gradienten des Potentials schreiben. 49 Energie des Federpendels Als Beispiel betrachten wir ein Federpendel mit der Masse m, auf das eine rücktreibende Kraft F = −Dx wirkt, wobei D die Federkonstante und x die Auslenkung aus dem Gleichgewicht ist (Abbildung 3.5, links). Zum Zeitpunkt t0 ist das Pendel im Gleichgewicht (x0 = 0) und hat die Geschwindigkeit v0 . Wir fragen uns nun, wie weit das Pendel maximal aus dem Gleichgewicht ausgelenkt werden kann. Der Energieerhaltungssatz erlaubt uns diese Frage zu beantworten, ohne dass wir die Bewegungsgleichung des Pendels lösen müssen. Die potentielle Energie des Pendels im Gleichgewicht dürfen wir willkürlich gleich Null setzen, denn nur die Differenzen der potentiellen Energie sind von Bedeutung, nicht aber deren absoluter Wert. Die kinetische Energie im Gleichgewicht beträgt 1 T0 = mv02 . 2 (3.57) Wenn das Pendel seine maximale Auslenkung erreicht, befindet es sich in einem seiner Umkehrpunkte und hat dort die Geschwindigkeit v1 = 0 und die kinetische Energie T1 = 0 . (3.58) Aufgrund der Energieerhaltung muss die gesamte Energie des Pendels jetzt als potentielle Energie vorliegen. Wir können diese in der Form x x1 x1 1 2 1 1 V1 = V0 − W1,0 = − F dx = Dx dx = Dx = Dx21 (3.59) 2 2 x0 x0 x0 schreiben. Aus der Energieerhaltung folgt dann 1 2 1 2 mv = Dx 2 0 2 1 (3.60) und für die maximale Auslenkung erhalten wir x1 = ±v0 m . D (3.61) Senkrechter Wurf Ein zweites Beispiel soll nochmals illustrieren, wie wir mit Hilfe des Energieerhaltungssatzes nützliche Informationen bekommen können, ohne die Bewegungsgleichung lösen zu müssen. Ein Körper mit der Masse m wird zum Zeitpunkt t0 in der Höhe z0 = 0 mit der Geschwindigkeit v0 senkrecht in die Höhe geworfen (Abbildung 3.5, rechts). Wir untersuchen nun, welche maximale Höhe z1 der Körper 50 erreicht. Der Körper unterliegt der Gewichtskraft F = −mg. Das negative Vorzeichen soll andeuten, dass die Kraft nach unten gerichtet ist. Für die potentielle Energie können wir dann V = mgz (3.62) schreiben. Wieder haben wir den Nullpunkt des Potentials willkürlich festgelegt, was an der resultierenden Kraft (siehe Gleichung (3.56)) nichts ändert, da konstante Terme bei der Ableitung nach dem Weg verschwinden. Zur Zeit t0 hat der Körper nur kinetische Energie. Ist er dann am höchsten Punkt angelangt, ist die kinetische Energie Null, und die gesamte Energie des Körpers liegt als potentielle Energie vor. Aufgrund der Energieerhaltung gilt dann: 1 2 mv = mgz1 2 0 Der Körper erreicht demnach eine Höhe von v02 2g z1 = (3.63) (3.64) Die maximale Höhe ist offenbar unabhängig von der Masse des Körpers, was eine Folge der Äquivalenz von träger und schwerer Masse ist. Leistung Die Arbeit, die pro Zeiteinheit an einem Körper geleistet wird, bezeichnet man als Leistung dW . (3.65) P = dt Die kohärente SI-Einheit für die Leistung ist das Watt, definiert durch 1 W = 1 J s−1 . Man kann die Leistung auch als Skalarprodukt zwischen der Kraft, die auf einen Körper wirkt, und dessen Geschwindigkeit schreiben, denn es gilt P = 3.6.2 dW F · dr = =F·v. dt dt (3.66) Impuls Eine andere Möglichkeit, den Einfluss der Kraft auf die Bewegung eines Körpers in einer einzigen Größe zusammenzufassen, besteht darin, die Kraft über die Zeit zu integrieren: t F dt′ p(t) = (3.67) t1 Die so erhaltene Größe p(t) bezeichnen wir als Impuls (oder auch als Kraftstoß). Im dreidimensionalen Raum gilt: t p(t) = Fdt′ . (3.68) t1 51 Abbildung 3.6: Elastischer Stoß Welchen absoluten Wert der Impuls eines Körpers hat, hängt davon ab, in welchem Koordinatensystem sich der Betrachter befindet. Aus dem Ruhesystem eines Körpers betrachtet ist dessen Impuls stets Null. Wichtiger als der absolute Wert des Impulses ist deshalb seine zeitliche Änderung, die in jedem Inertialsystem gleich groß ist. Differentiation von Gleichung (3.68) nach der Zeit liefert das zweite Newtonsche Gesetz in seiner ursprünglichen Form: dp =F. dt (3.69) Auch für den Impuls gilt ein Erhaltungssatz: In einem abgeschlossenen System, also einem System auf das von außen keine Kräfte wirken, ist die Summe aller Impulse konstant: pges = p1 + p2 + . . . + pn = const. , (3.70) und es folgt dpges =0. dt (3.71) Der Impulserhaltungssatze folgt aus der Homogenität des Raumes in Inertialsystemen, also aus der Annahme, dass sich die physikalischen Gesetze nicht ändern, wenn wir den Ursprung des räumlichen Koordinatensystems verschieben. 52 Stoßvorgänge Eine wichtige Anwendung des Impulserhaltungssatzes ist die Untersuchung von Stoßvorgängen. Wir wollen der Kürze halber hier nur zwei besonders einfache Stoßvorgänge betrachten, den linearen, vollkommen elastischen und den linearen, vollkommen inelastischen Stoß zwischen zwei Körpern. Beim vollkommen elastischen Stoß (Abbildung 3.6) ist die gesamte kinetische Energie nach dem Stoß unverändert, während beim vollkommen inelastischen Stoß, die kinetische Energie nach dem Stoß den kleinstmöglichen Wert annimmt, der mit dem Impulserhaltungssatz vereinbar ist. Betrachten wir zunächst den inelastischen Stoß. Zweckmäßigerweise behandeln wir den Stoß in einem besonderen Koordinatensystem, nämlich im Schwerpunktsystem der beiden Stoßpartner. Später überlegen wir, wie wir das Ergebnis in ein beliebiges anderes System übertragen können. Wenn x1 und x2 die Ortskoordinaten der beiden Stoßpartner sind, und m1 und m2 deren Massen, dann ist m1 x1 + m2 x2 (3.72) X= m1 + m2 die Ortskoordinate des Schwerpunktes. Das Schwerpunktsystem ist definitionsgemäß das Koordinatensystem, in dem der Schwerpunkt ruht, dass heißt es gilt dX dx2 1 dx1 1 = + m2 m1 = (m1 v1 + m2 v2 ) = 0 . (3.73) dt m1 + m2 dt dt m1 + m2 Dabei sind v1 und v2 die Geschwindigkeiten der Stoßpartner vor dem Stoß. Wie man sieht, ist im Schwerpunktsystem der Gesamtimpuls Null, und nach dem Impulserhaltungssatz muss dies auch nach dem Stoß gelten. Die geringstmögliche kinetische Energie nach dem Stoß wird erreicht, wenn beide Stoßpartner die Geschwindigkeit Null haben, also an einander haften bleiben. Der Gesamtimpuls ist dann natürlich Null und der Impulserhaltungssatz bleibt gewahrt. Nach dem Energieerhaltungssatz muss der Verlust an kinetischer Energie durch ein Anwachsen einer anderen Energieform ausgeglichen werden, etwa der potentiellen Energie oder der (bisher noch nicht behandelten) Wärmeenergie. Ein Beobachter in einem beliebig gewählten, anderen Koordinatensystem S’, das sich gegenüber dem Schwerpunktsystem mit der Geschwindigkeit V längs der Stoßachse bewegt ist, beobachtet vor dem Stoß die Geschwindigkeiten v1′ = v1 − V und v2′ = v2 − V (3.74) und nach dem vollkommen inelastischen Stoß die Geschwindigkeiten u′1 = u′2 = −V . (3.75) Im Fall des vollkommen elastischen Stoßes bleibt die kinetische Energie erhalten, dass heißt es gilt im Schwerpunktsystem 1 1 1 1 m1 v12 + m2 v22 = m1 u21 + m2 u22 . 2 2 2 2 53 (3.76) Da im Schwerpunktsystem der Gesamtimpuls verschwindet, hängt v2 linear von v1 ab, und das Gleiche gilt für u2 und u1 : m1 m1 v2 = − v1 und u2 = − u1 . (3.77) m2 m2 Wir setzen diese Ausdrücke in Gleichung (3.76) ein und erhalten 1 m1 1 m1 2 2 m1 v1 1 + = m1 u1 1 + . 2 m2 2 m2 (3.78) Offenbar ist v12 = u21 . (3.79) Wäre v1 = u1 , würde sich kein Stoß ereignen. Als Lösung bleibt also nur u1 = −v1 und u2 = −v2 . (3.80) Im Schwerpunktsystem bewegen sich die Stoßpartner nach dem elastischen Stoß also in die entgegengesetzten Richtungen wie vor dem Stoß, die Beträge der Geschwindigkeiten bleiben aber unverändert. Ein Beobachter in einem anderen Koordinatensystem S’, das gegenüber dem Schwerpunktsystem mit der Geschwindigkeit V längs der Stoßachse bewegt ist, beobachtet vor dem Stoß die Geschwindigkeiten v1′ = v1 − V und v2′ = v2 − V (3.81) und nach dem Stoß die Geschwindigkeiten u′1 = −v1 − V und u′2 = −v2 − V . (3.82) Daraus folgt u′1 = −(v1′ + V ) − V = −v1′ − 2V. (3.83) Dieser Beobachter sieht, wie sich der Schwerpunkt mit der Geschwindigkeit −V = m1 v1′ + m2 v2′ m1 + m2 (3.84) bewegt. Daraus folgt u′1 = −v1′ + 2 m1 v1′ + m2 v2′ (m1 − m2 )v1′ + 2m2 v2′ = . m1 + m2 m1 + m2 (3.85) Das Ergebnis für u′2 erhält man, indem man die Indizes vertauscht, da keiner der beiden Stoßpartner vor dem anderen ausgezeichnet ist. Von einem beliebig gewählten Koordinatensystem aus betrachtet lauten die Geschwindigkeiten nach dem Stoß dann (m1 − m2 )v1′ + 2m2 v2′ (m2 − m1 )v2′ + 2m1 v1′ u′1 = und u′2 = . (3.86) m1 + m2 m1 + m2 Wir betrachten noch zwei besonders einfache Spezialfälle: 54 1. Wenn beide Stoßpartner die gleiche Masse besitzen (m1 = m2 ), bewegt der erste Stoßpartner sich nach dem Stoß mit der Geschwindigkeit, die der zweite Stoßpartner vor dem Stoß hatte, und umgekehrt: u′1 = v2′ und u′2 = v1′ . 2. Wenn der eine Stoßpartner praktisch unendlich schwer ist (m1 = ∞), wird der unendlich schwere Stoßpartner sich nach dem Stoß mit der gleichen Geschwindigkeit fortbewegen wie vor dem Stoß (u′1 = v1′ ), während der zweite, endlich schwere Stoßpartner sich nach dem Stoß mit einer gleich großen, aber entgegengesetzt gerichteten Geschwindigkeit wie vor dem Stoß zuzüglich der doppelten Geschwindigkeit des unendlich schweren Stoßpartners bewegt (u′2 = −v2′ + 2v1′ ). Dies ist zum Beispiel in guter Näherung der Fall, wenn ein Ball gegen eine Wand prallt. 3.6.3 Drehimpuls Für einen punktförmigen Körper mit dem Impuls p ist der Drehimpuls durch L=r×p (3.87) definiert. Der Drehimpuls einer Punktmasse ist also ein Vektor, der immer senkrecht auf dem Impuls steht. Betrachten wir als Beispiel die gleichförmige Kreisbewegung, und legen wir den Ursprung des Koordinatensystems in den Mittelpunkt des Kreises. Der Ortsvektor r, der Geschwindigkeitsvektor v und der Impulsvektor p liegen dann immer in der Kreisebene. Nach (3.87) steht der Drehimpulsvektor dann senkrecht auf der Kreisebene. Wie wir aus der Kinematik wissen (siehe Abschnitt 2.6), ist v = ω × r und damit p = m ω × r. Im Fall der Kreisbewegung lautet der Drehimpuls daher L = r × (m ω × r) (3.88) Der Klammerausdruck auf der rechten Seite von (3.88) steht senkrecht auf r, so dass beide Kreuzprodukte für aufeinander senkrecht stehende Vektoren ausgewertet werden. Nach (2.61) ist der Betrag des Drehimpulses deshalb mr2 ω. Da der Drehimpulsvektor senkrecht auf r und v steht, ist er parallel zu ω . Wir können dieses Ergebnis auch rein formal herleiten, wenn wir die Rechenregel a × (b × c) = b (a · c) − c (a · b) (3.89) für das doppelte Kreuzprodukt auf Gleichung (3.88) anwenden. Wir erhalten dann L = mr2ω . (3.90) Der Ortsvektor r in Gleichung (3.87) hängt davon ab, wo sich der Ursprung des Koordinatensystems befindet. Wählen wir uns ein neues Koordinatensystem, 55 dessen Ursprung gegenüber dem alten verschoben ist, werden wir einen anderen Drehimpuls erhalten. Von besonderem Interesse sind daher nicht so sehr die absoluten Werte der Impulse sondern deren zeitliche Änderungen. Wir betrachten als Beispiel die Bewegung einer Punktmasse unter dem Einfluß einer Zentralkraft, also einer Kraft, die stets in ein Zentrum gerichtet ist. Beispiele für solche Zentralkräfte sind die Gravitations- oder die Coulomb-Kraft. Unser Koordinatensystem legen wir in das Zentrum dieser Kraft. Für die Änderung des Drehimpulses mit der Zeit gilt d dr dp dL = (r × p) = ×p+r× . dt dt dt dt (3.91) Der erste Term auf der rechten Seite von (3.91) verschwindet, da ṙ und p parallel sind. Den zweiten Term schreiben wir mit Hilfe des zweiten Newtonschen Gesetzes (3.1) um und erhalten: dL =r×F. (3.92) dt Da die Kraft F nach Voraussetzung aber eine Zentralkraft sein soll, sind r und F parallel und der zweite Term auf der rechten Seite von (3.91) verschwindet ebenfalls. Die Änderung des Drehimpulses ist also Null, und somit ist gezeigt, dass der Drehimpuls einer Punktmasse durch eine Zentralkraft nicht geändert wird. Kepler hat diese Tatsache in seinem zweiten Gesetz für die Planetenbahnen wie folgt formuliert: Der Fahrstrahl (also der Vektor r) überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächen. Im Fall der Kreisbewegung können wir die in der Zeit dt überstrichene Fläche durch r dr/2 = rv dt/2 = r2 ω dt/2 = L dt/(2m) annähern. Da L immer gleich ist, sind für gleiche dt offensichtlich auch die überstrichenen Flächen gleich. 56 Kapitel 4 Mechanik des starren Körpers 4.1 Massenmittelpunkt Bislang hatten wir uns auf die Kinematik und Dynamik von Körpern beschränkt, die als punktförmig angesehen wurden. Für elementare Teilchen wie etwa Elektronen ist dies möglicherweise ausreichend, für makroskopische Körper dagegen bietet es sich an, ein anderes Konzept zu verwenden, das des ausgedehnten, starren Körpers. Einen solchen starren Körper kann man sich aus einer endlichen Zahl von punktförmigen Teilchen mit den Massen mi zusammengesetzt vorstellen. Die gesamte Masse M des starren Körpers ist dann gleich der Summe der Massen seiner Bestandteile: M = m1 + m2 + . . . + mN . (4.1) Ist die Anzahl N der einzelnen Punktmassen sehr groß, kann es günstiger sein eine kontinuierliche, ortsabhängige Massenverteilung ρ(r) zu definieren: m∆V,r . (4.2) ρ(r) = lim ∆V →0 ∆V Dabei ist m∆V,r die Masse, die sich in einem kleinen Volumen ∆V um den Ort r herum befindet. In diesem Fall können wir die Masse des starren Körpers durch Integration der Ladungsdichte erhalten: M = ρ(r) dV . (4.3) Die Integration über das Volumen ist so zu verstehen, dass der gesamte Raum in unendlich viele infinitesimale Volumenelemente dV zerlegt wird, deren Position durch den Ortsvektor r festgelegt ist. Als Analogon zum Ort r einer Punktmasse definieren wir für den ausgedehnten, starren Körper den Massenmittelpunkt1 m1 r1 + m2 r2 + . . . + mN rN R= . (4.4) m1 + m2 + . . . + mN 1 Der Begriff Massenmittelpunkt wird häufig synonym mit dem wesentlich geläufigeren Be- 57 Wir können den Massenmittelpunkt auch als massengewichtetes arithmetisches Mittel der Ortskoordinaten der N Punktmassen ansehen. Im Fall einer kontinuierlichen Massenverteilung ist der Massenmittelpunkt durch rρ dV R= (4.5) ρ dV gegeben. Wenn an allen Massenpunkten jeweils die gleiche Kraft F angreift, dann verhält sich der starre Körper so, als ob die Kraft im Massenmittelpunkt R angreift. Die Bewegung des starren Körpers wird in diesem Fall vollständig durch die Translation des Massenmittelpunktes beschrieben, und die Bahnkurve des Massenmittelpunktes ist die Lösung der Bewegungsgleichung F = M R̈ . 4.2 (4.6) Drehmoment Kräfte, die nicht an allen Massenpunkten gleichermaßen angreifen, führen zu einer Rotation des starren Körpers. Wie schnell der Körper zu rotieren beginnt, hängt von seiner Massenverteilung, von der Stärke der Kraft und von dem Abstand zwischen dem Massenmittelpunkt und dem Angriffspunkt der Kraft ab. Die beiden letzten Faktoren lassen sich zu einer neuen Größe, dem Drehmoment M=r×F (4.7) zusammenfassen. Wir wählen das Koordinatensystem so, dass sich der Massenmittelpunkt im Ursprung befindet. Greift die Kraft direkt im Massenmittelpunkt an (r = 0), dann ist das Drehmoment gleich Null, und die Kraft bewirkt keine Änderung der Rotationsgeschwindigkeit sondern eine Änderung der Translationsgeschwindigkeit. Das Gleiche trifft zu, wenn die Kraft F parallel zum Verbindungsvektor r zwischen dem Massenmittelpunkt und dem Angriffspunkt der Kraft ist (das Kreuzprodukt zweier paralleler Vektoren ist Null). Wenn dagegen die Kraft senkrecht auf dem Verbindungsvektor r steht, dann bewirkt die Kraft ausschließlich eine Änderung der Rotationsgeschwindigkeit. Vergleicht man die Definition des Drehmomentes (4.7) mit Gleichung (3.92), wird deutlich, dass das Drehmoment die Ursache für die Änderung des Drehimpulses ist, dL , (4.8) dt so wie die Kraft die Ursache für die Änderung des (linearen) Impulses ist. M= griff Schwerpunkt verwendet. Tatsächlich ist der Massenmittelpunkt mit der Trägheit des Körpers und der Schwerpunkt mit dem Verhalten des Körpers in einem Schwerefeld verbunden. Für Experimente auf der Erdoberfläche mit Körpern, die Ausmaße im Meterbereich haben, weichen Massenmittel- und Schwerpunkt um Mikrometer voneinander ab, da das Schwerefeld der Erde mit zunehmender Höhe abnimmt. 58 4.3 Trägheitsmoment Wir betrachten einen starren Körper, der aus N Punktmassen mi zusammengesetzt ist. Wir wählen uns ein Koordinatensystem, in dem der Massenmittelpunkt im Ursprung ruht. Die Positionen der Punktmassen bezogen auf den Massenmittelpunkt werden durch die Ortsvektoren ri festgelegt. Nach Voraussetzung führt der starre Körper in dem speziell gewählten Koordinatensystem keine Translationsbewegung aus. Die Geschwindigkeiten vi der Punktmassen müssen daher von der Rotation des starren Körpers um seinen Schwerpunkt herrühren. Die Drehachse und die Winkelgeschwindigkeit der Rotation sollen durch Richtung und Betrag des Vektors ω angegeben werden. Wenn wir jetzt die Definition des Drehimpulses einer Punktmasse aus Abschnitt (3.6.3) auf den Drehimpuls des starren Körpers übertragen, erhalten wir L= N mi ri × vi (4.9) i=1 Da die vi sich ausschließlich auf die Rotation des Körpers beziehen, können wir sie in der Form vi = ω × r i (4.10) schreiben. Setzen wir (4.10) in (4.9) ein, erhalten wir die lineare Beziehung L= N ω × ri ) mi ri × (ω (4.11) i=1 zwischen L und ω . Offensichtlich verschwindet der Drehimpuls, wenn die Winkelgeschwindigkeit Null ist. Daher können wir die lineare Beziehung zwischen diesen beiden Vektoren ganz allgemein in der Form L = Jω (4.12) schreiben. Die Matrix J wird als Trägheitstensor bezeichnet. Wenn wir die Rechenregel (3.89) auf Gleichung (4.11) anwenden, erhalten wir L= N ω (ri · ri ) − ri (ri · ω )] . mi [ω (4.13) i=1 Durch komponentenweisen Vergleich der beiden Seiten von (4.13) kann man zeigen, dass der Trägheitstensor, der in Gleichung (4.12) implizit definiert wurde, die Form 2 N yi + zi2 −xi yi −xi zi J= mi −xi yi x2i + zi2 −yi zi (4.14) 2 2 i=1 −xi zi −yi zi xi + yi 59 hat, wobei xi , yi und zi die Komponenten von ri sind. Diese Matrix lässt sich, da sie symmetrisch ist, stets diagonalisieren. Das heißt mit anderen Worten, wenn wir das Koordinatensystem geschickt drehen, hat J die Form Jxx 0 0 J = 0 Jyy 0 . (4.15) 0 0 Jzz Die Diagonalelemente Jxx , Jyy und Jzz bezeichnen wir als Hauptträgheitsmomente und die neuen Koordinatenachsen als Hauptträgheitsachsen (eigentlich müssten wir die Hauptträgheitsachsen mit x′ , y ′ und z ′ bezeichnen, um zu unterstreichen, dass es sich um neue Achsen handelt). Im sogenannten Hauptachsensystem können wir für das Trägheitsmoment bezüglich der x-Achse schreiben: Jxx = N 2 mi rx,i (4.16) i=1 wobei rx,i den Abstand von Masse mi von der x-Achse bezeichnet. Entsprechend sind auch die Trägheitsmomente Jyy und Jzz definiert. Besonders einfach lässt sich der Zusammenhang zwischen Drehimpuls und Winkelgeschwindigkeitsvektor schreiben, wenn der starre Körper um eine seiner Hauptträgheitsachsen rotiert. In diesem Fall gilt für den Betrag des Drehimpulses L = Jω (4.17) Hier steht J für eines der Hauptträgheitsmomente Jxx , Jyy oder Jzz , je nachdem um welche der drei Hauptträgheitsachsen der Körper rotiert. Im Falle der Rotation um eine der Hauptachsen fällt die Richtung des Drehimpulsvektors mit der Drehachse zusammen. Im Allgemeinen ist das sonst nicht der Fall. Die Hauptträgheitsmomente sind charakteristisch für einen starren Körper und hängen von der gesamten Masse sowie von deren Verteilung im Körper ab. In Tabelle 4.1 sind einige Trägheitsmomente symmetrischer Körper aufgeführt. Besonders einfach lässt sich das Trägheitsmoment eines Ringes berechnen, der um ein Achse durch seinen Mittelpunkt rotiert, die senkrecht auf der Ebene des Ringes steht. Wenn der Ring den Radius R hat, befindet sich jeder Massenpunkt im Abstand R von der Drehachse, und das Trägheitsmoment ist genau J = M R2 . Für einen Hohlzylinder erhalten wir das gleiche Ergebnis. Von diesen einfachen Fällen abgesehen, müssen die Trägheitsmomente auch für hoch symmetrische Körper meist mit Hilfe der Integralrechnung hergeleitet werden. Der Trägheitstensor kann auch verwendet werden, um die kinetische Energie der Rotation zu berechnen. Wir schreiben die gesamte kinetische Energie des starren Körpers als Summe der kinetischen Energiebeiträge der einzelnen Massenpunkte: N N N 1 1 1 ω × ri ) = ω × ri ) mi vi2 = mi vi · (ω pi · (ω T = 2 i=1 2 i=1 2 i=1 60 (4.18) Tabelle 4.1: Trägheitsmomente einiger symmetrischer Körper. Körper Ring Scheibe Dünner Stab Hohlkugel Vollkugel Drehachse durch den Mittelpunkt, senkrecht zur Ringebene durch den Mittelpunkt, senkrecht zur Scheibenebene durch den Mittelpunkt, senkrecht zur Stabachse durch den Mittelpunkt durch den Mittelpunkt Trägheitsmoment M R2 1 2 2MR 1 2 12 M L 2 2 3MR 2 2 5MR Wir wenden jetzt die Rechenregel a · (b × c) = (c × a) · b für das Spatprodukt an und erhalten N N 1 1 T = (ri × pi ) · ω = Li · ω (4.19) 2 i=1 2 i=1 Wir ersetzen die Summe der einzelnen Drehimpulse durch den Gesamtdrehimpuls L= N Li (4.20) i=1 und erhalten mit Gleichung (4.12) die Vektorbeziehung 1 ω T = ω · Jω 2 (4.21) für die kinetische Energie. Rotiert der Körper speziell um eine seiner Haupträgheitsachsen, können wir die kinetische Energie einfacher schreiben: 1 T = Jω 2 . 2 4.4 (4.22) Steinerscher Satz In den üblichen Tabellen, wie etwa Tab. 4.3, werden nur die Trägheitsmomente bezüglich der Hauptträgheitsachsen eines Körpers angegeben. Diese Achsen verlaufen immer durch den Massenmittelpunkt. Mit Hilfe des Steinerschen Satzes lassen sich auf einfache Weise auch die Trägheitsmomente bezüglich Drehachsen angeben, die nicht durch den Massenmittelpunkt aber parallel zu den Hauptträgheitsachsen verlaufen. Für den Drehimpuls bezüglich einer solchen Achse gilt L= N ω × ri ) . mi ri × (ω (4.23) i=1 Hier steht ri für den Abstand der Masse mi von einem fest gewählten Punkt auf der Drehachse. Wenn R der Ortsvektor des Massenmittelpunktes bezüglich 61 des fest gewählten Punktes auf der Drehachse ist, und r′i die Ortsvektoren der Massen bezüglich des Massenmittelpunktes sind, dann können wir schreiben: L= N ω × (R + r′i )] . mi (R + r′i ) × [ω (4.24) i=1 Wenn wir den Punkt auf der Drehachse so wählen, dass R senkrecht auf der Drehachse steht, folgt: N N N ω × r′i ) + R × ω × ω × R) . L = M R2ω + mi r′i × (ω mi r′i + mi r′i × (ω i=1 i=1 i=1 (4.25) Aus der Definition des Massenmittelpunktes folgt N mi r′i = 0 (4.26) i=1 und wir erhalten 2 L = MR ω + N ω × r′i ) . mi r′i × (ω (4.27) i=1 Da die Drehachse eine Hauptträgheitsachse sein sollte, können wir den zweiten Term auf der rechten Seite in der Form J ′ω schreiben und wir erhalten L = M R2ω + J ′ω . (4.28) Das Trägheitsmoment bezüglich der neuen Achse lautet dann: J = M R2 + J ′ . (4.29) Der Steinersche Satze lässt sich auch für Achsen verallgemeinern, die nicht Hauptträgheitsachsen sind. Dann werden allerdings keine Trägheitsmomente sondern Trägheitstensoren addiert. 4.5 Kreisel Ein starrer Körper darf sich auf einer waagerechten Ebene frei bewegen, mit der einzigen Einschränkung, dass ein fest gewählter Punkt des Körpers sich stets auf einem ebenfalls fest gewählten Punkt der Ebene, dem Unterstützungspunkt befinden muss. Wenn der Körper um eine Achse, die durch diesen Punkt verläuft, rotiert, nennen wir ihn Kreisel. Die Beschreibung der Kreiselbewegung wird vereinfacht, wenn die Drehachse mit einer der Hauptträgheitsachsen des Kreisels zusammenfällt, denn dann hat sein Drehimpuls die gleiche Richtung wie die Drehachse (Abb. 4.1). 62 Abbildung 4.1: Kreisel Auf den Schwerpunkt, der immer auf den Hauptträgheitsachsen liegt, wirkt die senkrecht nach unten wirkende Gewichtskraft F = mg. Dadurch wirkt bezüglich des Unterstützungspunktes das Drehmoment M=r×F (4.30) wobei r vom Unterstützungspunkt zum Schwerpunkt zeigt. Der Drehmomentvektor M liegt in der Waagerechten und steht senkrecht auf dem Drehimpulsvektor L (Abb. 4.1). Die Änderung dL = M dt (4.31) die der Drehimpuls in einem infinitesimalen Zeitintervall dt erfährt, steht deshalb ebenfalls senkrecht auf dem Drehimpulsvektor. Für das Quadrat des Drehimpulses zur Zeit t + dt können wir [L(t + dt)]2 = [L(t) + Mdt]2 = L2 + M2 dt2 (4.32) schreiben, da L·M = 0 ist. Für die Ableitung des Betrages nach der Zeit erhalten wir dann √ dL L2 + M 2 dt2 − L M 2 dt = ≈ ≈0. (4.33) dt dt 2L Dabei haben wir die nützliche Näherung (1 + x)α ≈ 1 + αx für x ≪ 1 (4.34) verwendet. Da dt infinitesimal klein sein soll, können wir in Gleichung (4.33) statt ≈ auch das Gleichheitszeichen verwenden und folgern, dass der Betrag des Drehimpulses sich nicht ändert. Wohl ändert sich aber die Richtung von L, und da die Änderung dL stets senkrecht auf der Senkrechten und auf L steht, rotiert der Drehimpulsvektor um die Senkrechte. Diese Rotation des Kreisels um die Senkrechte (nicht zu verwechseln mit der Rotation des Kreisels um seine Drehachse) bezeichnen wir auch als Präzession. Wir sagen dann, der rotierende Kreisel präzediert um die Senkrechte. Wenn wir die Projektion des Drehimpulses in die 63 waagerechte Ebene betrachten (Abbildung 4.1, rechts), sehen wir, dass der Kreisel in der Zeit dt um den Winkel dθ = dL L sin α (4.35) präzediert, wobei α den Winkel zwischen dem Drehimpulsvektor und der Senkrechten angibt. Für die Winkelgeschwindigkeit Ω der Präzession folgt daraus Ω= dθ 1 dL M mgr sin α mgr = = = = , dt L sin α dt L sin α Jω sin α Jω (4.36) wobei J das Trägheitsmoment des Kreisels bezüglich seiner Drehachse, und ω die Rotationsfrequenz um diese Drehachse ist. Genau genommen gilt diese Betrachtung nur, wenn die Rotationsfrequenz ω groß gegenüber der Präzessionsfrequenz Ω ist, wenn also mgr (4.37) ω≫ J gilt. Wir sprechen dann von einem schnell drehenden Kreisel. Dreht der Kreisel nicht schnell, müssen wir den Drehimpuls des Kreisels als Summe der Beiträge seiner Rotation und seiner Präzession schreiben, was die Beschreibung komplizierter macht. Wenn es sich bei dem Kreisel um ein mikroskopisches Teilchen handelt, und das Drehmoment nicht durch die Schwerkraft sondern durch ein äußeres Magnetfeld erzeugt wird, dann bezeichnet man die Präzessionsfrequenz auch als Larmor-Frequenz. Sie bestimmt die Frequenz der elektromagnetischen Strahlung, die benötigt wird, um den Kreisel umzukippen“, und hat deshalb eine zentrale ” Stellung in der Theorie der Kernspinresonanz, die die Grundlage für die nuclear magnetic resonance (NMR), ein Verfahren zur Aufklärung von Molekülstrukturen, und für die Magnetresonanztomographie, ein bildgebendes Verfahren in der Medizin, ist. 4.6 Gleichgewicht Wir betrachten einen Körper, der durch eine Drehachse so aufgehängt ist, dass er nur eine Rotations- aber keine Translationsbewegung ausführen kann. Ob dieser Körper sich im Zustand der Ruhe befinden kann hängt dann von dem Drehmoment ab, das bezüglich der Drehachse wirkt. In Abb. 4.6 werden drei grundsätzliche Fälle unterschieden: • In Fall a) ist die Drehachse (⃝) senkrecht über dem Schwerpunkt (×) angebracht. Der Vektor r von der Drehachse zum Schwerpunkt ist daher parallel zum Vektor F der Gewichtskraft, die im Schwerpunkt angreift und senkrecht nach unten zeigt. Das Drehmoment M = r × F ist daher Null. Eine 64 kleine Drehung des Körpers um die Drehachse führt zu einem Drehmoment, das der Auslenkung entgegengesetzt ist, so dass der Körper sich wieder in seine ursprüngliche Lage zurück bewegt. Diese Lage wird daher als stabile Gleichgewichtslage bezeichnet. Eine analoge Situation bezüglich der Translation stellt eine Kugel in einer nach oben gewölbten Schale dar. Auch hier sorgt die Gewichtskraft dafür, dass die Kugel wieder in den tiefsten Punkt der Schale zurück rollt, wenn sie aus dieser Lage ausgelenkt wurde. • In Fall b) liegt der Schwerpunkt auf der Drehachse, so dass das durch die Gewichtskraft erzeugte Drehmoment verschwindet. Daran ändert auch eine kleine Drehung des Körpers nichts, der Körper geht dann von einer Gleichgewichtslage in eine andere über. Dieser Fall wird deshalb auch als indifferentes Gleichgewicht bezeichnet. Dies entspricht einer Kugel die sich auf einer vollkommen waagerechten Ebene befindet. • In Fall c) liegt der Schwerpunkt oberhalb der Drehachse. Auch hier ist, wie in Fall a) das durch die Schwerkraft erzeugte Drehmoment Null. Allerdings bewirkt in diesem Fall eine kleine Drehung des Körpers ein Drehmoment, das eine Beschleunigung dieser Drehung hervorruft. Wir bezeichnen diesen Fall deshalb als labile Gleichgewichtslage, denn schon eine kleine Änderung reicht aus um dieses Gleichgewicht zu verlassen und in ein anderes überzugehen. Dies entspricht einer Kugel, die sich auf dem höchsten Punkt einer nach oben gewölbten Schale befindet. In der Physik sind natürlich besonders die stabilen Gleichgewichtslagen von Interesse, da diese eben aufgrund ihrer Stabilität sehr häufig vorkommen. 4.7 Hebelgesetze Mit Hilfe des Drehmomentes lässt sich eine sehr alte und bis heute allgegenwärtige Anwendung der Mechanik erklären, der Hebel. In Abb. 4.7 sind ein einarmiger und ein zweiarmiger Hebel dargestellt. Beide funktionieren nach dem gleichen Prinzip: Der Hebel wird an einem Punkt drehbar gelagert, und an zwei weiteren Punkten des Hebels greifen Kräfte an. Liegt der Drehpunkt zwischen den beiden Angriffspunkten der Kräfte, handelt es sich um einen zweiarmigen, sonst um einen einarmigen Hebel. Im Gleichgewicht müssen die Drehmomente, die von beiden Kräften erzeugt werden, sich gerade kompensieren. Wenn wir mit r1 und r2 die Vektoren bezeichnen, die vom Drehpunkt zu den Angriffspunkten der Kräfte F1 und F2 zeigen, muss dann gelten: r1 × F1 + r2 × F2 = 0 . (4.38) Wenn beide Kräfte senkrecht auf dem Hebel stehen, läßt sich diese Gleichgewichtsbedingung besonders einfach ausdrücken: In diesem Fall muss für beide 65 stabil indifferent labil Abbildung 4.2: Gleichgewichtslagen Kräfte das Produkt aus Kraft mal Hebelarm (also die Strecke vom Drehpunkt bis zum Angriffspunkt der Kraft) gleich sein. Mit Hilfe eines Hebels lässt sich also die ausübbare Kraft vervielfachen, wenn man entsprechende Hebelarme verwendet. Energie sparen lässt sich mit dem Hebel aber nicht, denn die kleinere Kraft, die aufgewandt werden muss, geht einher mit einem entsprechend verlängerten Hebelweg, der zurückgelegt werden muss. Die geleistete Arbeit, das Produkt aus Kraft mal zurückgelegtem Weg, ist also die Gleiche, wie ohne Hebel. 66 Abbildung 4.3: Ein- und zweiarmige Hebel 4.8 Translation und Rotation Um die Bewegung von N von einander unabhängigen Punktmassen im dreidimensionalen Raum zu beschreiben, benötigt man 3N zeitabhängige kartesische Koordinaten. Bilden die Punktmassen einen starren Körper, dann ist die Anzahl der Koordinaten, die man zur Beschreibung der Bewegung dieses Körpers braucht, wesentlich geringer, denn aufgrund der Starrheit des Körpers muss die Bewegung der Punktmassen genau 3N − 6 Randbedingungen erfüllen.2 Daher verbleiben nur 6 unabhängige Koordinaten für die Beschreibung der Bewegung. Beispielsweise lässt sich die Bewegung eines starren Körpers vollständig beschreiben, wenn man mit drei kartesischen Koordinaten (vx , vy , vz ) die Translation des Schwerpunktes wiedergibt und mit drei weiteren Koordinaten (ωx , ωy , ωz ) die Rotation des Körpers um seinen Schwerpunkt. Den Größen, die die Kinematik und Dynamik der Rotation eines starren Körpers beschreiben, lässt sich jeweils eine analoge Größe gegenüberstellen, die die Translation des Schwerpunktes beschreibt (Tabelle 4.2). Die Analogie ist vollkommen, wenn man sich auf den eindimensionalen Fall beschränkt, also die Translation längs einer Achse und die Rotation um eine Hauptträgheitsachse. Im allgemeinen, also dreidimensionalen Fall ist die Beschreibung der Rotation komplexer als die der Translation, da die Trägheit der Rotation durch einen Tensor J beschrieben werden muss, statt durch einen Skalar m wie bei der Translation. 2 Im Sonderfall eines linearen Körpers sind es 3N − 5 Randbedingungen. 67 Tabelle 4.2: Mechanische Größen zur Beschreibung der Translation und der Rotation des starren Körpers. Translation Größe 1D Ort s Geschwindigkeit v = ṡ Beschleunigung a = v̇ Masse m Impuls p = mv Kraft F = ṗ Kinetische Energie p2 /(2m) 3D r v = ṙ a = v̇ m p = mv F = ṗ p2 /(2m) Rotation Größe 1D Winkel φ Winkelgeschwindigkeit ω Winkelbeschleunigung α = ω̇ Trägheitsmoment J Drehimpuls L = Jω Drehmoment M = L̇ Kinetische Energie L2 /(2J) 68 3D ω α = ω̇ ω J L = Jω M = L̇ ω · J ω /2 Kapitel 5 Mechanik der deformierbaren Medien Im vorigen Kapitel haben wir uns bewusst auf starre Körper beschränkt, weil die Bewegung dieser Körper mit nur sechs Freiheitsgraden (drei für die Translation des Massenmittelpunktes und drei für die Rotation um den Massenmittelpunkt) erfolgen kann. Berücksichtigen wir, dass kein Körper vollkommen starr ist, sondern sich verformt (oder deformiert), dann wird dessen Beschreibung naturgemäß wesentlich komplizierter. Für eine Reihe von Problemstellungen kann die Deformierbarkeit nicht außer Acht gelassen werden. Für Flüssigkeiten und Gase ist dies selbstverständlich, aber es gilt oft auch für feste Körper, die wir zunächst betrachten wollen. 5.1 Feste Körper Materialien, die dem Hookeschen Gesetz genügen, werden auch als elastisch bezeichnet. Fällt die von außen einwirkende Kraft weg, nimmt das Material wieder seine ursprüngliche Form an. Materialien, die sich unter Krafteinwirkung dauerhaft verformen, werden dagegen als plastisch bezeichnet. Umgekehrt gehorchen nicht alle elastischen Materialien dem Hookeschen Gesetz. Gummi beispielsweise lässt sich reversibel verformen, der Zusammenhang zwischen der Kraft und der Längenänderung ist hier aber stark nicht-linear. Bei metallischen Federn lassen sich alle drei Fälle beobachten: Bei kleinen Längenänderungen gibt es einen linearen Zusammenhang mit der Kraft. Mit zunehmender Auslenkung wird dieser Zusammenhang nicht-linear, und schließlich wird die Längenänderung irreversibel (oder einfacher ausgedrückt: die Feder ist ausgeleiert). Statt der Federkonstanten D, die die Eigenschaft eines gegebenen Körpers ist, verwendet man oft auch eine stoffspezifische Größe, das Elastizitätsmodul E. Diese hängt nur vom Material, nicht aber von den Ausmaßen oder der Form eines Körpers ab. Wir können uns einen elastischen Körper gedanklich als Anordnung von vielen, durch Federn 69 verbundene Massenpunkten vorstellen (siehe auch Abb. 5.1). Abbildung 5.1: Starrer (linkes Bild) und elastischer Festkörper (rechtes Bild) 5.1.1 Hooksches Gesetz Es ist anschaulich, dass die Federkonstante eines Körpers proportional zu dessen Querschnittsfläche A (also nach Abbildung 5.1 proportional zur Anzahl der nebeneinander liegenden Federn) ist: D ∼A. (5.1) Hängt man zwei gleiche Federn nebeneinander und will beide um ∆ℓ verlängern, dann muss man die doppelte Kraft aufbringen. Hängt man dagegen zwei gleiche Federn untereinander, dann kann man die gesamte Anordnung um ∆ℓ verlängern, in dem man jede der Federn um ∆ℓ/2 verlängert. Es ist daher nur die halbe Kraft notwendig. Die naheliegende Vermutung ist, dass die Federkonstante umgekehrt proportional zur Länge des Körpers ist: D ∼ ℓ−1 . (5.2) Fasst man die beiden obengenannten Proportionalitäten zusammen und verwendet das sogenannte Elastizitätsmodul E als Proportionalitätskonstante, dann erhält man für die Federkonstante EA . (5.3) D= ℓ Das Hooksche Gesetz lässt sich dann in der Form ∆ℓ (5.4) F = −EA ℓ schreiben. Für die relative Längenänderung gilt dann ∆ℓ F =− . ℓ EA 70 (5.5) 5.1.2 Elastizitätsgesetz Das Hookesche Gesetz lässt sich zum Elastizitätsgesetz verallgemeinern, das einen linearen Zusammenhang zwischen den Normalkräften (die senkrecht auf den Oberflächen der Körper stehen) und den Scher- oder Schubkräften (die parallel zu den Oberflächen stehen und diese gegeneinander zu verschieben suchen) einerseits und den Änderungen der Seitenlängen und Winkel andererseits herstellt. Im Allgemeinen wird dieser lineare Zusammenhang durch 36 Materialkonstanten beschrieben. Diese Anzahl reduziert sich jedoch, wenn der Körper Symmetrie aufweist. Im günstigsten Fall eines völlig isotropen Körpers sind es nur zwei Materialkonstanten, das oben schon erwähnte Elastizitätsmodul E sowie die PoissonZahl ν (auch Querkontraktionszahl oder Querdehnungszahl genannt), die angibt, wie stark sich die Dicke d eines Körpers bei einer Längenänderung ∆ℓ ändert: ν=− ∆d ℓ . d ∆ℓ (5.6) Für die relative Volumenänderung eines isotropen Körpers gilt dann näherungsweise 2ℓd∆d + d2 ∆ℓ ∆d ∆ℓ ∆ℓ ∆V = =2 + = (1 − 2ν) . (5.7) 2 V dℓ d ℓ ℓ 5.1.3 Kompressionsmodul und Kompressibilität Für einen isotropen Körper können wir das Kompressionsmodul K als Verhältnis K=− F/A ∆V /V (5.8) aus der Kraft pro Fläche F/A, die von allen Seiten auf den Körper wirkt und seiner relativen Volumenänderung ∆V /V definieren. Das Verhältnis aus Kraft und Fläche bezeichnen wir als Druck p= F , A (5.9) dessen kohärente, abgeleitete SI-Einheit das Pascal ist (benannt nach dem französischen Naturforscher Blaise Pascal): 1 Pa = 1 N m−2 . Als mittlerer Luftdruck auf Meereshöhe wird nach Deutscher Industrienorm 1013,25 hPa verwendet. Das Kompressionsmodul lautet dann K=− p ∆V /V (5.10) Da der Druck und damit auch die Kraft von allen Seiten wirkt, ist die relative Volumenänderung dreimal so groß wie nach Gleichung (5.7): ∆V ∆ℓ = 3(1 − 2ν) . V ℓ 71 (5.11) Für das Kompressionsmodul erhalten wir dann p K=− 3(1 − 2ν)∆ℓ/ℓ (5.12) und mit Hilfe von (5.4) und (5.9) K= E E∆ℓ/ℓ = . 3(1 − 2ν)∆ℓ/ℓ 3(1 − 2ν) (5.13) Der Kehrwert des Kompressionsmoduls wird auch als Kompressibilität κ bezeichnet. 5.1.4 Torsionsmodul Abbildung 5.2: Scherkraft Wenn auf zwei gegenüberliegende, parallele Flächen entgegengesetzt gerichtete Kräfte wirken, die in der Ebene der Flächen liegen, dann bezeichnet man diese Kräfte als Scherkräfte. Die elastische Verformung des Festkörpers unter dem Einfluss der Scherkräfte wird durch den Torsionswinkel α beschrieben (Abb. 5.2). Die Größe des Torsionswinkels in Abhängigkeit von der Scherkraft F und der Oberfläche A wird durch das Torsionsmodul F (5.14) G= A tan α beschrieben. Um den Zusammenhang des Torsionsmoduls mit dem Elastizitätsmodul und der Poisson-Zahl zu gewinnen, betrachten wir einen Quader mit quadratischer Seitenfläche, auf den sowohl in der Horizontalen als auch in der Vertikalen eine Scherkraft vom Betrag F/2 wirken soll. Weiterhin nehmen wir an, dass die Scherkräfte so klein sind, dass für den resultierenden Torsionswinkel näherungsweise α ≈ tan α (5.15) gilt. In diesem Fall hängt der Torsionswinkel linear von den Scherkräften ab, und die Beiträge der horizontalen und vertikalen Scherkräfte summieren sich zu α≈ F/2 F/2 F + = . AG AG AG 72 (5.16) Die horizontalen und vertikalen Scherkräfte sind gleichwertig zu Kräften vom √ Betrag F/ 2, die den Quader längs der beiden Seitendiagonalen stauchen beziehungsweise strecken. Abbildung 5.3: Quadratische Seitenfläche (gelb/grau schraffiert) eines Quaders, der durch horizontale und vertikale Scherkräfte (schwarze Pfeile) verformt wird (blau/grau schraffiert). Die Scherkräfte addieren sich vektoriell zu Zug- und Druckkräften (blaue Pfeile), die parallel zu den Diagonalen d und ℓ (rot und grün gepunktete Linien) verlaufen. Die Größe des Torsions- oder Scherwinkels α wird rechts angezeigt. Wir bezeichnen die gestauchte Diagonale mit d und können die relative Änderung dieser Diagonalen in der Form √ ∆ℓ F/ 2 ∆d √ −ν =− d ℓ EA 2/2 (5.17) schreiben. Dabei bezeichnet ℓ die Länge der anderen, der gestreckten Diagonalen. Der erste Term auf der rechten Seite von Gleichung (5.17) gibt den Einfluss der Stauchung gemäß dem Hookschen Gesetz (5.5) wieder. Da die Querschnittsfläche senkrecht zur stauchenden Kraft nicht konstant ist, verwenden wir √ √ vereinfachend den Mittelwert A 2/2 aus der maximalen Querschnittsfläche A 2 und der minimalen Querschnittsfläche 0 (an den Kanten). Der zweite Term auf der rechten Seite von Gleichung (5.17) beschreibt den Einfluss der Streckung der Diagonalen ℓ auf die Diagonale d mit Hilfe der in Gleichung (5.6) definierten Poisson-Zahl. Die Streckung von ℓ können wir ebenfalls mit dem Hookeschen Gesetz (5.5) be73 Tabelle 5.1: Elastistizitäts-, Kompressions- und Torsionsmodule E, K und G für einige Metalle in Einheiten von 109 N m−2 . Metalle Aluminium (rein) α-Eisen V2A-Stahl Gold Blei E 72 218 195 81 17 G 27 84 80 28 6 K 75 172 170 180 44 schreiben und damit Gleichung (5.17) wie folgt umschreiben: √ √ ∆d F/ 2 F/ 2 √ √ =− −ν . d EA 2/2 EA 2/2 (5.18) Wenn ein Quadrat mit der Diagonalen d durch eine Scherung um einen kleinen Winkel α in ein gleichseitiges Parallelogramm verwandelt wird, verlängern beziehungsweise verkürzen sich die Diagonalen um ∆d ≈ αd/2. Aus Gleichung (5.18) folgt dann F α = (1 + ν) (5.19) 2 EA und mit Gleichung (5.16) ergibt sich F 2F = (1 + ν) . AG EA (5.20) Für nicht zu große Scherwinkel α bekommen wir daher folgenden Zusammenhang zwischen Elastizitätsmodul, Poisson-Zahl und Torsionsmodul: G= 5.2 E . 2(1 + ν) (5.21) Flüssigkeiten und Gase Für die Betrachtung der Dynamik von Flüssigkeiten und Gasen ist es häufig zweckmäßig, statt der Größen Kraft und Masse die bereits in den Abschnitten 4.1 und 5.1.3 eingeführten Größen Druck und Dichte zu verwenden. Der Druck soll hier als skalare Größe verwendet werden, nämlich als Quotient p= F A (5.22) aus der Normalkraft F auf eine Flüssigkeits- oder Gasoberfläche und dem Flächeninhalt A.1 Die Dichte (oder genauer gesagt, die Massendichte) ist der 1 Bei der Betrachtung festen Körpern kann es auch sinnvoll sein, einen Drucktensor einzuführen 74 Quotient m (5.23) V aus der Masse einer Flüssigkeit oder eines Gases und dem Volumen, das eingenommen wird. Wenn die Dichte inhomogen ist, also vom Ort abhängt, muss das Volumen V genügend klein gewählt werden, um den richtigen Wert für die ortsabhängige Dichte zu erhalten. Die kohärente, abgeleitete SI-Einheit für die Dichte ist 1 kg m−3 . Die Dichte von Gasen ist bei Umgebungsdruck in aller Regel um einige Größenordnungen geringer als die Dichte von Flüssigkeiten. Beispielsweise hat Wasser bei etwa 4◦ C über dem Gefrierpunkt seine maximale Dichte von 999,975 kg m−3 , während Stickstoff bei der gleichen Temperatur und unter Umgebungsdruck eine Dichte von etwa 1,25 kg m−3 hat. ρ= 5.2.1 Kompressibilität Neben der Dichte ist auch das Verhalten unter Druck ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen Flüssigkeiten und Gasen. Erhöht man den Druck, dem ein Gas ausgesetzt ist, wird es sein Volumen verringern, sofern der Druck nicht einen kritischen Wert erreicht. Ein Maß für die Druckabhängigkeit des Volumens ist die Kompressibilität (siehe auch Abschnitt 5.1.3) κ= 1 dV , V dp (5.24) die die Änderung des Volumens mit dem Druck normiert durch das Volumen angibt. Die kohärente SI-Einheit der Kompressibilität ist 1 Pa−1 . Die Kompressibilität von Luft beträgt (bei konstant gehaltener Temperatur) etwa 10−5 Pa−1 . Das bedeutet, dass bei einer Druckerhöhung um 10 hPa (etwa ein Prozent des Atmosphärendrucks) das Volumen der Luft um etwa ein Prozent verringert wird. Die Kompressibilität von Wasser beträgt bei Umgebungsdruck etwa 5 × 10−10 Pa−1 . Eine Druckerhöhung um 10 hPa verringert das Volumen von Wasser daher nur um etwa fünf Hunderttausendstel eines Prozentes. Auch für andere Flüssigkeiten hat die Kompressibilität eine vergleichbare Größenordnung. Daher kann man Flüssigkeiten allgemein in guter Näherung als inkompressibel ansehen. Das heißt, man geht bei vielen Betrachtungen vereinfachend davon aus, dass Flüssigkeiten bei Anwendung von Druck ihr Volumen nicht ändern. 5.2.2 Hydrostatik In einer Flüssigkeit, die dem Schwerefeld der Erde ausgesetzt ist, ist ein Druckgefälle zu erwarten, denn auf den Flüssigkeitsschichten, die sich weit unten befinden, lastet die Gewichtskraft, der oberen Flüssigkeitsschichten. Betrachten wir eine Flüssigkeitssäule mit einer Querschnittsfläche A und der Höhe h. Auf der unteren Querschnittsfäche der Säule lastet dann eine Flüssigkeit mit der Masse 75 m = ρAh, die eine Gewichtskraft von F = mg ausübt. Der daraus resultierende Druck p = F/A beträgt dann p = ρgh . (5.25) Dieser Druck wird auch als hydrostatischer Druck oder als Schweredruck bezeichnet. Wir können Gleichung (5.25) zum Beispiel auf die Frage anwenden, wie hoch eine Wassersäule sein muss, damit der Druck am Fuß der Säule um genau einen Atmosphärendruck höher ist als an der Spitze der Säule. Bei einem Atmosphärendruck von 105 hPa, einer Wasserdichte von etwa 1000 kg m−3 und einer Erdbeschleunigungskonstanten von 9,81 m s−2 erhalten wir eine Säulenhöhe von h= p = 10, 2 m ρg (5.26) Diese einfache Abschätzung kann als Tiefenmesser im Meer verwendet werden. Dichteschwankungen des Meerwassers infolge von unterschiedlichem Salzgehalt oder unterschiedlichen Temperaturen können aber zu Abweichungen führen. Mit Hilfe dieser Betrachtung konnte der italienische Mathematiker und Physiker Evangelista Torricelli erklären, warum man mit Hilfe von Saugpumpen Wasser nur bis auf eine Höhe von 10 Metern pumpen kann: eine höhere Wassersäule vermag der von unten wirkende Luftdruck nicht mehr zu halten. Diese Betrachtung gilt nicht nur für eine Flüssigkeitssäule sondern auch für Flüssigkeiten, die sich in beliebig geformten Gefäßen befinden, wie etwa in Abb. 5.4 illustriert. Wenn sich eine Flüssigkeit im Gleichgewicht befinden soll, muss jeder Druckunterschied durch eine äußere Kraft (hier die senkrecht gerichtete Schwerkraft) kompensiert werden, andernfalls führte der Druckunterschied zu einer Bewegung, was der Gleichgewichtsannahme widerspräche. Daher ist der Druck in einer waagerechten Flüssigkeitsschicht überall gleich groß. Abbildung 5.4: Hydrostatisches Paradoxon: Der Schweredruck in einer Flüssigkeit hängt nicht von der Gefäßform ab. Für beide Gefäße ist rechts der Druckverlauf skizziert. 76 Gleichung (5.25) lässt sich nicht auf Gase übertragen, da diese kompressibel sind, und die Dichte daher vom Druck abhängig ist. Eine kurze Beispielsrechnung zeigt dies: Setzen wir in Gleichung (5.25) die Dichte der Luft auf Meereshöhe ein (etwa 1,2 kg m−3 ), dann erhalten wir bei einem Luftdruck auf Meereshöhe von rund 1000 hPa eine Atmosphärendicke von h= 105 Pa p ≈ ≈ 8500 m . ρg 1.2 kg m3 × 9, 81 m s−2 (5.27) Dieser Wert stimmt ganz offenbar nicht mit unseren Beobachtungen überein. Wir können (5.25) aber in differentieller Form, dp = −ρg dh , (5.28) schreiben, da ρ in dem kleinen Höhenintervall dh als konstant angesehen werden kann. Anders als in Gleichung (5.25) haben wir in (5.28) ein Minuszeichen eingeführt, da der Luftdruck mit zunehmender Höhe abnimmt. Die Höhe h hat in (5.25) also eine eine andere Bedeutung als in (5.28). Sie gibt hier an, wie hoch die Luftsäule ist, die unter der betrachteten Schicht liegt, die also nicht darauf lastet. Nach dem Gesetz für ideale Gase ist die Dichte proportional zum Druck (p ∼ ρ), so dass wir aus (5.28) folgende Gleichung erhalten: p(h) = p0 e−ρ0 gh/p0 (5.29) Diese Gleichung wird auch als barometrische Höhenformel bezeichnet. Dabei ist ρ0 die Dichte und p0 der Druck auf Meereshöhe. Wenn wir die Luft als ideales Gas (siehe unten) auffassen, können wir die Dichte auf Meereshöhe in Abhängigkeit von p0 schreiben: p0 M . (5.30) ρ0 = RT Hierbei ist M die mittlere molare Masse der Luft, R = 8, 314472 J mol−1 K−1 die Allgemeine Gaskonstante und T ist die Temperatur der Luft. U-Rohr als Manometer Der hydrostatische Druck einer bekannten Flüssigkeit kann dazu verwendet werden, um Druckunterschiede zu messen. Dazu wird die Flüssigkeit in ein U-Rohr (siehe Abb. 5.5 gegeben, dessen beide Enden mit zwei verschiedenen Gasbehältern mit unterschiedlichem Druck (p1 beziehungsweise p2 ) verbunden werden. Wenn der Druck in beiden Behältern gleich groß ist (p1 = p2 ), wird die Flüssigkeitssäule in beiden Schenkeln des U-Rohres gleich hoch stehen (h = 0). Ist dagegen der Druck über dem rechten Schenkel größer als über dem linken Schenkel (p2 > p1 ), dann wird der Überdruck auf der rechten Seite den Flüssigkeitsspiegel im rechten Schenkel so weit nach unten (und damit den Flüssigkeitsspiegel im linken Schenkel nach oben) drücken, bis der höhere hydrostatische Druck im linken Schenkel 77 Abbildung 5.5: U-Rohr als Manometer den Überdruck p2 − p1 auf der rechten Seite ausgleicht. Wenn die Höhendifferenz der Flüssigkeitsspiegel h ist, und die Flüssigkeit die Dichte ρ hat, gilt demnach p2 − p1 = ρgh . (5.31) Die Verwendung von Flüssigkeiten mit hohen Dichten wie etwa Quecksilber (ρHg = 13546 kg m−3 bei Raumtemperatur) erlaubt es, die Ausmaße des U-Rohres klein zu halten. Ein mit Wasser (ρH2 O = 998 kg m−3 bei Raumtemperatur) gefülltes U-Rohr müsste, um ein Manometer mit gleichem Messbereich zu erhalten, im Vergleich zum Quecksilbermanometer etwa 135 mal längere Schenkel besitzen. Wird einer der beiden Schenkel des U-Rohres evakuiert (p = 0), lässt sich mit dem Manometer der absolute Druck über dem Flüssigkeitsspiegel des anderen Schenkels messen. Hydraulische Presse Eine Anwendung des hydrostatischen Paradoxons (auch Pascalsches Prinzip genannt), also der Tatsache, dass der Druck in einer Flüssigkeit überall gleich groß ist (wenn man von Höhenunterschieden absieht), ist die Hydraulische Presse, die in Abbildung 5.6 skizziert wird: Ein Stempel mit der Querschnittsfläche A1 wirkt mit der Kraft F1 auf eine Flüssigkeit und erzeugt in dieser einen Druck von p = F1 /A1 . Der Druck in der Flüssigkeit übt seinerseits eine Kraft F2 = pA2 auf 78 Abbildung 5.6: Hydraulische Presse einen zweiten Stempel aus. Für das Verhältnis der Kräfte gilt daher: A2 F2 = F1 A1 (5.32) Mit einer kleinen Kraft, ausgeübt auf eine kleine Fläche, kann daher eine große Kraft auf eine große Fläche ausgeübt werden. Ähnlich wie der Hebel (siehe Abschnitt 4.7) kann auch die hydraulische Presse als Gerät zur Verstärkung einer Kraft aufgefasst werden. In beiden Fällen gilt jedoch die Energieerhaltung. Die Arbeit W1 = F1 s1 = pA1 s1 , (5.33) die der erste Stempel leisten muss, um das Volumen V = A1 s1 zu verdrängen, entspricht genau der Arbeit W2 = F2 s2 = pA2 s2 , (5.34) die an dem zweiten Stempel geleistet wird, da aufgrund der Inkompressibilität der Flüssigkeit gilt: A1 s1 = A2 s2 . Archimedisches Prinzip Das Archimedische Prinzip wurde von dem griechischen Gelehrten Archimedes von Syrakus im dritten Jahrhundert vor Christus formuliert. Archimedes leitete dieses Prinzip aus der Erkenntnis ab, dass jeder Körper, der in Wasser eingetaucht wird, eine Wassermenge verdrängt, deren Volumen gleich dem Volumen des eingetauchten Körpers ist. Diese Erkenntnis erlaubte Archimedes unter anderem, die Dichte der Krone Hierons II. zu bestimmen. Archimedes folgerte, dass das verdrängte Wasser (mit dem Volumen V und der Dichte ρF ) den Körper nach oben zu drücken versucht und deshalb eine 79 Abbildung 5.7: Archimedisches Prinzip (links) und Areometer (rechts) Auftriebskraft FA erzeugt, die betragsmäßig gleich der auf das Wasser wirkenden Gewichtskraft ist: FA = ρF V g (5.35) Wir können das Prinzip auch herleiten, indem wir den hydrostatischen Druck betrachten, der auf den eingetauchten Körper wirkt. Der Einfachheit halber betrachten wir einen besonders regelmäßigen Körper, einen Quader dessen Seitenflächen parallel beziehungsweise senkrecht zur Wasseroberfläche stehen (Abb. 5.7). Die Kräfte, die von dem Druck auf die vier seitlichen Flächen herrühren, müssen sich wegen der Symmetrie des Körpers gegenseitig aufheben. Deshalb brauchen wir nur die Kräfte Fo und Fu zu betrachten, die auf die obere und auf die untere Fläche wirken. Da diese Kräfte entgegengesetzt gerichtet sind, berechnen wir die Differenz Fu − Fo = pu A − po A = (ρF gh)A = ρF V g (5.36) und erhalten so das Archimedische Prinzip. Die gesamte Kraft auf den eingetauchten Körper ist die Differenz aus der nach oben gerichteten Auftriebskraft FA und der nach unten gerichteten Gewichtskraft FG . Wenn wir die Masse des Körpers als Produkt aus seinem Volumen und seiner mittleren Dichte ρK schreiben, erhalten wir für die gesamte Kraft FA − FG = ρF V g − ρK V g = (ρF − ρK )V g (5.37) Ein Körper, dessen mittlere Dichte ρK gleich der Dichte des Wassers ist, kann deshalb kräftefrei im Wasser schweben. Ist die Dichte des Körpers größer als die des Wassers (ρK > ρF ) wird dieser zu Boden sinken. Im umgekehrten Fall (ρK < ρF ) schwimmt der Körper auf der Wasseroberfläche. Dabei taucht der Körper soweit in das Wasser ein, bis die Gewichtskraft des verdrängten Wassers gleich der Gewichtskraft des Körpers ist. Diese Tatsache wird zur Dichtemessung verwendet: In ein sogenanntes Aräometer mit der Dichte ρK (siehe Abb. 5.7) wird 80 in die zu messende Flüssigkeit getaucht. Im Gleichgewicht gilt dann ρF f V g = ρK V g , (5.38) wobei f den Bruchteil des Aräometervolumens angibt, der in die Flüssigkeit eintaucht. Da ρK bekannt ist, und f an einer Skala des Aräometers abgelesen werden kann, lässt sich die Dichte der Flüssigkeit bestimmen, indem Gleichung (5.38) nach ρF aufgelöst wird: ρK ρF = . (5.39) f Grenzflächen FR FR FR FR=0 Abbildung 5.8: Grenzflächen und resultierende Kräfte auf ein Flüssigkeitsteilchen Der Grund für den erheblichen Dichteunterschied zwischen Flüssigkeiten und Gasen liegt in den anziehenden Kräften zwischen den einzelnen Atomen oder Molekülen der Flüssigkeit. In Gasen sind solche anziehenden Kräfte entweder grundsätzlich viel kleiner (wie bei den Edelgasen) oder sie werden durch die hohe kinetische Energie der Moleküle überwunden (etwa wenn Wasser verdampft). Letztlich lassen sich diese anziehenden Kräfte immer auf die Coulomb-Kraft zurückführen. Bei Molekülen mit statischem Dipol, wie dem Wassermolekül lässt sich dies noch recht gut anschaulich verstehen. Im Fall der van-der-WaalsWechselwirkung zwischen Atomen ohne statischen Dipol (wie zum Beispiel bei Heliumatomen) ist eine Beschreibung deutlich schwieriger. Aber auch ohne die zwischenmolekularen Kräfte genauer zu behandeln, sieht man leicht ein, dass diese von der Art der beteiligten Atome und Moleküle abhängen. An Grenzflächen zwischen Flüssigkeiten, Gasen und Festkörpern, die aus unterschiedlichen Atomen und Molekülen zusammengesetzt sind, beobachtet man eine Reihe von typischen Erscheinungen, die davon abhängen, welche der beteiligten zwischenmolekularen Kräfte stärker sind. Eine dieser Erscheinungen ist die Oberflächenspannung in Flüssigkeiten. Sie wird sichtbar, wenn eine Flüssigkeit eine Grenzfläche mit einem Gas (Abb. 5.8, 81 links) oder mit einem festen Körper (Abb. 5.8, rechts) ausbildet, und zwischen den Flüssigkeitsmolekülen und den Molekülen des anderen Stoffes gar keine Kraft vorhanden ist (Flüssigkeit-Gas), oder die Kraft zwischen den Molekülen der beiden Stoffe geringer ist (Flüssigkeit-Festkörper) als die Kraft zwischen den Molekülen innerhalb der Flüssigkeit. Man sagt dann auch, die Kohäsion (der Zusammenhalt der Flüssigkeit) überwiegt die Adhäsion (den Anhang der Flüssigkeit an der Festkörperoberfläche). In diesem Fall kommt es zur Tropfenbildung (Wasser in Luft oder Quecksilber auf Glas) und zur sogenannten Kapillardepression (Quecksilber in Glaskapillaren). Die Tropfenbildung tritt auf, wenn auf ein Flüssigkeitsmolekül, das sich auf der Oberfläche einer Flüssigkeit befindet, eine resultierende Kraft wirkt, die das Molekül in die Flüssigkeit hineinzieht. Diese resultierende Kraft, auch Oberflächenspannung genannt, führt bei Abwesenheit anderer Kräfte dazu, dass eine gegebene Flüssigkeitsmenge eine Form mit dem kleinstmöglichen Volumen annimmt, also die Form einer Kugel. Man kann diesen Vorgang auch energetisch betrachten: Wer einen kugelförmigen Flüssigkeitstropfen verformen will, muss Arbeit gegen die Oberflächenspannung leisten. In Abhängigkeit von der Art der Flüssigkeit und der Umgebungsbedingungen (wie Druck und Temperatur) lässt sich die Oberflächenenergie ∆E (5.40) σ= ∆A definieren. Die Oberflächenenergie gibt an, wie viel zusätzliche Energie ∆E pro zusätzlicher Fläche ∆A aufgewandt werden muss. Beispielsweise hat Wasser bei Raumtemperatur eine Oberflächenenergie von etwa 0,07 J m−2 . Das heißt, man muss eine Energie von 0,7 µJ aufbringen, um einen kugelförmigen Tropfen mit einer Oberfläche von 10 mm2 aus einem großen Wassergefäß herauszuziehen. Vereinigt man zwei Wassertropfen zu einem größeren, wird dabei Energie freigesetzt. Aus der Oberflächenenergie lässt sich beispielsweise der Druck p berechnen, der in einem kugelförmigen Wassertropfen mit dem Radius R herrscht. Dieser Druck übt auf die Oberfläche des Tropfens eine nach außen gerichtete Kraft F = pA aus, wobei A = 4πR2 die Kugeloberfläche ist. Wenn diese Kraft den Kugelradius um den infinitesimalen Betrag dR erhöhte, würde sie die Arbeit dW = pA dR (5.41) leisten. Im Gleichgewicht muss diese Arbeit genauso groß sein, wie die Energie dE = σ dA , (5.42) die für die Oberflächenvergrößerung erforderlich ist. Es gilt also σ σ dA = 8πR . A dR 4πR2 Wir erhalten so die Young-Laplace-Gleichung 2σ p= , R p= 82 (5.43) (5.44) die unabhängig von dem englischen Augenarzt und Physiker Thomas Young und dem französischen Mathematiker Pierre-Simon Laplace aufgestellt wurde. Zu dem durch die Oberflächenspannung erzeugten Druck (5.44) muss noch der äußere Luftdruck addiert werden. Mit Hilfe der Young-Laplace-Gleichung (5.44) kann man abschätzen, dass in einem Wassertropfen mit einem Radius von 1,4 µm der doppelte Atmosphärendruck herrscht. Für Radien die nur wenige Größenordnungen über dem Radius eines Flüssigkeitsmoleküls liegen, muss in Gleichung (5.44) berücksichtigt werden, dass die Oberflächenenergie sich dann mit dem Radius ändert. Für noch kleinere Radien ist der Begriff der Oberflächenenergie und damit auch die Young-Laplace-Gleichung nicht mehr sinnvoll. Die Oberflächenenergie σ wird auch als Oberflächenspannung bezeichnet. So interpretiert gibt sie das Verhältnis aus der Kraft F , die man ausüben muss, um eine Oberfläche zu vergrößern, und der Länge a an, die die Ausdehnung der Oberfläche in einer Richtung senkrecht zur Kraft beschreibt: σ= F . a (5.45) Als einfaches Beispiel kann man sich eine rechteckige Oberfläche mit den Ausmaßen A = as vorstellen. Um (bei konstantem a) die Länge s um ds zu vergrößern, muss man die Kraft F = σa anwenden und damit die Arbeit dW = F ds = σa ds = σ dA (5.46) leisten. Diese Arbeit entspricht genau der Zunahme an Oberflächenenergie gemäß Gleichung (5.40). Während es zwischen einem Flüssigkeitstropfen und der den Tropfen umgebenden Luft kaum eine anziehende Wechselwirkung gibt (schon aufgrund der geringen Dichte der Luft), ist die Wechselwirkung zwischen einer Flüssigkeit und einem Festkörper meist deutlich stärker. Diese Anziehung zwischen Festkörper und Flüssigkeit, die Adhäsion, kann sogar stärker als der innere Zusammenhalt. In diesem Fall benetzt die Flüssigkeit den Festkörper, steigt in einer Kapillare auf (Kapillaraszension, siehe Abb. 5.9, linke Seite) und bildet einen konkaven Meniskus (nach unten gewandte Wölbung der Flüssigkeitsoberfläche). Wenn dagegen die Kohäsion überwiegt, sinkt die Flüssigkeit in einer Kapillare ab (Kapillardepression, Abb. 5.9, rechte Seite) und bildet einen konvexen Meniskus. Diesen Fall beobachten wir besonders deutlich bei Quecksilber, da hier die Kohäsion der Flüssigkeit sehr stark ist. Die Steighöhe h einer Flüssigkeit in einer zylinderförmigen Kapillare mit dem Radius R können wir berechnen, wenn wir die Dichte ρ und die Oberflächenenergie σ kennen. Die Stärke der Wölbung der Flüssigkeitsoberfläche hängt von dem Verhältnis zwischen Adhäsion und Kohäsion ab. Der Einfachheit halber verzichten wir hier auf eine quantitative Beschreibung der Adhäsion und verwenden statt dessen nur den Randwinkel θ, den die Flüssigkeitsoberfläche am Rand der Kapillare mit der Kapillarwand bildet. Wir erwarten, dass dieser Randwinkel umso 83 Kapillare Kapillare h h benetzend nicht benetzend Abbildung 5.9: Kapillarität kleiner wird, je stärker die Adhäsion ist. In Abbildung 5.10 wird der Randwinkel zeichnerisch für zwei verschiedene Fälle hergeleitet. Wir betrachten dabei die Kräfte, die auf die Moleküle im ringförmigen Flüssigkeitsrand nahe der Zylinderwand befinden. Auf diese Moleküle wirkt die Adhäsionskraft FA , die senkrecht auf der Zylinderwand steht und radial nach außen zeigt, und die Kohäsionskraft FK , die in das Innere der Flüssigkeit zeigt. Die resultierende Gesamtkraft auf die Moleküle ist gleich der Summe FR = FA + FK . Im Gleichgewicht muss FR senkrecht auf der Flüssigkeitsoberfläche stehen. Andernfalls würden die Moleküle auf der Oberfläche verschoben, was der Gleichgewichtsannahme widerspricht. Abhängig vom Größenverhältnis zwischen der Adhäsions- und der Kohäsionskraft wird sich die Richtung der resultierenden Gesamtkraft und damit die Orientierung der Oberfläche ändern. Wenn die Adhäsionskraft überwiegt, wölbt sich die Flüssigkeitsoberfläche am Rand nach oben, und wir erhalten einen Randwinkel θ < 90◦ (linke Seite in Abb. 5.10. Im umgekehrten Fall richtet sich die Wölbung nach unten und θ ist größer als 90◦ (rechte Seite in Abb. 5.10. Der Rand der Füssigkeitsoberfläche übt auf die Kapillarwand eine Kraft Fσ aus, die tangential zur Flüssigkeitsoberfläche nach innen gerichtet ist. Fσ lässt sich in zwei aufeinander senkrecht stehende Komponenten zerlegen, (Abb. 5.11): Die eine Komponente (FG ) ist senkrecht nach unten gerichtet und vom Betrag her gleich der Gewichtskraft der Flüssigkeitssäule: FG = πR2 hρg . (5.47) Diese Komponente steht im Gleichgewicht mit der Grenzflächenspannung zwischen der Flüssigkeit und der Kapillarwand, die von der Energieabsenkung herrührt, die bei einer Benetzung der Kapillarwand mit der Flüssigkeit entsteht. Dazu senkrecht wirkt die radial nach innen gerichtete Komponente FW , die von der Kapillarwand aufgefangen wird. Für das Verhältnis der Beträge von FG und 84 Abbildung 5.10: Randwinkel θ Fσ gilt cos θ = FG Fσ (5.48) Da die Wölbung des Meniskus und der Radius der Kapillare konstant sind, kann sich die Flüssigkeitsoberfläche A = 2πRh nur durch Änderung der Steighöhe h vergrößern. Wir schreiben die Oberflächenkraft daher entsprechend Gleichung (5.45) in der Form Fσ = 2πRσ . (5.49) Wir setzen jetzt (5.47) und (5.49) in Gleichung (5.48) ein und erhalten cos θ = πR2 hρg Rhρg = . 2πRσ 2σ (5.50) Schließlich erhalten wir duch Auflösen nach h die gesuchte Steighöhe: h= 2σ cos θ . Rρg (5.51) Bei Raumtemperatur beträgt der Winkel θ für Wasser in einer Glasröhre etwa 20 . In einer Glaskapillare mit einem Radius von 2 mm sollte eine Wassersäule deshalb knapp 7 mm hoch steigen. Eine Halbierung des Kapillarradius verdoppelt die Steighöhe, und allgemein gilt, dass bei ansonsten gleichen Bedingungen die Steighöhe umgekehrt proportional zum Kapillarradius ist: ◦ h ∼ R−1 . 5.2.3 (5.52) Hydrodynamik Gegenstand der Hydrodynamik ist der Zusammenhang zwischen der Bewegung einer Flüssigkeit und der Ursache dieser Bewegung, dem Druckgefälle innerhalb der Flüssigkeit. Wir betrachten dabei ausschließlich laminare Strömungen (Abb. 85 Abbildung 5.11: Oberflächenspannung am Rand einer Kapillare 5.12), da sich für diese mit einfachen Mitteln wichtige Ergebnisse herleiten lassen. Turbulente Strömungen sind dagegen außerordentlich schwierig zu beschreiben und werden hier nicht behandelt, von der Frage abgesehen, wann überhaupt mit dem Auftreten von Turbulenz zu rechnen ist (siehe Abschnitt 5.2.3). Kontinuitätsgleichung Bei der Strömung von inkompressiblen Flüssigkeiten, also von Flüssigkeiten, die auch unter Druck ihr Volumen nicht ändern, ist das Flüssigkeitsvolumen, das in einer bestimmten Zeiteinheit auf der einen Seite in ein starres Rohr hinein fließt, genauso groß wie das Flüssigkeitsvolumen, das aus der anderen Seite in der gleichen Zeiteinheit aus dem Rohr austritt. Diese Feststellung wird als Kontinuitätsgleichung bezeichnet. Wenn wir den Quotienten aus dem Flüssigkeitsvolumen ∆V , das in einer Zeit ∆t durch eine auf der Strömungsrichtung senkrecht stehende Querschnittsfläche des Rohres fließt, als Volumenstromstärke J= ∆V ∆t (5.53) definieren, dann können wir die Kontinuitätsgleichung auch in der Form J = const. (5.54) schreiben. Bei einer laminaren Strömung können wir die Volumenstromstärke auch in Abhängigkeit von der Strömungsgeschwindigkeit v und der Rohrquerschnittsfläche A schreiben. Dazu betrachten wir einen zylindrischen Rohrabschnitt mit der Querschnitsfläche A und der Länge ∆s, die ein Flüssigkeitsvolumen der Größe ∆V = A∆s zurücklegen muss, um einen festgewählten Rohrquerschnitt 86 Abbildung 5.12: Laminare und turbulente Strömung vollständig zu passieren. Wenn das Flüssigkeitsvolumen sich mit der Geschwindigkeit v bewegt, benötigt es für diese Strecke die Zeit ∆t = ∆s/v. Die Volumenstromstärke beträgt dann J= A∆s ∆V = = Av . ∆t ∆s/v (5.55) Im Allgemeinen, wenn Reibungskräfte zwischen der Rohrwand und der Flüssigkeit vorhanden sind, wird die Strömungsgeschwindigkeit der Flüssigkeitsteilchen nicht überall in einem Rohrquerschnitt gleich groß sein. Die oben angestellte Betrachtung bleibt aber gültig, wenn wir v durch eine geeignet definierte mittlere Strömungsgeschwindigkeit v ersetzen. Die Kontinuitätsgleichung können wir dann auch in der Form Av = const. (5.56) formulieren. Das bedeutet, dass die Flüssigkeit in Rohrabschnitten mit großer Querschnittsfläche langsam fließt und in Abschnitten mit kleiner Querschnittsfläche entsprechend schneller. Bernoulli-Gleichung Ein Flüssigkeitsvolumen der Länge ∆s1 befinde sich in einem Rohrabschnitt mit konstanter Querschnittsfläche A1 . Von links wirkt ein Druck p1 auf das Flüssigkeitsvolumen, der dafür sorgt, dass die Flüssigkeit sich nach rechts in einen zweiten Rohrabschnitt mit der konstanten Querschnittsfläche A2 bewegt. Dabei wird 87 an dem Flüssigkeitsvolumen die Arbeit ∆W1 = F1 ∆s1 = p1 A1 ∆s1 = p1 ∆V (5.57) geleistet. Gleichzeitig muss das Flüssigkeitsvolumen die rechts vor ihm liegende Flüssigkeitsmenge wegschieben und an dieser die Arbeit ∆W2 = F2 ∆s2 = p2 A2 ∆s2 = p2 ∆V (5.58) leisten (wegen der Kontinuitätsgleichung ist A1 ∆s1 = A2 ∆s2 ). Aufgrund der veränderten Rohrquerschnittsfläche ändert sich auch die mittlere Strömungsgeschwindigkeit der Flüssigkeit und damit auch deren kinetische Energie: 1 ∆T = ρ∆V v22 − v12 , 2 (5.59) wobei die Masse des Flüssigkeitsvolumens als Produkt aus der Flüssigkeitsdichte ρ und ihrem Volumen ∆V geschrieben wurde. Wenn keine Energie durch Reibung in Wärmeenergie umgewandelt wird, muss die Arbeit, die an dem Flüssigkeitsvolumen geleistet wird, genauso groß sein, wie die Arbeit, das Flüssigkeitsvolumen seinerseits an der vor ihr liegenden Flüssigkeit leistet zuzüglich der Änderung der kinetischen Energie: ∆W1 = ∆W2 + ∆T . (5.60) Durch Einsetzen von (5.57), (5.58) und (5.59) erhalten wir daraus 1 1 p1 ∆V + ρ∆V v12 = p2 ∆V + ρ∆V v22 . 2 2 (5.61) Wenn wir annehmen, dass das von der Flüssigkeit durchströmte Rohr auch gegen die Waagerechte geneigt sein kann, müssen wir bei der Energiebilanz in Gleichung (5.61) noch die potentielle Energie im Schwerefeld der Erde berücksichtigen und erhalten 1 1 p1 ∆V + ρ∆V v12 + ρ∆V gh1 = p2 ∆V + ρ∆V v22 + ρ∆V gh2 , 2 2 (5.62) wobei h1 und h2 die Höhe der jeweiligen Rohrabschnitte gegen über einer willkürlich gewählten waagerechten Ebene angibt. Diese Gleichung sagt aus, dass die Summe aus geleisteter Arbeit, kinetischer und potentieller Energie konstant bleibt. In einer anderen Form, 1 p + ρv 2 + ρgh = const. 2 (5.63) wird sie als Bernoulli-Gleichung bezeichnet. Aus dieser Gleichung folgt, dass der Druck in einem von einer Flüssigkeit durchströmten Rohr abfällt, wenn die Strömungsgeschwindigkeit zunimmt. 88 s1 s2<s1 Abbildung 5.13: Tragfläche Dieser Effekt wird auch bei der Strömung von Gasen beobachtet (zum Beispiel bei Tragflächen, siehe auch Abb. 5.13), obwohl die Herleitung der BernoulliGleichung nur für inkompressible Fluide gilt. Dichteänderungen breiten sich in Gasen jedoch mit Schallgeschwindigkeit aus, so dass bei vergleichsweise langsamen Strömungen sich stets eine konstante Dichte einstellen kann und die Kontinuitätsgleichung gültig bleibt. Reale Flüssigkeiten Bei den bisherigen Betrachtungen wurde die Reibung der Flüssigkeit mit der Rohrwand und die Reibung der einzelnen Flüssigkeitsschichten gegeneinander nicht berücksichtigt. Viele Phänomene der Hydrodynamik lassen sich aber nur verstehen, wenn man diese Reibungskräfte in die Betrachtung mit einschließt. Ein besonders einfaches Beispiel für den Einfluss der Flüssigkeitsreibung ist das Strömungsprofil, das sich ausbildet, wenn eine ebene Platte mit der Oberfläche A durch eine Flüssigkeit gezogen wird (Abb. 5.14). Im Abstand ∆x von der Platte A ∆v ∆x Abbildung 5.14: Viskosität befindet sich eine ebene, zur gezogenen Platte parallele Begrenzungsfläche. Die Geschwindigkeit der Platte relativ zur Begrenzungsfläche sei ∆v. Wenn die Platte sich langsam bewegt und keine Turbulenzen auftreten, werden sich in unmittelbarer Nähe der Platte und der Begrenzungsfläche Flüssigkeitsschichten aufbauen, die an der Platte beziehungsweise an der Begrenzungsfläche haften. Zwischen der Platte und der Begrenzungsfläche entstehen parallele Flüssigkeitsschichten, die sich gegeneinander bewegen und aneinander reiben. Es entsteht ein Flüssigkeitsprofil, dass linear vom Abstand von der Begrenzungsfläche abhängt. Der Quotient aus der Geschwindigkeit einer Flüssigkeitsschicht und ihrem Abstand 89 von der Begrenzungsfläche ist also konstant. Da die der Platte unmittelbar benachbarte Flüssigkeitsschicht an dieser haftet, muss der konstante Koeffizient genauso groß sein, wie das Verhältnis von Plattengeschwindigkeit ∆v und Plattenabstand ∆x. Wir können vermuten, dass dieses Verhältnis proportional zur äußeren Kraft F ist, die auf die Platte einwirkt: ∆v ∼F. ∆x (5.64) Auch können wir vermuten, dass die Geschwindigkeit ∆v um so kleiner wird, je größer die Oberfläche A ist, mit der die Platte sich an den Flüssigkeitsschichten reibt. Der einfachste denkbare Zusammenhang dieser Art, ist eine lineare Abhängigkeit in der Form F ∆v ∼ . (5.65) ∆x A Nicht zuletzt hängt die Geschwindigkeit ∆v der Platte auch von der Art der Flüssigkeit ab. Wir bezeichnen die Eigenschaft der Flüssigkeit, die Bewegung der Platte durch Reibung zu bremsen, als Zähigkeit oder Viskosität η. Wieder gehen wir von einem besonders einfachen, nämlich einem linearen Zusammenhang aus: F ∆v = . ∆x ηA (5.66) Dabei ist die Viskosität durch Gleichung (5.66) implizit derart definiert, dass aus der Proportionalitätsbeziehung (5.65) eine Gleichung wird. Die kohärente SI-Einheit für die Viskosität ist 1 Pa s. Manchmal wird eine Flüssigkeit statt durch die Viskosität auch durch dessen Kehrwert, die Fluidität beschrieben. Bei sogenannten Newtonschen Flüssigkeiten (siehe Abschnitt 5.2.3) hängt die Viskosität nicht von der Strömungsgeschwindigkeit der Flüssigkeit ab. Glyzerin hat bei Raumtemperatur eine Viskosität von etwa 1,5 Pa s, während Wasser bei gleicher Temperatur eine Viskosität von nur 10−3 Pa s aufweist. Bei anderen Temperaturen kann die Viskosität des Wassers etwa um den Faktor 2 bis 3 größer oder kleiner werden. Für Wasserdampf wird die Viskosität etwa zwei Größenordnungen kleiner (ungefähr 10−5 Pa s). Eine Flüssigkeit mit extrem hoher Viskosität ist Glas (1018 -1020 Pa s). Neben der hier definierten Viskosität η (auch dynamische Viskosität genannt) verwendet man manchmal auch die sogenannte kinematische Viskosität ν= η , ρ (5.67) die als Quotient aus der dynamischen Viskosität und der Dichte einer Flüssigkeit definiert ist. Die kohärente SI-Einheit für die kinematische Viskosität ist 1 m2 s−1 . Gleichung (5.66) lässt sich auch auf solche Fälle ausweiten, in denen das Geschwindigkeitsprofil nicht linear ist, wenn man den Differenzenquotienten ∆v/∆x 90 durch einen Differentialquotienten dv/dx ersetzt. Aufgelöst nach der Kraft erhält man dann dv F = ηA . (5.68) dx Gesetz von Hagen und Poiseuille Wir betrachten den Flüssigkeitsmantel i. Nach Gleichung (5.68) übt der äußere Mantel i + 1 eine bremsende Reibungskraft dv (5.69) dr aus, die im dynamischen Gleichgewicht (der Flüssigkeitsmantel wird nicht beschleunigt) durch die Kraft ausgeglichen wird, die die Druckdifferenz ∆p auf den Mantel i und auf alle innen liegenden Mäntel ausübt, so dass gilt Fi = ηℓ2πr ηℓ2πr dv + ∆pπr2 = 0 dr (5.70) Für die Änderung der Geschwindigkeit erhalten wir daraus dv r =− ∆p dr 2ηℓ (5.71) Die Geschwindigkeit des Mantels mit dem Radius r erhalten wir durch Integration R ′ r ∆p ′ r2 − R2 v(R) − v(r) = − dr = ∆p . (5.72) 4ηℓ r′ =r 2ηℓ Da die Strömungsgeschwindigkeit an der Rohrwand Null ist (v(R) = 0), erhalten wir für das Strömungsprofil im Rohr: v(r) = R2 − r 2 ∆p 4ηℓ (5.73) Ein Flüssigkeitsmantel mit dem Radius r legt in der Zeit ∆t die Strecke ∆s = v∆t zurück und transportiert so ein Volumen dV = ∆s dA = v ∆t dA = v ∆t 2πr dr = π(rR2 − r3 ) ∆p ∆t dr . 2ηℓ (5.74) Das gesamte Volumen ∆V , das von allen Flüssigkeitsmänteln transportiert wird, erhalten wir durch Integration über den Radius r: R π(rR2 − r3 ) ∆V = ∆p ∆t dr 2ηℓ r=0 R π(2r2 R2 − r4 ) = ∆p ∆t 8ηℓ 0 πR4 = ∆p ∆t (5.75) 8ηℓ 91 Die Volumenstromstärke J = ∆V /∆t beträgt dann J= πR4 ∆p . 8ηℓ (5.76) Diese Gleichung wird auch als Hagen-Poiseuillesches Gesetz bezeichnet, benannt nach dem deutschen Ingenieur Gotthilf Hagen und französischen Physiologen und Physiker Jean Louis Leonard Marie Poiseuille. Aus diesem Gesetz geht hervor, dass die Volumenstromstärke J proportional zur Druckdifferenz ∆p ist. Der Proportionalitätsfaktor wird auch als Leitwert G= πR4 8ηℓ (5.77) bezeichnet. Mit Hilfe des Leitwertes lässt sich der Zusammenhang zwischen Volumenstromstärke und Druckdifferenz auch in der Form J = G∆p (5.78) schreiben. Wir sprechen hier auch vom Ohmschen Gesetz der Strömungsmechanik. Statt des Leitwertes wird auch dessen Kehrwert, der Strömungswiderstand R= 1 G (5.79) verwendet. Wir haben das Ohmsche Gesetzt der Strömungsmechanik unter der stillschweigenden Annahme hergeleitet, dass die Viskosität η nicht von der Strömungsgeschwindigkeit abhängt, was aber nicht für alle Flüssigkeiten unter allen Bedingungen gilt. Flüssigkeiten, für die das Ohmsche Gesetz der Strömungsmechanik gilt, werden als Newtonsche Flüssigkeiten bezeichnet. Reynoldszahl Bei allen vorangehenden Betrachtungen sind wir davon ausgegangen, dass das Fluid laminar strömt. Oft ist dies jedoch nicht der Fall, insbesondere nicht bei Gasen. Es treten dann räumlich und zeitliche Schwankungen im Strömungsverlauf auf, die scheinbar völlig ungeordnet sind, wir sprechen auch von Turbulenzen. Wann solche Turbulenzen auftreten, ist nicht einfach vorherzusagen. Einen Hinweis gibt die sogenannte Reynolds-Zahl Re = 2Rρv . η (5.80) Im Falle einer Strömung in einem zylindrischen Rohr ist R der Rohrradius. Bei Strömungen mit einer Reynolds-Zahl von unter 2000 erwarten wir einen laminaren Strömungsverlauf, während bei einer Reynolds-Zahl von mehr als 3000 mit Turbulenzen gerechnet werden muss. 92 Betrachten wir als ein Beispiel ein typisches Experiment in einem physikalischen Praktikum: In einem Rohr mit einem Radius von 0,005 m fließt Paraffinöl mit einer Geschwindigkeit von 0,1 m s−1 . Das Öl hat eine Viskosität von etwa 0,1 Pa s und eine Dichte von rund 1000 kg m−3 . Daraus ergibt sich eine ReynoldsZahl von etwa 10, wir dürfen also recht sicher mit einer laminaren Strömung rechnen. Abbildung 5.15: Zum Hagen-Poiseuilleschen Gesetz: Gedankliche Zerlegung der laminaren Strömung in Zylindermäntel. 93 94 Kapitel 6 Schwingungen Unter Schwingungen (oder Oszillationen) verstehen wir eine in der Zeit periodisch ablaufende Änderung einer physikalischen Größe. Eine Welle ist die räumlich periodische Ausbreitung von Schwingungen. Deshalb behandeln wir zuerst die Schwingungen. 6.1 Schwingungen Besonders einfache Beispiele für schwingende Systeme sind das Feder- und das Fadenpendel, bei denen eine Masse sich periodisch um eine Gleichgewichtslage herum bewegt. Die veränderliche Größe bei einer Schwingung muss jedoch nicht immer die Ortskoordinate einer Masse sein. Weitere Beispiele für physikalische Größen, die schwingen können, sind die Dichte von Gasen, Flüssigkeiten oder festen Körpern oder das elektromagnetische Feld. Zwei notwendige Voraussetzungen für die Entstehung von Schwingungen sind eine Gleichgewichtslage des schwingenden Systems und eine rücktreibende Kraft, die das System nach kleinen Auslenkungen wieder in das Gleichgewicht zurückdrängt. Wenn die Auslenkungen aus dem Gleichgewicht nicht zu groß werden, hängt die rücktreibende Kraft fast immer linear von der Auslenkung ab. Dieser Fall, wir sprechen dann auch von harmonischen Schwingungen, ist daher von grundlegender Bedeutung und lässt sich zudem vergleichsweise einfach beschreiben. Wir wollen uns deshalb im Folgenden fast ausschließlich mit harmonischen Schwingungen beschäftigen und werden nur am Ende dieses Abschnittes kurz auf anharmonische Schwingungen eingehen. 6.2 Mathematische Vorbemerkungen Um die gedämpften Schwingungen besser diskutieren zu können führen wir uns vor der Behandlung der Schwingungen noch einige grundlegende Aussagen zu linearen Differentialgleichungen und zu den komplexen Zahlen vor Augen. 95 6.2.1 Lineare Differentialgleichungen zweiter Ordnung Betrachten wir allgemein eine lineare gewöhnliche Differentialgleichung zweiter Ordnung mit konstanten Koeffizienten, die wir in der Form f¨ + a1 f˙ + a0 f = 0 (6.1) schreiben, wobei f (t) eine Funktion der Zeit ist, und f¨ und f˙ die ersten und zweiten Ableitungen dieser Funktion nach der Zeit sind. Angenommen, sin(ωt) mit geeignet gewähltem, konstantem ω wäre eine Lösung dieser Differentialgleichung. Dann wären λ sin(ωt) oder sin(ωt + φ) ebenfalls Lösungen, sofern λ und φ konstant sind. Um eine eindeutige Lösung zu erhalten, benötigen wir zusätzlich zur Differentialgleichung noch Randbedingungen. In diesem Fall sind es zwei Randbedingungen, da es sich um eine Differentialgleichung zweiter Ordnung handelt. Nehmen wir an, uns sind für den Zeitpunkt t0 der Wert der Funktion selbst, f (t0 ), und der Wert ihrer ersten Ableitung, f˙(t0 ), bekannt. Dann können wir auch f und f˙ zu einem späteren Zeitpunkt t0 + dt bestimmen, solange die Zeitdifferenz dt infinitesimal klein ist. es gilt nämlich f (t0 + dt) = f (t0 ) + f˙(0)dt f˙(t0 + dt) = f˙(t0 ) + f¨(t0 )dt = f˙(t0 ) − a1 f˙(t0 ) + a0 f (t0 ) dt (6.2) Iterativ lässt sich so der Funktionswert von f auch zu den Zeitpunkten t0 + 2dt, t0 + 3dt, . . ., und damit zu jedem Zeitpunkt bestimmen, wodurch die Funktion f eindeutig festgelegt ist. Das heißt, wir finden keine zweite, von f verschiedene Funktion der Zeit, die die Differentialgleichung (6.1) und die Randbedingungen erfüllt. 6.2.2 Komplexe Zahlen Obwohl für die Beschreibung der Schwingungen reelle Funktionen ausreichend sind, lassen sich die Lösungen leichter aus der den Schwingungsvorgang beschreibenden Differentialgleichung gewinnen, wenn man komplexe Zahlen zu Hilfe nimmt. Eine beliebige komplexe Zahl z lässt sich stets in eindeutiger Weise als Summe aus einer reellen Zahl a und dem Produkt aus einer weiteren reellen Zahl b und der imaginären Einheit i schreiben. Die imaginäre Einheit i ist dabei als Lösung der Gleichung x2 = −1 definiert, das heißt es gilt i2 = −1. Um die Exponentialfunktion einer komplexen Zahl z = a + ib zu bilden, verwenden wir die Eulersche Identität eiφ = cos φ + i sin φ . (6.3) Dann erhalten wir ez = ea+ib = ea eib = ea (cos b + i sin b) . 96 (6.4) Mit Hilfe der Eulerschen Identität können wir die trigonometrischen Funktionen Sinus und Kosinus durch Exponentialfunktionen ausdrücken: eiφ − e−iφ eiφ + e−iφ und cos φ = . (6.5) 2i 2 Wenn wir das reelle Argument der trigonometrischen Funktionen durch ein rein imaginäres Argument ersetzen, erhalten wir die hyperbolischen Funktionen, den Sinus hyperbolicus oder Hyperbelsinus sin φ = eφ − e−φ e−i(iφ) − ei(iφ) =i = −i sin iφ 2 2i und den Cosinus hyperbolicus oder Hyperbelkosinus sinh φ = cosh φ = 6.3 eφ + e−φ e−i(iφ) + ei(iφ) = = cos iφ . 2 2 (6.6) (6.7) Freie Schwingungen Wir betrachten ein Federpendel, das aus einer Masse m und einer Feder mit der Federkonstante D besteht (siehe Abb. 3.5). Das Federpendel kann im Schwerefeld der Erde senkrecht nach unten hängen, die Gewichtskraft, die auf die Masse wirkt, verschiebt lediglich die Gleichgewichtslage des Pendels, zur Schwingung selbst trägt sie nichts bei. Wir werden also auf der Erde das gleiche Schwingungsverhalten beobachten, wie in einer Weltraumstation, in der die Schwerelosigkeit herrscht. Die Funktion x(t) soll die zeitabhängige Auslenkung der Feder aus dem Gleichgewicht beschreiben. Da wir von einer linearen Federkraft (Hookesches Gesetz) ausgehen wollen, lautet die Bewegungsgleichung für das Federpendel mẍ = −Dx . (6.8) Als Lösungsansatz verwenden wir die Sinusfunktion x(t) = A sin(ω0 t + φ) (6.9) Die noch unbestimmten Konstanten A, ω0 und φ geben die maximale Auslenkung, die Kreisfrequenz der Schwingung beziehungsweise die Phasenverschiebung gegenüber einer einfachen Sinusfunktion an. Die erste und die zweite Ableitung dieser Funktion lauten ẋ(t) = Aω0 cos(ω0 t + φ) (6.10) und ẍ(t) = −Aω02 sin(ω0 t + φ) = −ω02 x(t) . (6.11) Wir setzen nun den Lösungsansatz und seine zweite Ableitung in die Bewegungsgleichung (6.8) ein, und erhalten − mω02 x = −Dx . 97 (6.12) Von der trivialen Lösungen x(t) = 0 abgesehen ist diese Gleichung nur dann erfüllt, wenn die Kreisfrequenz genau den Wert D ω0 = (6.13) m annimmt. Um eine eindeutige Lösung zu erhalten, müssen jetzt noch zwei Randbedingungen gewählt werden. Wir wählen hier die Auslenkung und die Geschwindigkeit des Pendels zur Zeit t = 0, also x(0) = x0 und ẋ(0) = v0 . (6.14) Wenn wir in der Lösung selbst und in der ersten Ableitung t = 0 einsetzen, erhalten wir x0 = A sin φ und v0 = Aω0 cos φ . (6.15) Daraus folgt tan φ = und ω0 x0 v0 v2 A2 sin2 φ + cos2 φ = x20 + 02 ω0 und damit A= x20 + v02 . ω02 (6.16) (6.17) (6.18) Wir haben jetzt alle vorher unbekannten Konstanten bestimmt und können die Bewegung der Pendelschwingung durch v02 x0 ω0 2 x(t) = x0 + 2 sin ω0 t + arctan (6.19) ω0 v0 beschreiben. 6.3.1 Fadenpendel Das zweite klassische Demonstrationsexperiment für mechanische harmonische Schwingungen ist das Fadenpendel, das aus einer Pendelmasse m und einem Faden der Länge ℓ besteht, mit Hilfe dessen die Pendelmasse in einem festen Punkt aufgehängt wird. Im Gleichgewicht hängt die Masse im Abstand ℓ senkrecht unter dem Aufhängepunkt. Von den möglichen Bewegungen, die die Pendelmasse ausführen kann, betrachten wir den besonderen Fall einer Bewegung in einer vertikalen Ebene mit konstantem Abstand ℓ zwischen Pendelmasse und Aufhängepunkt. Diese Bewegung lässt sich durch einen einzigen Parameter, dem Winkel φ zwischen der Vertikalen und dem Faden, beschreiben. Wenn das Pendel 98 Abbildung 6.1: Fadenpendel. aus seiner Gleichgewichtslage (φ = 0) ausgelenkt ist, wirkt die Komponente der Schwerkraft, die tangential zur Bahn der Pendelmasse (und damit vertikal zum Faden) steht, rücktreibend. Die verbleibende Komponente der Schwerkraft, die parallel zum Faden ist, wird durch die Zugkraft des Fadens aufgehoben und spielt für die Bewegung des Pendels keine Rolle. Für kleine Winkel φ ist der Winkel im Bogenmaß (oder Radiant) näherungsweise gleich dem Tangens des Winkels, tan φ ≈ φ, so dass die rücktreibende Kraft Fr = −mgφ (6.20) linear vom Auslenkungswinkel abhängt. Die tangentiale Geschwindigkeit der Pendelmasse können wir (ähnlich wie die Bahngeschwindigkeit bei der Kreisbewegung) mit Hilfe der Winkelgeschwindigkeit in die Form v = ωℓ = φ̇ℓ (6.21) bringen. Durch Ableitung nach der Zeit erhalten wir die tangentiale Beschleunigung a = φ̈ℓ . (6.22) Setzen wir, dem zweiten Newtonschen Gesetz folgend, rücktreibende Kraft und Masse mal tangentialer Beschleunigung gleich, erhalten wir mit g φ̈ = − φ ℓ 99 (6.23) eine zu (6.8) analoge Differentialgleichung. Daher können wir die Lösung für das Fadenpendel erhalten, indem wir in Gleichung (6.19) x durch φ ersetzen und die Kreisfrequenz ω durch ω 2 = g/l definieren. Allerdings gilt diese Lösung nur für kleine Auslenkungen, für die unsere Näherung tan φ ≈ φ gültig ist. Für größere Auslenkungen erhalten wir eine nichtlineare Differentialgleichung, die nicht analytisch lösbar ist. 6.4 Gedämpfte Schwingungen Die ungedämpften Schwingungen stellen eine wichtige Idealisierung dar, die tatsächlich aber kaum zu beobachten sind. Auch auf mikroskopischer Ebene lassen sich, wenn die Messung nur genau genug ist, fast immer Kräfte nachweisen, die der Schwingung Energie entziehen und diese in ungeordnete Energie, in Wärme umwandeln. Wir sprechen dann von einer gedämpften Schwingung und erwarten, dass die Amplitude der Schwingung durch den Energieentzug langsam abnehmen wird. Der einfachste Weg, ein Modell für die freie, gedämpfte harmonische Schwingung aufzustellen, besteht darin, eine geschwindigkeitsabhängige Reibungskraft FR = −rẋ (6.24) anzunehmen. Die Reibungskonstante r beschreibt, wie stark die Schwingung durch die Reibungskraft gedämpft wird. Im ungedämpften Fall verschwindet r. Wir ergänzen jetzt die Reibungskraft in der Bewegungsgleichung (6.8) für unser Federpendel: mẍ = −Dx − rẋ (6.25) Als Ansatz zur Lösung dieser Differentialgleichung verwenden wir die Funktion x(t) = ceλt (6.26) mit den komplexen Konstanten c und λ. Die ersten beiden Zeitableitungen lauten dann ẋ = λceλt = λx (6.27) und ẍ = λ2 ceλt = λ2 x . (6.28) Wenn wir diese Ableitungen in die Differentialgleichung (6.25) einsetzen, erhalten wir mλ2 x = −Dx − rλx (6.29) Um die Lösung dieser Gleichung übersichtlicher zu schreiben, definieren wir die Parameter r (6.30) δ= 2m 100 und D . (6.31) m ω0 ist die Kreisfrequenz des ungedämpften Pendels. Mit Hilfe dieser Parameter bringen wir Gleichung (6.29) in die Form 2 λ + 2δλ + ω02 x = 0 (6.32) ω02 = Sieht man von der trivialen Lösung ab, dass das Pendel überhaupt nicht schwingt (x(t) = 0 für alle t), dann kann Gleichung (6.32) nur dadurch erfüllt werden, dass der Ausdruck in Klammern verschwindet. Diese Bedingung entspricht einer in λ quadratischen Gleichung mit den Lösungen (6.33) λ1,2 = −δ ± δ 2 − ω02 Wir vereinfachen die Schreibweise weiter, indem wir ω = ω02 − δ 2 (6.34) definieren. Später wird sich zeigen, dass wir ω mit der Kreisfrequenz des gedämpften Pendels identifizieren können. Die Lösungen für λ lauten dann: λ1,2 = −δ ± iω (6.35) Wir können unseren Lösungsansatz jetzt in der Form x(t) = c1 e−δt+iωt + c2 e−δt−iωt (6.36) schreiben. Die komplexen Konstanten c1 = a1 + ib1 und c2 = a2 + ib2 können wir durch die Differentialgleichung nicht bestimmen, sie werden erst durch die Randbedingungen festgelegt. Wir wollen hier als Randbedingungen die Position und die Geschwindigkeit des Pendels zum Zeitpunkt t = 0 verwenden: x0 = x(0) und ẋ(0) = v0 . (6.37) Wenn wir in Gleichung (6.36) t = 0 setzen, erhalten wir die Bedingung x 0 = c1 + c2 (6.38) und können dadurch die komplexe Konstante c2 = x 0 − c1 (6.39) eliminieren. Durch Ableitung von Gleichung (6.36) erhalten wir die Geschwindigkeit des Pendels: ẋ(t) = (−δ + iω)c1 e−δ+iω + (−δ − iω)c2 e−δ−iω 101 (6.40) Setzen wir wieder t = 0 ein, folgt v0 = (−δ + iω)c1 + (−δ − iω)c2 = (−δ + iω)c1 + (−δ − iω)(x0 − c1 ) = −x0 δ + 2iωc1 − iωx0 (6.41) So lässt sich auch die zweite komplexe Konstante c1 = v0 + x0 δ + iωx0 2iω (6.42) bestimmen, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass ω nicht Null ist. Diesen Fall werden wir deshalb später gesondert betrachten müssen. Mit Hilfe der Anfangswerte x0 und v0 können wir die Funktion x(t) jetzt in der Form v0 + x0 δ + iωx0 +iωt v0 + x0 δ + iωx0 −iωt −iωt −δt e − e + x0 e (6.43) x(t) = e 2iω 2iω schreiben. Mit Hilfe der Eulerschen Identität folgt daraus: v0 + x0 δ −δt x(t) = e sin ωt + x0 cos ωt ω (6.44) Abhängig von der Stärke der Dämpfung unterscheiden wir drei Fälle: 1. Schwache Dämpfung Für ω0 > δ ist ω reell, und wir erhalten nach Gleichung (6.44) sinusförmige Schwingungen, deren Amplitude mit der Zeitkonstante δ exponentiell abfällt. 2. Starke Dämpfung Für ω0 < δ ist ω rein imaginär. Wir substituieren deshalb ω in Gleichung (6.44) durch das reelle ω = −iω und erhalten mit Hilfe der oben genannten Definitionen für die hyperbolischen Funktionen v0 + x0 δ −δt x(t) = e − sinh ωt + x0 cosh ωt (6.45) ω Bei starker Dämpfung führt das Pendel offenbar keine periodische Bewegung mehr aus, sondern die Auslenkung fällt sofort oder nach einer begrenzten anfänglichen Wachstumszeit monoton ab. Für große Zeiten t ist dieser Abfall monoexponentiell mit der Zeitkonstanten δ − ω. 3. Aperiodischer Grenzfall Ist die Dämpfung gerade so groß, dass der Ausdruck ω = ω02 − δ 2 verschwindet, dann dürfen wir die Konstante c1 nicht 102 durch den Ausdruck auf der rechten Seite von Gleichung (6.45) ersetzen. Der Grund hierfür ist, dass unser Lösungsansatz für den Fall ω = 0 auf x(t) = c1 e−δt (6.46) führt. Mit diesem Ansatz können aber nicht alle denkbaren Randbedingungen erfüllt werden, denn wenn x0 = 0 gewählt wird, führt v0 ̸= 0 zu einem Widerspruch. Durch den Lösungsansatz (6.46 werden also offenbar nicht alle möglichen Lösungen erfasst. Wir müssen daher versuchen, eine weitere Lösung zu erraten. Dazu überlegen wir uns welche Lösung wir im stark oder schwach gedämpften Fall erhalten, wenn ω infinitesimal klein ist. Dann gilt 1 sin ωt ≈ t und ω cos ωt ≈ 1 (6.47) In beiden Fällen ergibt sich dann x(t) = e−δt [(v0 + x0 δ)t + x0 ] (6.48) Wenn wir diesen Ansatz in die Differentialgleichung (6.25) einsetzen, sehen wir, dass diese erfüllt wird. Außerdem lassen sich mit diesem Ansatz beliebig gewählte Randbedingungen erfüllen, so dass wir die allgemeine Lösung für den aperiodischen Grenzfall gefunden haben. 103 6.5 Erzwungene Schwingungen Wir sprechen von erzwungenen Schwingungen, wenn auf ein System, das zu freien Schwingungen in der Lage ist, eine äußere periodische Kraft einwirkt. Wir betrachten nur den wichtigen Sonderfall einer sinusförmigen äußeren Kraft F (t) = F0 sin(ωt), die mit der Kreisfrequenz ω oszilliert. Ein gedämpftes Federpendel, das mit dieser Kraft angeregt wird, lässt sich durch die Differentialgleichung (6.25) beschreiben, wenn die rechte Seite dieser Gleichung um die Kraft F (t) ergänzt wird, so dass die Differentialgleichung die Form mẍ = −Dx − rẋ + F0 sin(ωt) (6.49) annimmt. Für die folgende Betrachtung bringen wir alle Terme auf die linke Seite und kürzen durch die Masse m: r F0 D sin(ωt) = 0 . (6.50) ẍ + x + ẋ − m m m Bei den im vorigen Abschnitt behandelten freien gedämpften Schwingungen verringerte sich die anfänglich vorhandene Energie infolge der Reibung fortwährend, so dass die Amplitude der Schwingung exponentiell abnahm. Im Fall von erzwungenen Schwingungen kann die äußere Kraft Arbeit leisten und dadurch die Energie des schwingenden Systems erhöhen. Wenn es zu einem Gleichgewicht zwischen der geleisteten Arbeit und dem Energieverlust durch Reibung kommt, sind stationäre Lösungen für die Differentialgleichung (6.50) möglich. Die Vermutung liegt nahe, dass eine stationäre Lösung eine Sinusschwingung mit der gleichen Frequenz wie die der anregenden Kraft sein muss. Als Lösungsansatz verwenden wir deshalb die Funktion x(t) = A sin(ωt − φ) (6.51) mit noch unbekannter Amplitude A und Phasenverschiebung φ. Das Pendel hat dann die Geschwindigkeit ẋ(t) = ωA cos(ωt − φ) (6.52) ẍ(t) = −ω 2 A sin(ωt − φ) . (6.53) und die Beschleunigung Wir setzen unseren Lösungsansatz und die daraus abgeleitete Geschwindigkeit und Beschleunigung in die Differentialgleichung (6.50) ein und erhalten rA F0 DA sin(ωt − φ) + ω cos(ωt − φ) − sin(ωt) = 0 . (6.54) m m m Um zu zeigen, dass unser Lösungsansatz (6.51) richtig ist, müssen wir zeigen, das geeignete Werte für A und φ existieren, so dass Gleichung (6.54) tatsächlich erfüllt wird. Wir zeigen dies zunächst für drei einfach zu behandelnde und anschauliche Sonderfälle. − ω 2 A sin(ωt − φ) + 104 1. Wenn die Frequenz ω der anregenden Kraft deutlich kleiner als die Eigenfrequenz ω0 = D/m des Federpendels ist (ω ≪ ω0 ), und auch klein gegenüber den Ausdrücken r/m und F0 /mA ist, dann können der erste und der dritte Term in Gleichung (6.54) vernachlässigt werden, und es gilt F0 DA sin(ωt − φ) − sin(ωt) = 0 . m m (6.55) Diese Gleichung wird erfüllt, wenn es keine Phasenverschiebung zwischen äußerer Kraft F (t) und Auslenkung x(t) gibt (φ = 0), und wenn die Amplitude A = F0 /D beträgt. Die zeitabhängige Auslenkung des Pendels lautet also F0 x(t) = sin(ωt) . (6.56) D In diesem Fall ändert sich die äußere Kraft so langsam, dass das Pendel praktisch ohne Verzögerung der Kraft folgen kann. Zu jedem Zeitpunkt wird die Auslenkung durch das Hookesche Gesetz beschrieben: F (t) = Dx(t). Daher spricht man auch von einer quasistatischen Bewegung. Wir bezeichnen mit dW die Arbeit, die in der Zeit dt an dem Pendel geleistet wird. Entsprechend der Definition der Arbeit (Kraft mal Weg) schreiben wir dW = F dx = F ẋdt = ωF0 A sin(ωt) cos(ωt)dt . (6.57) Die Arbeit ∆W , die während einer kompletten Schwingungsdauer T geleistet wird, erhalten wir durch Integration: T sin(ωt) cos(ωt)dt . (6.58) ∆W = ωF0 A 0 Aufgrund der Phasenverschiebung zwischen Sinus und Kosinus verschwindet dieses Integral. Im Mittel wird also keine Arbeit geleistet. Da wir die Reibung vernachlässigt haben, bleibt die Energie des Pendels in diesem Grenzfall konstant. 2. Als zweiten Grenzfall betrachten wir eine äußere Kraft, die viel schneller oszilliert als die Eigenfrequenz ω0 des Federpendels. Auch soll die Periode T = 2π/ω der äußeren Kraft viel kürzer als die durch Gleichung (6.30) definierte Zeitkonstante sein, so dass r ≪ω m (6.59) ist. Daher können in Gleichung (6.54) der zweite und der dritte Term vernachlässigt werden, und wir erhalten − ω 2 A sin(ωt − φ) = 105 F0 sin(ωt) . m (6.60) Damit diese Gleichung erfüllt werden kann, muss es zwischen der äußeren Kraft und der Auslenkung des Pendels eine Phasenverschiebung von φ = π geben, und die maximale Auslenkung beträgt A= F0 . mω 2 (6.61) Die zeitabhängige Auslenkung des Pendels lautet also x(t) = F0 sin(ωt − π) . mω 2 (6.62) Bei festgehaltener Amplitude der Kraft, nähert sich die Maximalauslenkung des Pendels mit wachsender Frequenz asymptotisch Null. Dieser Fall wird auch als quasifreie Bewegung des Pendels bezeichnet. Die äußere Kraft oszilliert so schnell, dass nur die Trägheit der Pendelmasse nicht aber die Federkonstante für die Höhe der Auslenkung entscheidend ist, so wie bei einem freien Teilchen, das nicht mit einer Feder verbunden ist. Auf ganz ähnliche Weise wie im ersten Fall lässt sich auch hier zeigen, dass die während einer Periode T an dem Federpendel geleistete Arbeit Null ist. 3. Wir erhalten einen dritten, einfach zu behandelnden Sonderfall, wenn wir uns die Frage stellen, bei welcher Frequenz dem schwingenden System durch die äußere Kraft die größtmögliche Leistung zugefügt wird. Wir hatten festgestellt, dass die Phasenverschiebung zwischen der Geschwindigkeit des Pendels und der äußeren Kraft bei sehr kleinen und bei sehr großen Frequenzen der Kraft +π/2 beziehungsweise −π/2 betrug. Wenn man davon ausgeht, dass sich diese Phasenverschiebung stetig mit der Frequenz der anregenden Kraft ändert, kann man erwarten, dass es irgendwo zwischen den sehr tiefen und den sehr hohen Frequenzen eine mittlere Frequenz ω ′ geben muss, bei der Kraft und Geschwindigkeit in Phase sind, bei der also durch die äußere Kraft ein Maximum an Leistung auf das Pendel übertragen wird. Da Auslenkung und Geschwindigkeit bei sinusförmigen Schwingungen stets um eine Viertelperiode gegeneinander verschoben sind, beträgt die Phasenverschiebung zwischen Auslenkung und Kraft für ω ′ genau φ = π/2. An dem Pendel wird daher in einem Zeitinterval dt die Arbeit dW = F dx = F0 sin(ω ′ t)A cos(ω ′ t − π/2)ω ′ dt = F0 Aω ′ sin2 (ω ′ t) dt geleistet. Die mittlere Arbeit während einer kompletten Periode beträgt dann T 1 (6.63) ∆W = ω ′ AF0 sin2 (ω ′ t) dt = ω ′ AF0 T 2 0 106 (die Lösung des Integrals entnehmen wir einer Integraltafel oder Formelsammlung). Die mittlere Leistung, die dem Pendel zugeführt wird, beträgt demnach ∆W 1 PW = = ω ′ AF0 . (6.64) T 2 Da wir nach Voraussetzung eine stationäre Lösung suchen, darf sich die gesamte (kinetische und potentielle) Energie des Pendels im Mittel nicht ändern, was bedeutet, dass eine vom Begtrag gleich große Leistung PR mechanische Energie durch Reibung in Wärme umandelt: PW + PR = 0 . (6.65) Die durch Reibung erzeugte Leistung können wir in der Form 1 T (−rẋ)ẋ dt PR = T 0 1 T ′2 2 = − rω A cos2 (ωt − π/2) dt T 0 1 1 1 = − rω ′2 A2 T = rω ′2 A2 T 2 2 schreiben. Die Gleichgewichtsbedingung (6.65) führt dann mit 6.64 zu 1 ′ 1 ω AF0 − rω ′2 A2 2 2 (6.66) und liefert so die Amplitude F0 (6.67) rω ′ der Auslenkung. Damit haben wir für diesen Sonderfall die Phasenverschiebung φ und die Amplitude A bestimmt. Die Frequenz ω ′ ist dagegen noch unbekannt. Wir können auch diese bestimmen, wenn wir die Beobachtung nutzen, dass die Reibungskraft A= FR = −rẋ = −rω F0 cos(ωt − π/2) = −F0 sin(ωt) rω (6.68) die äußere Kraft F (t) zu jedem Zeitpunkt genau kompensiert. Das Pendel verhält sich dann so, als ob weder die äußere Kraft noch die Reibungskraft wirksam wären, ganz so wie beim freien ungedämpften Pendel. Eine maximale Anregungsleistung erfolgt demnach genau dann, wenn die äußere Kraft mit der Eigenfrequenz ω0 = D/M des freien ungedämpften Pendels oszilliert. Die Amplitude beträgt dann F0 D A= (6.69) r m 107 Nachdem wir die erzwungenen Schwingungen für drei Sonderfälle untersucht haben, versuchen wir jetzt eine allgemeine Lösung zu finden, die uns die Schwingungen für beliebige Anregungsfrequenzen ω beschreibt. Diese lässt sich besonders einfach erhalten, wenn wir die zeitabhängige Auslenkung x(t) als Realteil einer komplexen Funktion z(t) = ceiωt (6.70) schreiben, die die Differentialgleichung mz̈ = −Dz − rż − iF0 eiωt (6.71) erfüllt. Der Realteil dieser Differentialgleichung ist gleich der Differentialgleichung 6.49. Man erkennt dies leichter, wenn man die Umformung − iF0 eiωt = F0 eiωt−iπ/2 = F0 [sin(ωt) − i cos(ωt)] (6.72) verwendet, die deutlich macht, dass der Realteil der komplexen Funktion −iF0 eiωt gleich der äußeren Kraft F0 sin(ωt) ist. Durch Einsetzen der komplexen Funktion (6.70) in die Differentialgleichung (6.71) erhalten wir − mω 2 c = −Dc − iωrc − iF0 oder c= i(ω02 F0 /m . − ω 2 ) − ωr/m (6.73) (6.74) Zur Schreibvereinfachung ersetzen wir im Folgenden r/m durch 2δ gemäß der Definition (6.30). Da wir am Ende nur an dem Realteil der komplexen Funktion z(t) interessiert sind, ist es nützlich den Betrag der komplexen Konstanten c zu bestimmen. Dazu verwenden wir die Operation der komplexen Konjugation, die wir mit einem Stern kennzeichnen: (a + ib)∗ = a − ib . (6.75) Offenbar ist das Produkt aus einer komplexen Zahl und ihrem komplex Konjugierten gleich dem Betragsquadrat der komplexen Zahl: (a + ib)∗ (a + ib) = (a − ib)(a + ib) = a2 + b2 = |a + ib|2 . Eine kurze Zwischenrechnung ergibt ∗ ∗ ∗ ∗ ∗ ∗ ∗ c c c (c∗ )∗ c 1 1 = = = = = = . 2 2 c cc∗ cc∗ |c| |c| c∗c c∗ (6.76) (6.77) Daher können wir das komplex Konjugierte von (6.74) in die Form c∗ = i(ω 2 F0 /m − ω02 ) − 2ωδ 108 (6.78) bringen und den Betrag von c als F0 /m |c| = (ω 2 − ω02 )2 + 4ω 2 δ 2 (6.79) schreiben. Wir können c, wie jede komplexe Zahl, als Produkt aus ihrem Betrag und einer Phase mit dem Betrag Eins schreiben: c = |c| eiα . (6.80) Wegen der Eulerschen Identität (6.3) lässt sich der Tangens des Phasenwinkels α als Quotient aus Imaginär- und Realteil von c schreiben: tan α = ℑ(c) . ℜ(c) (6.81) In diesem Fall fällt es uns leichter, Real- und Imaginärteil von 1/c zu bilden, deshalb können wir wegen 1 e−iα cos α sin α 1 = = = −i iα c |c|e |c| |c| |c| (6.82) den Tangens von α auch durch tan α = − ℑ(1/c) ω 2 − ω02 =− ℜ(1/c) 2ωδ (6.83) ausdrücken. Für die Auslenkung x(t) erhalten wir nun x(t) = ℜ(z) = |c| cos(ωt + α) = |c| sin(ωt + α − π/2) . (6.84) Wegen tan(π/2 − α) = − cot(−α) = cot α = 1 tan α (6.85) können wir aus (6.83) die Beziehung tan(π/2 − α) = 2ωδ − ω2 ω02 (6.86) gewinnen. Um an zuvor verwendeten Bezeichnungen anzuknüpfen setzen wir A = |c| und φ = π/2 − α, so dass wir die Auslenkung wie in (6.52) in der Form x(t) = A sin(ωt − φ) (6.87) schreiben können, wobei jetzt Amplitude und Phase durch F0 /m A= (ω 2 − ω02 )2 + 4ω 2 δ 2 109 (6.88) und tan φ = 2ωδ − ω2 ω02 (6.89) gegeben sind. Offenbar liefern uns die Ausdrücke (6.88) und (6.23) für die drei Grenzfälle 1) ω ≪ ω0 , δ, 2) ω ≫ ω0 , δ und 3) ω = ω0 die schon bei der Sonderfallbetrachtung weiter oben abgeleiteten Werte. Man erkennt, dass die Amplitude A in der Nähe von ω ≈ ω0 ihr Maximum annimmt. Bei nicht zu vernachlässigender Reibung wird die Amplitude bei einer Anregungsfrequenz leicht unterhalb der Eigenfrequenz ω0 des freien ungedämpften Oszillators maximal. Die Frequenz maximaler Amplitude soll hier als Resonanzfrequenz ωres bezeichnet werden. In der Literatur ist der Gebrauch dieses Begriffs nicht einheitlich, teilweise wird die Resonanzfrequenz mit der Eigenfrequenz des freien ungedämpften Oszillators gleich gesetzt. Die Abweichung zwischen der Resonanzfrequenz ωres (so wie sie hier definiert ist) und der Eigenfrequenz ω0 wird durch die Stärke der Reibung bestimmt. Diese Abweichung ebenso wie die Breite des Maximums der Funktion A(ω) wird mit Hilfe des Gütefaktors ω0 (6.90) Q= 2δ beschrieben. Bezeichnet man mit ω1 und ω2 die Frequenzen oberhalb und unterhalb der Resonanzfrequenz, für die das Amplitudenquadrat A2 gerade die Hälfte des maximalen Wertes A2 (ωres ) beträgt, dann kann man den Gütefaktor, bei nicht zu starker Reibung, näherungsweise auch in der Form √ 3 ω0 (6.91) Q≈ 2 ∆ω schreiben, wobei ∆ω = ω2 − ω1 definiert wurde. Der Kehrwert des Gütefaktors beschreibt daher die Breite des Resonanzmaximums der Funktion A(ω). Die Resonanzfrequenz lässt sich mit Hilfe des Gütefaktors durch 1 (6.92) ωres = ω0 1 − 2Q2 ausdrücken. Für starke Reibung (δ > ω0 ) ist der Gütefaktor nicht definiert. In diesem Falle hat die Amplitude A(ω) ihr Maximum bei ω = 0. 110 Kapitel 7 Wellen Als Wellen bezeichnen wir Schwingungsvorgänge, die neben der zeitlichen auch eine räumliche Periodizität aufweisen. Für mechanische Wellen ist ein schwingungsfähiges Medium eine notwendige Voraussetzung. Bei Schallwellen etwa stellen Gase, Flüssigkeiten und feste Körper ein solches Medium dar. Anders als Schallwellen können sich elektromagnetische Wellen auch ohne ein solches Medium ausbreiten, also auch im Vakuum. Als besonders einfaches und gut verständliches Modell für das Phänomen der Wellen verwenden wir eine eindimensionale Pendelkette. Als Hinführung zu dieser Pendelkette betrachten wir zuvor zwei gekoppelte Pendel. 7.1 Gekoppelte Pendel Zwei Fadenpendel mit der Länge ℓ und den Massen m1 = m2 = m sind parallel zueinander im Abstand d aufgehängt. Die Pendelmassen sind durch eine Feder mit der Federkonstanten D und der Gleichgewichtslänge d miteinander verbunden (siehe Abbildung 7.1). Die Auslenkung der beiden Pendelmassen aus der Gleichgewichtslage können wir durch die Winkel φ1 und φ2 beschreiben. Wir beschränken uns auf kleine Auslenkungen, so dass sich die horizontale Auslenkung der Pendelmassen in guter Näherung durch die Größen x1 = ℓφ1 und x2 = ℓφ2 angeben lässt. Dabei haben wir ausgenutzt, dass für kleine Winkel der Sinus seinem Argument gleicht (sin φ ≈ φ für φ ≪ 1). Mit der gleichen Begründung können wir die Komponente der Gewichtskraft, die senkrecht zum Faden steht (−mg sin φ) durch −mgx/ℓ annähern. Da beide Fadenpendel durch eine Feder miteinander gekoppelt sind, wirkt auf das erste Pendel zusätzlich die rücktreibende Federkraft −D(x1 − x2 ) und auf das zweite die Federkraft −D(x2 − x1 ). Dabei haben wir berücksichtigt, dass die Gleichgewichtslänge der Feder gerade gleich dem Abstand der beiden Pendel entspricht. Werden beide Pendel gleich stark ausgelenkt (x1 = x2 ), dann wird die Feder nicht gespannt und übt deshalb auch keine Kraft auf die Massen 111 Abbildung 7.1: Gekoppeltes Pendel. aus. Zusammenfassend können wir jetzt die Bewegung der beiden Pendel durch die Differentialgleichungen mg x1 l mg = −D(x2 − x1 ) − x2 l mẍ1 = −D(x1 − x2 ) − (7.1) mẍ2 (7.2) beschreiben. Es handelt sich hier um gekoppelte Differentialgleichungen, was die Lösung zunächst einmal deutlich erschwert. Als Ausweg führen wir neue Koordinaten x̃1 = x1 − x2 und x̃2 = x1 + x2 ein und bilden neue Differentialgleichungen, indem wir die Differenz und die Summe der Gleichungen (7.1) und (7.2) bilden: mg m(ẍ1 − ẍ2 ) = −2D(x1 − x2 ) − (x1 − x2 ) l mg m(ẍ1 + ẍ2 ) = − (x1 + x2 ) . l (7.3) (7.4) Diese Differentialgleichungen lassen sich mit Hilfe der neuen Koordinaten x̃1 und x̃2 wesentlich vereinfachen: mg mx̃¨1 = − 2D − x̃1 (7.5) l mg mx̃¨2 = − x̃2 . (7.6) l Durch die Verwendung der neuen Variablen ist es uns gelungen, die Differentialgleichungen zu entkoppeln, das heißt Änderungen der Variablen x̃1 und x̃2 sind voneinander unabhängig. Man kann auch sagen, dass die Bewegung von x̃1 senkrecht auf der Bewegung von x̃2 steht, weshalb diese Koordinaten auch als 112 Normalkoordinaten und die zugehörigen Schwingungen als Normalschwingungen bezeichnet werden. Die Differentialgleichungen (7.5) und (7.6) sind bis auf die Benennung der Variablen und Konstanten identisch mit den Gleichungen (??) und (6.23). Als Lösung erhalten wir daher wieder Kosinusfunktionen x̃1 = A1 cos(ω1 t + α1 ) und x̃2 = A2 cos(ω2 t + α2 ) . (7.7) mit den Frequenzen ω1 = g 2D + ℓ m und ω2 = g ℓ (7.8) und den durch Randbedingungen festgelegten Parametern A1 , A2 , α1 und α2 . Nachdem die Differentialgleichungen für die Normalkoordinaten gelöst sind, können wir zu den ursprünglichen Koordinaten zurückkehren. Als allgemeine Lösung erhalten wir 1 1 x1 (t) = A1 cos(ω1 t + α1 ) + A2 cos(ω2 t + α2 ) (7.9) 2 2 1 1 (7.10) x2 (t) = − A1 cos(ω1 t + α1 ) + A2 cos(ω2 t + α2 ) . 2 2 Wir betrachten nun drei besonders interessante Fälle für die Randbedingungen: 1. Für A1 = 0 trägt die Normalkoordinate x̃1 nichts zur Schwingung bei, und beide Massen schwingen im Takt mit der geringeren Frequenz ω2 . Dadurch bleibt der Abstand x2 − x1 der beiden Pendel immer gleich und die Feder wird nicht ausgelenkt. 2. Für A2 = 0 trägt die Normalkoordinate x̃2 nichts zur Schwingung bei, und beide Massen schwingen im Gegentakt mit der höheren Frequenz ω1 . Der Abstand x2 − x1 ändert sich periodisch, wodurch die Feder zwischen den Massen im Wechsel gedehnt und gestaucht wird. 3. Für A1 = A2 = A und α1 = α2 = 0 ist zum Zeitpunkt t = 0 nur das erste Pendel ausgelenkt, während das zweite ruht. Das erste Pendel vollführt keine reine Sinusschwingung sondern eine Überlagerung zweier Sinusschwingungen. Mit Hilfe der Additionstheoreme α+β α−β cos α + cos β = 2 cos cos (7.11) 2 2 α+β α−β − cos α + cos β = 2 sin sin (7.12) 2 2 können wir die Auslenkungen der Pendel als Schwebungen ∆ωt x1 (t) = A cos (ωt) cos 2 ∆ωt x2 (t) = A sin (ωt) sin 2 113 (7.13) (7.14) darstellen, wobei ω = (ω1 + ω2 )/2 als mittlere Frequenz und ∆ω = ω1 − ω2 als Differenzfrequenz definiert werden. Wenn die Frequenzen ω1 und ω2 sich nur wenig unterscheiden, wenn also die Frequenz ∆ω viel kleiner als ω ist, dann können wir von einer Pendelschwingung mit der Frequenz ω sprechen, deren Amplitude mit der Frequenz ∆ω/2 moduliert wird. Der zweite Faktor auf der rechten Seite der Gleichungen (7.13) und (7.14) kann also als Amplitudenmodulation aufgefasst werden. Zum Zeitpunkt t = 0 schwingt das erste Pendel mit einer Amplitude A, während das zweite Pendel ruht. Im weiteren Verlauf der Zeit nimmt die Amplitude des ersten Pendels ab, und das zweite Pendel fängt mit wachsender Amplitude an zu schwingen. Zum Zeitpunkt t1 = π 1 2π = 4 ∆ω/2 ∆ω (7.15) steht in den Sinus- und Kosinusfunktionen, die die Amplitude modulieren, das Argument π 1 ∆ω t1 = , (7.16) 2 2 so dass das erste Pendel die Amplitude Null hat, also ruht, und das zweite Pendel mit der Amplitude A schwingt. Da wir keine Reibung angenommen hatten, muss die gesamte Energie, die zunächst in der Schwingung des ersten Pendels steckte, auf das zweite Pendel übertragen worden sein. Die Energie hat also in der Zeit t1 die Strecke d (Abstand der Pendel) zurückgelegt. Wir bezeichnen die Geschwindigkeit, mit der die Energie sich ausbreitet, mit d , t1 (7.17) d . π/∆ω (7.18) vg = oder vg = Bei der Beschreibung von Wellen, wird diese Geschwindigkeit auch als Gruppengeschwindigkeit bezeichnet. 7.2 Pendelkette Statt zweier gekoppelter Pendel betrachten wir nun eine Kette aus N gleichen gekoppelten Pendeln. Alle Pendel haben die Masse m, die Länge ℓ und voneinander den Abstand d. Die Federn, die benachbarte Pendel koppeln, haben die Gleichgewichtslänge d und die Federkonstante D. Wir nummerieren die Pendel mit dem Index j (j = 1, . . . , N ) und beschreiben die Auslenkung von Pendel j mit der Größe ψi . 114 Wir sprechen von einer harmonischen Welle, die sich in der Pendelkette ausbreitet, wenn sich der Schwingungszustand der Pendel wie folgt beschreiben lässt: j für j = 1, . . . , N (7.19) ψj (t) = A sin ωt − 2π + α n Hier sind die Amplitude A, die Frequenz ω und der Phasenwinkel α konstant, ebenso wie die ganze Zahl n, durch die die räumliche Periodizität der Welle beschrieben wird. Offenbar sind die Pendel mit den Nummern j, j ± n, j ± 2n, . . . alle zueinander in Phase, denn wenn der Index j des Pendels um n erhöht wird, vergrößert sich das Argument der Sinusfunktion um 2π, so dass sich das Ergebnis nicht ändert. Mit anderen Worten, wenn man sich entlang der Pendelkette um n Schritte nach links oder nach rechts bewegt, sieht man keine Änderung im Schwingungszustand der Pendel. Im Hinblick auf kontinuierliche Wellen wollen wir die räumliche Periodizität statt durch n durch die Größe λ = nd (7.20) beschreiben, die wir als Wellenlänge definieren. Wenn wir die Pendelkette entlang der x-Achse eines Koordinatensystems anordnen, können wir die Pendel statt durch den Index i auch durch die Angabe der jeweiligen x-Koordinate x = jd (7.21) benennen. Später können wir den Übergang zum Kontinuum (beispielsweise von der Pendelkette zu einer Saite oder einem Seil) vollziehen, indem wir bei konstanter Länge der Pendelkette (N d = konst.) und bei konstanter Gesamtmasse (N m = konst.) die Anzahl der Pendel gegen unendlich streben lassen (N → ∞). Auf diese Weise können wir den Schwingungszustand der Pendel auch durch x (7.22) ψ(x, t) = A sin ωt − 2π + α λ beschreiben. Diese Schreibweise lässt sich vereinfachen, wenn wir die Wellenzahl 2π (7.23) λ einführen, die wir ebenso wie die Wellenlänge λ zur Beschreibung der räumlichen Periodizität verwenden können. Gleichung (7.22) können wir dann in die Form k= ψ(x, t) = A sin (ωt − kx + α) (7.24) bringen. Der Vorteil der Wellenzahl kommt besonders zum Tragen, wenn wir die Ausbreitung von Wellen im dreidimensionalen Raum beschreiben müssen. Wir verallgemeinern die Wellenzahl dann zum Wellenvektor k, der in die Ausbreitungsrichtung der Welle zeigt und die Wellenzahl k als Betrag hat. Die dreidimensionale Verallgemeinerung von Gleichung (7.24) lautet dann ψ(r, t) = A sin (ωt − k · r + α) . 115 (7.25) 7.3 Phasengeschwindigkeit Das Bild einer harmonischen Welle ist dadurch geprägt, dass die einzelnen Oszillatoren sich zu einem festen Zeitpunkt in ihrer Phase unterscheiden. Trägt man die Auslenkung der Oszillatoren zum Zeitpunkt t1 gegen die x-Achse auf, erhält man gemäß Gleichung (7.24) eine Sinusfunktion, die um die Phase ωt1 + α verschoben ist. Zu einem späteren Zeitpunkt t2 beträgt die Phasenverschiebung ωt2 + α. Bei einer solchen Betrachtung der Welle entsteht der Eindruck, als ob sich eine Sinusfunktion im Verlauf der Zeit mit gleichmäßiger Geschwindigkeit entlang der x-Achse bewegt. Eine so definierte Geschwindigkeit bezeichnen wir als Phasengeschwindigkeit c. Wie wir sehen werden, hängt die Phasengeschwindigkeit von der Frequenz ω und der Wellenlänge λ ab. Dazu betrachten wir den Ort x1 zum Zeitpunkt t1 . Die Welle hat hier die Phase φ = ωt1 − kx1 + α . (7.26) Wir suchen jetzt den Ort x2 an dem die Welle zum späteren Zeitpunkt t2 die gleiche Phase φ = ωt2 − kx2 + α (7.27) hat, so dass gilt ωt1 − kx1 = ωt2 − kx2 , (7.28) k(x2 − x1 ) = ω(t2 − t1 ) . (7.29) oder gleichwertig Offenbar ist x2 = x1 + ω (t2 − t1 ) , k (7.30) so dass wir sagen können, die Welle hat in dem Zeitintervall ∆t = t2 − t1 die Strecke ∆t ω/k zurückgelegt. Deshalb können wir den Ausdruck ω/k als Geschwindigkeit, genauer als Phasengeschwindigkeit c= ω k (7.31) verstehen. Wegen ω = 2πf und k = 2π/λ können wir die Phasengeschwindigkeit auch in der Form c = λf (7.32) schreiben. Falls Frequenz und Wellenzahl linear voneinander abhängen, ist die Phasengeschwindigkeit eine Konstante. Im Allgemeinen ist dies jedoch nicht der Fall, so dass die Phasengeschwindigkeit von Frequenz und Wellenzahl abhängt. 116 7.4 Gruppengeschwindigkeit Die Geschwindigkeit, mit der sich die Phase einer Welle bewegt, ist nicht notwendigerweise gleich der Geschwindigkeit, mit der sich die Energie ausbreitet, die mit der Schwingung der Oszillatoren verbunden ist. Diese Geschwindigkeit, die wir schon bei der Betrachtung zweier gekoppelter Pendel kennengelernt hatten, bezeichnen wir als Gruppengeschwindigkeit vg . Um im Fall der beiden gekoppelten Pendel einen Zusammenhang zwischen vg einerseits und der Frequenz und der Wellenzahl andererseits zu erhalten, ordnen wir den beiden Normalschwingungen aus Abschnitt 7.1 Wellenlängen und Wellenzahlen zu. 1. Die erste Normalschwingung entspricht der Schwingung beider Pendel im Gegentakt, das heißt zwischen beiden Pendeln ist eine Phasenverschiebung von π oder 180◦ vorhanden. Den Abstand d zwischen beiden Pendeln können wir deshalb als halbe Wellenlänge interpretieren, so dass gilt λ = 2d. Die Wellenzahl beträgt dann k = π/d. 2. Die zweite Normalschwingung entspricht der Schwingung beider Pendel im Gleichtakt, das heißt es gibt keine Phasenverschiebung zwischen den Pendeln, so dass wir von einer unendlich großen Wellenlänge (λ = ∞) sprechen könnten. Die Wellen zahl wäre dann Null (k = 0).1 Die Differenz der Wellenzahlen für die beiden Normalschwingungen beträgt also ∆k = π/d. Andersherum gilt d = π/∆k. Setzen wir dies in die Gleichung (7.18) ein, die die Geschwindigkeit der Energieübertragung bei zwei gekoppelten Pendeln beschreibt, dann erhalten wir vg = π/∆k . π/∆ω (7.33) Diese Beziehung gibt Anlass zu der Frage, ob wir die Gruppengeschwindigkeit vielleicht allgemein in der Form vg = ∆ω , ∆k (7.34) oder, wenn wir zum Kontinuum übergehen, in der Form vg = dω dk (7.35) schreiben können. 1 Ebensogut könnten wir argumentieren, die Wellenlänge betrüge λ = d. Dies zeigt, dass eine Pendelkette mit nur zwei Pendeln ein etwas künstliches Modell für die Ausbreitung von Wellen ist. 117 Wenn die Kopplung zwischen den Pendeln stark ist (Dℓ ≫ mg), können wir die Differenz der Frequenzen der beiden Normalschwingungen näherungsweise durch 2D ∆ω ≈ (7.36) m ausdrücken. Mit Hilfe der Gleichungen (5.3) und (5.23) können wir eine Vermutung über die Abhängigkeit der Gruppengeschwindigkeit von Materialeigenschaften des schwingenden Systems, wie der Elastizitätskonstante und der Dichte, aufstellen: √ 2D/m (2EA/d)/(ρAd) ∆ω E 2 = = = . (7.37) ∆k π/d π/d ρ π Wir vermuten also, dass die Gruppengeschwindigkeit proportional zur Wurzel aus dem Quotienten von Elastizitätsmodul und Dichte ist: E . (7.38) vg ∼ ρ 7.5 Wellengleichung Wir betrachten wieder die eindimensionale Pendelkette aus Abschnitt 7.2 und stellen die Bewegungsgleichung für das Pendel auf, das sich an der Stelle x befindet (ähnlich den Bewegungsgleichungen (7.1) und (7.2) für die beiden gekoppelten Pendel in Abschnitt 7.1). Entsprechend dem zweiten Newtonschen Gesetz schreiben wir ∂ 2ψ (7.39) Fg + Fl + Fr = m 2 , ∂t wobei mg Fg = − (7.40) ℓ die rücktreibende Komponente der Schwerkraft, Fl = −D [ψ(x, t) − ψ(x − d, t)] (7.41) die von der linken Feder ausgeübte Kraft und Fr = −D [ψ(x + d, t) − ψ(x, t)] (7.42) die von der rechten Feder ausgeübgte Kraft ist. Mit Hilfe von Taylorentwicklungen nähern wir die Differenzen der Auslenkungen durch ∂ψ 1 2 ∂ 2 ψ + d ∂x 2 ∂x2 ∂ψ 1 2 ∂ 2 ψ ψ(x + d, t) − ψ(x, t) ≈ d + d ∂x 2 ∂x2 ψ(x, t) − ψ(x − d, t) ≈ d 118 (7.43) (7.44) an. Die Summe der durch die beiden Federn ausgeübten Kräfte lautet dann näherungsweise ∂ 2ψ Fl + Fr ≈ −Dd2 2 . (7.45) ∂x Wir können die Bewegungsgleichung jetzt in die Form − ∂ 2ψ mg ∂ 2ψ − Dd2 2 ≈ m 2 ℓ ∂x ∂t (7.46) bringen. Um von dieser Näherung zu einer exakten Gleichung zu kommen, gehen wir von der diskreten Pendelkette zum Kontinuum über, indem wir d gegen Null gehen lassen. Dabei ersetzen wir die Masse m durch den Ausdruck ρAd und die Federkonstante D durch EA/d, wobei A die Querschnittsfläche, E das Elastizitätsmodul und ρ die Dichte des schwingenden Materials ist. Ersetzen wir außerdem den Ausdruck g/ℓ durch die Konstante ω0 , dann erhalten wir schließlich die Wellengleichung E ∂ 2ψ ∂ 2ψ 2 = −ω . ψ + 0 ∂t2 ρ ∂x2 (7.47) Als Lösungsansatz für diese Differentialgleichung betrachten wir harmonische Wellen der Form ψ(x, t) = A sin(ωt − kx + φ) . (7.48) Die erste und die zweite Ableitung nach der Zeit lauten dψ = Aω cos(ωt − kx + φ) dt (7.49) und d2 ψ = −Aω 2 sin(ωt − kx + φ) . dt2 Die zweite Ableitung ist proportional zur ursprünglichen Funktion, d2 ψ = −ω 2 ψ(x, t) , dt2 (7.50) (7.51) und auf die gleiche Weise finden wir einen entsprechenden Zusammenhang für die zweite Ableitung nach dem Ort: d2 ψ = −k 2 ψ(x, t) . dx2 (7.52) Wir setzen nun unseren Lösungsansatz (7.48) in die Wellengleichung (7.47) ein und erhalten E ω 2 ψ = ω02 ψ + k 2 ψ . (7.53) ρ 119 Da diese Gleichung auch für nicht verschwindendes ψ gelten soll, dürfen wir durch ψ kürzen und erhalten ρ k 2 = ω 2 − ω02 (7.54) E oder, was gleichwertig ist, ω= ω02 + k 2 E . ρ (7.55) Unser Ansatz (7.48) ist also genau dann eine Lösung der Wellengleichung (7.47), wenn die Bedingung (7.55) erfüllt ist. Diese Bedingung wird auch als Dispersionsrelation bezeichnet, denn für ω0 ̸= 0 bedeutet diese Bedingung, dass harmonische Wellen mit unterschiedlichen Wellenlängen (und damit auch unterschiedlichen Wellenzahlen) sich unterschiedlich schnell ausbreiten, denn sowohl die Phasengeschwindigkeit ω02 E ω + (7.56) c= = k k2 ρ als auch die Gruppengeschwindigkeit c= E/ρ dω = 2 dk ω0 /k 2 + E/ρ (7.57) hängen von der Wellenzahl und damit von der Wellenlänge ab. Wellenpakete, die man sich als Überlagerung von Sinuswellen vorstellen kann, müssen daher auseinanderlaufen. Nur für den Sonderfall ω0 = 0 erhalten wir für die Phasen und die Gruppengeschwindigkeit den gleichen, konstanten Wert c = vg = E/ρ. Die Wellengleichung (7.47) und die Dispersionsrelation (7.55) sind hier am Beispiel von mechanischen Wellen hergeleitet worden, begegnen uns aber in fast gleicher Form bei der Beschreibung elektromagnetischer Wellen wieder. 7.6 Stehende Wellen Die Ausbreitung von Wellen hängt von den Eigenschaften des schwingenden Mediums ab. Beispielsweise hängen die Phasen- und die Gruppengeschwindigkeit in einem einfachen mechanischen Modell vom Elastizitätsmodul und von der Dichte des schwingenden Systems ab. Bisher haben wir stillschweigend vorausgesetzt, dass diese Materialeigenschaften räumlich und zeitlich unverändert sind. Ist dies nicht der Fall, weil sich etwa das Elastizitätsmodul und die Dichte in Ausbreitungsrichtung der Welle ändern, kann es zu einer teilweisen oder sogar vollständigen Reflexion der Welle kommen. 120 7.6.1 Zwei feste Enden Als einfaches Beispiel betrachten wir eine eindimensionale Welle, die sich auf der x-Achse im Intervall zwischen xl = 0 und xr = a ausbreiten kann. In den Bereichen x < xl und x > xr kann sich die Welle nicht ausbreiten. Weiterhin nehmen wir an, dass die Amplitude an den Orten xl und xr stets Null sein muss, und sprechen deshalb von zwei festen Enden, für die zu allen Zeiten t ψ(xl , t) = ψ(xr , t) = 0 (7.58) gilt. Ein anschauliches Beispiel für diesen Fall ist die Saite eines Musikinstrumentes, die an beiden Enden fest eingespannt ist. Wir nehmen weiterhin an, dass die beiden festen Enden keine Energie aufnehmen oder abgeben. In diesem Fall muss die Energie, die von der Welle mit der Gruppengeschwindigkeit vg zum festen Ende transportiert wird, mit der gleichen Geschwindigkeit wieder zurücktransportiert werden. Wir versuchen deshalb, die resultierende Welle als Summe aus einer einlaufenden und einer auslaufenden Welle zu schreiben, ψ(x, t) = A sin(ωt − kx + α) + A sin(ωt + kx + β) , (7.59) die sich in der Ausbreitungsrichtung (+k oder −k) und in der Phase (α oder β) unterscheiden. Die Phasenverschiebungen α und β müssen für ein festes Ende die Beziehung α = β + π erfüllen. Wir machen uns dies besonders einfach für den Fall xl = 0 klar. Nach Voraussetzung (7.58) ist die Auslenkung hier für alle Zeiten Null, was bedeutet, dass die einlaufende und die auslaufende Welle um 180◦ oder π phasenverschoben sein müssen, damit sie sich stets auslöschen. Wir schreiben nun die resultierende Welle (7.59) mit Hilfe des Additionstheorems α−β α+β cos (7.60) sin(α) + sin(β) = 2 sin 2 2 in der Form ψ(x, t) = 2A sin(ωt + β + π/2) cos(−kx + π/2) . (7.61) Nach weiterer Umformung erhalten wir ψ(x, t) = 2A cos(ωt + β) sin(kx) . (7.62) Damit die Auslenkung am rechten Ende für xr = a dauerhaft verschwindet, muss die Bedingung ka = πn (7.63) für ein ganzzahliges n erfüllt sein. Gleichwertig ist die Bedingung λ= 2a . n 121 (7.64) Wenn die Phasengeschwindigkeit c bekannt ist, können wir auch die Frequenz nc (7.65) f= 2a angeben. Abhängig von der Wahl für n bezeichnen wir die resultierenden Schwingungen als Grund- oder Oberschwingungen (siehe auch Tabelle 7.1). Wir bezeichnen die durch Gleichung (7.62) beschriebenen Welle als stehende Welle, da sich hier weder die Phase noch die Energie räumlich ausbreiten. Daher sind Phasenund Gruppengeschwindigkeit Null. Alle Teile der Pendelkette, des Seils oder der Saite schwingen in Phase“. Die Sinusfunktion auf der rechten Seite von Gleichung ” (7.62) können wir als ortsabhängige Amplitudenmodulation verstehen. Dort wo das Argument kx ein Vielfaches von π ist, verschwindet die Sinusfunktion, und es liegt ein Schwingungsknoten vor, also ein Punkt auf der Saite, der niemals aus der Ruhelage ausgelenkt wird. Ist dagegen kx gleich π/2 ± nπ erreicht der Betrag der Sinusfunktion sein Maximum, und es liegt ein Schwingungsbauch vor. Wellen, die sich zwischen xl und xr ausbreiten und die Bedingung (7.64) nicht erfüllen, lassen sich nicht in der einfachen Form (7.59) schreiben und bilden keine stehenden Wellen. In diesem Fall schwingen die einzelnen Teile der Saite nicht in Phase, was nicht nur die mathematische Beschreibung erschwert, sondern auch die Erzeugung von Schallwellen stark unterdrückt. 7.6.2 Ein stehendes und ein offenes Ende Die Betrachtung eines Systems mit einem festen (xr = a) und einem offenen Ende (xl = 0) verläuft weitgehend analog zum vorherigen Abschnitt. Bei der Reflexion am offenen Ende muss die Auslenkung am Seilende nicht verschwinden. Ein- und auslaufende Welle müssen sich nicht auslöschen, sondern können sich verstärken. Es tritt also kein Phasensprung ein und es gilt α = β. Statt durch (7.61) lässt sich die Welle daher durch ψ(x, t) = 2A sin(ωt + β) cos(kx) (7.66) beschreiben. Damit die Auslenkung ψ an der Stelle xr = a stets Null ist, muss die Bedingung π π (7.67) ka = πn − = (2n − 1) 2 2 für ein ganzzahliges n erfüllt sein. Für die Wellenlänge und die Frequenz erhält man dann 4a λ= (7.68) 2n − 1 und (2n − 1)c f= . (7.69) 4a Ein Beispiel für ein mechanisches schwingendes System mit einem offenen Ende ist die offene Orgelpfeife. 122 Tabelle 7.1: Grund- und Oberschwingungen bei offenen und festen Enden. Schwingung Grundschwingung 1. Oberschwingung 2. Oberschwingung 3. Oberschwingung 7.7 Offenes und festes Ende f λ c/4a 4a 3c/4a 4a/3 5c/4a 4a/5 7c/4a 4a/7 Zwei feste Enden f λ c/2a 2a c/a a 3c/2a 2a/3 2c/a a/2 Doppler-Effekt Die Frequenz und die Wellenlänge einer harmonischen Welle hängen vom Bewegungszustand des Beobachters ab: Wer sich auf eine Schallquelle zubewegt hört einen höheren Ton (höhere Frequenz und kleinere Wellenlänge) als ein ruhender Beobachter. Auch das Licht eines Sternes, der sich von der Erde entfernt, erscheint uns langwelliger (und damit niederfrequenter) als einem Beobachter, der sich mit dem Stern bewegt. Diese Beobachtungen werden unter dem Begriff Doppler-Effekt (nach dem österreichischen Mathematiker und Physiker Christian Johann Doppler) zusammengefasst. Der Doppler-Effekt lässt sich in der Physik auf allen Skalenebenen beobachten: bei der Rotverschiebung von Sternenlicht, der Frequenzänderung von Schallsignalen oder bei der resonanten Absorption von γ-Quanten durch Atomkerne (Mössbauer-Effekt). Es gibt in den Naturwissenschaften und in der Technik zahlreiche Anwendungen des Doppler-Effektes. Zwei Beispiele dafür sind die Herstellung ultrakalter Atome und die Farb-DopplerSonografie zur Messung der Blutströmung. Wir betrachten im Folgenden nur den einfachen Sonderfall, dass Sender und Empfänger einer ebenen Welle sich parallel zur Ausbreitungsrichtung der Welle bewegen. Sender und Empfänger bewegen sich mit der konstanten Geschwindigkeit vs beziehungsweise ve in positive x-Richtung. Zum Zeitpunkt t1 strahlt der Sender die Wellenfront 1 ab, die der Empfänger zur Zeit t1 +∆t1 registriert. Diese Wellenfront legt daher in dem Zeitintervall ∆t1 die Strecke c∆t1 = s1 + ve ∆t1 (7.70) zurück, wenn c die Phasengeschwindigkeit der Welle und s1 der Abstand zwischen Sender und Empfänger zur Zeit t1 ist. Wenn wir mit T die Periode der Welle aus Sicht des Senders bezeichnen, dann wird die nächste Wellenfront zur Zeit t2 = t1 + T (7.71) abgestrahlt. Zu diesem Zeitpunkt haben Sender und Empfänger den Abstand s2 = s1 − vs T + ve T . 123 (7.72) Bis zum Zeitpunkt t2 + ∆t2 , zu dem die Wellenfront 2 vom Empfänger registriert wird, legt die Wellenfront die Strecke c∆t2 = s2 + ve ∆t2 = s1 + (ve − vs )T + ve ∆t2 (7.73) zurück. Wenn wir Gleichung (7.70) nach s1 auflösen und den so erhaltenen Ausdruck für s1 in Gleichung (7.73) einsetzen, dann erhalten wir c∆t2 = c∆t1 − ve ∆t1 + (ve − vs )T + ve ∆t2 (7.74) und nach weiterer Umformung (c − ve )(∆t2 − ∆t1 ) = (ve − vs )T . (7.75) Die Zeitdifferenz T ′ = (t2 + ∆t2 ) − (t1 + ∆t1 ) = (t1 + ∆t2 + T ) − (t1 + ∆t1 ) = T + ∆t2 − ∆t1 (7.76) entspricht der Periodendauer aus der Sicht des Empfängers. Mit Hilfe von T ′ bringen wir Gleichung (7.75) in die Form (c − ve )(T ′ − T ) = (ve − vs )T . (7.77) Auflösung nach T ′ ergibt c − vs . (7.78) c − ve Mit Hilfe von T = 1/f und c = λf erhalten wir die Beziehungen c − ve f′ = f (7.79) c − vs und c − vs λ′ = λ (7.80) c − ve für die Frequenz und die Wellenlänge, die der Empfänger beobachtet. Bei Wellen, die sich in einem Medium ausbreiten, wie zum Beispiel Schallwellen, werden die Geschwindigkeiten von Sender und Empfänger relativ zum Medium angegeben. Im Fall von elektromagnetischen Wellen gibt es kein Medium, und wir können den Empfänger immer als ruhend ansehen (ve = 0), während die Geschwindigkeit des Senders relativ zum Empfänger angegeben wird. Der Empfänger misst dann die Frequenz 1 f′ = f . (7.81) 1 − vs /c T′ = T Wenn die Geschwindigkeit des Senders nicht zu groß ist, also vs ≪ c gilt, können wir Gleichung (7.81) in guter Näherung durch vs f′ ≈ f 1 + (7.82) c ersetzen. Ist vs dagegen groß, müssen wir (7.81) durch eine relativistische Formel ersetzen. 124 Teil II Wärmelehre 125 Kapitel 8 Innere Energie In der Mechanik behandeln wir üblicherweise Probleme, die sich durch wenige Koordinaten, wir sprechen auch von Freiheitsgraden, beschreiben lassen. Eine Punktmasse beispielsweise hat drei Freiheitsgrade, nämlich die drei kartesischen Koordinaten, die die Lage der Punktmasse im Raum beschreiben. Auch ausgedehnte Körper lassen sich mit wenigen Freiheitsgraden beschreiben, sofern wir sie als starre Körper auffassen dürfen. In diesem Falle treten zu den Lagekoordinaten des Schwerpunktes noch drei weitere Koordinaten für die Orientierung des starren Körpers im Raum. Es treten in der Mechanik jedoch auch Probleme auf, die sich mit wenigen Freiheitsgraden nicht vollständig beschreiben lassen. Ein Beispiel dafür ist der inelastische Stoß. Hier wird ide kinetische Energie der Stoßpartner in eine andere Energieform umgewandelt, die sich nicht durch wenige mechanische Freiheitsgrade beschreiben läßt. Wir bezeichnen diese Energieform als Innere Energie“ des ” Körpers. Zur Inneren Energie zählen wir die ungeordnete, mikroskopische kinetische und potentielle Energie der Atome. Als ungeordnet“ bezeichnen wir dabei ” den Teil der Energie, der sich nicht durch makroskopische Koordinaten beschreiben läßt. Betrachten wir als Beispiel einen Körper, der aus N Atomen mit den Massen mi und den Geschwindigkeiten vi (i = 1, . . . , N ) besteht. Die gesamte kinetische Energie lautet dann N 1 2 i=1 Wenn wir die Gesamtmasse M= mi vi2 N mi (8.1) (8.2) i=1 und die Massenmittelpunktsgeschwindigkeit N 1 V= m i vi M i=1 127 (8.3) einführen, können wir die Summe der kinetischen Energie in einen makroskopischen Anteil T und einen mikroskopischen Anteil U zerlegen: N 1 i=1 2 mi vi2 = = = = N 1 i=1 N i=1 N i=1 N i=1 2 mi (vi − V + V)2 N N 1 1 1 mi (vi − V)2 + mi V2 + 2 mi (vi − V) · V 2 2 2 i=1 i=1 N 1 1 1 mi (vi − V)2 + M V2 + 2 mi vi · V − M V2 2 2 2 i=1 1 1 mi (vi − V)2 − M V2 2 2 = T +U (8.4) Auf ähnliche Weise läßt sich auch die potentielle Energie in einen mikroskopischen und einen makroskopischen Anteil zerlegen. Ein einfacher, äußerlich sichtbarer Maßstab für die Menge an innerer Energie eines Körpers ist dessen Volumen. Im Allgemeinen wächst das Volumen eines Körpers mit dessen Innerer Energie. Bei Kristallen ist dies ein Beleg für den Näherungscharakter des Hookeschen Gesetzes: Wäre die Bindungskraft zwischen benachbarten Atomen in einem Kristall vollkommen linear, dann wäre die potentielle Energie vollkommen harmonisch, also quadratisch im Bindungsabstand. Der durchschnittliche Bindungsabstand wäre dann unabhängig von der mittleren potentiellen Energie. Tatsächlich ist die potentielle Energie aber leicht anharmonisch. Eine Erhöhung des Bindungsabstands erfordert etwas weniger Energie als eine Verringerung des Abstands um den gleichen Betrag. Die bekannteste Ausnahme von der Regel, daß das Volumen mit der Inneren Energie wächst, ist die Dichteanomalie des Wassers. In einem engen Temperaturbereich zwischen dem Gefrierpunkt und etwa 4◦ C sinkt das Volumen einer Wassermenge mit zunehmender Innerer Energie. Will man über den qualitativen Zusammenhang zwischen Volumen und Innerer Energie hinaus eine quantitative Beziehung aufstellen, muß man stoffspezifische Konstanten bestimmen, da das Ausmaß der Volumenausdehnung vom jeweiligen Material abhängt. 8.1 Thermodynamisches Gleichgewicht Wir stellen fest, daß zwei Körper sich im thermischen Kontakt befinden, wenn sie Innere Energie austauschen können. Unter Austausch von Innerer Energie wollen wir im Folgenden verstehen, daß die Innere Energie des einen Körpers zunimmt, während die Innere Energie des anderen Körpers abnimmt. Sofern sich 128 zwei Körper berühren, wird es immer zu einem Energieaustausch auf mikroskopischer Ebene zwischen Atomen beider Körper kommen. Wenn die Summe all dieser mikroskopischen Energieübertragungen Null ergibt, findet kein Austausch Innerer Energie statt. Mit Hilfe des Begriffs Austausch Innerer Energie“ definieren wir dei folgende ” Beziehung zwischen zwei Körpern: Zwei Körper, die sich in thermischen Kontakt befinden und keine Innere Energie austauschen, befinden sich miteinander im thermodynamischen Gleichgewicht. Eine Möglichkeit, den Austausch Innerer Energie auf mechanischem Wege festzustellen, besteht darin, die Volumina der Körper zu beobachten. Als Beispiel betrachten wir zwei Eisenwürfel gleicher Masse, die aufeinander gelegt werden. Wenn sich daraufhin der eine Würfel ausdehnt, und der andere Würfel zusammenzieht, können wir davon ausgehen, daß die Würfel sich in thermischem Kontakt befinden und Innere Energie austauschen. Offenbar sind die Würfel dann nicht miteinander im thermodynamischen Gleichgewicht. Ein solches Gleichgewicht ist erst vorhanden, wenn beide Würfel ihr Volumen nicht mehr ändern. Aufgrund der besonderen Symmetrie dieses Beispiels werden beide Eisenwürfel dann das gleiche Volumen haben. Wenn wir jetzt den ersten Eisenwürfel entfernen und auf einen dritten Eisenwürfel gleicher Masse und gleichen Volumens legen, dann erwarten wir auch hier keinen Austausch Innerer Energie, denn welcher der beiden völlig identischen Würfel sollte sich ausdehnen, und welcher sollte sich zusammenziehen? Wenn unsere Vermutung richtig ist, und damit auch der erste und der dritte Eisenwürfel miteinander im thermodynamischen Gleichgewicht stehen, dann können wir auf analoge Weise schlußfolgern, daß auch der zweite und der dritte Würfel miteinander im thermodynamischen Gleichgewicht stehen müssen. 8.2 Nullter Hauptsatz der Thermodynamik Eine wesentlich allgemeinere Fassung der zuletzt geäußerten Vermutung ist der Nullte Hauptsatz der Thermodynamik: Nullter Hauptsatz der Thermodynamik Sind zwei Systeme jeweils im thermodynamischen Gleichgewicht mit einem dritten System, dann sind sie auch miteinander im thermodynamischen Gleichgewicht. Die etwas ungewöhnliche Formulierung Nullter Hauptsatz“rührt daher, daß erst ” verhältnismäßig spät, nämlich nach der Formulierung der übrigen drei Hauptsätze der Thermodynamik, erkannt wurde, daß die Aussage des Nullten Hauptsatzes nicht selbstverständlich ist, sondern als Axiom benötigt wird, um zusammen mit den übrigen drei Hauptsätzen die Grundlage für die Ableitung der bekannten 129 Lehrsätze der Thermodynamik zu legen. Die Feststellung miteinander im ther” modynamischen Gleichgewicht zu stehen“, ist also übertragbar oder transitiv. Es liegt daher nahe, eine physikalische Größe zu suchen, die für jedes System definiert ist, und durch deren Vergleich sich feststellen läßt, ob zwei Systeme im thermodynamischen Gleichgewicht miteinander sind. Sofern man sich auf gleichartige Systeme, wie die oben betrachteten Eisenwürfel beschränkt, könnte man auch die Innere Energie zu diesem Zweck verwenden. Zwei Eisenwürfel gleicher Masse sind genau dann im thermodynamischen Gleichgewicht, wenn sie die gleiche Menge an innerer Energie enthalten. Betrachtet man Eisenwürfel mit unterschiedlichen Massen, dann gilt dies nicht. Man kann sich aber behelfen, wenn man statt der Inneren Energie selbst eine abgeleitete Größe, die Innere Energie pro Masse betrachtet. Diese abgeleitete Größe ist eine intensive Größe, das heißt sie hängt nicht von der Stoffmenge ab. Weitere Beispiele für intensive Größen sind die Dichte oder der Druck. Die Innere Energie selbst dagegen ist eine extensive Größe, sie wächst linear mit der Stoffmenge. Weitere Beispiele für extensive Größen sind die Masse oder das Volumen. Zwei Eisenwürfel sind nun genau dann im thermodynamischen Gleichgewicht, wenn sie die gleiche Innere Energie pro Masse aufweisen. Dies gilt jedoch nur, weil beide Würfel aus dem selben Stoff, in diesem Fall aus Eisen, sind. Bringt man zwei Körper aus verschiedenen Stoffen zusammen, zum Beispiel aus Eisen und aus Kupfer, dann ist diese Aussage nicht mehr zutreffend. Legt man zwei Würfel aus Eisen und aus Kupfer zusammen, wobei beide die gleiche Menge an Innerer Energie pro Masse haben sollen, dann wird der Kupferwürfel Innere Energie auf den Eisenwürfel übertragen. Der Eisen- und der Kupferwürfel sind also nicht im thermodynamischen Gleichgewicht, obwohl sie die gleiche Menge an Innere Energie pro Masse besitzen. 8.3 Temperatur Die physikalische Größe, die aussagt, ob zwei Körper miteinander im thermodynamischen Gleichgewicht sind, nennen wir Temperatur. Zwei Körper, die sich miteinander im thermodynamischen Gleichgewicht befinden, sollen die gleiche Temperatur besitzen. Um einem Körper sinnvoll eine Temperatur zuzuordnen, nehmen wir dabei an, daß sich der Körper mit sich selbst im Gleichgewicht befindet, was heißen soll, daß, wenn wir den Körper in zwei Hälften zerschneiden, sich diese Hälften im thermodynamischen Gleichgewicht miteinander befinden sollen. Dies soll auch einem dritten Körper gegenüber gelten, mit dem sich der erste Körper vorher im Gleichgewicht befand. Daher muß die Temperatur eine intensive Größe sein. Legen wir die Temperaturskala zusätzlich so fest, daß ein Körper, der keinerlei Innere Energie mehr abgeben kann, die Temperatur Null zugewiesen bekommt, dann sprechen wir von einer absoluten Temperaturskala. Im 18. und 19. Jahrhundert wurden eine Reihe von verschiedenen Temperaturskalen entwickelt 130 Tabelle 8.1: Temperaturskalen. Skala Einheit Einheitenzeichen Unterer Fixpunkt Oberer Fixpunkt Celsius Grad Celsius ◦ C Gefrierpunkt des Wassers: 0◦ C Siedepunkt des Wassers: 100◦ C Fahrenheit Grad Fahrenheit ◦ F Temperatur einer Kältemischung 0◦ F Körpertemperatur des Menschen 98,6◦ F (siehe auch Tabelle ??), die durch unterschiedliche Fixpunkte festgelegt werden und nach den Naturforschern Isaac Newton, Ole Römer, Daniel Gabriel Fahrenheit, Anders Celsius, Joseph-Nicolas Delisle, William Rankine, Rene-Antoine Ferchault de Reaumur und William Thomson Lord Kelvin benannt sind. Als Fixpunkte werden häufig die Schmelz- und Siedepunkte von festem beziehungsweise flüssigen reinem Wasser, manchmal auch die Schmelzpunkte von Salzlösungen verwendet, nur die Rankine- und die Kelvin-Skala sind absolute TemperaturSkalen. Heute sind im Alltag nur die Celsius- und die Fahrenheit-Skala (USA) gebräuchlich. Im Internationalen Einheitensystem (SI) ist das Kelvin als Temperatureinheit festgelegt. 8.4 Thermometer Meßgeraäte, die die Temperatur eines Körpers messen, nennen wir Thermometer. Zu den ältesten Thermometern gehört das Quecksilberthermometer, das zur Gruppe der Flüssigkeitsthermometer gehört. Der deutsche Physiker Daniel Gabriel Fahrenheit (1686-1736) entwickelte als erster ein solches Thermometer mit einer Skala. Dieses Thermometer besteht aus einer mit Quecksilber gefüllten Glassäule. Mit zunehmender Temperatur dehnt sich das Quecksilber aus und steigt in der Glassäule auf. Durch den niedrigen Schmelzpunkt (-38◦ C) und den hohen Siedepunkt (+350◦ C) ist das Quecksilberthermometer in einem weiten Temperaturbereich einsetzbar. Dieser Bereich läßt sich durch die Zugabe von weiteren Stoffen zum Quecksilber mehr als verdoppeln. Aufgrund der Giftigkeit von Quecksilber ist der Verkauf dieser Thermometer mittlerweile in vielen Ländern verboten. Andere Flüssigkeitsthermometer verwenden Alkohol oder eine Galliumlegierung statt Quecksilber als thermometrische Flüssigkeit. Auch die temperaturabhängige Ausdehnung von Gasen und festen Körpern wird zur Temperaturmessung verwendet. Abb. 8.1 zeigt ein Beispiel für ein Gasthermometern. Beim Bimetallstreifenthermometer dehnen sich die beiden Metalle, aus denen der Bimetallstreifen besteht, bei einer Temperaturänderung unterschiedlich stark aus, was zu einer Biegung des Streifens führt. Um eine möglichst große Empfindlichkeit zu erhalten, wird ein möglichst langer Streifen gewählt, der zu einer Spirale aufgewickelt wird. 131 Kelvin Kelvin K Absoluter Temperatur Tripelpunkt des Was h pGas=ρgh Abbildung 8.1: Gasthermometer Alle bisher aufgezählten Thermometer lassen sich unter dem Oberbegriff Ausdehnungsthermometer zusammenfassen. 132 Kapitel 9 Wärme und Temperatur 9.1 Wärme Nach Definition tauschen zwei Körper, die sich im thermischen Kontakt aber nicht im thermodynamischen Gleichgewicht befinden, Innere Energie aus. Dieser Energieaustausch verläuft spontan, also ohne äußeres Zutun, und ist mikroskopisch ungeordnet. Eine Menge Innerer Energie, die auf diese Weise ausgetauscht wird, nennen wir Wärme. Anders als bei der Inneren Energie, die wir als Zustandsgröße bezeichnen, ist die Wärme also eine Flußgröße. 9.1.1 Wärmekapazität Die spezifische Wärmekapazität c ist eine stoffabhängige Größe, die einen linearen Zusammenhang zwischen der Wärme Q, die einem Körper der Masse m zugeführt wird, und der Temperaturerhöhung ∆T , die sich daraus ergibt: Q = cm∆T . (9.1) Bei Gasen unterscheidet man zwischen der spezifischen Wärmekapazität bei konstantem Volumen, cV , und der spezifischen Wärmekapazität bei konstantem Druck, cp . Aufgrund der Arbeit, die ein sich ausdehnendes Gas gegen den konstanten äußeren Druck leistet, ist cp stets größer als cV . So ist für Luft cV ≈ 0, 72 kJ kg−1 K−1 gegenüber cp ≈ 1, 01 kJ kg−1 K−1 . Aufgrund Inkompressibilität von Flüssigkeiten und festen Körpern ist die Volumenarbeit p∆V in diesen Fällen nahezu Null, so daß nicht zwischen cV und cp unterschieden werden muß. Unter den Flüssigkeiten weist Wasser eine besonders hohe spezifische Wärmekapazität von 4186 kJ kg−1 K−1 auf, die etwa zehnmal so groß ist wie die entsprechenden Werte für Stahl (0,47 kJ kg−1 K−1 ) und Kupfer (0,39 kJ kg−1 K−1 ). 133 9.1.2 Verdampfungswärme Der näherungsweise lineare Zusammenhang zwischen zugeführter Wärme und Temperaturerhöhung ist unter bestimmten Bedingungen nicht gegeben, zum Beispiel dann nicht, wenn ein fester Körper schmilzt. Wir sprechen dann von einem Phasenübergang. Wird etwa Eis bei einer Temperatur von 0◦ C Wärme zugeführt, schmilzt ein Teil des Eises, ohne daß jedoch eine Temperaturerhöhung beobachtet wird. Erst wenn das Eis vollständig geschmolzen ist, also von der festen in die flüssige Phase übergegangen ist, führt eine weitere Wärmezufuhr zu einer Temperaturerhöhung. Die Wärme Q, die einem festen Körper zugeführt werden muß, damit eine Teilmasse ∆m dieses Körpers von der festen in die flüssige Phase übergeht, läßt sich mit Hilfe der Schmelzwärme q berechnen: Q = q∆m . (9.2) Eis hat eine Schmelzwärme von 334 kJ K−1 und Kupfer eine Schmelzwärme von 205 kJ K−1 . Beim Übergang von der flüssigen in die gasförmige Phase sprechen wir von einer Verdampfungswärme. Diese ist bei Wasser besonders hoch (2260 kJ K−1 ), während Äthanol (842 kJ K−1 ) oder flüssiger Stickstoff (198 kJ K−1 ) weisen niedrigere Verdampfungswärmen auf. 9.2 Erster Hauptsatz der Thermodynamik Der erste Hauptsatz der Thermodynamik stellt fest, daß der Energieerhaltungssatz auch bei Austausch von Wärmeenergie gilt. Die Änderung der Inneren Energie eines Körpers, dU , ist demnach gleich der Summe aus der Arbeit δW , die an dem Körper geleistet wird, und der Wärme δQ, die ihm zugeführt wird: dU = δW + δQ 134 (9.3) Kapitel 10 Entropie Ein Zustand wird durch Zustandsgrößen, wie etwa Druck, Volumen oder Temperatur festgelegt. Zwei Zustände heißen adiabatisch äquivalent, wenn das System ohne Wärmeabgabe oder Aufnahme von Wärme reversibel von dem einen Zustand in den anderen Zustand übergehen kann. Ein Zustand X ist vom Zustand Y aus adiabatisch erreichbar, wenn das System ohne Wärmeänderung von Y nach X übergehen kann. Jedem Zustand wird eine Entropie zugeordnet, derart, daß • zwei Zustände die gleiche Entropie haben, wenn sie adiabatisch äquivalent sind, • Zustand X eine größere Entropie als Zustand Y hat, wenn X von Y adiabatisch erreichbar ist, • die Entropie eine extensive Größe ist, also linear mit der Systemgröße zunimmt. Die Entropie ist dann bis auf einen konstanten Faktor und bis auf eine additive Konstante bestimmt. Die Entropie S eines Zustands X ist ein logarithmisches Maß für die Anzahl der Zustände, von denen aus X erreicht werden kann. In Abbildung 10.1 sind zwei Beispiele für Vorgänge abgebildet, bei denen die Entropie wächst beziehungsweise konstant bleibt. 10.1 Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik In einem abgeschlossenen System wird die Entropie nie kleiner: dS ≥ 0 . (10.1) Befindet sich ein System im thermodynamischen Gleichgewicht, dann gilt dS = 0. 135 Abbildung 10.1: Im Fall a) wird die Entropie erhöht, bei der adiabatischen Expansion unter b) bleibt die Entropie konstant. Betrachten wir zwei Körper, 1 und 2, die sich miteinander im thermodynamischen Gleichgewicht befinden. Angenommen eine infinitesimal kleine Wärmemenge dQ2 flösse vom Körper 1 in den Körper 2. Würde sich dann die gesamte Entropie beider Körper erhöhen (dS > 0), könnte dieser Vorgang spontan ablaufen, und die Körper wären nicht im thermodynamischen Gleichgewicht - im Widerspruch zur Voraussetzung. Auch eine Verringerung der Entropie (dS < 0) führt zum Widerspruch, denn dann würde ein infinitesimaler Wärmefluß in umgekehrter Richtung spontan ablaufen. Daher muß im thermodynamischen Gleichgewicht die Änderung der Entropie des Gesamtsystems verschwinden (dS = 0), wenn eine infinitesimale Wärmemenge ausgetauscht wird. Wir können die Entropie des Gesamtsystems als Summe der Entropiewerte für die Körper 1 und 2 schreiben, S = S1 + S2 . (10.2) Aus dS = 0 folgt dann dS dS + =0. (10.3) dQ2 dQ2 Da die Körper 1 und 2 ein abgeschlossenes System bilden sollen, und keine Arbeit geleistet werden soll, muß die Wärme dQ2 , die Körper 2 aufnimmt, Körper 1 entzogen werden, das heißt es gilt dQ1 = −dQ2 . (10.4) Im thermodynamischen Gleichgewicht muß daher gelten: dS1 dS2 = . dQ1 dQ2 136 (10.5) Mit dem Ausdruck dS 1 = dQ T (10.6) haben wir eine allgemeingültige, makroskopische Definition der Temperatur gefunden. Für den Entropiezuwachs eines Systems bei einer infinitesimalen Wärmezufuhr dS folgern wir daraus dQ dS = . (10.7) T Ein gegebener Wärmezufluß dQ führt daher bei einem kalten System zu einer größeren Entropiezunahme als bei einem heißen System. 137 138 Kapitel 11 Das Ideale Gas Wir betrachten ein Ensemble von N Teilchen mit gleicher Masse m und den Geschwindigkeiten vi (i = 1, . . . , N ), die sich in einem konstanten Volumen V befinden. Wir fragen uns jetzt wieviele verschiedene Zustände das Ensemble annehmen kann, wenn seine Gesamtenergie maximal E beträgt. Ein Zustand des Ensembles soll durch die Angabe des N -Tupels (v1 , v2 , . . . , vN ) beschrieben werden. Wir betrachten zwei Zustände als verschieden, wenn sich mindestens für ein Teilchen die Geschwindigkeit sich um einen Vektor ∆vi unterscheidet, dessen Betrag größer als eine Schranke s ist. Die Positionen der Teilchen beachten wir nicht: unabhängig von der zur Verfügung stehenden Energie können alle Teilchen immer alle Positionen innerhalb des vorgegebenen Volumens einnehmen. Die so definierte Anzahl der Zustände bezeichnen wir mit Φ(E). Neben wir zunächst an, das Ensemble besteht aus einem einzigen Teilchen (N = 1), dem die Energie ϵ = E zur Verfügung steht. Für alle erlaubten Geschwindigkeitsvektoren v1 gilt dann m 2 v ≤ϵ. (11.1) 2 1 Alle Geschwindigkeitsvektoren liegen daher in einer Kugel mit dem Radius ϵ1/2 . Die Anzahl der Geschwindigkeitszustände ist proportional zum Volumen dieser Kugel, so daß gilt: Φ(E) ∼ ϵ3/2 . (11.2) Im Fall von mehreren Teilchen (N > 1) nehmen wir vereinfachend an, daß jedem Teilchen maximal seine mittlere Energie ϵ = E/N zur Verfügung steht. Dann ist für jedes Teilchen die Anzahl der Zustände unabhängig von dem Zustand der übrigen Teilchen, und wir können die Anzahl der Zustände einfach als N -faches Produnkt der rechten Seite von (11.2) schreiben: 3N/2 3/2 N E Φ(E) ∼ ϵ = . (11.3) N Tatsächlich ermöglicht eine niedrige Geschwindigkeit eines Teilchens einem anderen Teilchen eine höhere Energie, so daß die Beziehung (??) zu einfach ist. Für 139 genügend große N ist die Proportionalität zu (E/N )3N/2 aber richtig. Die Anzahl der Zustände, die das Ensemble einnehmen kann, wenn seine Gesamtenergie im Intervall zwischen E und E + ∆E liegt, können wir als Differenz Ω(E) = Φ(E + ∆E) − Φ(E) schreiben. Wenn ∆E klein ist, läßt sich diese Differenz in der Form 3N −1 dΦ 3N E 2 ∆E = ∆E Ω(E) = dE 2 N (11.4) (11.5) schreiben. Für Teilchenzahlen N von der Größenordnung der Avogadro-Zahl ist (3N/2) − 1 praktisch gleich 3N/2: 3N Ω(E) = 2 E N 3N 2 ∆E (11.6) Wir definieren die Entropie als S = kB ln Ω (11.7) 3N kB ln(E/N ) . 2 (11.8) und erhalten dann aus (11.6) S= Daraus folgt 3N 1 dS = kB dE 2 E (11.9) und damit 3 ϵ = kB T 2 Die letzte Beziehung wird als Gleichverteilungssatz bezeichnet. (11.10) Boltzmann-Verteilung Wir betrachten ein ideales Gas und bezeichnen mit w(ϵ) die Wahrscheinlichkeit, daß ein beliebiges Teilchen des Gases eine Energie aus dem Intervall von ϵ bis ϵ+dϵ besitzt. Das Gas soll sich im Gleichgewicht befinden, so daß die Wahrscheinlichkeit w(ϵ) unabhängig von der Zeit ist. Betrachten wir jetzt einen vollkommen elastischen Stoß zweier Teilchen. Offenbar ist die Wahrscheinlichkeit, daß einer der beiden Stoßpartner die Energie ϵ1 und der andere die Energie ϵ2 hat, durch das Produkt w(ϵ1 )w(ϵ2 ) gegeben. Entsprechend ist durch w(ϵ′1 )w(ϵ′2 ) die Wahrscheinlichkeit gegeben, daß nach dem Stoß einer der Stoßpartner die Energie ϵ′1 und der andere die Energie ϵ′2 hat. Da der Stoß elastisch war, bleibt die Gesamtenergie der Stoßpartner erhalten: ϵ1 + ϵ2 = ϵ′1 + ϵ′2 . (11.11) 140 Nehmen wir an, die Wahrscheinlichkeit, vor dem Stoß die Energiewerte ϵ1 und ϵ2 zu beobachten, wäre größer als die Wahrscheinlichkeit nach dem Stoß die Energiewerte ϵ′1 und ϵ′2 zu beobachten. Dann würde gelten w(ϵ1 )w(ϵ2 ) > w(ϵ′1 )w(ϵ′2 ) . (11.12) Daraus ergäbe sich die Folgerung, daß sich mehr Stoßvorgänge ereigneten, bei denen die Teilchen vorher die Energiewerte ϵ1 und ϵ2 und nachher die Energiewerte ϵ′1 und ϵ′2 besäßen. Die Wahrscheinlichkeiten w(ϵ1 ) und w(ϵ2 ) müßten dann im Laufe der Zeit kleiner und die Wahrscheinlichkeiten w(ϵ′1 ) und w(ϵ′2 ) größer werden. Dies stünde aber im Widerspruch zur Voraussetzung des Gleichgewichts. Die Annahme (11.12) kann deshalb nicht richtig sein, und es folgt w(ϵ1 )w(ϵ2 ) = w(ϵ′1 )w(ϵ′2 ) . (11.13) Zu einem fest gewählten Paar von Energiewerten ϵ1 und ϵ2 für die Teilchen vor dem Stoß passen viele verschiedene Paare von Energiewerten ϵ′1 und ϵ′2 nach dem Stoß, die nur die Bedingung (11.11) erfüllen müssen. Da die linke Seite von Gleichung (11.13) unverändert bleibt, darf sich auch die rechte Seite von Gleichung (11.13) nicht ändern. Das bedeutet, daß der Ausdruck w(ϵ1 )w(ϵ2 ) nur von der Summe ϵ′1 + ϵ′2 nicht aber von den einzelnen Werten ϵ′1 und ϵ′2 abhängt. Diese Bedingung wird erfüllt, wenn (und nur wenn) wir die Wahrscheinlichkeit w(ϵ) in der Form w(ϵ) ∼ e−ϵ/a (11.14) schreiben. Hier soll a eine positive Konstante sein, denn für unendlich große Energiewerte ϵ soll die Wahrscheinlichkeit w(ϵ) verschwinden. Es zeigt sich, daß a gleich der mittleren Energie (3/2)kB T ist, so daß gilt w(ϵ) ∼ e−ϵ/(3/2)kB T . (11.15) Diese Wahrscheinlichkeitsverteilung wird als Boltzmann-Verteilung bezeichnet. Da die Energie eines jeden Teilchens ausschließlich kinetische Energie sein soll, so daß gilt ϵ = mv 2 /2, kann man aus der Boltzmann-Verteilung für die Energie der Teilchen auch eine Verteilung für die Geschwindigkeit der Teilchen ableiten: 3/2 m 2 2 w(v) = v 2 e−mv /kB T . (11.16) π kB T Diese Verteilung wird als Maxwellsche (oder auch als Maxwell-Boltzmannsche) Geschwindigkeitsverteilung bezeichnet. 11.0.1 Adiabatengleichung Wir nennen einen Vorgang adiabatisch, wenn dabei keine Wärme ausgetauscht wird. Die Expansion eines Gases beispielsweise ist näherungsweise adiabatisch, 141 wenn die Expansion so schnell verläuft, daß keine Zeit für einen nennenswerten Austausch von Wärme bleibt. Nach dem ersten Hauptsatz der Thermodynamik ist in diesem Fall der Betrag an innerer Energie, die das Gas verliert, genauso groß wie die Arbeit, die das Gas leistet: dU = dW . (11.17) Die linke Seite dieser Gleichung können wir mit Hilfe der molaren Wärmekapazität bei konstantem Volumen schreiben; Die rechte Seite ist das Produkt aus Druck und Volumenänderung. Wir erhalten somit nCV dT = −pdV , (11.18) oder dV f , (11.19) n RdT = −nRT 2 V wenn wir den Druck mit Hilfe der Zustandsgleichung idealer Gase eliminieren, und Ausdruck (??) für die molare Wärmekapazität einsetzen. Wir kürzen und separieren die Zustandsgrößen T und V und erhalten so dV f dT =− . (11.20) 2 T V Integration beider Seiten dieser Gleichung von den Grenzen T1 bis T2 , beziehungsweise V1 = V (T1 ) bis V2 = V (T2 ) liefert T1 V1 f ln = − ln . (11.21) 2 T2 V2 Da die Grenzen T1 und T2 beliebig gewählt werden können, muß allgemein gelten f ln T ∼ − ln V . 2 Wir exponentieren beide Seiten und erhalten V ∼ T −f /2 . (11.22) (11.23) Da nach der Zustandsgleichung idealer Gase der Druck proportional zum Quotienten aus Temperatur und Volumen ist, folgt p ∼ T 1+f /2 . (11.24) Wenn wir die Zahl der Freiheitsgrade f durch den Adiabatenexponenten γ = (f + 2)/f ersetzen, erhalten wir die Adiabatengleichung in der Form p ∼ T γ/(γ−1) (11.25) oder dazu gleichwertig in der Form p∼Vγ . 142 (11.26) 11.1 Zustandsgleichung idealer Gase Wir betrachten einen würfelförmigen Kasten mit der Seitenlänge a, in dem sich N Teilchen befinden sollen, die sich mit dem Index i = 1, . . . , N nummerieren lassen. Ein willkürlich herausgegriffenes Teilchen j mit der Masse m sei gerade elastisch von der linken Kastenwand (x = −a/2) abgeprallt und habe senkrecht zur Kastenwand eine Geschwindigkeitskomponente vx,j . Nach einer Zeit tj = a/vx,j stößt es gegen die rechte Kastenwand (x = +a/2) und bewegt sich danach mit der Geschwindigkeit −vx,j in Richtung der linken Kastenwand. Bei jedem Stoß gegen die linke oder rechte Kastenwand überträgt es einen Impuls px,j = 2mvx,j auf die Wände. Falls das Teilchen sich nicht zufällig parallel zur x-Achse bewegt, wird es auch mit den übrigen Kastenwänden zusammenstoßen. Dies ist für die weitere Betrachtung jedoch unerheblich, da sich seine Geschwindigkeit in x-Richtung dabei nicht ändert. Da die Teilchen einen verschwindend kleinen Durchmesser haben sollen, dürfen wir Stöße untereinander vernachlässigen. Aufgrund des Impulserhaltungssatzes würde aber auch eine Berücksichtigung solcher Stöße an unserem Ergebnis nichts ändern. Nach dem zweiten Newtonschen Gesetz ist die Kraft gleich der Impulsänderung pro Zeiteinheit. Das Teilchen j übt daher die Kraft Fx,j 2 mvx,j 2mvx,j px,j = = = 2tj 2a/vx,j a (11.27) auf die linke Wand aus. Die übrigen N − 1 Teilchen verhalten sich ebenso, nur haben sie unterschiedliche Geschwindigkeiten vx,i . Wir bezeichnen mit vx2 N 1 2 = v N i=1 x,i (11.28) die mittlere quadratische Geschwindigkeiten aller Teilchen. Über alle Teilchen summiert beträgt die gesamte Kraft auf die linke Wand daher Fx = N Fx,i = i=1 N mvx2 . a (11.29) Da in unserem Kasten keine Richtung bevorzugt ist, können wir annehmen daß 1 vx2 = vy2 = vz2 = v 2 3 (11.30) ist. Aufgrund des Gleichverteilungssatzes für die kinetische Energie folgt dann vx2 2 m 2 2 2 3 = v = Ekin = kB T . 3m 2 3m 3m 2 143 (11.31) Die Kraft auf die linke Wand lautet dann Fx = N kB T . a (11.32) Auf die linke (und natürlich auch auf alle übrigen Wände) wirkt daher der Druck p= Fx N = 3 kB T . 2 a a (11.33) Wir bezeichnen mit V = a3 das Volumen des Kastens und erhalten die Zustandsgleichung idealer Gase: pV = N kB T . (11.34) Diese Zustandsgleichung verknüpft die Zustandsgrößen Druck, Volumen und Temperatur. Wir können die mikroskopischen Größen in dieser Gleichung, die Teilchenzahl N und die Boltzmann-Konstante kB , durch makroskopische Größen ersetzen, indem wir die Avogadro-Zahl NA (auch Loschmidt-Zahl genannt) und die allgemeine (auch universelle oder ideale) Gaskonstante R verwenden. Die Avogadro-Zahl NA = 6, 0221415 × 102 3 mol−1 (11.35) legt fest, wieviele Teilchen sich in einer Stoffmenge befinden, die wir als Mol definieren. Wenn die Teilchenzahl N eines Körpers bekannt ist, läßt sich dessen Stoffmenge nach obiger Definition in der Form n= N NA (11.36) schreiben. Die Einheit der Stoffmenge ist das Mol. Die allgemeine Gaskonstante ist heute durch die Gleichung R = kB NA = 8, 314472J mol−1 K−1 (11.37) festgelegt. Die Zustandsgleichung idealer Gase läßt sich so in der Form pV = nRT (11.38) schreiben. Durch die Zustandsgleichung idealer Gase werden drei ältere, empirische Gesetze zum Verhalten von Gasen zusammengefaßt: 1. Das Boyle-Mariotte’sche Gesetz beschreibt den Zusammenhang zwischen Volumen und Druck eines Gases bei konstanter Temperatur: V ∼ 144 1 p (11.39) Abbildung 11.1: p-V-Diagramm Die Gesamtheit aller makroskopischen Zustände, die ein Gas bei festgelegter Temperatur T annehmen kann, werden in einem p-V -Diagramm (Abb. 11.1) durch eine, Isotherme genannte, hyperbolische Kurve repräsentiert. Nach dem Boyle-Marriotte’schen Gesetz führt eine Erhöhung des Drucks zu einer Verringerung des Volumens um den gleichen Faktor. Wenn Luft so langsam in einen Reifen gepumpt wird, daß die Luft stets im thermodynamischen Gleichgewicht mit der Umgebung befindet, dann läßt sich die Druckerhöhung im Reifen mit Hilfe dieses Gesetzes beschreiben. 2. Das erste Gesetz von Gay-Lussac (auch Charles’sches Gesetz) besagt, daß bei konstantem Druck das Volumen eines Gases proportional zur absoluten Temperatur ist: V ∼T. (11.40) In einem V -T -Diagramm liegen alle Zustände, die das Gas (bei gegebenem Druck) annehmen kann, auf einer Geraden durch den Ursprung, einer sogenannten Isobaren (Abb. 11.2). Allerdings ist es üblich, die Isobaren in einem solchen Diagramm nicht bis zum Ursprung zu zeichnen, da dieses Gesetz für sehr kleine Temperaturen seine Gültigkeit verliert. Betrachten wir als Beispiel einen Druckkochtopf, in dem sich heißer Wasserdampf befindet. Sobald der Maximaldruck erreicht ist, und das Überdruckventil öffnet, läßt sich mit Hilfe dieses Gesetzes berechnen, wieviel Wasserdampf bei weiterer Temperaturerhöhung durch das Ventil entweicht. 3. Das zweite Gesetz von Gay-Lussac sagt aus, daß bei konstantem gegebenen Volumen der Druck proportional zur Temperatur ist: p∼T. (11.41) Die Kurven die den Zustandsraum eines Gases in einem vorgegebenen Volumen beschreiben, heißen Isochoren und sind Geraden durch den Ursprung (Abb. 11.3). Auch die Isochoren werden meist nicht bis zum Ursprung ge145 Abbildung 11.2: V-T-Diagramm Abbildung 11.3: p-T-Diagramm zeichnet, da auch dieses Gesetz ebenso wie die Zustandsgleichung idealer Gase überhaupt nicht für sehr kleine Temperaturen gültig ist. Mit diesem Gesetz läßt sich beispielsweise beschreiben, wie der Druck in einer Druckgasflasche wächst, die erwärmt wird. 11.2 Wärmekapazität des idealen Gases Für ein ideales Gas lassen sich die Wärmekapazitäten bei konstantem Volumen und bei konstantem Druck aus dem Gleichverteilungssatz und aus der Zustandsgleichung idealer Gase ableiten. Der Einfachheit halber leiten wir zunächst die molaren Wärmekapazitäten CV und Cp her, die implizit durch die Gleichungen Q = nCV ∆T (V = const.) (11.42) Q = nCp ∆T (p = const.) (11.43) und definiert werden. Die molare Wärmekapazität gibt also an, welche Wärme Q einer Stoffmenge von einem Mol zugeführt werden muß, damit eine Erhöhung der 146 Temperatur um ∆T erzielt wird. Wenn das Volumen konstant bleibt, wird keine Arbeit geleistet (p∆V = 0), so daß nach dem ersten Hauptsatz die Wärmezufuhr zu einer Erhöhung der Inneren Energie um den gleichen Betrag führen muß: f nR∆T 2 Q = ∆U = (11.44) Hier steht f für die Anzahl der Freiheitsgrade eines Gasteilchens. Aus den Gleichungen (11.42) und (11.44) erhalten wir CV = f R 2 (11.45) für die molare Wärmekapazität bei konstantem Volumen. Bei konstantem Druck wird sich das Volumen des Gases mit steigender Temperatur erhöhen, so daß Arbeit gegen den äußeren Druck geleistet werden muß. Nach dem ersten Hauptsatz gilt dann Q = ∆U + p∆V . (11.46) Aus der Zustandsgleichung idealer Gase können wir den Volumenzuwachs ∆V ableiten: nR ∆T . (11.47) ∆V = p Setzen wir nun diesen Volumenzuwachs und die innere Energie aus (11.44) in Gleichung (11.46) ein, erhalten wir für die Wärme Q= f nR∆T + nR∆T , 2 (11.48) und damit f R+R (11.49) 2 für die molare Wärmekapazität bei konstantem Druck, die immer um den konstanten Wert R größer ist als die molare Wärmekapazität bei konstantem Volumen, so daß wir auch schreiben können Cp = Cp = CV + R . 11.2.1 (11.50) Einatomige Gase Nach Gleichung (11.45) hängt die Wärmekapazität bei konstantem Volumen linear von der Anzahl der Freiheitsgrade ab. Wenn die Teilchen eines idealen Gases näherungsweise durch kleine Kugeln beschrieben werden können, dann hat jedes Teilchen drei Freiheitsgrade, nämlich seine Geschwindigkeitskomponenten in drei 147 aufeinander senkrecht stehenden Raumrichtungen, also zum Beispiel vx , vy und vz . Für solche Gase ist die Wärmekapazität durch 3 CV = R 2 (11.51) gegeben. Eine solche Beschreibung paßt gut auf die einatomige Gase, also auf Edelgase wie etwa Helium, Neon oder Argon. Eigentlich hat jedes Teilchen noch drei weitere Freiheitsgrade, die drei kartesischen Koordinaten, die seine Position bestimmen. Da aber die innere Energie des Gases in unserem Modell völlig unabhängig von der Position der Teilchen ist, tragen diese Freiheitsgrade zur Wärmekapazität nichts bei. 11.2.2 Zweiatomige Gase Die Wärmekapazität zweiatomiger Gase (wie etwa N2 oder O2 , die an trockener Luft zusammen einen Anteil von rund 99% haben, läßt sich durch das Modell idealer Gase nur durch zusätzliche Annahmen erklären. Grundsätzliche haben zweiatomige Gase fünf Freiheitsgrade, da zu den drei Freiheitsgraden der Translationsgeschwindigkeit noch zwei weitere Rotations-Freiheitsgrade hinzukommen. Dabei zählen nur die beiden möglichen Rotationsachsen, die senkrecht auf der Molekülachse stehen. Eine Rotation um die Molekülachse liefert keinen Beitrag zur kinetischen Energie, da das Trägheitsmoment bezüglich dieser Achse infolge der praktisch punktförmigen Atomkerne verschwindend gering ist (die Elektronenhülle liefert aufgrund ihrer geringen Masse keinen Beitrag zum Trägheitsmoment). Aufgrund eines quantenmechanischen Effektes, weisen zweiatomige Gase bei tiefen Temperaturen die gleiche molare Wärmekapazität wie die einatomigen Gase auf. Dieser Effekt besagt, daß ein mikroskopisches Teilchen (anders als ein makroskopischer Körper in der klassischen Mechanik) nicht einen beliebigen Drehimpuls besitzen kann. Der Drehimpuls muß vielmehr ein Vielfaches einer Naturkonstante, des Planckschen Wirkungsquantums h̄ = 6, 62608 × 10−34 Js , (11.52) sein. Die Rotationsenergie eines mikroskopischen Teilchens kann dann ebenfalls nur diskrete Werte annehmen. Der erste von Null verschiedene Wert für die Rotationsenergie eines Moleküls beträgt h̄2 /J, wobei J das Trägheitsmoment des Moleküls um die entsprechende Rotationsachse ist. Wenn nun die nach dem Gleichverteilungssatz für die Rotation zur Verfügung stehende Energie von kB T /2 deutlich kleiner ist, wenn also eine Temperatur von T < 2h̄2 kB J 148 (11.53) erreicht wird, dann sind die Rotationsfreiheitsgrade bildlich gesprochen eingefroren, und das Gas verhält sich bezüglich seiner Wärmekapazität wie ein einatomiges Gas, hat also eine Wärmekapazität von 3R/2. Bei höheren Temperaturen verteilt sich die thermische Energie auch auf die Rotationsfreiheitsgrade, und die Wärmekapazität beträgt 5R/2. Steigt die Temperatur weiter, wird es notwendig auch die innere Struktur der Moleküle zu berücksichtigen. Die thermische Energie ist dann groß genug, um Streckschwingungen des Moleküls zu ermöglichen, die bei tiefen Temperaturen aufgrund der Quantisierung der Schwingungsenergie eingefroren waren. Die thermische Energie ist dann gleichmäßig zu jeweils kB T /2 auf die kinetische Energie der drei Translationsbewegungen, der zwei Rotationsbewegungen und der Streckschwingung sowie auf die potentielle Energie der Streckschwingung verteilt, so daß die molare Wärmekapazität auf 7R/2 steigt. Bei welcher Temperatur sich dieser Anstieg bemerkbar macht, hängt von der Frequenz der Streckschwingung ab. Ist diese hoch, wie das bei Wasserstoff aufgrund der geringen Masse der Fall ist, dann wird dieser Anstieg erst bei hohen Temperaturen sichtbar (Abb. 11.4). Bei dem schweren Cl2 -Molekül ist die Schwingungsfrequenz dagegen kleiner, und dieser Effekt macht sich schon bei niedrigeren Temperaturen bemerkbar (Tab. 11.1). Mehratomige Moleküle haben eine noch größere Anzahl von Freiheitsgraden und Abbildung 11.4: Molare Wärmekapazität bei konstantem Volumen von H2 . entsprechend größere molare Wärmekapazitäten. Da mit der Anzahl der Atome in der Regel gleichzeitig die molare Masse steigt, heißt das nicht, das mehratomige Gase auch eine höhere spezifische Wärmekapazität haben, denn die spezifische Wärmekapazität ist der Quotient aus der molaren Wärmekapazität geteilt durch die molare Masse M (also der Masse der Stoffmenge von einem Mol, auch Molekülgewicht genannt): cV = CV M und cp = 149 Cp . M (11.54) Tabelle 11.1: Molare Wärmekapazität bei Umgebungsdruck und Raumtemperatur. Gas He Ar H2 O2 N2 Cl2 CO2 N2 O Cp (J mol−1 K−1 ) 20,9 20,7 28,5 29,3 29,0 34,0 32,9 34,1 Cp − CV (J mol−1 K−1 ) 8,3 8,3 8,3 8,3 8,3 Cp /CV 2CV /R 1,66 1,67 1,41 1,4 1,4 7,8 7,6 1,3 1,29 3,0 3,0 4,9 5,1 5,0 6,2 6,0 6,4 Diese Beziehung ergibt sich aus der Defition der spezifischen Wärmekapazität und der Tatsache, daß eine Stoffmenge n eine Masse m = nM hat. 11.2.3 Adiabatenexponent Für alle idealen Gase sind die molare Wärmekapazität bei konstantem Druck und bei konstantem Volumen durch Gleichung (11.49) miteinander verknüpft. Für sogenannte adiabatische Vorgänge, das sind Vorgänge bei denen keine Wärme zu- oder abgeführt wird (dQ = 0), ist der Quotient γ= cp Cp = cV CV (11.55) der Wärmekapazitäten von Bedeutung. Dieser Quotient γ wird als Adiabatenexponent bezeichnet und hängt beim idealen Gas nach den Gleichungen (11.45) und (11.49) nur von der Anzahl f der Freiheitsgrade ab. γ= f +2 f (IdealesGas) (11.56) In Tabelle 11.1 sind die Adiabatenexponenten zusammen mit den Wärmekapazitäten für einige reale Gase angegeben. Der in der letzten Spalte dieser Tabelle angegebene Wert 2CV /R entspricht im Modell des idealen Gases der Anzahl f der Freiheitsgrade. Bei Raumtemperatur stimmt dieser Wert für die ein- und zweiatomigen Gase sehr gut mit den erwarteten Werten von f = 3 beziehungsweise f = 5 über ein. Der Wert für Chlor liegt genau zwischen dem Wert für ein starres zweiatomiges Gas (f = 5) und dem Wert für ein zweiatomiges Gas mit Streckschwingungen (f = 7). 11.3 Wärmekraftmaschinen Unter Wärmekraftmaschinen verstehen wir Vorrichtungen, die durch Wärmezufuhr mechanische Arbeit leisten können. Häufig arbeiten solche Maschinen zy150 klisch, das heißt die mechanische Arbeit wird nicht kontinuierlich geleistet, sondern die Maschine durchläuft fortwährend einen Zyklus, der sich aus verschiedenen Schritten zusammensetzt, bei denen meist nur in einem mechanische Arbeit geleistet wird. Solche zyklischen Vorgänge, die auch als Kreisprozesse bezeichnet werden, lassen sich zumindest näherungsweise mit Hilfe des Modells idealer Gase verstehen, wobei die vereinfachende Annahme gemacht wird, daß die zyklischen Vorgänge reversibel sind. In dem p-V -Diagramm in Abbildung 11.5 ist exemplarisch dargestellt, wie ein beliebiger Kreisprozeß durch eine Kombination von Isothermen und Adiabaten angenähert werden kann. Grundsätzlich kann diese Annäherung beliebig fein durchgeführt werden. Der Vorteil einer Approximation Abbildung 11.5: Reversibler Kreisprozeß (blaue Kurve) und seine Approximation (rote Kurve) durch Isothermen (gepunktete schwarze Linien) und Adiabaten (unterbrochene grüne Linien). von Kreisprozessen durch Isothermen, Isochoren, Isobaren und Adiabaten liegt darin, daß sich für diese Vorgänge Arbeit und Wärme sowie Änderungen der inneren Energie und der Wärme verhältnismäßig einfach berechnen lassen. Dies wird im Folgenden für den Verbrennungsmotor, die Dampfmaschine und den StirlingMotor gezeigt. 151 Abbildung 11.6: Vier Teilprozesse beim Verbrennungsmotor: (a) adiabatische Kompression, (b) isochore Temperaturerhöhung, (c) adiabatische Expansion und (d) isochore Temperaturerniedrigung. 11.3.1 Verbrennungsmotor Ein einfaches Schema, um den Zyklus eines Verbrennungsmotors zu beschreiben, besteht aus vier Teilprozessen: 1. Im ersten Teilprozeß wird das Gas adiabatisch verdichtet (Abb. 11.6 a). Die Verdichtung läuft also so schnell ab, daß es dabei zu praktisch keinem Austausch von Wärme kommt. Zur Verdichtung muß Arbeit geleistet werden, die zu einer Erhöhung der Temperatur von T1 auf T2 führt. Gleichzeitig wird das Volumen von V1 auf V2 verringert, und der Druck von p1 auf p2 erhöht. 2. Im zweiten Teilprozeß werden durch Wärmezufuhr bei konstantem Volumen (V2 = V3 ) Druck und Temperatur auf p3 beziehungsweise T3 erhöht (Abb. 11.6 b). Da dieser Teilprozeß isochor verläuft, wird keine Arbeit geleistet. 3. Im dritten Teilprozeß expandiert das Gas adiabatisch (Abb. 11.6 c). Dabei erhöht sich das Volumen auf V4 , während Druck und Volumen auf p4 beziehungsweise T4 absinken. 4. Im vierten und letzten Teilprozeß wird dem Gas bei konstantem Volumen (V4 = V1 ) Wärme entzogen (Abb. 11.6 d). Der gesamte Kreisprozeß läßt sich also in einem p-V -Diagramm als geschlossene Kurve, zusammengesetzt aus vier Teilkurven, nämlich zwei Adiabaten und zwei Isochoren, darstellen (Abb. 11.7 a). Eine wichtige Kennzahl zur Beschreibung eines Verbrennungsmotors ist der Wirkungsgrad eta, der angibt welcher Bruchteil der zugeführten Wärme in mechanische Arbeit W umgewandelt werden kann: η= |W | . QH (11.57) Die Arbeit W soll ein negatives Vorzeichen haben, wenn sie vom Verbrennungsmoter an der Umgebung geleistet wird. Mit QH und QL werden Wärmeflüsse aus 152 Abbildung 11.7: (a) p-V -Diagramm eines Verbrennungsmotors. Die grün schraffierte Fläche stellt die in einem Zyklus geleistete Arbeit dar. (b) Schema einer Wärmekraftmaschine. einem heißen beziehungsweise kalten Temperaturreservoir bezeichnet (siehe auch Abb. 11.7 b). Bei spontan ablaufenden Vorgängen ist QH positiv, das heißt die Wärme wird dem Verbrennungsmotor zugeführt, und QL ist negativ, das heißt die Wärme fließt vom Verbrennungsmotor in das kalte Reservoir. Nach einem kompletten Zyklus soll sich die Wärmekraftmaschine wieder im gleichen Zustand wie zu Beginn befinden, so daß die Änderung der inneren Energie Null ist. Aus dem ersten Hauptsatz folgt dann W + QH + QL = 0 . (11.58) Wärme fließt in den beiden isochoren Teilprozessen, daß wir QH und QL mit Hilfe der Wärmekapazitäten in der Form QH = nCV (T3 − T2 ) und QL = nCV (T1 − T4 ) (11.59) schreiben können. Für den Wirkungsgrad ergibt sich daraus η= (T3 − T2 ) + (T1 − T4 ) T1 − T4 QH + QL = =1+ . QH T3 − T2 T3 − T2 (11.60) Um den Ausdruck für den Wirkungsgrad weiter zu vereinfachen, verwenden wir die Adiabatengleichungen T2 = T1 V2 V1 1−γ und T3 = T4 V3 V4 1−γ , (11.61) aus denen wegen V2 = V3 und V4 = V1 T2 = T3 153 T1 T4 (11.62) folgt. Für den Wirkungsgrad erhalten wir dann η =1+ T1 − T4 T4 =1− . T3 − T3 T1 /T4 T3 (11.63) Beträgt die Verbrennungstemperatur beispielsweise T3 = 450 K und die Abgastemperatur T4 = 350 K, ergibt sich ein Wirkungsgrad von η = 0, 22. 11.3.2 Kompressionsverhältnis Der Wirkungsgrad läßt sich auch in Abhängigkeit vom Gasdruck schreiben. Wir bezeichnen p2 (11.64) κ= p1 als Kompressionsverhältnis, das wir mit Hilfe der Adiabatengleichung (11.25) durch das entsprechende Temperaturverhältnis ausdrücken können: γ/(γ−1) T2 . (11.65) κ= T1 Mit (11.62) folgt κ= T3 T4 γ/(γ−1) . (11.66) Wir potenzieren beide Seiten mit (γ − 1)/γ und erhalten zunächst κ(γ−1)/γ = T3 T4 (11.67) und schließlich den Wirkungsgrad 1 η = 1 − κ γ −1 . (11.68) In einem Verbrennungsmotor besteht das Gas normalerweise zum größten Teil aus molekularem Stickstoff (N2 ), den wir hier in guter Näherung wie ein ideales Gas mit fünf Freiheitsgraden (f = 5) behandeln können (die Streckschwingungen seien bei den Verbrennungstemperaturen noch eingefroren). Dann haben wir einen Adiabatenexponenten von γ = 7/5 und einen Wirkungsgrad von 2 η = 1 − κ− 7 . (11.69) Bei Otto-Motoren wird ein typisches Kompressionsverhältnis von κ = 8 erreicht, was zu einem Wirkungsgrad von η ≈ 0, 45 führen würde. Das höhere Kompressionsverhältnis eines Dieselmotors (κ = 20) ist die Ursache für seinen besseren Wirkungsgrad (im Idealfall: η ≈ 0, 58). Die tatsächlichen Wirkungsgrade beider Motoren sind deutlich niedriger, da infolge von Reibungsverlusten die Kreisprozesse nicht reversibel sind. 154 11.3.3 Carnot-Prozeß Die wohl bekannteste Darstellung für einen Kreisprozeß einer Wärmekraftmaschine ist der Carnot-Prozeß, mit dem sich Dampfmaschinen beschreiben lassen. Der Carnot-Prozeß läßt sich in die folgenden vier Teilprozesse unterteilen: 1. Im ersten Teilprozeß wird das Gas isotherm verdichtet. Da die Temperatur sich nicht ändert, bleibt auch die innere Energie konstant (∆UI = 0). Aufgrund des ersten Hauptsatzes muß daher die Summe aus zugeführter Wärme und am Gas geleisteter Arbeit verschwinden: WI + QL = 0 . (11.70) Da W positiv ist (das Gas wird verdichtet, es wird also Arbeit an dem Gas geleistet), muß QL negativ sein (dem Gas wird also Wärme entzogen). Da die Temperatur konstant bleibt, läßt sich QL mit Hilfe von Gleichung (10.6) auf einfache Weise schreiben: QL = TL (S2 − S1 ) . (11.71) Da QL negativ ist, verringert sich die Entropie, es ist also S2 < S1 . 2. Im zweiten Teilprozeß wird das Gas weiter komprimiert, diesmal ohne Wärmezufuhr von außen, das heißt dieser Teilprozeß verläuft adiabatisch. Die Änderung der inneren Energie ist daher gleich der an dem Gas geleisteten Arbeit: ∆UII = WII . (11.72) Da keine Wärme zu- oder abgeführt wird, ändert sich die Entropie nicht, daß heißt S3 = S2 . 3. Im dritten Teilprozeß expandiert das Gas isotherm. Die zugeführte Wärme QH läßt sich wie im ersten Teilprozeß auf einfache Weise aus der Entropieänderung gewinnen: QH = TH (S4 − S3 ) , (11.73) WIII + QH = 0 . (11.74) und es gilt Bei der adiabatischen Kompression in Teilprozeß II wurde die innere Energie und damit auch die Temperatur des Gases erhöht, deshalb ist TH > TL . Da das Gas bei der Expansion Arbeit an seiner Umgebung verrichtet (WIII < 0), ist QH positiv, daß heißt dem Gas wird Wärme zugeführt. Da die Temperatur sich nicht ändert, ist ∆UIII = 0. 155 4. Im vierten und letzten Teilprozeß expandiert das Gas adiabatisch, die Änderung der inneren Energie ist also gleich der geleisteten Arbeit, ∆UIV = WIV , (11.75) wobei WIV negativ ist, da das Gas expandiert. Da keine Wärme zu- oder abgeführt wird, ändert sich die Entropie nicht, daß heißt S4 = S1 . Da es sich um einen reversiblen Prozeß handelt, hat das Gas am Ende eines kompletten Zyklus die gleiche innere Energie wie zu Beginn. Um den Wirkungsgrad des Carnot-Prozesses zu bestimmen, berechnen wir zunächst die gesamte Arbeit, W = WI + WII + WIII + WIV = −QL + WII − QH − WII = −QL − QH , (11.76) die an dem Gas geleistet wird. Da in diesem Fall TH > TL und S2 < S1 ist, hat W = −QL − QH = −TL (S2 − S1 ) − TH (S1 − S2 ) (11.77) ein negatives Vorzeichen, es wird insgesamt also Arbeit von dem Gas an seiner Umgebung geleistet. Der Wirkungsgrad ist der Quotient aus dem Betrag dieser Arbeit und der in Teilprozeß III zugeführten Wärme: η= QL + QH QL TL |W | = =1+ =1− . QH QH QH TH (11.78) Dieser Ausdruck stimmt mit dem Wirkungsgrad des Verbrennungsmotors überein. Abbildung 11.8: p-V -Diagramm (a) und S-T -Diagramm (b) des CarnotProzesses. Die rot schraffierten Flächen entsprechen jeweils der geleisteten Arbeit. 156 Abbildung 11.9: Schema des Arbeitszyklus eines Stirling-Motors. 11.3.4 Stirling-Motor Als letztes Beispiel für eine zyklisch arbeitende Wärmekraftmaschine wird der Stirling-Motor behandelt. Ein Zyklus dieser Maschine läßt sich näherungsweise durch die folgenden vier Teilprozesse beschreiben: 1. Zunächst wird bei konstantem Volumen V1 = V2 die Temperatur von TL auf TH erhöht. Dabei steigt auch der Druck von p1 auf p2 . Da dieser Teilprozeß isochor ist, wird keine Arbeit geleistet (WI = 0). Das Gas nimmt die Wärme QI = nCV (TH − TL ) (11.79) auf. Im Idealfall fließt diese Wärme aus einem Zwischenspeicher, dem sogenannten Regenerator, in das Gas. 2. Im zweiten Teilprozeß expandiert das Gas isotherm und nimmt am Ende das Volumen V3 > V2 ein. Bei dieser Expansion leistet das Gas an der Umgebung die Arbeit V3 − WII = V3 pdV = nRTH V2 V2 157 dV V3 = nRTH ln . V V2 (11.80) Da dieser Schritt isotherm verläuft, ändert sich die innere Energie des Gases nicht, und nach dem ersten Hauptsatz ist QII = −WII = nRTH ln V3 V2 (11.81) die Wärme, die in das Gas fließt. 3. Im dritten Teilprozeß wird das Gas isochor (V3 = V4 ) abgekühlt. Es wird keine Arbeit geleistet (WIII = 0), aber es fließt die Wärme QI II = nCV (TL − TH ) = −QI . (11.82) Wegen TH > TL ist QIII negativ, das heißt es fließt Wärme aus dem Gas heraus. Im Idealfall wird diese Wärme vollständig vom Regenerator und nicht von der Umgebung aufgenommen. 4. Im vierten und letzten Teilprozeß wird das Gas isotherm komprimiert und nimmt wieder das ursprüngliche Volumen V1 ein. Dabei wird an dem Gas die Arbeit V1 V1 V1 dV = −nRTL ln (11.83) WIV = − pdV = −nRTL V V4 V4 V4 geleistet. Während eines vollständigen Zyklus leistet das Gas die Arbeit V1 V3 V3 +nRTL ln = nR(TH −TL ) ln V2 V4 V2 (11.84) an der Umgebung. Aus der Umgebung fließt dem Gas die Wärme −W = −WI −WII −WIII −WIV = nRTH ln QII = nRTH ln V3 V2 (11.85) zu. Der Wirkungsgrad des Sterling-Motors ist daher η= 11.4 |W | TL =1− . QII TH (11.86) Wärmepumpen und Kältemaschinen Eine Wärmekraftmaschine leistet mechanische Arbeit an ihrer Umgebung. Läßt man eine solche (im Idealfall reversibel arbeitende) Maschine rückwärts laufen, muß mechanische Arbeit an dem Gas geleistet werden, das heißt für einen 158 Abbildung 11.10: p-V -Diagramm des Stirling-Motors. Die rot schraffierte Fläche entspricht der geleisteten Arbeit. vollständigen Zyklus ist W > 0. Die Maschine enzieht dann dem kalten Reservoir Wärme (QL > 0) und führt dem heißen Reservoir Wärme zu (QH < 0). Ein solcher Vorgang kann nicht spontan ablaufen, deshalb muß mechanische Arbeit an dem Gas geleistet werden. Je nachdem zu welchem Zweck eine solche Maschine genutzt wird, zur Abkühlung des kalten Reservoirs oder zur Erwärmung des heißen Reservoirs, sprechen wir von einer Kältemaschine oder von einer Wärmepumpe. Unter der Voraussetzung, daß eine solche Maschine vollkommen reversibel arbeitet, gilt der für die entsprechende Wärmekraftmaschine berechnete Wirkungsgrad TL (11.87) η =1− TH auch für die rückwärts laufende Maschine. Im Fall einer Wärmepumpe interessiert man sich für den Quotienten aus der Wärmemenge |QH |, die dem heißen Reservoir zugeführt wird, und der an dem Gas geleisteten Arbeit W : |QH | 1 TH = = . W η TH − TL (11.88) Bei einer Kältemaschine betrachtet man stattdessen den Quotienten aus der 159 Wärmemenge QL , die dem kalten Reservoir entzogen wird, und der Arbeit. Da nach dem ersten Hauptsatz QL + QH + W = 0 ist, ist dieser Quotient QL −QH − W |QH | TL = = −1= . W W W TH − TL (11.89) Für eine Wärmepumpe, die Wärme aus einem kalten Reservoir mit TL = 273 K in ein heißes Reservoir mit TH = 293 K pumpt gilt dann 293 |QH | = ≈ 14, 7 . W 293 − 273 11.5 (11.90) Van der Waalsche Zustandsgleichung Reale Gase verhalten sich insbesondere bei tiefen Temperaturen und bei hohen Drücken anders als ideale Gase. Dies liegt daran, daß im Modell idealer Gase das Volumen der Moleküle und die Wechselwirkung der Moleküle untereinander (außer elastischen Stößen) nicht berücksichtigt werden. Das van der Waalsche Modell versucht diese Einschränkungen durch empirische Korrekturen der Zustandsgleichung idealer Gase zu beseitigen. Die erste Korrektur betrifft das Volumen der Moleküle. Das für das Gas zur Verfügung stehende Volumen V wird um nb verringert. Dabei ist n die Molzahl des Gases und b ist das Mindestvolumen für ein Mol eines Gases, also das Volumen, das das Gas einnimmt, wenn es so weit wie nur möglich zusammengepresst wird. Dieser Parameter ist stoffabhängig und muß experimentell bestimmt werden. Die korrigierte Zustandsgleichung lautet dann p(V − nb) = nRT (11.91) oder p= nRT . (V − nb) (11.92) Die korrigierte Gleichung sagt also bei kleinen Volumina einen deutlich höheren Druck voraus als die ursprüngliche Gleichung. Die zweite Korrektur betrifft die anziehende Wechselwirkung der Moleküle untereinander, die zu einer Verringerung des Drucks führt. Wir nehmen an, daß die Verringerung des Drucks proportional zur Wahrscheinlichkeit ist, daß sich zwei Moleküle nahe genug kommen, um sich anzuziehen. Da diese Wahrscheinlichkeit proportional zum Quadrat der Teilchendichte n/V ist, machen wir folgenden Ansatz für die korrigierte Zustandsgleichung: n 2 nRT p= −a . (V − nb) V 160 (11.93) Dabei ist a ein stoffabhängiger empirischer Parameter, der experimentell bestimmt werden muß. Durch Umformung erhalten wir aus Gleichung (11.93) die van der Waalsche Zustandsgleichung in ihrer üblichen Form: a V p+ − b = RT . (11.94) (V /n)2 n Für niedrige Dichten n/V geht Gleichung (11.94) in die Zustandsgleichung idealer Gase über. 161 162 Anhang 163 164 Abbildungsverzeichnis 1.1 1.2 1.3 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 3.1 Alltägliche Beispiele physikalischer Größenangaben mit und ohne Maßeinheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meßwerte mit systematischem (a) und zufälligem (b) Fehler. . . . . . Häufigkeitsverteilung der Meßwerte aus Abbildung 1.2 (b). . . . . . . Weg-Zeit-Diagramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weg-Zeit-Diagramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weg (durchgezogene rote Kurve), Geschwindigkeit (grün) und Beschleunigung (blau) eines Regentropfens in Einheiten von gτ 2 , gτ beziehungsweise g. Die gepunkteten Linien sind Näherungen für große Zeiten. Die Zeit ist in Einheiten von τ angegeben. . . . . . . Parameterfreie Bahnkurve eines schrägen Wurfes für Winkel α = π/6, π/4 und π/3 (rote, grüne beziehungsweise blaue Kurve). x und z sind in Einheiten von v02 /g angegeben. . . . . . . . . . . . Kreisbewegung: Differenz der Ortsvektoren . . . . . . . . . . . . . Kreisbewegung: Differenz der Geschwindigkeitsvektoren . . . . . . 4 10 11 15 18 20 25 27 29 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 Einfaches Modell für ein beschleunigtes Elektron: Im einem Laborsystem, in dem das Elektron vor Beginn der Beschleunigung ruht, sieht es seine Vergangenheit hinter sich, in einem geeignet gewählten Inertialsystem sieht es seine Vergangenheit vor sich . . Reibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schiefe Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rotierendes Koordinatensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Federpendel (links) und senkrechter Wurf(rechts) . . . . . . . . . Elastischer Stoß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 41 41 43 47 52 4.1 4.2 4.3 Kreisel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gleichgewichtslagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein- und zweiarmige Hebel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 66 67 5.1 5.2 Starrer (linkes Bild) und elastischer Festkörper (rechtes Bild) . . . Scherkraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 72 165 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9 5.10 5.11 5.12 5.13 5.14 5.15 Quadratische Seitenfläche (gelb/grau schraffiert) eines Quaders, der durch horizontale und vertikale Scherkräfte (schwarze Pfeile) verformt wird (blau/grau schraffiert). Die Scherkräfte addieren sich vektoriell zu Zug- und Druckkräften (blaue Pfeile), die parallel zu den Diagonalen d und ℓ (rot und grün gepunktete Linien) verlaufen. Die Größe des Torsions- oder Scherwinkels α wird rechts angezeigt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hydrostatisches Paradoxon: Der Schweredruck in einer Flüssigkeit hängt nicht von der Gefäßform ab. Für beide Gefäße ist rechts der Druckverlauf skizziert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . U-Rohr als Manometer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hydraulische Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Archimedisches Prinzip (links) und Areometer (rechts) . . . . . . Grenzflächen und resultierende Kräfte auf ein Flüssigkeitsteilchen Kapillarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Randwinkel θ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oberflächenspannung am Rand einer Kapillare . . . . . . . . . . . Laminare und turbulente Strömung . . . . . . . . . . . . . . . . . Tragfläche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Viskosität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Hagen-Poiseuilleschen Gesetz: Gedankliche Zerlegung der laminaren Strömung in Zylindermäntel. . . . . . . . . . . . . . . . 73 76 78 79 80 81 84 85 86 87 89 89 93 6.1 Fadenpendel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 7.1 Gekoppeltes Pendel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 8.1 Gasthermometer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 10.1 Im Fall a) wird die Entropie erhöht, bei der adiabatischen Expansion unter b) bleibt die Entropie konstant. . . . . . . . . . . . . . 136 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 p-V-Diagramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V-T-Diagramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . p-T-Diagramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molare Wärmekapazität bei konstantem Volumen von H2 . . . . . Reversibler Kreisprozeß (blaue Kurve) und seine Approximation (rote Kurve) durch Isothermen (gepunktete schwarze Linien) und Adiabaten (unterbrochene grüne Linien). . . . . . . . . . . . . . 11.6 Vier Teilprozesse beim Verbrennungsmotor: (a) adiabatische Kompression, (b) isochore Temperaturerhöhung, (c) adiabatische Expansion und (d) isochore Temperaturerniedrigung. . . . . . . . . 166 145 146 146 149 151 152 11.7 (a) p-V -Diagramm eines Verbrennungsmotors. Die grün schraffierte Fläche stellt die in einem Zyklus geleistete Arbeit dar. (b) Schema einer Wärmekraftmaschine. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.8 p-V -Diagramm (a) und S-T -Diagramm (b) des Carnot-Prozesses. Die rot schraffierten Flächen entsprechen jeweils der geleisteten Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.9 Schema des Arbeitszyklus eines Stirling-Motors. . . . . . . . . . . 11.10p-V -Diagramm des Stirling-Motors. Die rot schraffierte Fläche entspricht der geleisteten Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 153 156 157 159 168 Tabellenverzeichnis 1.1 1.2 1.3 1.4 Die kohärenten Basiseinheiten des Internationalen Einheitensystems. Abgeleitete, kohärente SI-Einheiten mit eigenem Namen. . . . . . . Einige abgeleitete, kohärente SI-Einheiten ohne eigenen Namen. . . . Die Präfixe des Internationalen Einheitensystems. . . . . . . . . . . . . . . 5 6 7 9 4.1 4.2 Trägheitsmomente einiger symmetrischer Körper. . . . . . . . . . . . Mechanische Größen zur Beschreibung der Translation und der Rotation des starren Körpers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 68 Elastistizitäts-, Kompressions- und Torsionsmodule E, K und G für einige Metalle in Einheiten von 109 N m−2 . . . . . . . . . . . . . . . 74 5.1 7.1 Grund- und Oberschwingungen bei offenen und festen Enden. . . . . . 123 8.1 Temperaturskalen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 11.1 Molare Wärmekapazität bei Umgebungsdruck und Raumtemperatur. . 150 169 170 Errata 1. Gleichung (2.13) wurde korrigiert. 2. Gleichung (2.45) wurde besser formuliert. 3. Gleichung (2.46) wurde besser formuliert. 4. Gleichung (3.59) wurde korrigiert. 5. Gleichung (3.78) wurde korrigiert. 6. Gleichung (5.10) wurde korrigiert. 171