Patricia Dohertys Schule des Sehens Die „turning pages“-Bilder in der Kebbel-Villa sind Augenöffner allerersten Ranges. AUSSTELLUNG ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● VON HELMUT HEIN, MZ ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Der erste Eindruck: diese Leichtigkeit. Der zweite dann: diese Intimität, diese Demut vor Farbe und Form. Und, vielleicht, auch vorm Auge des Betrachters. Während viele Kollegen auf Überwältigung setzen – durch Riesenleinwände, durch klatschendes Öl, durch die Schwere und Düsternis von Erde, Stein, fast beliebige sonstige Materialien, die „appliziert“ werden, die das Bild aufreißen, die verweisen und „zitieren“ – vertraut Patricia Doherty ganz dem kleinen Format und den klassischen Mitteln. Was ist da zu sehen? Das ist nicht ganz einfach zu sagen. Die Titel vieler Arbeiten verweisen auf Landschaften oder zumindest auf Konkretes, Gegenständliches. Aber der Blick findet nicht ohne Weiteres sofort etwas Bestimmtes, an das er sich halten kann. Nichts Festes, Klares, Beständiges. Ohne groß nachzudenken, würde man zunächst sagen: Diese Arbeiten sind abstrakt. Wobei der Begriff der „Abstraktion“ nicht so eindeutig ist, wie es scheint. Abstraktion ist ein Prozess. Wo beginnt er bei Patricia Doherty? Was verschwindet, was löscht sie im Verlauf der Arbeit? Und was erscheint dafür? SCHWANDORF. Ihre Malerei ist näher an den Dingen Wenn man an Cézanne denkt oder an Peter Handke oder noch besser an Handkes Cézanne-Buch „Die Lehre der Sainte-Victoire“, dann könnte man vermuten, es gehe Patricia Doherty um eine Körperformenlehre, um eine Erkundung des Raums bzw. der Dinge im Raum. Natürlich gründen auch ihre Bilder auf Wahrnehmung. Aber nicht auf einer ersten, naiven, sondern auf einer reflexiv zersplitterten und dann – kein Paradox! – in einer ganz eigenen, „poetischen“ Ordnung beruhigten und transzendierten. „nittenau“ zum Beispiel ist eine gewissermaßen in den Geheimniszustand erhobene, „verklärte“ Landschaft. In ihr ist mehr enthalten als „nur“ die Empfindung eines Augenblicks; die Idee einer Landschaft nämlich und nicht nur ihre Impression. Nie nur der Gegenstand, sondern immer auch die Frage, wie erscheint er, wie lässt er sich darstellen. So gesehen ist Patricia Dohertys „turning pages“- Dohertys Bilder werden erst in der Wahrnehmung und im Nachdenken über diese fertig. ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ➤ Die Künstlerin wurde 1963 in Belfast, Nordirland, geboren. ➤ Seit ihrem Studium am Camberwell College of Art in London und an der Royal Academy London war sie für verschie● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Serie Meta-Malerei: ein Nachdenken darüber, wie sich etwas zeigt. Das bewirkt, dass Patricia Dohertys Malerei näher an den Dingen ist als der übliche „Realismus“. Denn der handelsübliche „Realismus“, der manchem so einleuchtet, als sei er die Wirklichkeit noch einmal, „im Bild“, ist genau besehen nicht sehr realistisch. Auch der „Realismus“ ist nur eine Form der Darstellung neben vielen anderen. Und sein Problem besteht darin, dass er das Artifizielle, das „Gemachte“ gern vertuscht und verwischt. „Realismus“ wäre dann die Behauptung: So ist die Welt! Und alles andere ist nur eine subjektive, perspektivische, „verzerrte“, manchmal auch verrückte VersiPatricia Doherty Foto: Röttenbacher ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● PATRICIA DOHERTY ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● denste Institutionen als Lehrerin, Tutorin und Projektleiterin tätig. ➤ Die Künstlerin lebt mit dem Regensburger Komponisten, Saxophonisten und Bass-Klarinettisten Norbert Vollath ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Foto: Künstlerhaus ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● zusammen und hat ein Atelier im Künstlerhaus Andreasstadel. Seit einem Jahr lebt das Paar vor allem in Irland. ➤ Die Ausstellung in der Kebbel-Villa ist bis 16. Dezember zu sehen. ● on dieser Welt. Das heißt: Der Realismus macht uns blind. Er lässt uns nicht sehen, was und wie wir wahrnehmen. Dohertys Malerei aber öffnet die Augen. Das Erlebnis dieser Malerei ist zutiefst befreiend. Sie lädt uns zur Mitarbeit ein. Das Sehen als konstruktiver Akt Beim Gang durch diese Ausstellung können wir erkennen, dass das simpelste Sehen ein konstruktiver Akt ist. Das Bild wird erst in der Wahrnehmung und im Nachdenken über diese Wahrnehmung fertig. Nittenau gibt es in mehreren Varianten, man könnte auch sagen: Seinsarten. Das „reale“ Nittenau – das aber auch, soweit es uns angeht, eine Vorstellung ist, eine Anweisung, es zu finden, mit ihm zurechtzukommen. Das „nittenau“ auf Dohertys Leinwand, zu dem uns sofort eine Fülle anderer Landschaftsdarstellungen einfallen, die wir mit dieser ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● hier vergleichen und zwar so, dass in diesem Vergleich das einmalige „nittenau“ sich abzeichnet. Und dann natürlich noch das Bild in uns, transformiert, „infektiös“, diverseste Assoziationen und Erregungen auslösend. Oder eben eine Ruhe, die die Ruhe des gelungenen Bilds ist. Dort, wo die Abstraktion noch weiter fortgeschritten ist, etwa bei „after dark“ oder „old winters“, wird deutlich, dass Bilder-Schauen immer auch Lektüre ist, Dechiffrier-Kunst. Wir schauen die Bilder an und dann, wenn sie uns genügend bannen, „festhalten“ können, beginnen wir irgendwann, sie zu entziffern. Dazu braucht es dann eine Grammatik, also ein Wissen um die Welt, die Kunst und um uns. Und um all die Sprachen, die uns zur Verfügung stehen, um etwas zu verstehen. Ein Stück weit. Allmählich. Dohertys „turning pages“-Bilder sind Augenöffner allerersten Ranges.