Selbststrukturstörungen SJJ

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Jürgens-Jahnert
Selbststrukturstörungen bei Kindern und Jugendlichen
Stephan Jürgens-Jahnert
Selbststrukturstörungen bei
Kindern und Jugendlichen
1. Einführung
Seit einigen Jahren beobachte ich einen Symptomwandel in der kinder- und jugendpsychotherapeutischen Praxis von den klassischen neurotischen Störungsbildern hin zu diffusem seelischen Leiden, welcher eine Adaption der
personzentrierten Störungslehre und des Behandlungskonzeptes erforderlich
macht. Die vorgestellten Kinder und Jugendlichen können oft ihre Impulse und
ihre Aufmerksamkeit schlecht steuern, sie zeigen wenig Einfühlungsvermögen,
entwickeln diffuse Ängste bei gestörtem Bindungsverhalten, essen entweder zu
viel oder zu wenig, verletzen sich selber und sind dabei oft passiv fordernd. Im
therapeutischen Alltag fällt auf, dass sie wenig auf Verbalisierung ihrer Gefühle
reagieren und damit oft gar nichts anzufangen wissen. Bei einigen dieser Kinder
und Jugendlichen fand ich in der ganz frühen Kindheit gravierende Probleme, bei
anderen schienen diese aber weitgehend zu fehlen oder die Eltern zeigten sich
sogar sehr bemüht und pädagogisch durchaus kompetent.
Da ich im personzentrierten Bereich keine befriedigende Theorie zur Erklärung
dieser Störungen finden konnte und mir damit in der therapeutischen Arbeit der
systematische Zugang fehlte, habe ich als klinischer Praktiker mit Interesse an
der personzentrierten Störungslehre (Jürgens-Jahnert, 1997, 2002a, 2002b; Fröhlich-Gildhoff, Hufnagel und Jürgens-Jahnert, 2004) begonnen, nach angemessenen Erklärungsmöglichkeiten zu suchen. Fündig geworden bin ich insbesondere in
der Säuglings- und Kleinkindforschung (Stern, 1992; Dornes, 1993, 1997), im
modernen tiefenpsychologischen (Tyson u. Tyson, 1997) und strukturbezogenen
Denken (Rudolf, 2006) sowie in der Hirnforschung (Hüther, 2001, 2004, 2005,
2007; Hüther und Bonney, 2010; Damasio, 2002; Fonagy und Target, 2004;
Fonagy, Gergely, Jurist und Target, 2008).
Den Einbezug von Anregungen aus anderen Denkrichtungen halte ich für notwendig, weil das personzentrierte Konzept wenig dazu sagt, wie sich die Selbststruktur – ein Begriff, den Rogers (1987, 1994) durchaus benutzt – entwickelt,
wie ihre Störung entsteht und wie diese behandelt werden kann. In ihrem Lehrbuch zur Gesprächspsychotherapie referieren Eckert, Biermann-Ratjen und Höger
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(2006) zwar die Ergebnisse der Säuglings- und Kleinkindforschung auch im Bezug
auf die Selbstentwicklung, eine wirkliche Integration in das personzentrierte Konzept gelingt ihnen jedoch nicht. Und ich halte eine solche Integration für legitim,
weil die von mir hinzugezogenen tiefenpsychologischen Konzepte durch ihren
Bezug auf die empirische Säuglings- und Kleinkindforschung letztendlich dem
personzentrierten Ansatz näher stehen als der klassischen Psychoanalyse (vgl.
Fröhlich-Gildhoff und Hanne, 1996).
Aus diesen überwiegend empirisch begründeten Ansätzen und meinen klinischen
Beobachtungen habe ich auf dem Boden des personzentrierten Konzeptes ein
Verständnis für die Entwicklung der beschriebenen Störungen – die ich als Selbststrukturstörungen bezeichne – abgeleitet, welches systematische Hinweise zur
störungsspezifischen Behandlung liefert. Diese Überlegungen kann ich folgendermaßen zusammenfassen:
Es gibt im Menschen eine genetisch angelegte, „organismische Tendenz” (Rogers,
1987, S. 22) zur psychischen Entwicklung, welche Rogers als Aktualisierungstendenz bezeichnet. Sie zeigt sich allgemein in dem Drang des Menschen, sich zu
erhalten und zu entfalten, speziell auch in den aufeinanderfolgenden Entwicklungsphasen, wie z.B. das soziale Lächeln, die Trotzphase oder die Pubertät.
Doch erst wenn der Mensch beginnt, sich in diesem Prozess selber wahrzunehmen, ein Bild bzw. Konzept von sich zu entwickeln, dann entsteht das psychische
Selbst, mit dem wir uns bewusst kontrollieren und steuern können und das die
Voraussetzung darstellt, um zu dem positiven, sozialen Menschen werden zu
können, den Rogers vor Augen hatte. Die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung kann
ein Mensch allerdings nur dann entwickeln, wenn er von seinen primären Bezugspersonen darin aktiv unterstützt wird, wenn sie „gelehrt” wird. Erst dann
kann das entstehen, was wir auch psychischen Binnenraum nennen, wo
Mentalisierung passiert (Fonagy und Target, 2004) und Containing, das Ertragen
insbesondere negativer Gefühle (Winnicott, 1974). Wenn dies nicht gelingt, dann
können Kinder und Jugendliche sich nicht gut regulieren, ihr Verhalten nicht steuern und zeigen oft diese sehr negativen Verhaltensweisen, was wir mit dem bisherigen inkongruenzbasierten Störungsmodell nicht ausreichend erklären können.
Bevor ich mich mit den Selbststrukturstörungen beschäftige, gebe ich zunächst
einige Begriffsbestimmungen und werde dann die ungestörte Entwicklung der
Selbststruktur beschreiben. Den Abschluss bilden Überlegungen zur
personzentrierten Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen, die entsprechende Störungen aufweisen, sowie zu Implikationen für die Störungslehre.
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2. Begriffsbestimmungen
2.1 Das Selbst
Das Selbst ist für Rogers (1987) einer der zentralen Begriffe seiner Theorie. Ich
definiere es hier in Anlehnung an Rudolf (2006) als die psychische Reflektion der
durch die Aktualisierungstendenz beförderten psychischen Entwicklung. Damit
sehe ich mich durchaus in der Nähe zu Rogers, der vom Selbst als einer „Erscheinungsform dieser organismischen Tendenz” (Rogers, 1987, S. 22) spricht. Diese
organismische Tendenz ist zunächst genetisch angelegt, kaum erfahrungskorreliert, „die Energie- und Aktionsquelle in diesem System” (a.a.O., S. 22). Sie zeigt
sich zum einen in der immer wieder zu beobachtenden Grundtendenz alles Lebendigen, sich zu erhalten und sich zu entfalten, zum anderen in den verschiedenen Entwicklungsstufen des Menschen, wie dem sozialen Lächeln, der Trotzphase
oder der Stimmungslabilisierung in der Pubertät (Tyson und Tyson, 1997). Diese
Phasen treten fast in jeder kindlichen Entwicklung auf, wobei sie mit zunehmendem Alter durchaus lebensgeschichtlich bedingte individuelle Ausprägungen annehmen können.
Das Selbst entsteht nun, wenn der Mensch beginnt, sich selber zum Objekt seiner
Wahrnehmung zu machen, d.h. es ist eine auf die eigene psychische Entwicklung
bezogene reflexive Struktur, sehr subjektiv und erfahrungsnah. Jede noch so
kleine Wahrnehmung über mich selber, was ich mache, fühle, empfinde und auch
die Beobachtung, dass ich dies gerade denke und schreibe und was das wieder in
mir auslöst, geht ein in diese psychische Gestalt des Selbst. Hier werden auch die
bewussten Entscheidungen über mein Verhalten getroffen, weshalb ich das Selbst
als die Steuereinheit des Menschen bezeichne. Das Selbst erschafft ein Bild von
sich (Selbstbild), es bewertet sich (Selbstwert) und strebt nach Konstanz und
Kohärenz (Identität). Eine informative Zusammenfassung des aktuellen Wissensstandes zur Selbstentwicklung bietet Fröhlich-Gildhoff (Fröhlich-Gildhoff, Mischo
und Castello, 2009).
Diese Unterscheidung von dem genetisch angelegten Antrieb zur psychischen
Entfaltung einerseits und der darauf aufbauenden subjektiven Selbstentwicklung
andererseits findet eine interessante Entsprechung in der Gehirnforschung, wobei
ich mich hier insbesondere auf Hüther beziehe (Hüther, 2001, 2004, 2005, 2007;
Hüther und Bonney, 2010). Das Gehirn des Menschen zeichnet sich dadurch aus,
dass hier so wenig wie nötig genetisch vorprogrammiert ist im Unterschied zu
allen anderen Lebewesen einschließlich der Primaten, bei denen so viel wie möglich vorprogrammiert ist. Die anlagebedingten Anteile der psychischen Entwicklung und Steuerung sind im Gehirn in den älteren Hirnteilen beheimatet, u.a. dem
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limbischen System, die weitgehend genetisch programmiert sind. Im Gegensatz
dazu wird das Selbst in den wenig vorprogrammierten, entwicklungsgeschichtlich
neuesten Bereichen, der Großhirnrinde und insbesondere in den Frontalhirnlappen oder Neocortex lokalisiert (Roth, 1995), die sich weitgehend erfahrungsabhängig strukturieren. In meinen Augen zeigt sich somit auch in der Architektur
des Gehirns die große Bedeutung, die das Selbst für den modernen Menschen
besitzt.
Dies ist so unverändert seit hunderttausend Jahren, d.h. ein Neandertaler-Kind
kam mit der identischen Grundausstattung seines Gehirns auf die Welt wie ein
Kind im Jahr 2010, es hatte die gleichen Entwicklungsmöglichkeiten (Singer,
2002). Dass wir so enorm viel mehr lernen, wissen und können, hängt also allein
von den die individuelle Hirnentwicklung stimulierenden Umgebungsbedingungen
ab. Dank der modernen bildgebenden, nicht-invasiven Verfahren beginnen wir
langsam zu verstehen, was im Gehirn vor sich geht, wie es sich wie ein Sozialorgan plastisch und flexibel an die Erfahrungen und Erfordernisse des jeweiligen
Lebens anpasst und verändert. Nun können wir unser empathisches
klientenzentriertes Verstehen ergänzen um das Wissen um die hirnphysiologischen Vorgänge und Veränderungsweisen, und unsere Interventionen dadurch
viel passgenauer gestalten.
2.2 Die Selbststruktur
Aus der Gestaltung und Funktionsweise des Selbst in der Beziehung zu sich und
zu Anderen entsteht die Selbststruktur. Rudolf (2006) unterscheidet sechs Aspekte:






Selbstwahrnehmung
Selbststeuerung
(reife bzw. gesunde) Abwehr
Wahrnehmung anderer Personen
Kommunikation
Bindung
Grundlage der Entstehung der Selbststruktur ist die Selbstwahrnehmung, da ohne
sie kein Selbst entstehen kann. Sie lässt sich mit Tyson und Tyson (1997) heuristisch unterteilen in die



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Selbstwahrnehmung des Körpers
Selbstwahrnehmung der Affekte
Selbstwahrnehmung von sich in Interaktion mit Anderen
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Zumindest für die ersten beiden Bereiche gibt es wissenschaftliche Evidenzen,
dass die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung nicht von Geburt an vorhanden ist,
sondern den Kleinkindern von den Bezugspersonen intuitiv gelehrt wird.
Auch Rogers (1987) hat den Begriff Selbststruktur bereits benutzt, obwohl
Selbstkonzept im personzentrierten Denken geläufiger ist. Rogers bezeichnet mit
beiden Begriffen die Organisation des Selbst, allerdings aus unterschiedlichen
Perspektiven. Er spricht von Selbstkonzept, wenn das Individuum sich mit sich
selbst beschäftigt und über sich berichtet. Wenn es allerdings darum geht, das
Selbst von außen zu betrachten und z.B. Aussagen über die Organisation des
Selbst eines anderen Menschen zu treffen, benutzt er den Begriff der Selbststruktur. Diese bezeichnet somit die eher theoriegeleitete Betrachtung der inneren
Organisation des individuellen Erlebens und wird als dynamisch und prozesshaft
verstanden.
2.3 Die Selbststrukturstörung
Zu einer Selbststrukturstörung kommt es dann, wenn die Gestaltung und Funktionsweise des Selbst in Teilen oder im Ganzen gestört sind. Sie ist von grundlegender Bedeutung, weil sie die Steuereinheit des Individuums betrifft. Sie entsteht aus Störungen in der Selbstwahrnehmung, primär in der Wahrnehmung von
Affekten, deren Verarbeitung sowie den daraus resultierenden Verhaltensweisen.
Wahrnehmungsstörungen, Regulationsstörungen und Bindungsstörungen sehe
ich dabei als Spezialfälle einer Selbststrukturstörung.
Der Hirnforscher Damasio (2002) kommt bei seinem Versuch, das Bewusstsein zu
entschlüsseln, zu der Erkenntnis: „Ich fühle, also bin ich.” Damit betont auch er
die zentrale Bedeutung, die dem Fühlen für die Entwicklung des Selbst zukommt
(vgl. Lux, 2007). Wenn nun die Selbstwahrnehmung gestört ist, insbesondere die
Gefühlsqualität einer Selbsterfahrung nicht oder nicht richtig zugänglich ist, mündet dies in die Frage: Wer bin ich, wenn ich nicht (richtig) fühlen kann?
Eine ausführliche Anleitung zur Diagnostik von Selbststrukturstörungen findet sich
in der „Operationalisierten psychodynamischen Diagnostik im Kindes- und Jugendalter” (Arbeitskreis OPD-KJ, 2007). Die Autoren beziehen sich auf Rudolf und
orientieren sich durchgängig an der Phänomenologie der Störung, sodass ihr
diagnostisches Vorgehen leicht in personzentriertes Denken einbezogen werden
kann. Ausgangspunkt für die Diagnostik ist das beobachtbare und erlebbare Verhalten von Kindern und Jugendlichen, welches zu vorgegebenen so genannten
klinischen Ankerbeispielen in Bezug gesetzt wird. Diese beschreiben differenziert
nach Altersstufen und selbststrukturellen Aspekten, „was von einem optimal
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strukturierten Kind/Jugendlichen in einer bestimmten Situation erwartet werden
kann” (a.a.O., S. 118f).
2.4 Inkongruenz und strukturelle Störung
In der personzentrierten Störungslehre kennen wir bislang die Inkongruenz als
Ursache für eine psychische Störung: Erfahrungen, die von der organismischen
Bewertung als nicht förderlich für das Selbstkonzept eingeschätzt werden, werden
abgewehrt. In diesem Fall sind die Informationen, aus denen das psychische
Selbst geformt wird, für das Individuum zwar zugänglich, aber sie werden nicht
richtig verarbeitet. Vielmehr werden sie als nicht gewollte Erfahrungen in das
Unbewusste verdrängt. So entsteht mit der Zeit eine Blockierung der Eigenaktivität.
Bei der Selbststrukturstörung sind hingegen bereits die Erfahrungen an sich und
damit auch die Informationen defizitär, da sie nicht richtig wahrgenommen werden können. Dabei scheint das Unbewusste zu registrieren, dass hier etwas fehlt
(Finke, o.J.). Erwachsene drücken das etwa so aus: „Da ist so ein komisches
Gefühl, aber ich kann nicht sagen, was es ist.” In der Krankheitsdynamik zeigt
sich insbesondere eine beeinträchtigte Regulationsfähigkeit. Im Überblick zeigen
sich folgende Unterschiede zwischen inkongruenzbedingter und selbststruktureller
Störung (siehe auch Kapitel 6):
Störung
Inkongruenzbedingt
Strukturell
Affekte
werden abgewehrt oder
nicht symbolisiert
werden nicht (richtig)
wahrgenommen
Informationen
werden nicht richtig verarbeitet
Information
selber gestört
Unbewusste
nicht gewollt
nicht gemerkt
Dynamik
blockierte Eigenaktivität
beeinträchtigte
Regulationsfähigkeit
Die therapeutische Grundfrage bei einer vorwiegend inkongruenzbedingten Störung lautet dabei für mich: „Was beschäftigt diesen Menschen inhaltlich, welche
Konflikte trägt er in sich, was taucht am Rande seiner Gewahrwerdung auf?” Bei
einer vorwiegend strukturellen Störung frage ich mich hingegen: „Wie funktioniert
dieser Mensch in bestimmten Situationen?” In dem so erweiterten
personzentrierten Störungsverständnis sehe ich inkongruenzbedingte und strukturelle Störungen konzeptionell gleichberechtigt nebeneinander, wobei es weniger
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darum geht, welche von beiden Störungsarten bei einem Klienten vorliegt, sondern in welcher Kombination.
3. Entstehung der Selbststruktur
Das Selbst entsteht nach Rogers (1987) aus den Erfahrungen, die das Kind mit
sich und seinen Bezugspersonen macht.
Die ersten Selbsterfahrungen des Menschen sind Körpererfahrungen. In der
Schwangerschaft, während der Geburt und danach macht der Säugling viele
körpernahe Erfahrungen gemeinsam mit der Mutter, im positiven Fall zunehmend
auch mit dem Vater. Wenn die Eltern ausreichend feinfühlig sind, erfährt es, dass
Lust und Sicherheit vor allem im Körperkontakt mit ihnen erfahren werden können. Diese ersten Erfahrungen des Kindes mit sich selber, seinem Körper und
seinen wichtigen Bezugspersonen sind die Grundlage der Entstehung des Selbst,
am Anfang des Körperselbst. Nach Hüther entsteht die Fähigkeit des Kindes zur
Wahrnehmung des eigenen Körpers insbesondere aus dem passiven
Bewegtwerden, wenn es z.B. geschaukelt oder getragen wird (Hüther und Bonney, 2010; vgl. Stern, 1992; Dornes, 1993, 1997).
3.1 Erfahrung und Affekt
Für Rogers beinhaltet der Begriff Erfahrung all das, „was sich innerhalb des Organismus in einem bestimmten Augenblick abspielt und was potenziell der
Gewahrwerdung zugänglich ist” (Rogers, 1987, S. 23). Erfahrungen werden durch
die organismische Bewertung daraufhin eingeschätzt, in welchem Maße sie im
Sinne der Aktualisierungstendenz für die Erhaltung und/oder die Entfaltung des
Individuums förderlich sind. Dabei dient der Affekt als Grundlage für diese Bewertung (Eckert et al., 2006). Wie wir aus dem Focusing wissen, sind sie wesentliche
Bestandteile einer Erfahrung neben Körperempfindungen und Kognitionen
(Gendlin und Wiltschko, 1999).
Affekte sind ganzheitliche, überwiegend genetisch vorprogrammierte Reaktionen
des Organismus auf Umweltanforderungen und bestehen aus einer physiologischen Reaktion sowie einem kognitiven Label und führen meist zu einem eindeutigen Affektausdruck in Form von Gestik und Mimik (Beutel, 2009). Zu jedem
Affekt gehört eine Kognition, umgekehrt gibt es keine Kognition ohne Affekt,
wofür Ciompi (1998) den Begriff der Affektlogik prägte. Die kategorialen Grundaffekte wie Überraschung, Ekel, Neugier, Freude, Traurigkeit, Furcht und Ärger sind
anlagebedingt vorhanden und können bereits in den ersten Lebenswochen des
Säuglings beobachtet werden.
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Sowohl die affektive Reaktion des Organismus als auch der mimisch-gestische
Ausdruck, also das Entstehen und Kommunizieren der Affekte, scheinen weitgehend genetischen Programmen zu folgen, sind spontan und ungesteuert. Was
aber nicht genetisch programmiert zu sein scheint, ist die angemessene und
bewusste Wahrnehmung der Affekte (Stern, 1992), die erst zu deren spezifischer
Gefühlsqualität führt und zur Fähigkeit ihrer sprachlichen Benennung (Beutel,
2009). Damit dies möglich wird, muss also der vom Kind unbewusst generierte
und automatisch kommunizierte Affekt von der Bezugsperson bewusst wahrgenommen und dem Kind rückgemeldet werden. Dabei kann diese Rückmeldung
sowohl direkt erfolgen („Da freut sich die Kleine.”) als auch indirekt (z.B. durch
ein Erwidern des Lächelns).
3.2 Affektives Einschwingen
Auf der Heimreise von einer Tagung in Wien beobachtete ich auf dem Flughafen
eine Mutter mit ihrem etwa fünfmonatigen Kind auf dem Arm. Als die Mutter
bemerkte, dass sich das Kind für die Plakatwand interessierte, ging sie näher
heran und ließ das Kind sie anfassen. Als das Kind die Plakatwand abtastete,
imitierte die Mutter dieses Verhalten, wobei sie immer nah mit ihrer Hand bei der
des Kindes blieb. Die damit für das Kind verbundene Erfahrung ist eine sehr körpernahe. Es fühlt sich sicher und geborgen auf dem Arm der Mutter. Es erlebt,
dass sein Verhalten bei der Mutter eine Resonanz findet. Aber das Spiegeln des
Verhaltens des Kindes reicht allein noch nicht aus, um ihm zu zeigen, dass sein
beteiligter Affekt der Neugier auch von der Mutter geteilt wird, was ihm erst einen Zugang zu seinem Gefühl ermöglichen würde.
Dann wendet das Kind sein Gesicht der Mutter zu und lächelt sie an, woraufhin
sie sein Lächeln erwidert. Das geschieht auch, als der Vater zu den Beiden tritt.
Und als ich an der kleinen Gruppe vorbeigehe und das Kind anschaue, lächelt das
Kleine mich auch an, ein Lächeln, dem man sich nicht entziehen kann.
Aus der Säuglingsforschung wissen wir, dass das menschliche Gesicht, insbesondere das der Mutter, für den Säugling eine besondere Anziehungskraft besitzt
(Stern, 1992). Das von mir beobachtete soziale Lächeln tritt etwa ab dem zweiten
Monat auf. Durch diese Aktivität erlebt das Kind wiederum affektive Zustände, zu
deren Wahrnehmung und Verarbeitung es die intersubjektive Bezogenheit
braucht, und zwar oft und viel. So lassen sich Momente des sozialen Lächelns im
ersten Lebensjahr bei einem Kind bis zu 60.000 Mal beobachten (Stern, 1992).
Das soziale Lächeln ist ein sichtbarer Ausdruck des affektiven Einschwingens von
Säugling und primärer Bezugsperson.
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Mit affektivem Einschwingen bzw. Affektabstimmung ist ein kommunikativer Prozess zwischen Kind und Bezugsperson gemeint. Das Kind zeigt ein affektiv gefärbtes Verhalten, auf das die Bezugsperson mit einem ebenfalls affektiv gefärbten Verhalten reagiert, und zwar so, dass dies vom Kind wahrgenommen werden
kann. Dabei können sich die Affekte gleichen oder auch unterschiedlich sein (z.B.
eine Ermutigung auf einen ängstlichen Blick des Kindes hin).
Dieser natürlich angelegte, instinktiv verlaufende Prozess beginnt schon in der
Schwangerschaft und findet in der Zeit zwischen dem neunten und fünfzehnten
Lebensmonat seine stärkste Ausprägung. Er basiert beim Säugling auf der angeborenen Fähigkeit zur Beziehungsregulation (Dornes, 1993, 1997), bei den Bezugspersonen auf der so genannten „intuitiven Elternschaft” (Rudolf, 2006;
Trautmann-Vogt und Moll, 2010). Das affektive Einschwingen betrifft sowohl die
oben bereits angesprochenen kategorialen Affekte als auch die gefühlsmäßigen
Färbungen von Erfahrungen wie aufwallend, verblassend, flüchtig, sich hinziehend, zögerlich usw., die Stern (1992) als Vitalaffekte bezeichnet.
3.3 Stufen der Affektabstimmung
Der Beginn des affektiven Einschwingens zwischen Kind und Mutter während der
Schwangerschaft wird als Bonding bezeichnet (Verny und Kelly, 1983). Empirische Beobachtungen der Mutter-Kind-Interaktion in den ersten 15 Lebensmonaten belegen dann einen regelhaften Verlauf (Stern, 1992). Wie in dem oben beschriebenen Beispiel reagieren Bezugspersonen bei sehr kleinen Kindern, indem
sie deren Verhalten imitieren bzw. spiegeln. Die Rückmeldung an das Kind findet
also auf der körperlichen oder der Verhaltensebene statt und signalisiert: „Ich
kenne das Gleiche wie du.” Etwa ab dem siebten Lebensmonat beginnen Bezugspersonen, ihre Rückmeldungen in einem anderen Modus zu geben, z.B. durch
Töne oder Bewegungen.
Bezugspersonen nutzen dazu die angeborene Fähigkeit zur sogenannten transmodalen Wahrnehmung. Wenn man Säuglingen z.B. einen Schnuller mit Noppen
in den Mund gibt, ohne dass sie ihn ansehen können, und ihnen dann Schnuller
mit verschiedenen Oberflächen zeigt, so schauen sie besonders häufig zu dem
Noppenschnuller (Stern, 1992). Sie können also eine Übereinstimmung herstellen
zwischen zwei unterschiedlichen Wahrnehmungsmodalitäten, hier haptischer und
visueller Art.
Die beschriebene Szene könnte also bei einem älteren Kind etwa so verlaufen:
Nachdem das Kind Interesse für die Plakatwand gezeigt hat und die Mutter näher
herangetreten ist, schlägt es mit der flachen Hand darauf. Es ist fasziniert von
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dem Körpergefühl und dem Klang und setzt seine Aktivität fort. Wenn die Mutter
genauso gut im Kontakt ist wie bei dem Säugling, wird es die Aktivität des Kindes
ebenfalls begleiten, aber jetzt z.B. mit Tönen: „Bambam, bambam, bambam…”
Das Kind hört diese Töne und kann sie aufgrund seiner Fähigkeit zur transmodalen Wahrnehmung mit seinem Tun in Verbindung bringen, wenn es ausreichend
Übereinstimmung in wichtigen Parametern wie Rhythmus, Intensität und Dauer
gibt. Dieses In-Beziehung-Setzen erfordert allerdings eine abstrahierende Rückübersetzung der transmodalen Rückmeldung der Mutter und damit eine psychische Aktivität. Ich sehe in dieser Herausforderung für den Säugling eine bedeutende Anregung zur Entstehung des psychischen Binnenraums.
Wenn das Kind spüren kann, dass die Rückmeldung der Mutter mit seiner Aktivität in Verbindung steht, wird es selber beginnen wahrzunehmen, was es gerade
macht. Da es die Mutter nahe bei sich spürt, sie ihn aber nicht einfach nachmacht, ahnt es, dass die Mutter das Gleiche empfinden kann wie es selbst: Dass
es Spaß macht, auf dieses Ding zu hauen. Und wenn die Mutter innerlich so dabei
ist, wird das Kind wissen, dass das, was es tut und das, was es empfindet, auch
ihre Zustimmung besitzen.
Während die Fähigkeit zur transmodalen Wahrnehmung schon bei drei Wochen
alten Babys nachgewiesen wurde (Stern, 1992), nutzen Bezugspersonen diese
intuitiv erst ab dem siebten bis neunten Lebensmonat zur transmodalen Affektrückmeldung. Stern geht davon aus, dass das Kleinkind erst dann über die notwendige Fähigkeit zu intersubjektiver Bezogenheit verfügt und die Bezugspersonen dies unbewusst wahrnehmen.
Wenn die oben beschriebene Szene weiterläuft und die Mutter meint, das Kind
könnte sich ruhig mehr zutrauen und etwas fester schlagen, dann wird ihr
„Bambam” auch etwas lauter werden. Das Kind wird sich intuitiv trauen, die Intensität seines Tuns zu steigern. Umgekehrt wird es beim leiseren „Bambam”
zurückhaltender werden. Hätte die Mutter allerdings gar nicht reagiert, hätte das
Kind „selbstverloren” eine Zeitlang auf das Plakat geklopft und sich dann desinteressiert abgewandt. Wäre die Mutter in ihrer Lautrückmeldung andererseits zu
laut gewesen, hätte es sein Tun abgebrochen und sie erschrocken angeschaut.
Die Abweichungen im Mitschwingen müssen wohl dosiert sein, damit die Bezugsperson Prozesse beim Kind fördern oder hemmen kann. Wenn dies gelingt, lehrt
sie das Kind so, dass man sich in seinen Aktionen steuern kann. Damit fördert sie
maßgeblich die Entwicklung der psychischen Dimension der Regulations- und
Steuerungsfähigkeit, darüber hinaus die des „subjektiven Selbst” (Stern, 1992).
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Durch viele kleine Situationen mit gelingendem affektiven Einschwingen lernt das
Kind, seine Affekte bewusst wahrzunehmen, ihre subjektive Gefühlsqualität zu
spüren, ihre soziale Angemessenheit einzuschätzen, seine Erregung zu regulieren
und kontrolliert zu handeln. Gleichzeitig entstehen dabei durch die wiederholten
neuronalen Aktivierungen die dazugehörigen Hirnstrukturen und -verschaltungen,
die die Grundlage für die Ausbildung von sozialer Deutungskompetenz und bewusster Kontrolle legen.
3.4 Mentalisierung
Für die Entstehung der Selbststruktur ist also nicht nur die gefühlsmäßige Ebene
wichtig, sondern es gibt einen parallelen Prozess auf der neurophysiologischen
Ebene in Form der Aktivierung und Verschaltung von den an der Affektverarbeitung beteiligten Hirnzentren. Damit beschäftigt sich insbesondere die Arbeitsgruppe um Fonagy (Fonagy und Target, 2004; Fonagy, Gergely, Jurist und Target, 2008), die diesen Prozess Mentalisierung nennt. Damit sind intrapsychische
Vorgänge in Form von inneren Bildern, Vorstellungen und Sinngebungen gemeint.
Fonagy geht sogar so weit zu behaupten, dass die Bedeutung einer sicheren
Bindung nicht primär darin liegt, dass das Kind sich wohl fühlt und die Welt explorieren kann, sondern dass sie für ein optimales Erregungs- und Spannungsniveau für die Entwicklung des Gehirns sorgt. Wenn dies in ausreichendem Maße
geschehen kann und die Bezugspersonen selber über innere Bilder und Vorstellungen im Bezug auf das Kind verfügen, dann verschalten sich die an der Affektverarbeitung beteiligten Hirnzentren so, dass das entstehen kann, was Fonagy
den sozialen Deutungsmechanismus nennt. Es ist ein Filter für Erfahrungen, der
diese nach ihrer Bedeutung für das Individuum bewertet. Fonagy vertritt die
Ansicht, dass dieser Deutungsmechanismus an der Genexpression beteiligt ist,
d.h. mitbestimmt, welche Gene für die Ausbildung des Phänotyps und der Persönlichkeit zum Zuge kommen.
Zudem kann sich bei einer gut geförderten Hirnentwicklung die Fähigkeit zur
bewussten Kontrolle entwickeln, die sich zusammensetzt aus den Fähigkeiten,
Aufmerksamkeit zu fokussieren, sensibel wahrzunehmen sowie inadäquate Reaktionen zu unterdrücken (Fonagy und Target, 2004). Die Entwicklung der
Mentalisierungsfähigkeit hängt wesentlich davon ab, in welchem Ausmaß die
Bezugspersonen selber zur Mentalisierung in der Lage sind und wie sie das Kind
intuitiv-aktiv darin fördern, diesen psychischen Binnenraum zu entwickeln.
Die Entwicklung der Gehirnarchitektur vollzieht sich vorwiegend bis zum Alter von
14 Jahren. Auch wenn die früheren pessimistischen Vorstellungen über die eingeschränkten Möglichkeiten des Gehirns zu späteren konstruktiven Veränderungen
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auf der physiologischen Ebene nicht mehr haltbar zu sein scheinen und nun von
einer lebenslangen Neuroplastizität ausgegangen wird (Hüther, 2005), gestalten
sich diese Prozesse doch wesentlich langsamer als in Kindheit und Jugend. Für
die Entwicklung der Selbststruktur sind die ersten drei Lebensjahre besonders
bedeutsam, mit sechs Jahren ist sie weitgehend abgeschlossen. Darum ist es
besonders wichtig, dass wir uns als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten
mit diesen Fragestellungen beschäftigen, da wir Fehlentwicklungen noch schneller
und umfassender korrigieren können, je jünger unsere Patienten sind.
4. Die Störung der Selbststruktur
4.1 Entstehung der Selbststrukturstörung
Zu einer Störung in der Entwicklung der Selbststruktur kommt es vor allem dann,
wenn die Affektabstimmung misslingt und damit keine Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung entstehen kann. Damit es zu einer nachhaltigen pathologischen Entwicklung kommt, muss nach meiner Erfahrung eine gravierende oder komplexe
Verursachung gegeben sein. Diese kann auf Seiten der primären Bezugsperson
vorliegen in Form einer psychischen Erkrankung, wie einer schweren Depression,
einer Borderline-Persönlichkeitsstörung oder einer Ablehnung der Schwangerschaft. Ich habe zwei solche Fälle behandelt, bei denen die Mütter aus unterschiedlichen – von ihnen nicht selbst zu verantwortenden - Gründen die Schwangerschaft vehement abgelehnt haben. In einem Fall kam es zu einem Abtreibungsversuch, in dem anderen Fall hat die Mutter nach eigenen Angaben das
Kind im ersten Lebensjahr „komplett links liegen gelassen”.
Die Ursache kann auch auf Seiten des Säuglings liegen, sodass es den Bezugspersonen sehr schwer fällt, dieses Kind zu verstehen. Dies kann sich aus Belastungen in der Schwangerschaft oder bei der Geburt entwickeln, durch eine Frühgeburt oder durch das so genannte schwierige Temperament (Thomas und
Chess, 1989; vgl. Fröhlich-Gildhoff, et al., 2009). Aber auch die Umgebungsbedingungen können es den Bezugspersonen sehr erschweren, sich auf ein Kind
einzustellen, wie plötzliche Arbeitslosigkeit, Erkrankungen in der Familie, Todesfälle oder gravierende Konflikte.
Nach meinen Erfahrungen kann eine funktionierende Affektverarbeitung durch
gravierende Erfahrungen, wie die eines Traumas, nachhaltig gestört werden.
Umgekehrt kann allerdings eine defizitäre Selbst- und Fremdwahrnehmung auch
die Entstehung eines Traumas begünstigen. Denn wenn ein Kind soziale Situationen nicht gut einschätzen kann, dann wird es für dieses Kind noch schwerer sein
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zu erkennen, wenn die freundliche Zuwendung eines Erwachsenen mit bösen
Hintergedanken verbunden ist.
Das Misslingen des affektiven Einschwingens führt zu Störungen in der Selbstwahrnehmung, insbesondere in der situativen Wahrnehmung von Gefühlen, ihrer
Verarbeitung und ihrer Nutzung für die weitere Steuerung der Interaktion. Mit
den Worten von Fonagy beeinträchtigen sie die Entwicklung der sozialen Deutungskompetenz und der bewussten Kontrolle. Für die Arbeit als Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeuten ist für uns wichtig zu wissen, dass nicht nur die
Fähigkeit zum sozial angemessenen Verhalten gestört wird, sondern auch die
Gehirnarchitektur selber beeinträchtigt bleibt. Wenn das Kind seine Gefühle nicht
richtig wahrnehmen kann, fehlt ihm zudem die Grundlage für die organismische
Bewertung seiner Erfahrungen, sodass diese nicht richtig funktionieren kann.
In der Regel resultiert daraus auch ein ungestilltes Bedürfnis nach Beachtung,
Nähe und Bindung, welches eine fordernde kindliche Haltung erzeugt. Da diese
Bedürfnisse oft in der frühen Kindheit mit der wiederholten Erfahrung verbunden
waren, dass es sie für das Kind nicht gibt, wird später diese Unmöglichkeit vom
Kind immer wieder selber hergestellt. Man spürt, dass sie nach Beachtung, Nähe
und Bindung suchen, aber wenn man sie ihnen zu geben versucht, wird man
zurückgewiesen (vgl. Fröhlich-Gildhoff und Hanne, 1996).
Die jedem Kind anlagebedingt innewohnende Kraft zur Selbsterhaltung und
Selbstentfaltung im Sinne der Aktualisierungstendenz treibt das Kind weiterhin
an, ständig nach Möglichkeiten der Affektabstimmung zu suchen. Findet es allerdings keine ausreichende Resonanz, verengt sich dieser affektive Zugangskorridor
beständig.
4.2 Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung
Wenn ein Kind keine ausreichende Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung entwickeln
kann, wirkt sich das auf sein Körpererleben, seine Gefühlswahrnehmung und sein
Empfinden für Interaktionen aus. Die Störung des Körpererlebens kann darin
bestehen, dass Kinder und Jugendliche Wärme, Kälte oder Schmerz nicht angemessen wahrnehmen können. Oft haben sie kein adäquates Empfinden für die
Heftigkeit ihrer Aktionen: Wenn sie von jemand leicht berührt werden, empfinden
sie das möglicherweise als sehr schmerzhaft; die damit in den Augen von Außenstehenden in keinem Verhältnis stehende Heftigkeit ihrer Reaktion wird von ihnen
als angemessen wahrgenommen. Betreffen die Defizite der Körperwahrnehmung
die Ausscheidungsorgane, kann dies zu Enuresis und Enkopresis führen. Unge13
Selbststrukturstörungen bei Kindern und Jugendlichen
Jürgens-Jahnert
sundes Essverhalten sowie das gestörte Körperbild bei anorektischen Kindern und
Jugendlichen sehe ich ebenso in diesem Zusammenhang.
Wenn Menschen ihre Affekte nicht oder nicht ausreichend wahrnehmen können,
können sie die damit einhergehende innere Erregung nicht auflösen bzw. abführen, was als aversiv erlebt wird. Ihnen fehlen logischerweise oft die angemessenen Bezeichnungen für das, was sie empfinden, sodass sie sich mit Umschreibungen behelfen wie „am Rad drehen” oder „unter Strom stehen”. Manche scheinen
auf einen einzelnen Affekt geprägt worden zu sein, wie Angst oder Wut, sodass
jede affektive Erregung von ihnen nur als dieses eine „Gefühl” interpretiert wird.
Das hat zur Folge, dass sie regelmäßig von Angst überflutet werden oder ganz
schnell mit Wut reagieren. Da im Gehirn die synaptischen Verbindungen mit jeder
entsprechenden Aktivität stärker werden, geraten diese Kinder und Jugendlichen
in einen sich selbst verstärkenden negativen Kreislauf (Fröhlich-Gildhoff und Jürgens-Jahnert, 2010). Um zumindest ein rudimentäres Gefühl von Selbstwirksamkeit zu erreichen, führen manche Kinder und Jugendliche aktiv Erregungszustände herbei, was man dann als Kick-Suchen bezeichnet.
Aus der Sicht der Kinder und Jugendlichen entstehen die aversiven Gefühlzustände oft dann, wenn andere Menschen etwas von ihnen wollen, Forderungen stellen und sie sich dadurch unter Druck gesetzt fühlen. Manche vermeiden dann
solche Situationen mit Erregungspotenzial durch Rückzug oder bemühen sich,
sich „unsichtbar” zu machen. Andere versuchen, ihre Bezugspersonen zu dominieren, um so innere Erregungszustände von vorneherein abzublocken. Die Motivation des „kleinen Tyrannen” kann sich so erklären.
Da es diesen Kindern in ihrer Wahrnehmung einigermaßen gut geht, wenn man
sie in Ruhe lässt, wenn sie vorm Fernseher oder vorm Computer sitzen können,
erleben sie es subjektiv so, dass andere Menschen dafür verantwortlich sind,
wenn sie in Erregungszustände geraten und sich dann sozial unangemessen
verhalten. Deshalb ist es aus ihrer Sicht nachvollziehbar, wenn sie immer Anderen
die Schuld daran geben, wenn sie stören. Hinzu kommt die Unfähigkeit, Konflikte
intrapsychisch zu halten oder sie gar innerlich zu klären, sodass sie sehr schnell
mit unkontrolliertem Verhalten auf Konflikte reagieren.
5. Psychotherapeutische Behandlung
5.1 Behandlungsgrundsätze
Die psychotherapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Selbststrukturstörungen basiert auf den Prinzipien des personzentrierten Konzeptes, auf Wert14
Jürgens-Jahnert
Selbststrukturstörungen bei Kindern und Jugendlichen
schätzung, Empathie und Kongruenz. Dabei kommt der Empathie eine besondere
Bedeutung zu, stellen diese Klienten doch besondere Anforderungen an die therapeutische Einfühlung. Dazu hilft die dargelegte Theorie, welche gleichzeitig
notwendige Ergänzungen der therapeutischen Grundhaltung begründet: Da die
Fähigkeiten zur Selbstwahrnehmung und bewussten Kontrolle in der ungestörten
Entwicklung von den Bezugspersonen intuitiv „gelehrt” werden, muss nun der
Therapeut im Sinne einer korrigierenden Beziehungserfahrung (Cremerius, 1979)
diesen Prozess für das Kind aktiv gestaltend nachholen. Damit ist nicht gemeint,
dem Kind von außen Strukturen aufzuerlegen, sondern das Kind darin zu unterstützen, sich selber, d.h. seinen Körper, seine Affekte, seine Beziehungen zu
Anderen, genauer wahrzunehmen und sich regulieren zu lernen. Die Konzepte
der Interaktionsresonanz (Behr, 2002, 2009) und des Guiding aus dem Focusing
(Gendlin und Wiltschko, 1999; Stumm, Wiltschko und Keil, 2003) liefern hier
wertvolle Anregungen.
Mit dem Begriff der Interaktionsresonanz meint Behr eine aktive, spielhandelnde
Antwort des Therapeuten auf die Spielhandlung des Kindes. Er lässt sich durch
die kindliche Aktivität zum Schwingen bringen und gibt so Resonanz, aber „mit
anderer Tönung, Gestalt, Ausdruck” (Behr, 2009, S. 48), d.h. in Form einer
transmodalen Affektrückmeldung. Das Konzept der Interaktionsresonanz bietet
dem Therapeuten darüber hinaus einen breiten Raum, „sich als präsente, klare
Person” zu zeigen, die „sich innerhalb der Beziehung in die Waagschale begibt”
(ebd.) Das ist bei strukturell gestörten Klienten oft notwendig, die Selbsteinbringung muss bei ihnen wegen der brüchigen Selbststruktur allerdings sehr behutsam dosiert werden, worauf Behr selber hinweist.
Beim Guiding (Stumm, Wiltschko und Keil, 2003) achtet der Therapeut besonders
intensiv darauf, was das Kind gerade erlebt, was es dabei vermutlich empfinden
kann und was es nicht spürt, wie es agiert oder reagiert, wie es mit sich, mit dem
Therapeuten oder mit den Spielsachen umgeht. In seiner Rückmeldung bezieht er
sich auf diesen Erlebensprozess des Kindes und nicht primär auf die Inhalte des
Geäußerten oder Dargestellten. Vielmehr versucht der Therapeut, das in seiner
verbalen oder nonverbalen Reaktion auszudrücken, was das Kind selber nicht
wahrzunehmen scheint.
Auch strukturell gestörte Kinder und Jugendliche suchen im Sinne ihrer Aktualisierungstendenz beständig nach affektiver Abstimmung bzw. Resonanz, wodurch
sich in der Therapie ein guter Zugang bietet. Je jünger das Kind, umso stärker
wirkt nach meiner Erfahrung noch die instinktiv angelegte Fähigkeit zur affektiven
Abstimmung im Sinne der „Weisheit des Organismus” (Rogers, 1987) bzw. der
frühen Kompetenz (Dornes, 1993). Je älter der Patient, umso stärker werden
15
Selbststrukturstörungen bei Kindern und Jugendlichen
Jürgens-Jahnert
allerdings die ursprünglichen Formen des Einschwingens überformt oder zugeschüttet sein.
5.2 Behandlungspraxis
Die therapeutische Beziehung ist geprägt durch niederschwelliges affektives Mitschwingen in vielen kleinen Spielsituationen, ob das beim Kartenspielen ist, beim
Tischtennis oder beim Spielen mit dem Bauernhof. In der engen Bezogenheit von
Seiten des Therapeuten, im Blickkontakt, im Eingehen auf Spielideen des Kindes,
im Einbringen von eigenen Spielideen und eigener Gefühle als Reaktion auf das
Verhalten des Kindes entstehen viele kleine Situationen korrigierender Beziehungserfahrungen, in denen sich die Strukturen aufbauen können, die bislang
defizitär geblieben sind. Früher habe ich mich oft gefragt, was an einer ganzen
Stunde Mensch-Ärgere-Dich-Nicht eigentlich Therapie sein soll. Nun weiß ich,
dass in dieser Stunde sehr viel an enger Bezogenheit und affektivem Mitschwingen passiert, und ich kann diese Prozesse ganz anders bewerten. Dadurch bin ich
in diesen Situationen noch entspannter, noch lebendiger, sodass ich für den jungen Klienten die von Fonagy geforderten optimalen Bedingungen für den
Mentalisierungsprozess im Sinne einer mittleren Spannung auf dem Boden einer
sicheren Beziehung noch besser realisieren kann.
Da strukturell gestörte Kinder und Jugendliche die Gefühlsqualität ihrer Affekte
nicht gut wahrnehmen können, kann ich sie mit dem Verbalisieren emotionaler
Erlebnisinhalte auch nicht erreichen. Aufgrund meiner verbesserten
Empathiefähigkeit durch das Wissen um die Hintergründe dieser Störung kann ich
meine Verbalisierungen nun ihrem Erleben anpassen. Ich schaue darauf, was
dieses Kind in der Situation wirklich empfindet, sei es eine Körperwahrnehmung,
sei es ein Erregungszustand, und spreche das an. Darüber hinaus scheue ich
mich auch nicht, seine Wahrnehmungsfähigkeit für Affekte direkt anzusprechen
bzw. Affekte im Sinne des Social Referencing (Mahler, 1975) zu benennen. Insbesondere bei externalisierenden Jugendlichen thematisiere ich auch ihre Mängel
der sozialen Deutungskompetenz und der bewussten Kontrolle.
Im Rahmen der fein abgestimmten, engen Bezogenheit kann der Therapeut darüber hinaus die Aktivität des Kindes durch seine affektiven Rückmeldungen modulieren. Innerhalb einer schmalen Bandbreite kann der Therapeut durch abgeschwächtes oder verstärktes Mitschwingen das Verhalten des Kindes regulieren
und so die inneren Voraussetzungen dafür schaffen, dass das Kind nach und nach
diejenigen psychischen Strukturen etabliert, die für die Entwicklung einer eigenen
Regulationsfähigkeit und bewussten Kontrolle erforderlich sind.
16
Jürgens-Jahnert
Selbststrukturstörungen bei Kindern und Jugendlichen
Als Orientierungshilfe im therapeutischen Alltag dient die strukturelle Grundfrage:
„Wie funktioniert dieser Mensch (psychisch) in bestimmten Situationen?” Mit
Kindern werden relevante Situationen überwiegend direkt im therapeutischen
Spiel gemeinsam erlebt, Jugendliche berichten mit zunehmendem Alter über
Alltagssituationen außerhalb der Therapie (Weinberger, 2001). Die strukturbezogene Theorie gibt eine Fülle an Anregungen für Beobachtungen und Interventionen im therapeutischen Prozess:



Wie nimmt der junge Klient sich selber wahr, seinen Körper,
seine Gefühle, sich in Interaktionen mit Anderen?
Wie reguliert der Klient seine innere Erregung, über welche Ressourcen
verfügt er, um sein inneres Gleichgewicht wieder herzustellen?
Wie steuert der Klient sein Verhalten, wie geht er mit spontanen
Impulsen um, wie bezieht er Andere in sein Verhalten mit ein?
5.3 Fallbezogene Interventionsbeispiele
Michael ist 16 Jahre alt. Seit seinem 3. Lebensjahr lebt er wegen Verwahrlosung –
seine Mutter hat eine Borderline-Persönlichkeitsstörung – in einer Pflegefamilie
und kann sich dort immer noch nicht gut integrieren. Einmal erzählt er mir, dass
er stundenlang im kalten Wasser stand, um Kindern beim Ein- und Aussteigen
aus Ruderbooten zu helfen. Erst auf meine Nachfrage wird ihm bewusst, dass er
kein Empfinden für Kälte hat. Ausgehend von seiner eingeschränkten Körperwahrnehmung beschäftigen wir uns intensiver mit seiner Selbstwahrnehmung,
was ihm hilft, sich besser zu verstehen.
Ada war ein ungewolltes Kind, welches die Mutter aufgrund gravierender familiärer Belastungen im ersten Lebensjahr nicht annehmen konnte. Sie ist im Kindergarten schüchtern und zu Hause tyrannisch. Wenn sie im gemeinsamen Spiel mit
Knete sieht, dass ich mir eine bestimmte Farbe nehmen möchte, verlangt sie
sofort, dass ich sie an sie abgebe. Ich akzeptiere das zunächst, woraufhin sie
immer bestimmender wird. Als ich dieses Spiel deshalb nicht mehr mitmache und
mich weigere, wird sie sichtlich wütend. Meine Verbalisation ihres Gefühls führt
nur noch zu mehr Anspannung. Erst als ich mich umstelle und ihr versuche zu
erklären, was ich vermute, was in ihr abläuft, entspannt sie sich zusehends und
nimmt das Spiel wieder auf, nun deutlich kooperativer.
Der achtjährige Friedel hat einen psychisch kranken Vater, die Mutter ist durch
den stark hyperaktiven älteren Bruder zusätzlich gefordert, sodass er kaum Aufmerksamkeit bekam. Mit fünf Jahren fing er an, wieder einzukoten und einzunässen und sich bei jeder Anforderung schreiend auf den Boden zu werfen. Er spielt
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Selbststrukturstörungen bei Kindern und Jugendlichen
Jürgens-Jahnert
gerne mit mir am Tischkicker, benennt seine Spieler nach seiner Lieblingsmannschaft und ärgert sich extrem, wenn seine Schalker verlieren. Er läuft rot an und
steht kurz davor, sich auf den Fußboden zu werfen und zu schreien, wie er es zu
Hause und in der Schule macht, wenn die Erregung ihn überflutet. Dann kommen
wir auf die Idee, seine Mannschaft nicht mehr Schalke 04 zu nennen, sondern es
ist jetzt „irgendeine unbekannte Mannschaft”. Er kann es jetzt besser aushalten
zu verlieren, und weil er entspannter ist, spielt er besser und gewinnt öfters.
Dann darf es doch wieder Schalke sein, und es war sogar ein Auswärtsspiel in
Bremen, als er gewinnt! So lernt er, seinen Erregungszustand durch seine Voreinstellungen zu steuern – und zwar sowohl, was seine negativen als auch seine
positiven Gefühle angeht.
Nino ist 12 Jahre alt und hat bereits eine lange Vorgeschichte impulsivaggressiven Verhaltens, über das er langsam zu reden lernt, allerdings ohne
ersichtliche Wirkung. Danach spielt er gerne ein Eishockey-Tischspiel und reagiert
meistens überzogen heftig, wenn es nicht so läuft, wie er möchte, bis eine Figur
zu Bruch geht. Diese gemeinsame Situation bietet uns die Gelegenheit, erlebnisnah über seine ihm bis dahin nicht bewussten inneren Vorgänge so ins Gespräch
zu kommen, dass es mit wirklicher Offenheit und Bezogenheit verbunden ist.
Gerade bei Jungen im Alter von Nino erlebe ich es häufiger, dass sie zwar über
Computerspiele und Mitschüler viel, über sich aber kaum wirklich reden können.
Diese Fähigkeit entwickelt sich in der Therapie erst nach und nach, oft eher im
Zusammenhang mit dem gemeinsamen Spielen als im Gespräch selber. Das wird
verständlich, wenn man bedenkt, dass affektives Einschwingen in der frühen
Kindheit der Sprachentwicklung vorausgeht und die Voraussetzung dafür ist, dass
sich das Selbst weiterentwickeln kann, dass auch ein verbales Selbst (Stern,
1992) entstehen kann.
Bei vielen Klienten sehe ich eine Kombination von struktureller und
inkongruenzbedingter Störung. Die sechsjährige Eva hat deutliche Defizite in der
Steuerung ihrer Impulse und insbesondere in der Selbstwahrnehmung. Die Eltern
tolerieren zwar ihre laute und ungestüme Art, finden aber selber keinen wirklichen Zugang dazu und können ihr so nicht helfen, ihre selbststrukturellen Defizite
abzubauen. Während die Erzieherinnen in ihrem ersten Kindergarten mit ihr gut
umgehen können, wird sie nach einem Wechsel aufgrund des Umzuges der Eltern
von den neuen Erzieherinnen häufig geschimpft und bestraft, ohne dass sie zu
Hause davon erzählt. Sie beginnt wieder einzunässen, worauf dann auch die
Eltern negativ reagieren, sie unter Druck setzen, ihr Vorhaltungen machen. In
ihrem inneren Prozess ist sie in einen Widerspruch geraten zwischen der Zuschreibung der Eltern einerseits: „Du bist ein Kind, das gerne in den Kindergarten
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Jürgens-Jahnert
Selbststrukturstörungen bei Kindern und Jugendlichen
geht.” und ihrem unbewussten aktuellen Erleben andererseits: „Im neuen Kindergarten geht es mir schlecht, ich will da nicht hin.” In solchen Widersprüchen
sehen Behr, Hölldampf und Hüsson (2009) mögliche Kerne kindlicher Inkongruenz.
In der Spielpsychotherapie erlebe ich zunächst ihre impulsive und unruhige Seite.
Sie ist wenig mit mir im Kontakt und wechselt oft ihre Spielthemen. Durch enge
Bezogenheit und affektives Mitschwingen entsteht nach und nach mehr Kontakt
und innere Kontinuität. Erst dann inszeniert sie im Spiel mit dem Bauernhof auf
einer selbstgewählten symbolischen Ebene ihren Konflikt im Kindergarten: Das
Pferd wird aus dem Stall (zu Hause) geritten zum Springparcour (Kindergarten),
worauf es sich zunächst zu freuen scheint. Vor dem Hindernis verweigert es sich
dann aber und geht zurück zum Stall – was sie unbewusst selber gerne machen
würde. Dass das Pferd Angst hat, weil hinter dem Hindernis ein böses Tier lauert
(bedrohliche Erzieherinnen), ist ihrer Selbstwahrnehmung in dem Moment noch
nicht zugänglich, denn bei der Spielhandlung zeigt sie keinerlei affektive Beteiligung. Diese erschließt sich ihr erst durch mein Vorausgehen, indem ich meine in
der Spielsituation entstehenden Wahrnehmungen und Fragen einbringe. So spürt
sie zunächst, dass das Pferd sich bedroht fühlt und findet dann einen Begriff
dafür („ein Wolf”). Als sie später die von mir eingebrachte Bezeichnung des Affektes aufgreift und direkt auf sich bezogen sagt: „Ich habe auch Angst.”, hat sie
einen Zugang zu ihrer bislang unbewussten inneren Spannung gefunden (die sich
dadurch ersichtlich löst) und gleichzeitig ihre Wahrnehmungsfähigkeit für die
Gefühlsqualität ihrer Affekte weiterentwickelt.
5.4 Zusammenarbeit mit den Eltern
Auch für die Elternarbeit liefert die Theorie der Selbststrukturstörung wertvolle
Anregungen. Sie hilft den Eltern, ihr Kind neu zu verstehen. In der Regel schauen
Eltern auf die hinter dem Verhalten ihrer Problemkinder vermuteten Motive: Das
Kind will mächtiger sein als ich, ist faul und rechthaberisch; es macht in die Hose,
um mich zu ärgern; es ist computersüchtig; es ist aggressiv usw. Wenn es gelingt, den Blick auf das spezifische psychische Funktionieren des Kindes oder
Jugendlichen zu lenken, kann ein tieferes Verstehen beginnen: Der junge Mensch
versucht, seine Erregungszustände zu kontrollieren; er nimmt seinen Körper und
damit auch seine Ausscheidungsorgane nicht gut wahr und kann sich nicht gut
regulieren; er zieht sich zurück, weil er andere nicht gut aushalten kann; er
schlägt sofort zu, weil er über keine intrapsychischen Kapazitäten verfügt, um
Konflikte zu klären.
19
Selbststrukturstörungen bei Kindern und Jugendlichen
Jürgens-Jahnert
Eltern fällt es oft schwer zu unterscheiden, was ihr Kind aufgrund seiner psychischen Erkrankung nicht kann und was es nicht tun will. Häufig tendieren sie dazu,
Letzteres überzubetonen. Als Therapeut in das entgegengesetzte Extrem zu verfallen und jedes Problemverhalten mit der psychischen Störung zu erklären, wird
meistens nicht der Lebensrealität gerecht, stellt seine Glaubwürdigkeit in Frage
und das Kind/den Jugendlichen von jeder Selbstverantwortung frei. Hier hilft es
eher, gemeinsam mit den Eltern konkrete Problemsituationen zu analysieren
unter Einbezug des professionellen Wissens um die Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen Störungen sowie ihren Auswirkungen. Gerade dazu
liefert die Theorie der Selbststrukturstörung hilfreiche und z.T. neue Einsichten.
Auf dieser Grundlage kann versucht werden, begründet zu unterscheiden, was
das Kind nicht kann und was es nicht will, um anschließend mögliche Konsequenzen zu überlegen. Dann können Eltern auf ihre Kinder wieder angemessener
reagieren und zwar sowohl in Richtung eines besseren Verstehens als auch bezüglich ihres Erziehungsverhaltens.
6. Implikationen für die personzentrierte Störungslehre
Nach der personzentrierten Vorstellung entwickelt sich das Selbst aus den Erfahrungen, die das Kind mit sich und seinen Bezugspersonen macht (Rogers, 1987).
Damit das Kind seine Erfahrungen integrieren kann, muss es in diesem Prozess
von einer kongruenten und wertschätzenden Bezugsperson empathisch begleitet
werden (was übrigens von Fonagy auch so gesehen wird). Wesentliche Bestandteile einer Erfahrung sind Körpererleben, Affekt und Kognition. Durch die organismische Bewertung werden Erfahrungen (vorwiegend unbewusst) daraufhin
eingeschätzt, in welchem Maße sie im Sinne der Aktualisierungstendenz der Erhaltung und/oder der Entfaltung des Individuums dienen. Dabei fungiert der
Affekt als Grundlage für diese Bewertung (Eckert, Biermann-Ratjen und Höger,
2006). Da jeder Mensch seine eigene Bewertung seiner Erfahrungen vornimmt,
kann nur dieser genau um seine Bewertungen wissen. Als Außenstehender kann
ich lediglich versuchen, mich seinem inneren Bezugsrahmen möglichst weit empathisch anzunähern.
Die Entwicklung einer inneren Bewertungsinstanz ist nach Rogers (1987) im Organismus angelegt. Wenn das Kind ausreichend positive Beachtung erfährt, wird
es seine individuellen Bewertungsbedingungen entwickeln, sodass es jede Erfahrung richtig bewerten kann, ob sie der Aktualisierungstendenz entspricht, d.h. ob
es für die Erhaltung und Entfaltung des Organismus förderlich ist. Dabei geht
Rogers davon aus, dass ein Kind seine gefühlsmäßigen Reaktionen (die ja ein
wesentlicher Bestandteil jeder Erfahrung sind) angeborenerweise potenziell angemessen wahrnehmen kann. Eine Störung der psychischen Entwicklung kann
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Jürgens-Jahnert
Selbststrukturstörungen bei Kindern und Jugendlichen
nach dem bisherigen Verständnis dann entstehen, wenn sich das Kind nach den
Vorgaben der Bezugsperson richten muss, um ihre positive Beachtung zu erlangen. Dann wird es seine Bewertungsbedingungen entsprechend verformen, um
sein lebensnotwendiges Bedürfnis nach positiver Beachtung erfüllt zu bekommen,
was zu Inkongruenzen führt.
Dank der empirischen Säuglings- und Kleinkindforschung und der Hirnforschung
wissen wir nun allerdings, dass sich die subjektive Wahrnehmung eigener Affekte
und ihre mentale Verarbeitung im Kleinkind entwickeln muss und dass dies nur
dann gelingt, wenn die Bezugsperson dabei in enger Bezogenheit mit dem Kind
ist. Erst das affektive Einschwingen von Seiten der Bezugsperson in den ersten 15
Lebensmonaten und ihre Verfügbarkeit über mentale Bilder des Kindes ermöglichen es diesem, auf der Ebene der Selbstwahrnehmung und der kognitiven Verarbeitung diejenigen inneren Strukturen zu schaffen, die es für einen adäquaten
Umgang mit seinen Affekten braucht. Wenn es dem Kind nun an diesen förderlichen Entwicklungsbedingungen zu sehr fehlt, kann es keine angemessene Wahrnehmung der Gefühlsqualität seiner Affekte und oft auch eigener Körperempfindungen entwickeln. Da es somit den Signalcharakter der Affekte nicht entschlüsseln kann, kann es soziale Situationen nicht richtig deuten und nicht bezogen
reagieren. Die das Individuum überflutende Erregung beeinträchtigt die Entwicklung seiner Steuerungs- und Regulationsfähigkeit. Auf der kognitiven Ebene wird
die Fähigkeit zur mentalen Verarbeitung beeinträchtigt, sodass eine innere Affektregulierung nicht möglich ist und die Erregung externalisierend abreagiert wird.
Dies geschieht oft mit Verhaltensweisen, die ungesteuert ablaufen und von Anderen häufig als destruktiv erlebt werden, dem Akteur aber ein Gefühl der Entlastung von seinem aversiven Erregungszustand vermitteln.
Bezogen auf das Konzept der organismische Bewertung bedeutet dies, dass nicht
nur – wie bislang angenommen – der Bewertungsprozess störanfällig ist, sondern
auch die Bewertungsinstanz selber. Denn wenn Affekte nicht oder nicht richtig
wahrgenommen werden können, d.h. die subjektive Gefühlsqualität nicht zugänglich ist, fehlt dem Organismus die differenzierte Information zur Bewertung einer
Erfahrung. Die organismische Bewertung kann nicht oder nicht ausreichend deutlich unterscheiden, ob eine Erfahrung positiv im Sinne der Aktualisierungstendenz
ist oder nicht, sondern sie richtet sich danach, ob sie das Erregungsniveau erhöht
oder reduziert. Es werden dann primär nicht diejenigen Erfahrungen gesucht, die
im konstruktiven Sinne die Entwicklung des Organismus voranbringen, sondern
solche, die entweder mit wenig Erregung verbunden sind oder vorhandene Übererregung abführen. Das sind dann solche Verhaltensweisen wie Rückzug, Ausüben von Dominanz oder Aggressivität gegen Sachen, gegen Andere oder gegen
sich selbst. Hierin sehe ich den Mechanismus der Verstärkung negativer Verhal21
Selbststrukturstörungen bei Kindern und Jugendlichen
Jürgens-Jahnert
tensweisen, die zu den optimistischen Vorstellungen von der individuellen Entwicklung des personzentrierten Konzeptes im Widerspruch steht.
7. Schluss
Als ganzheitlich orientierte Psychotherapeuten steuern wir unsere Interventionen
nicht ausschließlich über den Kopf, sondern beziehen unsere Gefühle, innere
Vorstellungen, Bilder und Fantasien mit ein. Mit der Zeit entwickelt sich daraus
die professionelle Intuition (Buchholz, 2007), die es uns als Therapeuten ermöglicht, spontan und direkt, trotzdem ganzheitlich und mit optimierter Passung
(Fröhlich-Gildhoff, 2007) therapeutisch zu agieren. Damit das auch für strukturbezogene Interventionen gelten kann, muss ich mich als Therapeut mit meiner
eigenen Geschichte des affektiven Einschwingens beschäftigen und meine spezifischen strukturellen Defizite kennen lernen.
Seitdem ich diese theoretischen Überlegungen mit meiner therapeutischen Praxis
verbinden kann und meine auf mich selber bezogenen Erfahrungen einbeziehe,
erschließt sich mir eine neue Welt, deren Vorhandensein ich mir vorher nicht
vorstellen konnte. Das macht Therapie wieder spannend und ermöglicht neue
Entwicklungsverläufe.
Die oben erwähnte Zunahme von selbststrukturellen Störungen in der psychotherapeutischen Praxis erklärt sich für mich mittlerweile nicht mehr in erster Linie mit
einer absoluten Zunahme dieser Störungen, sondern primär durch verändertes
Erziehungsverhalten. In der Vergangenheit waren es externale Regeln, Konventionen, Grenzen und Werte, die durch Erziehung vermittelt wurden und dem Individuum eine äußerliche Struktur vorgaben, in der es sich bewegen konnte. Durch
die kontinuierliche Abnahme in der Vermittlung solcher Strukturvorgaben (Winterhoff, 2008) wird die handlungsleitende Bedeutung innerer Strukturen immer
wichtiger. Ich sehe uns gesellschaftlich an dem Punkt, diesen Wandel wahrzunehmen und psychotherapeutisch darauf zu reagieren. Auch wenn wir momentan
überwiegend mit den daraus entstehenden Problemen konfrontiert sind, sehe ich
im Prozess des Austausches externaler gegen innerpsychischer Strukturen eine
insgesamt positive Entwicklung, zu der wir als personzentrierte Psychotherapeuten mit unserer großen Beziehungskompetenz einen signifikanten Beitrag leisten
können.
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