BMBF Förderkennzeichen: 01 GP 0688 Fachlicher Abschlußbericht Klausurwochen-Projekt: Die rechten Worte finden ... Sprache und Sinn in Grenzsituationen des Lebens 28. 7. 2008 - 2. 8. 2008 Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung Universität zu Lübeck Projektleitung: Prof. Dr. Hans Werner Ingensiep Hans Werner Ingensiep & Theda Rehbock 1. Sprache und Sinn in Grenzsituationen des Lebens 1.1 Einführung und Intention Grenzsituationen des menschlichen Lebens – Karl Jaspers zufolge, der diesen Begriff geprägt hat, sind das Tod, Leiden, Kampf und Schuld 1 – stellen für Sprache und Sinnfindung des Menschen eine besondere Herausforderung dar. Es ist eine bekannte Erfahrung, dass uns die Sprache in solchen Situationen versagt, dass wir sprachlos werden, ja, dass Schweigen oft eine angemessenere Reaktion ist als hilfloses Gerede. Andererseits sind gerade Grenzsituationen ein beliebter Anlass und Gegenstand für zwischenmenschliche Gespräche sowie treibendes Motiv für die sprachliche Artikulation des Menschen in Religion, Literatur oder Philosophie. Sprache ist nicht ein bloß äußeres Instrument der Mitteilung, sondern Medium und Lebenselement des Denkens, der menschlichen Erkenntnis und Selbsterkenntnis, sowie des menschlichen Lebens und Handelns. Dies gilt in besonderer Weise auch für die Medizin. Der zunehmende Einfluss der Naturwissenschaften auf die Medizin sowie der „Strukturwandel der Medizin“ (Wolfgang Wieland) insgesamt haben jedoch zu einer eigentümlichen Sprachlosigkeit und „Anonymisierung“ in der Beziehung zwischen Arzt und Patient geführt, sowie eine Verengung des ärztlichen Blicks auf die physiologischen Aspekte der Krankheit und des Leidens begünstigt. In Reaktion auf diese Entwicklung haben bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Psychoanalyse, Viktor von Weizsäcker und Karl Jaspers der Sprache in der Medizin, ihrer therapeutischen Bedeutung und ihrer anthropologischen Dimension in der Arzt-Patienten-Kommunikation besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Sprache soll einen Beitrag zum „Verstehen“ leisten, d. h. im Dialog mit dem Patienten das ganze Subjekt, seine Lage und sein Umfeld einbeziehen, nicht zuletzt, um diagnostische oder therapeutische Maßnahmen und die damit verbundenen Risiken und Chancen besser vermitteln zu können. Prototypisch für diesen Anspruch war und ist das klassische Aufklärungsgespräch über die „Wahrheit am Krankenbett“.2 Auch „Krankheit und Sprache“ sind seit langem Gegenstand der Analyse in der Arzt-PatientenKommunikation3. Angesichts gleichwohl auch heute noch gravierender Kommunikationsmängel in der medizinischen Praxis wird die Bedeutung von Sprache und Kommunikation zum Beispiel unter dem Stichwort „sprechende Medizin“ und „narrative based medicine“ wieder entdeckt. Hier liegt das Augenmerk in erster Linie auf dem heilenden Charakter des Gesprächs. Im Zusammenhang mit dem Aufkommen der Medizin- und Bioethik in den vergangenen Jahrzehnten hat sich aber auch mehr und mehr gezeigt, wie sehr ethische Probleme in der medizinischen Praxis das Ergebnis mangelnder oder 1 Jaspers, K. (1932): Philosophie II. Existenzerhellung. München, Zürich 1994, Kap. 7. Ansohn, E.: Die Wahrheit am Krankenbett, München 3. Aufl. 1978. 3 Z. B. Goltz, D.): Krankheit und Sprache. In: Sudhoffs Archiv 53, 1969, 224–269. 2 2 Sprache und Sinn in Grenzsituationen des Lebens misslungener Kommunikation sind, und zwar nicht nur der Kommunikation zwischen Arzt und Patient, sondern auch der Ärzte und der verschiedenen Berufsgruppen untereinander, insbesondere auch zwischen Ärzten und Pflegenden. Klinische Ethik, Ethikberatung, Ethikkomitees, ethische Fallbesprechung, Organisationsethik usw. setzen bei diesem Problem an.4 Die Forderung des Informed Consent – der Zustimmung des Patienten zu medizinischen Maßnahmen auf der Grundlage verständlicher und ausreichender Informationen – wurde zwar seit den Nürnberger Ärzteprozessen im Recht verankert. Informations- und Aufklärungsprozeduren werden jedoch in der Praxis meist allzu sehr formal-schematisch und unpersönlich durchgeführt. Den notwendigen, auch ethischen Bedingungen gelingender Kommunikation (z. B. Verständlichkeit, Genauigkeit, Relevanz, Verlässlichkeit, Wahrhaftigkeit) wird zu wenig Beachtung geschenkt.5 Sprache, Sprachlichkeit ist – ebenso wie der menschliche Köper, die Leiblichkeit des Menschen – so sehr das Medium und Lebenselement personaler Existenz, dass das Gespräch nicht nur eine heilende Funktion hat. Das angemessene Gespräch, die verbale und auch die nonverbale Kommunikation mit dem Patienten ist vielmehr auch in der medizinischen Praxis eine notwendige Bedingung der Achtung der Person und ihrer Würde und mangelnde oder unzureichende Kommunikation eine Form der Missachtung und Demütigung. Kommunikations- und Sprachprobleme prägen auch die öffentlichen Debatten in den Medien über medizinische Grenzsituationen, in denen die Sprache des Patienten versagt, aber um so mehr ein öffentliches Ringen um Worte erfolgt. Exemplarisch zeigte dies im Jahr 2005 die öffentliche und mediale Behandlung des Falles der amerikanischen Wachkoma-Patientin Terri Schiavo. Immer geht es darum, „die rechten Worte“ zu finden, um der komplexen ethischen, medizinischen und menschlichen Lage gerecht werden zu können, und die Suche nach angemessenen Metaphern, Analogien und Ontologien, Beschreibungen und Bewertungen setzt ein. Jede Sprache, nicht nur die in Grenzsituationen, interpretiert und konstruiert Wirklichkeiten, artikuliert Selbstverständnisse und Menschenbilder, formuliert Sinnhorizonte, die im Dialog der unmittelbar Beteiligten – vor allem in der ArztPatienten-Kommunikation – nicht selten ausgeblendet werden. Als selbstverständlicher Hintergrund der Verständigung kann und muss die anthropologische und ethische Dimension der Sprache und Medizin gewöhnlich nicht thematisiert werden, sie kann aber auch höchst kritikbedürftig sein.6 Analyse und Kritik sind gefordert, wenn man in der Sprache über oder in Grenzsituationen auf komplexe Metaphern stößt, welche die Wirklichkeit zu erfassen meinen, z. B. auf im Wachkoma „vegetierende“ Menschen. Ob und wieweit derartige phytomorphe Vergleiche tragfähig sind, ist vor dem Hintergrund von Mythos und Wirklichkeit der Menschen im Wachkoma auf der Höhe der aktuellen 4 Vgl. Dörries, A./Neitzke, G./Simon, A./Vollmann, J.: Klinische Ethikberatung. Ein Praxisbuch. Stuttgart 2008. 5 Vgl. Manson, N.C./ O’Neill, Onora: Rethinking Informed Consent in Bioethics, Cambridge 2007. 6 Vgl. Maio, G.: Das Menschenbild als Grundfrage der medizinischen Ethik. In: Blum, H. E./ Haas, R. (Hg.): Über das Menschenbild in der Medizin. Stuttgart, New York 2004, 41–47. 3 Hans Werner Ingensiep & Theda Rehbock Theorie und Praxis zu diskutieren. Das Beispiel zeigt auch, dass echte Interdisziplinarität gefordert ist, z. B. die klärende Einbeziehung und Kritik der Sprache von Philosophen, Bioethikern, Kulturwissenschaftlern, Neurologen oder von den Pflegenden. In derartigen Problemlagen bedarf es grundlegender philosophischer Reflexion auf Sprache und einer historischen Aufarbeitung in der Theorie ebenso wie medizinischer oder pflegerischer Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Praxis. Philosophische Sprach- und Wissenschaftskritik, wie sie in der Philosophie Ludwig Wittgensteins, aber auch in der philosophischen Phänomenologie und Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts sowie in der philosophischen Metaphorologie von Hans Blumenberg zu finden ist, kann einen besonderen Beitrag auch zur interdisziplinären Verständigung leisten. Sprache bedingt und ermöglicht nicht nur menschliches Denken, Erkennen und Handelns, sie begrenzt und beschränkt es auch in seinen Möglichkeiten. Die sprachliche Darstellung der Wirklichkeit, und so auch der menschlichen Situation, erfolgt im Rahmen von Begriffssystemen und Darstellungsformen, die bestimmte Aspekte der Realität beleuchten und „entdecken“, andere dagegen ausblenden und „verdecken“ (Heidegger). Auch in den Naturwissenschaften, also auch in Biologie und Medizin, ist die sprachliche Beschreibung der Realität angewiesen auf Analogien, Metaphern und eine das gesamte Denken leitende „Hintergrundmetaphorik“ (Hans Blumenberg). Auf diese Weise können immer nur begrenzte Gesichtspunkte und Perspektiven auf die menschliche Realität artikuliert werden. Diese Begrenztheit der in sprachlicher Darstellung liegenden Perspektive wird allzu leicht vergessen. So ist der phänomenologische Sinnhorizont der Situation des „vegetierenden“ Menschen im Wachkoma fundamental von der Situation einer vegetierenden Pflanze verschieden. Dies macht die Erweiterung des Kontextes, z. B. seines bisherigen Lebens plausibel, etwa durch Einbeziehung früherer Willensäußerungen oder der Beziehung zu anderen Menschen. Wie eine solche philosophische Sprach- und Wissenschaftskritik auch für die Ethik des Handelns in Medizin und Pflege fruchtbar gemacht werden kann, bedarf auch für die Zukunft noch genauerer Untersuchungen.7 1. 2 Projektziel und Ergebnisse Sprachphilosophische, anthropologische und ethische Sinnhorizonte von Grenzsituationen des menschlichen Lebens zu erschließen, diese in konkreten Situationen und anhand von Fallbeispielen aus der Praxis bewusst zu machen und konkret zu reflektieren, war ein besonderes Anliegen des Projektes, aus dem das nun vorliegende Buch hervorgegangen ist. Es wurde bereichert durch die sehr konkreten Denkanstöße und neuen Aspekte, welche im Jahre 2008 die permanenten Teilnehmerinnen und Teilnehmer in die vom BMBF geförderte Klausurwoche am Institut für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte an der Universität zu Lübeck einbrachten. Die Projektergebnisse wurden publiziert unter dem Titel: 7 Zur Bedeutung der auf Kant, Wittgenstein und die philosophische Phänomenologie zurückgehenden philosophischen Kritik der Medizin für die Reflexion der ethischen Probleme vgl. Rehbock, T.: Personsein in Grenzsituationen. Zur Kritik der Ethik medizinischen Handelns. Paderborn 2005. 4 Sprache und Sinn in Grenzsituationen des Lebens „Di e rec hte n Worte fi nde n ... Sprac he und Si nn in Gr en zsituatio nen des Lebens“ herausgegeben von Hans Werner Ingensiep und Theda Rehbock Königshausen & Neumann, Würzburg 2009 (358 S.) ISBN: 973 3 8260 3976 8 Die darin versammelten Beiträge entspringen gründlichen Einzelstudien und einer intensiven, interdisziplinären Diskussion der Autorengruppe untereinander und der Auseinandersetzung mit den eingeladenen Experten. Die Sprache und das Sprechen von, mit und über Patienten in komplexen Grenzsituationen bildeten den thematischen Mittelpunkt. Diese Untersuchungen werden nachfolgend skizziert. 2. Analysen zu Sprache und Sinn in Grenzsituationen des Lebens 2.1 Allgemeine philosophische und historische Grundlagen Der erste Teil der Untersuchungen widmet sich in besonderer Weise den philosophischen Grundlagen sowie historischen Dimensionen von Sprache und Ethik. Der Medizinhistoriker und Medizinethiker Dietrich von Engelhardt führt in seinen Analysen zu „Dimensionen der Sprache in Grenzsituationen“ von der Antike bis ins 20. Jahrhundert durch die Geschichte bis zur programmatischen Einführung des Subjekts in die Medizin durch Viktor von Weizsäcker. Er bietet ein Schema zur komplexen Arzt-Patienten-Kommunikation an und gestattet Einblicke in reale Entscheidungssituationen von Ethikkommitees. Kulturelle Angebote aus der Musik oder Literatur ermöglichen Formen der Kommunikation in Grenzsituationen, in denen die gesprochene Sprache selbst oft aus vielerlei Gründen an ihre Grenzen stößt. Auch die archaische Form der Patientensprache in Dürers Selbstportrait: „ … do ist mir weh“ ist ein solches Beispiel. Der Beitrag der Philosophin Theda Rehbock „Person und Sprache. Zur Bedeutung philosophischer Sprachkritik für die Ethik“ zeigt, dass Ethik und Medizin philosophischer Sprachkritik bedürfen. Am Beispiel der Begriffe der Person und der Menschenwürde wird deutlich, dass die Ethik, sofern sie es mit etwas „Absolutem“ zu tun hat, in Gefahr gerät, dieses Absolute als etwas empirisch Gegebenes oder transzendent Unerreichbares misszuverstehen. In kritischer Auseinandersetzung mit in bioethischen Debatten üblichen Missverständnissen dieser ethischen Grundbegriffe entwickelt die Autorin ein phänomenologisch-anthropologisches Konzept von „Personalität und Würde als Sinnhorizont menschlicher Praxis“, das auch das noch nicht oder nicht mehr vernunft- und sprachfähige menschliche Subjekt als moralisch zu achtende Person einschließt. Die konkrete Bedeutung dieses Konzeptes für die medizinische Praxis verdeutlicht sie mit Bezug auf die Arzt-Patienten-Kommunikation und am Beispiel einer Grenzsituation am Anfang des Lebens, wie sie in dem Film 5 Hans Werner Ingensiep & Theda Rehbock „Mein kleines Kind“ von Katja Baumgarten thematisiert wird. In diesem Zusammenhang erweist sich eine Kritik der begrenzten Bedeutung und Reichweite der medizinischen Sprache im Kontext der Alltagssprache und Lebenspraxis als notwendig. Die Ethikerin und Theologin Heike Baranzke leuchtet in ihrem Beitrag „Ethisch von Würde reden in Grenzsituationen. Zur Leistungsfähigkeit von Avishai Margalits Menschenwürdekonzept an einem pflegeethischen Hygienebeispiel“ die ethischen Dimensionen philosophischer Rede von Menschenwürde aus. Sie zeigt, dass neben der unverzichtbaren Beobachtung der normativen Seite der Menschenwürde, nämlich der Einhaltung von Menschen- und Grundrechten, gerade beim Umgang mit den Schwächsten und Wehrlosen die haltungsethische Dimension zu Tage tritt, die einer heute allzu verrechtlichten Rede von Menschenwürde erst moralischen Gehalt und begründendes Fundament gibt. Vor dem Hintergrund sprachphilosophischer Ansätze, die den pragmatischen Charakter der Sprache als einer mit dem menschlichen Handeln verwobenen Praxis besonders hervorheben, analysiert der Philosoph Lars Leeten „die Bewältigungskapazität von Sprache und ihre Grenzen“ angesichts von Grenzsituationen in der Medizin. Im Normalfall, so Leeten, setzt der Sinn und das Gelingen sprachlicher Verständigung ein gemeinsam geteiltes Weltverständnis voraus, das so selbstverständlich das Denken und Handeln leitet, dass es nicht zum Thema wird und werden muss. In Ausnahmefällen kann es zu „Verstehensirritationen“ kommen, die eine Reflexion und Veränderung des zugrunde liegenden Weltverständnisses erfordern, das eine praktische Neuorientierung ermöglicht. Lebensbedrohliche Grenzsituationen jedoch lassen sich nicht in dieser Weise sprachlich und praktisch gemeinsam bewältigen. Hier ist der Einzelne in dem Bemühen um Weltdeutung auf sich allein gestellt. Aus dieser Einsicht ergeben sich Leeten zufolge ethische Konsequenzen etwa für den besonderen Respekt gegenüber der Autonomie des Verstehens und Handelns von Betroffenen und speziell für die besondere Bedeutung von Patientenverfügungen. Unter dem Titel „Narrativität und Schmerzbehandlung. Aspekte einer hermeneutischen Ethik angesichts der Grenzen des menschlichen Lebens“ geht der Bioethiker und Theologe Jean-Pierre Wils der Frage nach, in welcher Weise narrative, fiktionale, ästhetische Formen der Erfahrung und Thematisierung von Grenzsituationen für die Ethik von Bedeutung sein können und müssen. In Abgrenzung gegen Vorstellungen von einer moralisierenden Kunst oder Literatur zeigt Wils, dass Kunst oder Literatur gerade auch in ihrer „Freiheit, a-moralisch, ja geradezu un-moralisch zu sein“, eine Bildung und Praktizierung des moralischen Empfindens, der moralischen Reflexion, Phantasie und Urteilskraft angesichts konkreter Erfahrungen und Phänomene in besonderer Weise ermöglicht. Auch die Ethik könne trotz oder gerade wegen ihrer theoretischen Distanz zur Praxis auf diese Formen der Kontextualisierung nicht verzichten. Diese These wird literatur- und ethiktheoretisch sowie am Beispiel des Schmerzes konkret erläutert. Die Philosophin Julia Dietrich geht in ihrer Analyse zu „anthropologischen Grundlagen des Verhältnisses von Schmerz und Sprache“ von einer Alltagssituation der Schmerzerfahrung aus der Perspektive der 1. Person aus, nicht wie Elaine Scarry von der Extremerfahrung des Folterschmerzes und ihrer Unzugänglichkeit in der 6 Sprache und Sinn in Grenzsituationen des Lebens Perspektive der 3. Person. Sie wendet sich damit gegen Scarrys These, dass Schmerz Sprache zerstöre, und skizziert „Ordnungen des Schmerzes“, z. B. die „inverse Intentionalität“, und anthropologische Dimensionen der Versprachlichung und Kommunikation. Dies geschieht anknüpfend an Analysen zur Schmerzerfahrung der klassischen Phänomenologie (Edmund Husserl, Maurice Merleau-Ponty) und philosophischen Anthropologie (Max Scheler, Helmuth Plessner, F. J. J. Buytendijk) sowie an zahlreiche neuere Beiträge zur Schmerzthematik. Der Philosoph und Biologe Hans Werner Ingensiep entfaltet am Beispiel des Wortes „Vegetieren“ vielfältige Kontexte zur Bedeutungsklärung. Aktuelle „Grenzfälle“ (z. B. die Wachkoma Patientin Terri Schiavo), philosophiehistorische Positionen (z. B. Kant, Nietzsche), dann biophilosophische Argumentationen sowie anthropologische und bioethische Dimensionen der Rede vom „Vegetieren“ werden „zur Sprache“ gebracht. Ein Vergleich der philosophischen Ansichten von Hans Jonas, Peter Singer und Emanuel Levinas liefert weitere Denkanstöße. Der Philosoph Karim Akerma analysiert auf der Suche nach Definitionen die Termini „Organismus“ und „Lebewesen“ und deren Anwendungen vor dem Hintergrund der Bioethik Peter Singers, z. B. in der Diskussion über Hirntodkriterien. Der Grenzfall monophysischer Zwillinge wird für die kritische Analyse der elementaren Begriffe „Lebewesen“ und „Person“ fruchtbar gemacht. Lebewesen sind „psychophysische Einheiten“, was nach Akerma mit einem mentalistischen Ansatz zusammenstimmt und diverse Konsequenzen für unseren „Begriffshaushalt“ hat. 2.2 Exemplarische Analysen und Einzelfallstudien Der zweite Teil der Beiträge konkretisiert die allgemeinen und besonderen Rahmenbedingungen für die Kommunikation in der modernen Medizin. Aus dem weiten Spektrum der Anwendungsbereiche für Sprache und Kommunikation werden Exempel zur Theorie und Praxis in der Medizin, Pflege und Beratung und damit auch die Vielfalt möglicher Grenzsituationen vorgestellt. Die nachfolgenden Beiträge führen an Hand von allgemeinen Rahmenbedingungen und konkreten Situationen in der Medizin und Klinik vor Augen, wie Theorie mit Praxis, intensive Reflexion mit konkreten Erfahrungen vermittelt werden müssen. Der klinische Neurolinguist und Kommunikationsberater Markus Greß-Heister behandelt relevante Hintergründe, Modelle und elementare Probleme der Kommunikation in der modernen Medizin. Ohne Kommunikation ist die Medizin nichts. Umso mehr sei medizinisches Handeln unter den komplexen Rahmenbedingungen postmoderner Medizin nicht nur auf „Information“, sondern gerade auf integrierte und echte „Kommunikation“ angewiesen. Dem Arzt und Philosophen Johannes Huber und seinem Kollegen M. Hohenfellner geht es darum, etablierte Kommunikationsformen im Geiste des „informed consent“ mit autonomer Patientenpartizipation und Dialog zu erweitern. Als Fallbeispiel dient der Einsatz interaktiver, visueller Medien zur Optimierung des präoperativen onkologischen Aufklärungsgesprächs vor der radikalen Prostatektomie. Ein Ziel ist, die iuristisch-ethisch notwendige Aufklärung von Patienten als konstruktives Gespräch für den Patienten zu manifestieren. 7 Hans Werner Ingensiep & Theda Rehbock Die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Christine von Busch geht auf die schwierige Kommunikation mit Kindern in der pädiatrischen Onkologie ein und konstatiert: „Wir stehen mit dem Rücken an der Wand.“ Diese ganz besonderen Grenzgespräche über Diagnose und Therapie stellen hohe Anforderungen an die jungen, scheinbar nicht mündigen, Patienten, ihre Familien und die Ärzte. Metaphern, Bilder, narrative Elemente können verstehen helfen. Eindringlich und erschütternd sind die Erfahrungen von existentieller Angst, von Sprachlosigkeit der Familien, aber auch von der kindlichen Weisheit zu Sterben und Tod, von welcher die Welt der Erwachsenen lernen kann. Die Fachärztin für rehabilitative Medizin Elisabeth Heister erschließt gleichermaßen erhellend wie bedrückend in nüchterner Sachlichkeit die kommunikative Situation anhand eigener Beobachtungen und Erfahrungen in einer Klinik für neurochirurgische/neurologische Frührehabilitation. „Wie lebt er jetzt?“ kann eine Frage von Angehörigen eines Komapatienten sein oder: „Was bedeutet das Wort Koma“? Die Komplexität der Probleme und die Facetten der Sprache in der Klinik werden deutlich. Der Facharzt für Neurochirurgie (Rehabilitationswesen) Andreas Zieger lenkt die Aufmerksamkeit auf die Körpersprache als Ausdruck und Signal von Wachkomapatienten, die sich in einer besonderen Grenzsituation befinden. Sich als Arzt auf diese Weise der Kommunikation einzulassen, hat unüberschätzbare Auswirkungen auf einen humanen Umgang mit solchen verbal nicht äußerungsfähigen Menschen. Welche Art von kognitiven und emotionalen Zuständen sind in dieser Seinsweise über Körpersprache vermittelbar? Nach Zieger ist die Körpersprache dieser Patienten als Ausdruck eines autonomen Selbst zu interpretieren. Daher wird ein beziehungsmedizinischer Ansatz für die Therapie gefordert und der herkömmliche defektmedizinische, automatenhafte Interpretationsansatz kritisiert, der einem negativen Menschenbild entspricht. Der Bioethiker Arndt T. May führt in die rechtspolitische Debatte über Rolle und Typ von Patientenverfügungen ein und macht deutlich, wie sehr es auf die „rechten Worte“ ankommt, wenn die Patientenautonomie auch in diesem „Sonderfall von Kommunikation“ zwischen Arzt und Patient mit Blick auf potentielle Grenzsituationen wie Demenz oder Wachkoma gewahrt bleiben soll. Von „indirekter Sterbehilfe“, vom Arzt als „Tötungsheilbehandler“, von „Selbstentsorgungs-Verfügungen“ des Patienten ist die Rede. Klärungsbedürftig in der eigentlichen Verfügung sind konkrete, medizinisch und juristisch relevante Formulierungen, die dann greifen, wenn eine direkte Kommunikation nicht mehr möglich ist. Besondere Anforderungen an alle Beteiligten stellt die Pflege und das seelsorgerische Gespräch mit Menschen, die schwere Krankheit, Leiden, Altern, Sterben und den Tod erfahren. Die Pflegewissenschaftlerin Angelika Abt-Zegelin geht in ihrer Lagebeschreibung zur Rolle der Sprache in der Pflege von aktuellen Befunden aus und eröffnet vielfältige, oft problematische Dimensionen im Sprachgebrauch. Die Verwaltungssprache oder der alltägliche Jargon, Ausdrücke zur Verniedlichung und Diskriminierung der zu Pflegenden, auch die „mechanistische“ Sprache in der 8 Sprache und Sinn in Grenzsituationen des Lebens Intensivpflege liefern konkrete Einblicke. Sprachlich herrsche im Pflegeberuf eine „babylonische Verwirrung“, um so wichtiger sei es, der Pflege eine Stimme zu geben. Der Theologe und Seelsorger Lars Klinnert plädiert angesichts herkömmlicher hoher Ansprüche an das pastorale Gespräche für eine „wohltuende Normalität“. Der Kranke und Leidende wird so in seiner gesundheitlichen Grenzsituation jenseits der medizinischen und pflegerischen Aktivitäten offen angesprochen und entlastet. Statt religiöser Bewältigungsstrategien kann so der Mensch ernst genommen und ein Lichtblick, selbst für Atheisten, vermittelt werden. Die Theologin und Bioethikbeauftrage des Bundesverbandes evangelischer Behindertenhilfe e.V. Brigitte Huber geht in ihrer praktischen Seelsorge von klassischen Kommunikationsmodellen aus, um in Gesprächen über Leben und Tod eine individuelle gestufte „Werteanalyse“ anzubieten. Eindringlich schildert sie aus ihren Erfahrungen in Gesprächen mit schwerst Behinderten, die Fragen nach Sterben und Tod stellen und schließlich eigene Antworten finden: „Tanzen mit dem lieben Gott“. Über die klassische Medizin, Klinik und Pflege hinaus herrscht in der Gesellschaft ein großes Bedürfnis nach Beratung und Kommunikation in vielfältigen individuellen Grenzsituationen des Lebens. Angesichts der technischen Möglichkeiten moderner Reproduktionsmedizin ist schon die Phase vor der eigentlichen Zeugung des neuen Lebens Gegenstand hochkomplexer „virtueller“ Kommunikationsformen, erst recht aber, wenn es gezeugt und als vorgeburtliches Leben beobachtet oder kontrolliert und diagnostiziert wird (PND, PID), was wiederum auch gesellschaftliche Dimensionen tangiert. Die Kulturwissenschaftlerin Katharina Woellert analysiert ganz neuartige Kommunikationsräume und liefert Einblicke in die Informationssuche und Verarbeitungsstile „virtueller Identitäten“, die über die Sprache in Internetforen vermittelt werden, denen sich ratsuchende Frauen zur Erfüllung ihres Kinderwunsches bedienen. Die spezifische, eminent intime und doch anonyme Kommunikationsform ist erfüllt mit anschaulicher Symbolik, mit Akronymen und Abkürzungen, gezeichnet von Versuchen, im Zeitalter der IVF Rat und Hilfe, kurz, „die rechten Worte“ zu finden – von „Folli-TV“ bis „Ws-Koller“. Ist das vorgeburtliche Leben in der Welt, zeigt die Ethikberaterin und Theologin Mechthild Herberhold, welche Relevanz und Wirkmächtigkeit der Sprache in der konkreten ärztlichen Beratungssituation zur Pränataldiagnostik zukommt. Einfache Worte wie „Sicherheit“ oder „positiver Befund“ können bei Frauen und Paaren, die mit der medizinischen Terminologie nicht vertraut sind, erhebliche Missverständnisse provozieren, denn wenige Worte sind vor dem Hintergrund einer möglichen Entscheidung zur Abtreibung lebensentscheidend. Umso wichtiger ist der ethisch individuelle und gesellschaftliche, verantwortungsvolle Umgang mit Sprache. Die öffentliche biopolitische Debatte über die begrenzte Zulassung der PID in Deutschland nimmt die Linguistin Silke Domasch kritisch und akribisch ins Visier. In programmatischen Texten finden sich dazu Ausdrücke wie „schwerwiegende genetische Erkrankung“ oder „Hochrisikopaare“, deren semantische Dimension teilweise vage und unklar ist. Zentral aber sind Fragen nach der Definitionsmacht, nach impliziten 9 Hans Werner Ingensiep & Theda Rehbock Normen und nach Handlungsabsichten, womit man mit Wittgestein erneut auf den Sprachgebrauch zurückgeworfen wird, um die Bedeutung von Worten zu klären. Schwere psychische Krankheiten und psychische Grenzsituationen im Alltag sind jedem bekannt und können aus ganz unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet werden, um sie desto besser zu verstehen und therapieren zu lernen. Die Germanistin Constanze Fiebach kontrastiert in ihrer Analyse die literarische Darstellung des kommunikationsgestörten Schizophrenen Bloch bei Handke mit dem Stigma des so genannten „Geisteskranken“ aus der Perspektive alltäglicher Wirklichkeit. Für den Schizophrenen sei der Alltag der Grenzfall. Permanente Missverständnisse und missglückte Kommunikation treiben Bloch in die Sprachlosigkeit. Doch Literatur sei ein Instrument, diese negative Etikettierung aufzuheben und so einen Beitrag zur Alltagsintegration und zum Abbau von Vorurteilen zu leisten. Das Verstehenspotential in der menschlichen Sprache führt abschließend der Psychologe und Psychotherapeut Peter Winkler im therapeutischen Dialog sehr konkret vor Augen. Er nimmt die Eigensprache des leidenden Menschen ernst und macht sie zum Ausgangspunkt einer Analyse, „die rechten Worte“ zu finden. Mit Hilfe eines weiterentwickelten Ansatz nach A. D. Jonas erhält der Klient nach und nach Aufschluss über bislang unbewusste Hintergründe seines Leidens und wird zum Experten in eigener Sache. Ein ausführlicher Gesprächsauszug dient als praxisnahes Beispiel. 3. Fazit Diese Skizze der publizierten allgemeinen Grundlagen und vorgelegten exemplarischen Studien und Einzelfallanalysen dokumentiert insgesamt die Fruchtbarkeit eines interdisziplinären Zuganges zum Themenfeld im Rahmen des Klausurwochenprojektes. Die Beiträge schlagen einen großen Bogen von traditionsbeladenen philosophischen Vorstellungen zur Rolle der Sprache hin zu den vielfältigen Funktionen der Sprache in Grenzsituationen der klinischen Medizin, Pflege und Beratung im Alltag. 4. Danksagungen Abschließend möchten wir uns bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der BMBF Klausurwoche vom 28. Juli bis zum 2. August 2008 im Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck für ihre aufschlussreichen Beiträge und engagierten Diskussionen bedanken. Die Institutsmitglieder und insbesondere Herr Thies Hendrik Schröder haben erheblich zur Organisation und zum Gelingen beigetragen. Für die gesamte Endredaktion des Buches sei Heike Baranzke, für die technische Hilfe Markus Greß-Heister und für die Möglichkeit der Publikation dem Verlag Königshausen & Neuman gedankt. Dem Projektträger im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt – hier sei stellvertretend für eine hervorragende Unterstützung vor allem Herr Dr. Matthias von 10 Sprache und Sinn in Grenzsituationen des Lebens Witsch genannt - und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung danken wir für die konstruktive Begleitung und die finanzielle Förderung dieses Projektes. Hans Werner Ingensiep & Theda Rehbock 11