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Hessischer Rundfunk
hr2-kultur
Redaktion: Volker Bernius
hr2Wissen
Medizingeschichte 04
Ein Zeichen der Zeit: Die Hysterie
von
Andrea Westhoff
Sendung: 2014, hr2-kultur
Sprecherin:
Regie: Marlene Breuer
O-Töne: Prof. Dr. Volker Hess (Medizinhistoriker Berliner Charité), Prof.
Dr. Andreas Heinz (Psychiatrie Berliner Charité)
Musikzäsuren
hr2Wi 14-16
Copyright
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O-Ton 1:
Atmo (0’09“)
(Kreischende Mädchen beim Beatles-Konzert, Musik „Help“)
Regie: Abblenden, darauf Zit.
Zit.:
Ein Beatles-Konzert im Jahr 1965: Tausende Mädchen kreischen und
zucken wie wild, einige schluchzen, andere brechen sogar ohnmächtig
zusammen – Hysterie allenthalben...
Sprin:
O-Ton 2:
Vom medizinhistorischen Kern ist das gar nicht so weit entfernt.
Hess (0’03“)
Im Begriff der Hysterie steckt ja Histera, die Gebärmutter, drin.
Sprin:
O-Ton 3:
Zwei Erklärungen gab es für den sog. "weiblichen Wahnsinn" in der
Antike, sagt der Medizinhistoriker Professor Volker Hess von der
Berliner Charité. Die eine hängt zusammen mit der Säftelehre.
Offenbar, so glaubte man, bedarf das Blut bei Frauen immer wieder
der Reinigung durch die monatliche Regelblutung.
Hess (0’26)
Und wenn diese Regelblutung ausbleibt und keine Schwangerschaft eintritt, dann richtet diese
Materie, die nicht ausgeschieden wurde, irgendwo Unheil an. Und wenn sie sich an den
falschen Stellen ablagert, dann werden die Betroffenen eben etwas merkwürdig. Die zweite
historische Bedeutung ist dann die Verlagerung der Gebärmutter, die im Körper zirkuliert und
auch dazu führt, dass sich die mentale Beschaffenheit der betroffenen Frauen ändert.
Sprin:
Dahinter steckte die Vorstellung, dass eine Frau "verrückt" wird,
wenn sie ihrer "natürlichen Aufgabe" als Mutter nicht nachkommt.
Regie: O-Ton 4 (0’09) Atmo „kreischende Mädchen“(oder „hysterische“
Musik!?)
Sprin ff: Im Mittelalter galt die Hysterie als Zeichen teuflischer Besessenheit,
was tausende Frauen das Leben kostete. Im medizinischen Denken
spielte sie ansonsten kaum noch eine Rolle.
Bis im 19. Jahrhundert plötzlich besonders viele „ekstatische
Jungfrauen“ auftauchten in den neu entstandenen Nervenheilanstalten.
Sie litten an Zuckungen, Ohnmachtsanfällen und unerklärlichen
Schmerzen oder klagten über eine zeitweilige Blindheit oder Taubheit.
Jean-Martin Charcot, damals Neurologe in der Pariser Klinik
Salpêtrière, studierte dieses Phänomen als erster, und er präsentierte
"seine Hysterikerinnen" den Studenten und Prominenten aus aller
Welt:
Zit.:
"Das ist also Augustine, ihr Lieblingsfall, meine Herren", so beginnt
Charcot jeden Dienstag seine Vorlesung. Und schon nach einer
leichten Berührung kreischt und schnaubt die junge Frau, rast mit
fliegenden Haaren durch den Hörsaal, zieht schreckliche Grimassen,
stößt wilde Laute aus, verrenkt Arme und Beine, reckt den Kopf in die
Höhe, bekreuzigt sich und sinkt schließlich ohnmächtig in die Arme
des Arztes.
Sprin:
Charcot demonstrierte in dieser bizarren Show auch seine
Behandlungsmethoden: neben der Hypnose zum Beispiel eine
"Ovarienpresse" oder Vibratoren zur "sexuellen Beruhigung". Denn
als Ursache der Hysterie vermuteten Ärzte zu dieser Zeit die
veränderte Rolle der Frau: In den Anfällen, so die damalige Idee,
brechen verdrängte oder unterdrückte Wünsche hervor - vor allem
sexueller Art. Auch Sigmund Freud interessierte sich bald für diese
Krankheit:
O-Ton 5:
Hess (0’20“)
Freud war in Paris, bei Charcot in der Klinik und hat diese Demonstrationen der hysterischen
Frauen natürlich gesehen, und geht mit diesem Konzept in das viktorianische, verklemmte
Wien zurück und das ist naheliegend, natürlich wird aus diesem sexualisierten Konzept der
Hysterie eine Initialzündung für die Psychoanalyse.
Sprin:
Während die meisten Neurologen die Hysterie noch als eine
Erkrankung des Gehirns ansahen, betrachtete Freud sie als rein
seelisches Leiden, ohne körperliche Auslöser. Er sprach auch von
"Konversionsneurose". Hierbei werden nicht nur unterdrückte
Wünsche in körperliche Symptome umgewandelt, sondern allgemein
seelische Verletzungen, Traumata, oder Konflikte. Denn Freud hatte
erkannt, wie zuvor schon Charcot, dass es sich nicht ausschließlich
um ein Frauenleiden handelt. Der Medizinhistoriker Volker Hess:
O-Ton 6:
Hess (0’22“)
Im frühen 20. Jahrhundert ist Hysterie auch etwas, was Männer haben können. Dass die
Männlichkeit dieser Männer dabei leidet, steht auf einem anderen Blatt. Also sie ist
verbunden mit bestimmten geschlechtlichen Zuschreibungen, es sind auch die „Memmen“ im
Krieg beispielsweise, die Feigheit vor dem Feind als weibliches Verhalten zeigen, die dann
hysterisch sind.
Regie: Atmo (OT 4 s.o.) oder Musik (s.o.)
Sprin:
Gleichzeitig wurde die Hysterie aber auch zum Synonym für
eingebildete Krankheiten. Daran war Charcot mit seinen HysterieAufführungen nicht ganz unschuldig.
Etwas von dieser Skepsis ist sogar noch spürbar, als man Mitte des 20.
Jahrhunderts nach einer neuen medizinisch-korrekten Bezeichnung
sucht und "Hysterie" durch "histrionische Persönlichkeitsstörung"
ersetzt - histrio bedeutet im Lateinischen Schauspieler:
O-Ton 7:
Heinz
(0’05)
- das unterstellt aber sehr viel Lust am Dramatisieren, und das hat wieder negativen Beiklang.
Sprin:
O-Ton 8:
...sagt Professor Andreas Heinz, Direktor der Psychiatrischen Klinik
der Berliner Charité. Er weiß, dass viele der Patienten durchaus
auffällig sind und "exaltiert". Sie wechseln schnell zwischen
unterschiedlichen Gefühlslagen, manche scheinen sogar verschiedene
Identitäten anzunehmen. Deshalb bevorzugt er auch die zweite neue
Definition: "Hysterie" ist eine "dissoziative Störung", eine Art Zerfall
der Persönlichkeit.
Heinz
(0’18)
Das heißt, dass Menschen tatsächlich häufig nach traumatischen Erlebnissen in eine Art
Umnachtung fallen, wenn man das mal allgemeinverständlich ausdrücken will, dass man
dann eben nicht akzeptable Gedächtnisinhalte ins Bewusstsein bekommt, aber um den Preis
der Spaltung.
Sprin:
Allerdings sind mit dem Namen im Laufe der Zeit auch die typischen
Symptome der Hysterie verschwunden:
O-Ton 9: Heinz
(0’33)
Wir sehen heute in den Kliniken und auch in den Praxen kaum noch Menschen mit
klassischen hysterischen Symptomen wie einer plötzlichen Bein- oder Sprachlähmung oder
etwas ähnlichem, wir sehen das manchmal noch bei sehr alten Patienten, es gibt auch
interessante Beschreibungen, wie das in anderen Ländern, die mehr oder weniger verwestlicht
sind, zu- oder abnimmt. Es werden offenbar doch, ich denke unbewusst, aber nachdrücklich
Symptome gewählt, die in der jeweiligen Gesellschaft tatsächlich als Ausdruck des Leidens
akzeptiert werden.
Sprin:
Für den Psychiater ist hysterisches Verhalten aber nach wie vor ein
Zeichen tiefer seelischer Verletztheit. Und er findet es nicht gut, wenn
jemand sofort umgangssprachlich bei irgendeiner Auffälligkeit als
„hysterisch“ bezeichnet wird. Schmunzelnd gibt Andreas Heinz
allerdings zu, dass die Auftritte von einigen Popstars bis heute den
Hysterie-Shows von Charcot in nichts nachstehen: die kreischenden,
überwiegend weiblichen Fans, die schluchzen und weinen, die Arme
in den Himmel recken, in Ohnmacht fallen oder ihre Unterwäsche auf
die Bühne werfen.
Regie: Atmo (OT 1, s.o.) nochmal
(Kreischende Mädchen beim Beatles-Konzert, am Ende m. Musik „Help“)
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