Kinder psychisch kranker Eltern Harald J. Freyberger A. B. C. - Versorgungsproblematik Risiko- und Schutzfaktoren Greifswalder Familienstudie zu Kindern von Müttern mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen und Depression alkoholkranken Eltern D. Schlußfolgerungen Zur Versorgungsproblematik 1. Kinder psychisch und/oder suchtkranker Eltern stellen eine Hochrisikogruppe für Misshandlung, Vernachlässigung und den Transfer psychischer Störungen und Gewalt dar. 2. Gravierende Schnittstellenproblematik zwischen den Versorgungssystemen für Kinder und Erwachsene sowie den medizinischen und anders finanzierten Segmenten. 3. Strukturproblematik Großstadt vs. Flächenland mit niedriger Einwohnerzahl für die Behandlung der psychischen Störungen. Risikokonstellation Das Risiko selbst zu erkranken, ist 8-10fach erhöht. Mehr als 3 Millionen betroffene Kinder in Deutschland Davon etwa: 740.000 Kinder mit einem alkohol- oder drogenabhängigen Elternteil 270.000 Kinder mit einem an Schizophrenie erkrankten Elternteil 1.230.000 Kinder mit einem an affektiven Störungen erkrankten Elternteil 1.555.000 Kinder mit einem an Angststörungen erkrankten Elternteil (Mattejat, F. 2006, Wagenblass, S. 2008) Risikoübertragungswege 1. Risikoübertragungswege lassen sich über genetische, umweltbedingte und individuumspezifische Aspekte definieren. Für unterschiedliche Erkrankungen ergeben sich verschiedene Risikofaktoren und Konstellationen. 2. „Parental monitoring“ ist vor dem 14. Lebensjahr, peer-group Einflüsse nach dem 14. Lebensjahr von ausschlagebender Bedeutung (z.B. Modell-Lernen und Traumata). 3. Sekundäre Stigmatisierung (Schule und Ausbildung) fixiert kritisches Verhalten Risikofaktoren 1. Realtraumatisierung (sexueller/gewalttätiger Mißbrauch, Vernachlässigung, Misshandlung) 2. Negatives Erziehungsverhalten der Eltern 3. Geburtskomplikationen 4. Frühe psychische Störungen (z.B. Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom) 5. Hohe Impulsivität 6. Geringe Reaktivität auf Alkohol 7. Schweregrad der elterlichen psychischen Störung und Behandlungsstatus Innere und äußere Schutzfaktoren - aktives Bewältigungsverhalten, Flexibilität, Selbstvertrauen, Kreativität - stabile emotionale Beziehung zu einer Bezugsperson positiv erlebte Freundschaftsbeziehungen offenes unterstützendes Familienklima Modelle positiven Bewältigungsverhaltens positive Schulerfahrungen - Anpassungsleistungen an die besondere familiäre Konstellation Kinder psychisch kranker Eltern erbringen massive Anpassungsleistungen und nutzen hierfür ihre Ressourcen: – früh autonom – werden früh erwachsen – Übernahme elterliche Aufgaben – versuchen den Schein nach außen zu wahren – stellen eigene Bedürfnisse zurück bzw. übersehen sie Stichprobendesign der Greifswalder Familienstudie SHIP (N=4382) Einschluss (N=527) mind. 1 Kind zw. 11- 18 Jahre T0: 1999-2001 (BMBF) N=315 Familien (587 Elternteile und 381 Kinder) T1: seit 2005 (DFG) 96% Response (119 Familien) + neuropsycholog. Untersuchungen Studiendesign: Vergleichsgruppen 301 Mütter Alter 40 Jahre 16 Mütter mit BPS 36 Mütter Depression 28 Mütter Cluster C 116 Mütter o. Störung N=23 Kinder N=47 Kinder N=31 Kinder N=156 Kinder 15,5 Jahre 15,1 Jahre 15,5 Jahre 15,3 Jahre Jungen: 31% Jungen: 46% Jungen: 43% Jungen: 39% Kindliche emotionale Instabilität YSR Rohwert BPS Gesund Depression Cluster C 16,4 p<0.01 8,2 0,0 körperl. Beschwerden soziale Probleme emotionale Probleme Barnow et al., (2006) Am J Child Adolesc Psychiatry Prozent prä-, peri und postnataler Risiken (Angaben der Mutter im Interview) % die Risiko aufweisen 40 * p<0,05 * * 30 * 20 10 0 Medikation Frühgeburt BPS Gesund Nabelschnurkompl. Depression Infektionen im ersten Jahr Cluster C Frühgeburt: kürzer 37 Wochen Geburtskomplikationen und neuropsychologische Defizite Anzahl Fehler 9 N=124, Alter 17,6 Jahre 8 7 Comissionsfehler im CPT p= .024 p= .014 nein 0 6 5 4 3 2 1 nein ja Medikamente während Schwangerschaft ja Infektion im ersten 1. LJ 1 kein, eines oder beide 2 Kindliche Selbstwerteinschätzung: Gruppenvergleiche BPS 0,0 Gesund Depression Cluster C 4,5 9,0 p<0.01 Rohwert Rosenberg Mittelwerte für durch die Kinder wahrgenommene mütterliche Überbehütung (lieblose Kontrolle) 2,5 * MW 1=selten 3=sehr oft C lu st er C ep re ss io n D G es un d BP S 0,0 * p<0.05 1>2,3,4) Interaktion von ängstlichem Temperament, Überbehütung und emotionaler Instabilität Überbehütung niedrig Überbehütung hoch Überbehütung hoch und BPS Mutter 23,000 20,444 22,0 emotionale Probleme im YSR 17,889 15,333 14,4 12,778 10,222 7,667 10,0 9,1 9,8 7,7 5,111 2,556 ,000 HA niedrig HA hoch % Suizidalität der Kinder 40 * BPS 30 Gesunde Depress * Cluster C * p<0.05 20 10 0 % Todeswünsche % Suizidideen % Suizidversuch Schlußfolgerungen aus der Studie 1.Borderline-Persönlichkeitsstörungen weisen hohe Risiken für die Kinder auf: - prä-, peri- und postnataler Schädigungen (vermittelt über Gewalt und Suchterkrankungen der Mütter), höheres Risiko an sog. „hyperkinetischen Syndromen“ zu erkranken - höheres Ausmaß emotionaler Probleme, geringerem Selbstwert, höherer liebloser Kontrolle und deutlich ausgeprägterer Suizidalität auf mehreren Ebenen Schlußfolgerungen aus der Studie Aber: 2. 3. 21% der Kinder zeigen keine Verhaltensauffälligkeiten Kinder depressiver Mütter oder sog. Cluster CPersönlichkeitsstörungen sind vergleichsweise gesund. Es ist also zwischen Störungen mit hohem vs. niedrigem Schädigungspotential zu differenzieren. Hoch laden: Expansive Persönlichkeitsstörungen, schizophrene und andere psychotische Störungen sowie Suchterkrankungen. Studie Kinder alkoholkranker Eltern Prospektive Längsschnittstudie im Rahmen der epidemiologischen Basisstudie (n = 4382) des Forschungsverbundes Community Medicine der Universität Greifswald seit 1997 Untersuchung von Kindern und Jugendlichen mit Alkoholproblemen zwischen 9 und 18 Jahren mit fortlaufenden 2-Jahreskatamnesen Deskriptive Statistiken für demographische Variablen (n = 368) Variablen Alter (Mittelwert/SD) % 15.26 /2.25 Geschlecht: % männlich 47.0 Anzahl der Kinder im Haushalt (Mittelwert/SD) 1.49 / .56 Kind lebt mita: • % beide Eltern 76.5 • % biologische Mutter 23.0 • % biologischer Vater .5 % positive Family history of alcoholism (FH+) a N = 2 keine Information 24.5 Stichprobe „Kinder alkoholkranker Eltern“ Charakteristika Kinder ohne Alkoholprobleme (n = 278) Kinder mit Alkoholproblemen (n = 90) Alter 15.27 15.22 Eltern 82.7 39.3** Psychiatrische Komorbidität Eltern Trinkmenge 39.1 56.8* 1.1 (3.4) 8.9 (16.0)** *p<0.05, **p<0.01 Risiko von Traumatisierungen bei Kindern alkoholkranker Eltern Subsyndromale PTSD 9.4% (vs. 1.3% gesunde Eltern) Sexueller Mißbrauch Körperliche Mißhandlung Kombiniert OR 2.3 (m/w: 1.4 : 3.2) OR 3.4 OR 1.9 Primäre vs. sekundäre Traumatisierung: 1:1 • Mit Beginn des kritischen Konsums steigt das Risiko sekundärer Traumata wahrscheinlich deutlich an Risikofaktor Alter: % von Jugendlichen die monatlich Alkohol trinken getrennt nach Alter (n=248) % regelmäßiges Trinken 11-18 Jahre 100 80 60 40 20 0 11 12 13 14 15 Alter 16 17 18 % von Jugendlichen mit Alkoholproblemen* nach Alter und Geschlecht (n=248) 22 20 % v o n J u g e n d lic h e n m it A lk o h o lp r o b le m e n % J u g e n d lic h e m it A lk o h o lp r o b le m e n 20 18 16 14 12 10 8 6 11-15 Jahre 16-18 Jahre Altersgruppen 18 16 14 12 10 8 6 w eiblich männlich Geschlecht: * Alkoholprobleme: mind. 1 Kriterium nach DSM-IV, Diagnose Alkoholmissbrauch oder Abhängigkeit Gruppenvergleiche externalisierende Symptome COAs vs. non COAs unter Kontrolle väterlicher ASPD N=106 Gruppen nach FH und ASPD Vater FH- FH-/ASPD Vater N=14 N=47 FH+ N=15 FH+/ASPD Vater -,1 N=182 0,0 ,1 ,2 ,3 Z Werte: CBCL/YSR: Externalisierende Symptome ,4 ,5 Peergroup • Besondere Bedeutung im Jugendalter • Theorien: – Peergroup erleichtert den Erwerb und Einnahme von Alkohol – Uniformitätsdruck triggert Alkoholgenus (Fergusson et al., 1995; Steinberg et al., 1994) – Bindung und „Belohnung/Anerkennung“ durch die Gruppe (Modellernen, Bindungstheorien) – Soziale Gruppentheorie: eher Wunsch nach Gruppenidentität (Harris, 1995) • Giancola & Parker (2000): Peerdelinquenz wesentlichster Prädiktor für Alkoholgebrauch (beta 0.42) Aggressive/delinquente Kinder finden sich häufiger in substanzgebrauchenden Peergroups Rohwert im YSR 14 12 10 * kein Substanzgebrauch in der Peergroup (N=143) Substanzgebrauch in der Peergroup (N=37) 8 ** 6 4 2 0 Delinquenz * p<0.05, ** p<0.01 Aggression Aggression/Delinquenz N=180 Einfluss von FH+ und Erziehungsumwelt auf Verhaltensprobleme Jugendlicher Rohwert im YSR 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 FH- (N=77) FH+ (N=44) FH+ und negative familiäre Umwelt (N=23) Delinquenz (YSR) Aggression (YSR) ANOVA posthoc Tukey: Delinquenz p<0.05 Gruppe 1,3; 2,3 N=154 Empirisches Modell für Alkoholprobleme im Jugendalter Erziehung: Ablehnung .38 no longer significant after excluding ASPD Aggression/ Delinquenz FH .19 -.16 Substanzgebrauch in der Peergroup .29 Menge/Häufigkeit von Alkoholkonsum Erziehung: emotionale Wärme .22 .32 .27 Alkoholprobleme Goodness of fit statistic: Chi Sqare=22.04, df=13, p=0.06, NNFI=0.984, CFI=0.964, RMSEA=0.062 p<0.05 N=180 Schlußfolgerungen 1. 2. 3. Zentrale Risikokonstellation als Kombination zwischen Traumatisierung, Dichte von Alkoholismus in der Familie, antisoziales Verhalten des Vaters und Integration in substanz-konsumierende peer-group. Interventionen in Präventions- und Behandlungsprogrammen haben sich an diesem Risikofaktorenprofil auszurichten. Die Stärkung schützender Faktoren wird nach wie vor vernachlässigt. Interventionen sind alters- und zielgruppenspezifisch anzulegen, wenn sie Sinn machen sollen. Chancen für Kinder psychisch kranker und/oder suchtbelasteter Eltern – ein Modellprojekt in Mecklenburg-Vorpommern mit bundesgeförderter Evaluation zur frühen Förderung elterlicher Erziehungs- und Beziehungskompetenzen und zur Prävention von resultierender Vernachlässigung und Kindeswohlgefährdung im frühen Lebensalter - Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Hanse_Logo_4c Ziele des Modellprojekts - Praxis Schwerpunkt: Etablierung eines möglichst niedrigschwelligen Angebotes für die Zielgruppe psychisch kranker / alkoholbelasteter Mütter und Väter mit Säuglingen und/oder Kleinkindern im Alter von 0-3 Jahren mit Beratungsstelle und aufsuchenden Hilfen Entwicklung von Verfahren zur Intervention bei Müttern/Vätern, die externe Interventionen ablehnen Æ dabei interdisziplinär und Integration bestehender Versorgungsstrukturen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Hanse_Logo_4c Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit ! Mitarbeiter: - Sven Barnow - Hans Grabe - Susan Kluth - Michael Lucht - Malte Stopsack - Ines Ulrich - Kathleen Völker Hanse_Logo_4c Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie