Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Heike Ließmann Wissenswert Alles wandert – Migration als Prinzip des Lebens (11): Produkte Von Daniel Sulzmann 08-039 Sendung: 10.03.2008, 08.30 Uhr, hr2-kultur Sprecher Übersetzerin Zitator O-Töne in dabs: (P) Sulzmann migration* Musik 08-039 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Ver-wendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. Seite 2 Anmoderation Seite 3 MUSIK Atmo: (P) sulzmann migration Rockmusik Einstiegsatmo 22sec , muss geblendet werden Sprecher: Marokkanische Rockmusik soll hier die Hände beflügeln. Mit Mundschutz und grünen Käppchen auf dem Kopf , am Körper dicke Pullis, sitzen Frauen an den Blechtischen in der gefliesten Halle, in der es 16 Grad kühl ist. (Kreuzblende mit der Musik, atmo kurz alleine stehen lassen) Atmo: (P) sulzmann migration Atmo Fabrikhalle 22sec. Sprecher: Vor Ihnen die Behälter mit Krabben. Hier werden sie von Hand geschält, die Nordseekrabben. Im Freihafen von Tanger in NordAfrika - Tausende von Kilometern entfernt von den Gestaden, in denen sie gefischt werden. Die Fabrik besteht schon seit 1992 und wer fragt, warum ausgerechnet in Tanger Nordseekrabben mit der Hand gepult werden, der bekommt von Vorarbeiterin Radija (sprich: Radischa) folgende Antwort: O-Ton: (P) sulzmann migration Gründe für Produktion in Marokko 1,15sec (französisch) “Aus wirtschaftlichen, sozialen und geographischen Gründen. Unsere Firma hat sich 1992 entschlossen die Firma in Marokko zu gründen, genau im Freihafen von Marokko um Krabben zu schälen.” Seite 4 Sprecher: Rund 6 Euro bekommen die bis zu 2500 Frauen in der Fabrik - pro Tag. Bezahlt wird nach geschälter Menge. Das ist der wirtschaftliche Grund. Der soziale: hier sind kaum Arbeitnehmerrechte zu beachten– immerhin gibt es eine kostenlose Kantine und eine Moschee - die Fluktuation in der Fabrik ist hoch. O-Ton: (P) sulzmann migration jeden Tag wechselt das Personal , 5sec. “Wir haben hier jeden Tag Leute die kommen und Leute die gehen.” Sprecher: Der geographische Grund: der Freihafen von Tanger ist von Zöllen und Steuern befreit. Am Ende werden die Nordseekrabben, die in großen Kühllastern angeliefert werden und in 70 Stunden die Strecke Nordsee-Marokko-Nordsee zurücklegen in den europäischen Handelsketten als Frischware verkauft, sagt Radija: O-Ton: (P) sulzmann migration Kunden für die marokkanischen Krabben (französisch) ”Ja, die Kunden sind große Supermarktketten wie Auchaine, Carrefour, Casino, Metro, Aldi, Quick und andere und Fischgeschäfte in Belgien, den Niederlanden und in Frankreich.” Sprecher: Die Krabben also, sie sind weitgereist. Die Fischer, die sie eigentlich dem Meer entreißen, die haben sich schon lange an dieses Verfahren gewöhnt. Fischer wie Hans-Robert Hinners aus Cuxhaven. Sein Krabbenkutter ist ein Familienbetrieb und doch: Krabben in Marokko pulen und dann wieder nach Deutschland bringen, das ist inzwischen normal, sagt er: Seite 5 O-Ton: (P) sulzmann migration Hinners wir liefern bei Heyplog an, 17sec “Ja, wir liefern bei der Firma Heyplog an, das ist eine holländische Firma, schon jahrelang , die lassen die Krabben auch in Marokko oder Polen schälen, von Hand geschälte Ware, das ist schon seit Jahren üblich, wir selber können die nicht mehr vermarkten, das ist zuviel.” Sprecher: Großunternehmen wie Heyplog bestimmen den Preis, weil sie den Markt beherrschen. Die Arbeitskosten in Marokko sind noch so billig, dass nicht einmal europäische Maschinen mit der günstigen Handarbeit mithalten können. Krabbengroßhändler wie Siegfried Kocken in Spieka-Neufeld bei Cuxhaven haben zwar eine Krabbenschälmaschine, die aber produziert immer noch zuviel Rest. Das kostbare Fleisch aus dem Panzer der Schalentiere wäre mit der Maschine geschält nicht konkurrenzfähig, es bleibt einfach nicht genug übrig: O-Ton: (P) sulzmann migration Kocken maschinelle Schälung teurer, 29 sec. “Die Krabbe ist ein sehr teurer Artikel. Und wenn ich da für ein Kilo Fleisch statt entsprechend für 3 Kilo 4 Kilo in Schale brauche, ist das ein großer Preisunterschied. Und die Menge wird nachwievor über den Preis abgesetzt. D.h. wenn ich mit der Maschine jetzt 10 Cent das Kilo günstiger schälen könnte als mit der Hand kann ich Unmengen verkaufen aber im Moment ist es so, dass die maschinelle Entschälung einen ganzen Teil teuer ist und so kann man nur eine ganz geringe Menge von dieser maschinell entschälten Ware besser verkaufen.” Sprecher: Seite 6 Ein Verlust von kostbarem Krabbenfleich könnte ja noch hingenommen werden, nicht jedoch der finanzielle Verlust. Deshalb wandern Produkte in der Warenwelt und es scheint so, als ob die Waren nur des Preises wegen wandern. (P) sulzmann migration Atmo Schweinestall, kurz stehen lassen mit lautem Gequiek am Anfang, dann wegziehen Sprecher: Wehrheim im Taunus. In dem hessischen Mittelgebirge hat Biobauer Werner Etzel seinen Hof. Wer die große von außen eher unscheinbare Halle aus Holz und Beton betritt, den empfangen Geräusche und Gerüche, die sofort deutlich machen, wer hier aufwächst: O-Ton: (P) sulzmann migration Etzel Schwein überwiegend schlachtreif, 32sec. “Hier sind zur Zeit 700 Schweine drin, die überwiegend schlachtreif sind. Die werden uns verlassen gen Süden als auch gen Norden, d.h. ein kleiner Anteil der Tiere, die wir selbst produzieren bleibt in unserem Geschäft, etwa 20 Prozent, die anderen 80 Prozent teilen wir auf minorisch nach Nord und nach Süd, damit wir ein bisschen einen Risikoausgleich haben zwischen dem Verbrauch im Norden und dem Verbrauch im Süden” Sprecher: Die Schweine gehen z.B. nach Hohenlohe in Baden-Württemberg, 160 Kilometer entfernt und das ist in den Maßstäben heutiger Warenmigration gedacht, sehr wenig, denn Werner Etzel hat auch schon biologisch gemästete Schweine nach Italien exportiert, aus denen luftgetrockneter Schinken gemacht wurde. Die Fleischproduktion ist in Europa inzwischen ein Klassiker bei der Warenwanderung, wenn nicht der Klassiker. Die Arbeitsteilung auf diesem Gebiet ist extrem hoch: Und das hat Gründe. Für Werner Etzel liegt der wichtigste Grund in der Standardisierung. Handelsunternehmen wollen immer die gleiche Qualität, Seite 7 die gleiche Größe, am besten den gleichen Preis. Und das bei Tieren wohlgemerkt: O-Ton: (P) sulzmann migration Etzel Standardisierung, 43sec “Leider sind heute Schweine, Kälber, Rinder, Produkte – mein Beispiel: die Kälber aus ganz Polen, die in Betrieben in Holland gemästet werden und dann zu einheitlichen Bedingungen eines wie das andere wie aus dem Ei gepellt letzten Endes ohne Qualitäts-, Größen-, Zeitunterschiede in einem Betrieb geschlachtet werden und dann als Stückfracht in einem LKW gestapelt auf Paletten in Boxen, die standardisiert sind auf diese Größe weitergetrieben werden, also das Problem ist die Standardisierung von Waren, egal ob sie aus Parma, aus dem Schwarzwald oder sonstwoher kommen.” Sprecher: Kalbfleisch, aber auch Speck und Schinken , müssen wandern, damit sie am Ende unter einem standardisierten Namen verkauft werden können. Eine Tiertransportfirma aus den Niederlanden wirbt im Internet auf Deutsch mit folgendem Text: Zitator: Seite 8 “Vaex liefert Schweine nach Maß. Aufgrund unserer umfangreichen Erfahrung im Schweineimport und –export haben wir die Möglichkeit, jede gewünschte Qualität zu liefern und abzunehmen. Wir sortieren auf Grundlage des Gewichtes, Fleischansatzes, Geschlechtes oder anderer spezifischer Qualitätsanforderungen. Diese Auswahl wird im Schweinehaltungsbetrieb selbst oder in speziell dafür ausgestatteten Sammelzentren durchgeführt. Auf diese Weise sorgen wir dafür, dass die richtigen Schweine an die richtige Stelle kommen. Sprecher: Doch die Fleischfirmen selbst mauern. Wer z.B. beim Düsseldorfer Vionfoodkonzern nach den Exporten nach Italien fragt, bekommt keine präzise Antwort. Der zweitgrößte Schlachtbetrieb Deutschlands hat im Jahr 2007 fast 10 Mio. Schweine geschlachtet, der Marktführer Tönnies sogar mehr als 11 Mio Schweine. Ja, heisst es in der Presseabteilung von Vionfood, man liefere Fleisch nach Italien. Woher, wieviel und wann sei Firmengeheimnis. Die gleiche Firma allerdings wirbt bei einer Tochtergesellschaft aus Thüringen im Internet mit dem Satz man produziere “Carne con qualitá” Qualitätsfleisch also und bei den Exportländern wird Italien an erster Stelle genannt. Warum Italien? Hier gehört ein Name sicher dazu: Südtiroler Speck. Autobahngeräusch Atmo: (P) sulzmann migration Autobahnatmo kurz stehen lassen, dann unter dem Text wegziehen Vor und hinter dem Brenner auf der Europaautobahn A13 fahren zigtausende von Lkw das Etsch und das Eisacktal herauf und herunter, gefüllt mit rohen Schlegeln, mit veredelten Schinken, mit Hammen, wie die Südtiroler den Schinken nennen. 600.000 Stück pro Jahr verzehren alleine die Deutschen. Das ist mehr als hierzulande Parmaschinken gegessen wird. Eines allerdings ist anders beim Consortium Südtiroler Speck: Seite 9 Im ersten Stock eines unauffälligen Mietshauses, über der Bar Heidi im Zentrum von Bozen wird offen wird offen über das Thema gesprochen. O-Ton: (P) sulzmann migration Mitterrutzner Verarbeitung macht den Unterschied, 36 sec. “Es gibt eine kleine Menge von Südtiroler Speck, der auch von Südtiroler Schweinen verarbeitet wird, aber nicht nur. Und es ist bei allen Rohschinken so, wenn sie ein und dassselbe Stück Schwein nehmen – Schinken – sie schicken das einmal in den Schwarzwald , einmal nach San Daniele und dann nach Dalmatien dann haben Sie am Ende trotz des gleichen Fleisches aufgrund der dort traditionellen Verarbeitungsmethode und der traditionellen Gegebenheiten eben drei unterschiedliche Produkte, einmal einen Dalmatiner Schinken, einmal einen San Daniele und einmal einen Schwarzwälder und beim Südtiroler Speck ist es eben auch so. Sprecher: Dr. Franz Mitterrutzner ist Geschäftsführer des Consortiums Südtiroler Speck. 60% der Landesfläche Südtirols liegen über 2000 Meter hoch, wer wolle da rentabel Schweine züchten, lautet seine rhetorische Frage. Handwerkliche Produktion in kleinen Mengen vor Ort und regional produziert? Alles so nicht mehr machbar, sagt er. Das geschützte Produkt Südtiroler Speck, mit einer durch die EU geschützten geografischen Angabe als Marke eingeführt, bedingt, dass Schweineschlegel über die Alpen gefahren werden, damit die Standards eingehalten werden. Wetter, Gewürze, Fleischqualität, all das könne die handwerkliche Verarbeitung beeinflussen, sagt Franz Mitterrutzner: O-Ton: (P) sulzmann migration Mitterrutzner immer gleiche Qualität, 9sec Seite 10 “Da kann man mal ein excellentes Produkt haben und dann kann auch mal eines danebengehen, aber wenn wir Südtiroler Speck draufschreiben, dann sollte möglichst immer die gleiche Qualität dahinter sein.” Sprecher: Denn der Handel akzeptiert nur standardisierte Ware. Und wer hier wem mit welcher Macht sagt, was er zu tun hat, das ist offensichtlich, sagt Franz Mitterrutzner, der Südtiroler Speckfachmann: O-Ton: (P) sulzmann migration Mitterrutzner Handel stärkster Akteur “Was der Verbraucher heute isst, entscheidet nicht die Produktion, sondern das entscheidet zu großen Dingen der Handel und nicht nur deswegen weil er das Produkt in die Regale legt, sondern weil er auch der höchste und bedeutenste Auftraggeber ist von Werbung in Deutschland. Der Handel macht die meiste Werbung für Nahrungsmittel. Das Angebot wird dominiert vom Handel , er ist der stärkste Akteur am Verhandlungstisch, die größten Hersteller in unserer Branche sind Zwerge im Vergleich zu den Handelsunternehmen.” (Stimme bleibt ein wenig oben) Sprecher: Und weil der Geschäftsführer des Konsortiums Südtiroler Speck so offen spricht, muss er noch hinzufügen: O-Ton: (P) sulzmann migration Mitterrutzner Produzenten müssen geschützt werden, 33sec. “ich möchte bitte klarstellen, das ist absolut kein Vorwurf an den Handel. Er macht hier eine hervorragende Arbeit, nur es geht hier um das gesamte System und es ist klar, wenn wir hier nicht Ausnahmeregelungen vom freien Wettbewerb zulassen, dann werden wir kein Gleichgewicht in den Markt hineinbringen und es Seite 11 wird dazu führen, dass am Ende auch die Qualität und das Image dieser Produkte leiden muss, denn der Hersteller kann nur noch nachhause gehen und sehen, wie kann ich dieses Produkt noch billiger produzieren.” Sprecher: Dabei tragen am Ende die die Kosten, die die Waren kaufen. Wir, die Verbraucher sind die Beschleuniger, die Bremser, die Verursacher der europaweiten Warenmigration. Jeder Griff ins Regal, jedes Piepen der Registrierkasse, immer sind es die Verbraucher, die den Kurs bestimmen. Es ist ein Wettlauf entstanden mit Spezialitäten aus ganz Europa, um dem weltläufigen Konsumenten all das anzubieten , was er im Urlaub in Italien oder anderswo schätzen gelernt hat. O-Ton: (P) sulzmann migration Mitterrutzner Fleisch wäre zu teuer, 25sec “Der Verbraucher könnte durchaus Druck machen, dahingehend, dass die Kosten, die der Verkehr verursacht, ihm tatsächlich angelastet würden, also – die Internalisierung der externen Kosten des Verkehrs ist der Fachbegriff und dann würde der Verkehr einfach wesentlich teurer sein und wir könnten gar nicht unser Fleisch aus Regionen kaufen, die 500-600 Kilometer entfernt sind, kaufen, weil es ganz einfach zu teuer wäre.” Sprecher: Beispiel Verkehrskosten, hier wie bei der gesamten Warenmigration sei nicht nur der Handel, die Produzenten, die Transportunternehmen gefragt, nein auch der Verbraucher müsse wissen, was er wolle: Solange aber gewollt ist, dass die Freiheit des Warenverkehrs vor Umweltkosten und indidvidueller Lebensmittelproduktion gehen, werden weiter Krabben in Marokko geschält und Schinken über die Alpen wandern. Atmo: (P) sulzmann migration Lkw springt an und fährt weg Seite 12 Lkwgeräusch: Lkw startet, fährt an und fährt weg.