Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Dr. Karl-Heinz Wellmann Wissenswert Schatzgrube Messel Von Frank Eckhardt Di., 27. Oktober 2009, 08.30 Uhr, hr2-kultur Sprecherin: Sprecher: 09-135 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Ver-wendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. Atmo Grabungsarbeiten (Stimmen, Wegwerfen der Schieferplatten) Sprecher: In einer welligen Landschaft zwischen Frankfurt und Darmstadt, nahe der Ortschaft Messel, liegt mitten im Wald eine große, runde Grube. Am oberen Rand hat sie etwa 800 Meter Durchmesser, steil fallen ihre Wände einige Dutzend Meter bis zum Boden ab. Dort wachsen Büsche und kleine Bäume. Auch ein paar Container sind zu sehen und zwei mit Planen überdachte Arbeitsplätze. Reichlich unspektakulär sieht es hier aus, in einer der weltweit bedeutendsten Fundstätten von Fossilien. Dennoch arbeiten hier etliche Erforscher des urzeitlichen Lebens, etliche Paläontologen. Eine der Arbeitsgruppen gehört zum Frankfurter Senckenberg-Museum. Das Team hat sich grade an die Arbeit gemacht. Grabungsstellenleiter Michael Ackermann wirft nun seine Motorsäge an. Atmo Motorsäge 7/ 2,26 kurzer Leerlauf, dann Betrieb Sprecher: Die Motorsäge frisst sich einen halben Meter in den Untergrund. Er besteht aus einem dunklen, relativ weichen Material, „Ölschiefer“ nennen es die Fachleute. Ackermann sägt einen Block von etwa 60 x 70 Zentimetern heraus. Atmo Motorsäge Ende O-Ton Ackermann 8/0,03 Das reicht jetzt erst mal. Sieht man also, hier habe ich mehrere Schnitte gemacht, horizontal und vertikal, und jetzt kann man also mit der Schaufel vom Anstehenden heraus im Schnitt den Block herauslösen … < Stimme oben > Atmo Arbeit am Schiefer, bleibt unter Text Sprecher: … und somit Urzeitforschung mit der Kettensäge machen? Wer schon einmal Bilder von anderen Grabungsstätten gesehen hat, der weiß, dass die Forscher dort feinsäuberlich mit dem Pinsel zu Werke gehen und gleichsam Seite 3 jedes Staubkorn einzeln beiseite schieben. Doch der Einsatz der groben Technik hat hier einen Grund, erklärt Michael Ackermann. O-Ton Ackermann 9/0,07 Der Vorteil der Kettensäge, wenn keine natürlichen Klüfte vorhanden sind, ist, dass Sie beim Ausschneiden der Blöcke, die Sie durchschauen möchten, haben Sie einfach eine klare Schnittkante, haben Sie zwar einen Verlust, wenn Sie ein Fossil treffen, aber das ist eben der Schnittverlust, und der beträgt maximal 5-10 Millimeter. // Wenn man das so machen würde, wie wir das auch früher abgebaut haben, das Gestein, mit großen Keilen, da ist der Verlust durch das Eindringen des Keiles wesentlich größer, als wenn Sie mit der Kettensäge einen Block ausschneiden. Atmo: verladen der Schieferblöcke in die Schubkarre, unter Text abblenden Sprecher: Die Schieferblöcke werden nun mit Schubkarren ein paar Meter weiter zum so genannten Spaltplatz gebracht, wo sie in handlichere Stücke zerteilt werden. Dort sitzen Senckenberg-Mitarbeiter in alten Jeans und Pullovern, dazu mehrere Studentinnen, die ein Praktikum in Messel machen. Mit großen Fleischermessern stechen sie in die Schieferplatten hinein, klappen sie auf wie ein Buch und durchsuchen sie nach Fossilien. O-Ton-Studentin 1 10/01,48 Es ist ein bisschen wie Überraschungseier aufmachen, weil man weiß nie, ob man was findet und was man findet, und wenn man dann was findet, dann ist das Juhu natürlich groß. O-Ton-Studentin 2 11/0,21 Ich habe gestern einen kleinen Knochenhecht gefunden, das war auch sehr schön, der war ganz gut erhalten, und zwar war das ein Babyfisch. // Ja, das war schon ein besonderes Erlebnis. Sprecher: Auch an diesem Morgen hat eine der studentischen Hilfskräfte schon etwas Besonderes gefunden, berichtet Senckenberg-Mitarbeiter Bruno Bär. Seite 4 O-Ton Bär 5/0,13 Das ist jetzt hier ein kleiner Vogel, der auf drei Platten verteilt liegt. Das hat eine von unseren studentischen Hilfskräften gefunden, und den packe ich jetzt halt ein. Man sieht auf der Hauptplatte, auf der großen, sieht man hier die Federerhaltung, die Flügel, mit ein bisschen von dem Popo hinten. Und auf dem Gegenstück, was anschließt, kann man noch ein Stückchen von dem Hals sehen, und der Kopf liegt noch verborgen, das muss jetzt erst noch freipräpariert werden. Sprecher: Das geschieht dann aber nicht hier unter freiem Himmel, sondern in den Labors des Museums. Ob Vögel oder Fische, ob Säugetiere, Insekten oder Urzeitpflanzen: Irgendetwas Interessantes finden die Mitarbeiter von Senckenberg fast jeden Tag. Die Grube Messel ist für die Paläontologen so etwas wie eine große, unerschöpfliche Schatzkammer. Wie kommt es, dass sich gerade hier so viele wertvolle Fossilien konzentrieren? Atmo: tropischer Urwald, kurz stehenlassen, dann abblenden unter Text Sprecher: Versetzen wir uns 47 Millionen Jahre in der Zeit zurück. In der Gegend von Messel befindet sich nun ein tropischer Regenwald, er reicht von Horizont zu Horizont. Damals war es auf der gesamten Erde viel wärmer und feuchter als heute. Außerdem lag Hessen nicht so weit nördlich wie heute, erläutert Dr. Stefan Schaal; er ist der Leiter der Messelforschung am Frankfurter Senckenberg-Museum. O-Ton Schaal 2/2,04 Messel lag damals ja weiter im Süden, nämlich auf der Höhe von Sizilien etwa, // so dass also auch leicht zu verstehen ist, warum wir hier ein warmes Klima hatten und ein feuchtes Klima hatten. Atmo tropischer Urwald Ende Sprecher: Dass Europa heute weiter nördlich liegt als vor 47 Millionen Jahren, daran sind die Kontinentalplatten schuld, die auf dem flüssigen Kern der Erde schwimmen und sich langsam bewegen – ungefähr im gleichen Tempo, wie Fußnägel wachsen. Seit damals wurde die europäische Platte knapp 2000 Seite 5 km nach Norden getrieben. Und noch etwas war damals anders. Europa war keine zusammenhängende Landmasse wie heute, sondern eine Inselwelt. Große Teile des Kontinents waren von Wasser bedeckt, denn der Meeresspiegel lag damals etwa 150 Meter höher als heute. Auf einer dieser Inseln kam es eines Tages zu einer Katastrophe, verursacht durch vulkanische Aktivität. O-Ton-Schaal 2/3,54 Man muss sich vorstellen, // Grundwasser gelangt über Spalten plötzlich in Kontakt mit sehr heißem Gestein in etwa 400 Meter Tiefe. // Dabei entsteht Wasserdampf und Wasserdampfexplosionen, und die haben sich wiederholt natürlich, mehrfach, vielleicht über ein Jahr hinweg, und haben dabei einen Krater aufgerissen. Das Gestein wurde herausgeschleudert, hat oben um dieses Loch herum, was maximal so 800 Meter hatte, im Falle von Messel, einen Ringwall gebildet. // Das Loch, was entstanden ist, ist dann aufgefüllt worden mit Grundwasser und Regenwasser, und so haben wir eine Art Wasserauge im Urwald, einen kleinen See. Sprecher: Sein Entstehen hatte den Wissenschaftlern lange Zeit Rätsel aufgegeben. Erst im Jahre 2001 fand man mit einer Tiefbohrung heraus, dass es Dampfexplosionen gegeben haben musste. Ein tiefer, trichterförmiger See mit steilen Ufern war so entstanden: der Messel-See. In diesem See siedelten sich nach und nach Lebewesen an: Krokodile, Schildkröten und Frösche fanden ihren Weg vermutlich über Land; Fische schwammen über Rinnsale herein, oder ihre Eier wurden von Vögeln eingetragen. Wenn seine Bewohner starben, sanken sie auf den Boden des Sees. Aber auch Tiere, die in dem umgebenden Regenwald lebten, fielen zu Tausenden in den See und ertranken. Zum Erstaunen der Forscher waren auch viele fliegende Tiere darunter. O-Ton-Schaal 5,50 Wir haben eine große Anzahl von Vögeln, die man normalerweise // nicht im Sediment in der Form findet, weit über 40 Arten sind beschrieben. Das ist ein großer Anteil der Vögel, die überhaupt fossil bekannt sind weltweit. // Wir finden weiter Tiere, die sonst in der Luft gelebt haben bei den Säugetieren, die Fledermäuse beispielsweise. // Hier in Messel haben wir zum Beispiel 700 bis vielleicht 900 einzelne Fledermäuse bereits gefunden und präpariert. Und das ist eine enorme Zahl von Tieren, die man Seite 6 eigentlich wegen ihrer fantastischen Flugfähigkeiten gar nicht in einem See erwarten würde. Sprecher: Warum so viele fliegende Tiere in den Messelsee gefallen sind, können die Wissenschaftler bisher nicht endgültig erklären. Aber es gibt Vermutungen: Eine davon besagt, dass giftige Gase vulkanischen Ursprungs aus dem Wasser aufgestiegen sind. O-Ton-Schaal 8,05 Und diese Gase könnten schwerer gewesen sein als Luft, und damit haben sie eine Art giftige Gaswolke gebildet, die eine Zeit lang möglicherweise existiert hat und Tiere, die sich dann dort aufgehalten haben, sind verstorben und hineingefallen. Also Fledermäuse, die jagen und dort eintauchen in das Gas, die sind sicherlich dabei dann umgekommen. Eine andere Möglichkeit der Erklärung wäre eventuell giftige Algen. Aber man muss dazu sagen, dass diese Algen noch nicht fossil in Messel nachgewiesen wurden. Sprecher: Warum auch immer die Tiere starben – ihre Kadaver jedenfalls sanken auf den Boden des Sees. Dort wurden sie nach und nach von feinen Ablagerungen bedeckt – von so genannten Sedimenten, erklärt die Paläontologin Dr. Sonja Wegmann vom Senckenberg-Museum. O-Ton Wegmann 1/4,27 Und diese Sedimente bestehen eben teilweise aus feinsten Tonpartikeln und anderen organischen Bestandteilen, also Algenreste, die früher in dem ehemaligen See gelebt haben und dann, nach einer Algenblüte zum Beispiel, massenhaft abgestorben sind, auf den Seeboden abgesunken sind. Und durch diese Wechsellagerung von Tonresten oder Tonpartikeln und diesen Algen, da entsteht eben diese typische laminierte Schichtung. Sprecher: Eine Schichtung die man heute mit großen Messern spalten kann. – Am Grunde des Sees herrschten besondere Bedingungen. Er war so tief, dass Aasfresser die verendeten Tiere nicht erreichen und auffressen konnten. Es gab zudem nur sehr wenig Sauerstoff, weshalb die Kadaver kaum zersetzt Seite 7 wurden. Und es gab keine Strömung am Seeboden, so dass die Skelette nicht auseinander getrieben wurden, sondern am Stück erhalten blieben. Für Stefan Schaal ist das Zusammentreffen dieser Einflussgrößen ein seltener Glücksfall für die Urzeitforschung. O-Ton Schaal 1,23 Dabei sind die Tiere // im Wesentlichen nicht zerfallen, sondern zum Teil als Bänderskelette, zum Teil als Tiere mit Haut, Haaren, mit Federn oder sogar mit Mageninhalten überliefert. Das ist also ein Zustand, der ist nicht die Regel in der Paläontologie. Man würde in der Regel einzelne Knochen finden oder Zähne. Hier finden wir ganze Skelette mit sehr viel mehr Aussagemöglichkeiten. Sprecher: Weil die Tiere so gut erhalten sind, weiß man nicht nur, wie sie aussahen, sondern man kann auch Rückschlüsse auf ihre Ernährung, auf ihre Lebensweise und auf besondere Eigenschaften ziehen. Zu den wissenschaftlichen Highlights der Grube Messel zählen an erster Stelle die Säugetiere. Zu den berühmtesten Funden gehört das Messeler Urpferdchen, das nur etwa so groß ist wie ein Foxterrier. Etwa 60 dieser Tiere wurden bisher gefunden. O-Ton Schaal 1,11 Weiterhin haben wir interessante Fledermausfunde gemacht, die es erlauben, einmal über die Art und das Artenspektrum was auszusagen, wegen der guten Erhaltung des Knochenskelettes auch Aussagen zur Flugeigenschaften und Flugfähigkeiten zulassen. Die Mageninhalte sagen etwas aus, und auch die Innenohren erlauben Aussagen zur Echo-Ortung, so dass man also über diese Tiergruppe sehr viel sagen kann. Weiterhin gibt es Exoten bei uns in Messel, zum Beispiel den Tapir und den Ameisenbär, die sind ja heute ausgestorben. Übrigens auch die Beuteltiere gab es in Europa, die sind auch ausgestorben. So dass Sie hier eine Fülle von Tieren haben, die wie Puzzlesteine eigentlich ein Muster ergeben und etwas sagen über die Flora und Fauna des Regenwaldes vor 47 Millionen Jahren. Sprecher: Sonja Wegmann, deren Fachgebiet Ur-Insekten sind, weist auch auf besondere Insektenfunde hin. Dazu gehören beispielsweise fliegende Riesenameisen. Seite 8 O-Ton Wegmann 3/21,00 Die Riesenameisen haben einen Körperlänge von etwa 8 cm, Die Flügelspannweite beträgt so bei den Weibchen etwa 15 bis 16 cm, also so groß wie ein kleiner Kolibri zum Beispiel, wenn man sich das mal bildlich vorstellen möchte. <Stimme oben> Sprecher: …und diese Ameisengruppe lebte nur während des Eozän, also zu Zeiten des Messelsees, und starb später aus. Von einer anderen Insektengruppe, den Käfern, sind viele so gut konserviert, dass sich sogar ihre Farbe erhalten hat. O-Ton Wegmann 4/0,23 Da ist es nämlich so, dass die gefundenen Käfer wirklich in ihrem Originalglanz erstrahlen, also so wie sie auch aussahen, als sie gelebt haben. Die glänzen dann rot, blau, grünlich, also wirklich wie kleine Juwelen im Ölschiefer. Und das liegt daran, dass diese Tiere, auch als sie noch lebten, so genannte Strukturfarben haben. // Das sind Farben, die durch Lichtbrechung an dem Chitin zustande kommen, also physikalisch erzeugt werden, wenn das Sonnenlicht auf die verschiedenen Schichten in der Cuticula auftrifft und daran dann reflektiert wird. Und dadurch entsteht dieser Farbeindruck. Sprecher: Den findet man nur bei wenigen anderen Fundstätten. Die gute Qualität der Fossilien ist denn auch einer der Gründe, warum die wissenschaftliche Bedeutung von Messel kaum überschätzt werden kann. In den 70er-Jahren wollten Politiker die Grube noch zu einer Müllkippe machen. Das wäre inzwischen undenkbar. Stefan Schaal. O-Ton Schaal 1/13,30 Mit Sicherheit gehört Messel zu den wichtigsten Fossilienfundstätten. 14,43 Sie ist also für das Eozän bedeutend, vor 47 Millionen Jahren, und es gibt weltweit für diesen Zeitraum direkt wenig oder keine anderen Fundstätten in dieser Qualität. Atmo Bearbeitung des Ölschiefers, bleibt unter Text Seite 9 Sprecher: In der Mitte der Grube Messel liegt noch Ölschiefer in einer Dicke von 140 Metern – das sind Millionen von Kubikmetern, die per Hand aufgespalten und durchgesehen werden wollen. Sonja Wegmann. O-Ton Wegmann 14,32 Dass der Ölschiefer uns ausgehen könnte, das ist nicht das Problem. // Für die nächsten Jahrzehnte oder beliebig lange Zeit ist da noch viel zu tun. Das Problem ist, das man nicht ohne weiteres beliebig tief graben kann. Das ist dann mit hohem technischem Aufwand verbunden, aber das lässt sich, wenn man will, natürlich auch lösen. Sprecher: Für ganze Generationen von Urzeitforschern gibt es in der Schatzkammer Messel also noch viel zu entdecken. Vermutlich liegen im Ölschiefer sogar noch wissenschaftliche Sensationen verborgen. Nur wo – das weiß natürlich niemand… Atmo Bearbeitung des Ölschiefers ausblende