Wie stark ist Europa - Deutschlandradio Kultur

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DeutschlandRadio Kultur, ZeitFragen
26.September 2005, 19.30 Uhr
Wie stark ist Europa?
Die Diskussion um eine neue Sicherheitspolitik
Von Jochen Thies
(Musik)
O-Ton
Die 25 Staaten der Europäischen Union haben gemeinsam einen
Verteidigungshaushalt von ungefähr 60 % von dem was die Vereinigten Staaten
haben und erzielen damit einen Wirkungsgrad von weniger als 10 %.
(Musik)
O-Ton
Die Briten sind von großer Wichtigkeit. Die Achse Paris – Berlin kann das Gewicht
und die Problematik von 25 nicht mehr tragen.
(Musik)
O-Ton
Ich glaube, einen Europäischen Außenminister und eine völlig von den
Nationalstaaten losgelöste Struktur wird es nicht geben.
(Ansage)
1
Wie stark ist Europa?
Die Diskussion um eine neue Sicherheitspolitik
Eine Sendung von Jochen Thies.
(Musikakzent)
Zitator:
Der unerklärte Krieg
Sprecher:
Das neue Jahrtausend sollte mit einem Jahrhundert der Europäer beginnen. Die
Zeichen für den Einigungsprozess standen auf Grün. Die Annahme der
Europäischen Verfassung sollte das Integrationstempo erhöhen. Doch dann kam
der 11. September 2001 mit den Terrorangriffen auf New York und Washington.
O-Ton Reportage
Es ist die absolute Katastrophe, die schlimmsten Vorhersagen…
blenden
Sprecher:
Seitdem ist die Welt eine andere. Amerika lässt sich nicht einschüchtern, es rüstet
auf, es setzt auf militärische Macht beim Kampf gegen den Terrorismus.
O-Ton
2
There is a difference between being alert and being intimidated and this great
nation will never be intimidated…
blenden
Sprecher:
Die USA intervenierten im Irak und spalteten mit ihrer „Koalition der Willigen“ ein
Europa, das kurz zuvor mit der Mitgliedschaft der Osteuropäer in NATO und EU
das Ende der Spaltung des Kontinents gefeiert hatte. Der Berliner Politologe
Herfried Münkler unternimmt den Versuch, den 11. September 2001 einzuordnen:
O-Ton
Womöglich ist ein Anschlag der Ausmaße des 11. September etwas, was sich
vorerst so nicht wiederholen wird. Aber die Anschläge von Madrid und London
zeigen, dass sich im Prinzip die Form des Krieges verändert hat. Die Zeit der
symmetrischen Auseinandersetzungen zwischen gleichartigen Akteuren und
gleichen Rationalitätsstandards und vor allen Dingen gleicher Verletzlichkeit, auf
der letzten Endes das System der Abschreckung beruht hat, scheint vorbei zu
sein. Man hat es jetzt mit einem Gegner zu tun, der im Prinzip klein und schwach
ist, der seine Angriffsfähigkeit aber daraus bezieht, dass er die Infrastruktur des
Angegriffenen nutzt für seine Zwecke. Und dagegen kann man sich nur schlecht
schützen als in der Vergangenheit. Insofern mag vielleicht der 11. September
etwas sein, was sich nicht wiederholt, aber die Spuren des Ereignisses beim
politischen Personal und bei der Bevölkerung sind so tief, dass die
Bedrohungsszenarien danach andere sind und dementsprechend auch die Politik
sich anders aufgestellt hat .
Zitator:
Das europäische Fernziel ist die Europa-Armee
Sprecher:
Nur kurz vor diesem fundamentalen Ereignis, von dem wir nicht wissen, wie
langfristig seine Konsequenzen sein werden, hatten sich die Europäer in Fragen
der Außen- und Sicherheitspolitik zusammengerauft und erste Schritte in Richtung
3
des Aufbaus einer europäischen Armee unternommen, die ein knappes halbes
Jahrhundert zuvor an den Bedenken Frankreichs gescheitert war.
Wie stehen heute die Chancen für eine gemeinsame Sicherheitspolitik?
Bei den Deutschen - so belegen es Meinungsumfragen – genießt die
Bundeswehr ein hohes Ansehen und die Bürger sind sogar bereit, sie angesichts
gestiegener Anforderungen finanziell besser auszustatten, auch befürwortet eine
klare Mehrheit die Nato, sagt Klaus-Peter Schöppner, Geschäftsführer des
EMNID-Institutes, aber :
O-Ton
Was die Deutschen nicht wollen, ist eine zu starke Dominanz der NATO. Die
Deutschen würden es begrüßen, wenn im Rahmen der EU durchaus ein
militärisches und sicherheitspolitisches Gegengewicht zur USA aufgebaut würde,
also innerhalb des NATO-Verbundes sollten da die entsprechenden EU-Staaten
durchaus näher zusammenarbeiten und sozusagen ihre generelle
Verteidigungslinie, was den Terror anbelangt, was Prävention im Ausland
anbelangt, eher gemeinsam gestalten.
Sprecher:
Dazu ist in den letzten fünf Jahren eine Menge geschehen. Ende der neunziger
Jahre wurde die so genannte ‚Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik’,
ESVP auf den Weg gebracht. Ihre Geburtsstunde war die Sitzung des
Europäischen Rates in Köln im Juni 1999. In Nizza wurden dann Ende 2000 die
erforderlichen Schritte eingeleitet. In Brüssel, am Sitz von EU und NATO, wurden
neue militärische Institutionen geschaffen, zunächst mit Symbolcharakter, dann
aber wichtiger werdend. Die Nato begann, sich mit der Parallelorganisation
abzufinden, die im Rahmen der so genannten „Petersberg-Aufgaben“, benannt
nach dem Konferenzort bei Bonn, zu ersten Einsätzen auf den Balkan und nach
Schwarzafrika aufbrach.
4
Zitator:
Petersberg-Aufgaben sind: humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze,
friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfoperationen bei der Krisenbewältigung
einschließlich friedensschaffender Maßnahmen.
Sprecher:
Schon zeichneten sich die ersten Konturen einer europäischen Armee mit
zusammengelegter, schlagkräftiger gemeinsamer Rüstungsindustrie ab, als im
Frühsommer 2005 die Verfassungsreferenden zunächst in Frankreich und dann in
den Niederlanden scheiterten. Die europäische Lokomotive hatte daraufhin rasch
an Fahrt verloren und ist mittlerweile beinahe zum Stillstand gekommen. Denn das
Amt des Europäischen Außenministers, für das der Spanier Javier Solana
bereitstand, wird nun fürs erste nicht geschaffen, der Präsident für den
Europäischen Rat mit zweijähriger Amtszeit kann nicht gewählt werden und damit
ist auch die Verdichtung der Zusammenarbeit der Regierungen zumindest in
Frage gestellt. Andreas Falke, Professor und Nordamerika-Spezialist an der
Universität Erlangen-Nürnberg, sieht die europäische Realität so:
O-Ton
Wenn die Europäer effektiv waren, dann war das eigentlich immer in der Form
eines Directoires eigentlich der drei großen Mächte, die mitgezogen haben, also
Frankreich, Deutschland und Großbritannien. Das haben wir etwa in der
Kontaktgruppe im Falle Jugoslawien gesehen. Das sehen wir jetzt auch im IranKonflikt. Wir nennen die zwar die EU-Drei, aber es sind eben die Drei und nicht
die Europäische Union, die verhandelt. Dieses Muster wird es weiterhin geben. Es
wird aber auch aus dem internationalen System der Druck kommen, dass die
Europäer sich zunehmend auf eine Strategie einigen. So sind die
Machtkonstellationen heute. Mit den aufstrebenden Mächten Indien, China und
den USA. Ich glaube, einen Europäischen Außenminister und eine völlig von den
Nationalstaaten losgelöste Struktur wird es nicht geben.
5
Sprecher:
Walther Stützle, der ehemalige Staatssekretär im Bundesministerium der
Verteidigung, heute in Potsdam lehrend, sieht die Lage anders:
O-Ton
Wenn die Verfassung nicht zustande kommt, dann müssen sich einige Staaten,
die dazu politisch bereit sind, die das notwendige Maß an politischer Vernunft
aufbringen, zusammentun und müssen die in der Verfassung angelegten
Instrumente außerhalb der Verfassung benutzen mit einem klaren Ziel, eine
europäische Armee auf die Beine zu stellen. Das ist außen- und
sicherheitspolitisch dringend geboten und es ist auch dringend geboten mit Blick
auf den Steuerzahler, der die gegenwärtige Verschwendung mit nationalstaatlich
organisierten Streitkräften nicht länger bezahlen sollte.
Sprecher:
Pragmatisch beurteilt auch Christoph Bertram, der scheidende Direktor der
Berliner außenpolitischen Denkfabrik „Stiftung Wissenschaft und Politik“, die Lage.
Er erwartet nicht, dass die ESVP, die Europäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik am Widerstand einzelnen Staaten scheitern wird:
O-Ton
Ganz im Unterschied zu der gemeinsamen Außenpolitik, deren Verbesserung ist
ja im Verfassungsvertrag eine ganz zentrale Sache gewesen. Da werden die
Regierungen sehr vorsichtig sein und erst vielleicht nach einiger Zeit sich an diese
Fragen: größere Kohärenz, mehr Funktionen, die Errichtung eines Außenministers
oder die Europäische Union heranwagen. Das wird sicher noch eine Weile dauern.
Aber die ESVP selbst, das was da gemacht wird, das was da vorbereitet wird,
auch was die europäische Verteidigungsagentur, diese Neueinrichtung betrifft, das
wird glaube ich, nicht von diesen negativen Referenden negativ berührt werden.
6
Sprecher:
Europa, so hat es den Anschein, muss sich neu positionieren, sowohl nach außen
wie nach innen. Einer, der dies seit langem so sieht, ist der britische
Premierminister Tony Blair. Trotz des umstrittenen Irak-Engagements unlängst
zum dritten Mal daheim Wahlsieger, gehört er zu den wichtigsten europäischen
Akteuren. Blair wartet ab, wie sich die politischen Verhältnisse in Deutschland und
spätestens in zwei Jahren in Frankreich, wenn Präsidentschaftswahlen anstehen,
entwickeln werden. Für Herfried Münkler steht jedenfalls fest, dass Berlin auch auf
London setzen muss:
O-Ton
Die Briten sind von großer Wichtigkeit. Die Achse Paris – Berlin kann das Gewicht
und die Problematik von 25 nicht mehr tragen. Das schöne Bild vom Motor des
europäischen Einigungsprozesses, das mag gegolten haben für eine deutlich
kleinere Gemeinschaft, vor allen Dingen für eine Gemeinschaft, die letzten Endes
eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gemacht hat. Um das
hinzubekommen brauchen wir die Briten. Wir brauchen ihre politische Erfahrung,
auch wenn Sie so wollen, ihre politische Coolness und ihre Fähigkeiten. Ich stelle
mir das so vor, dass sich hier sinnvoller Weise ein Dreieck London – Paris – Berlin
entwickelt, was dann natürlich auch starke Effekte in die innere Struktur der
Europäischen Union hinein haben wird. Die Briten müssen begreifen, dass es für
sie letzten Endes attraktiver ist in Europa auf der ersten Bank zu sitzen, als der
Pudel von Bush zu sein.
Zitator:
Das neue deutsch-französische tete-a-tete hat wenig gebracht
Sprecher:
Die deutsch-französische Achse, darin sind sich fast alle Experten einig, läuft
unrund. Der Versuch, Frankreich und Deutschland im Verein mit Putins Russland
zu einer Gegenmacht zu den USA aufzubauen, hat sich nicht ausgezahlt, ist
gescheitert. Der vorübergehende deutliche Absturz des Dollar, begleitet von einem
7
rasanten Preisanstieg für Öl und Ölprodukte hatte faktisch zur Folge, dass
Deutschland und der gesamte Euroraum den Irak-Krieg mitfinanziert haben. Der
persönliche Gegensatz von Bundeskanzler Schröder zu Präsident Bush hatte am
Ende zur Folge, dass die rot-grüne Bundesregierung über Routine- und
Pflichtkontakte hinaus - mit Ausnahme von Otto Schily - keine persönlichen
Kontakte nach Washington hatte.
Nur in der Türkeifrage waren sich die Bush-Administration und die Schröder/
Fischer-Bundesregierung einig, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Lothar
Rühl, der ehemalige Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung
benennt sie
O-Ton
Einmal brauchte die Regierung Schröder ein Feld, auf dem sie die Beziehungen
zu Amerika entlasten konnte. Für die Rot-Grüne-Regierung kam natürlich ein
innenpolitischer Grund hinzu. Wir haben derzeit etwa 650 000 türkische
Wahlberechtigte mit einem deutschen Pass. Aber dahinter steht ja eine sehr große
türkische Einwanderungsgemeinde, deren Integration in die deutsche
Gesellschaft, um es einmal vorsichtig zu formulieren, noch offen steht, eigentlich
weithin schon gescheitert ist und auch scheitern wird je mehr Leute aus Zentral
und Ost- und Südanatolien dazukommen. Was bei dem Grünen Außenminister
und seiner Partei hinzukommt, ist diese multikulturelle Illusion, das hat ja auch in
der Visa-Affäre eine Rolle gespielt.
Sprecher:
Das deutsche Begehren, ähnlich wie der andere Kriegsverlierer Japan mit
amerikanischer Unterstützung einen Sitz im UN-Weltsicherheitsrat zu erhalten,
wurde hingegen brüsk abgelehnt. Deutsche diplomatische Initiativen, auf anderem
Wege in das Gremium zu gelangen, verpufften. Die Reform wurde jetzt
verschoben. Für Christoph Bertram kein Grund zu resignieren:
8
O-Ton
Ich finde an sich ist richtig, dass die Bundesregierung in einem Zeitpunkt, wo die
UNO sagt, wir wollen gründlich darüber nachdenken, wie wir künftig
zusammengesetzt sind, was unsere Aufgaben sind, das ein Land wie die
Bundesrepublik sagt, ich möchte auch gerne in dem Entscheidungsgremium
sitzen. Es würde nämlich uns zu etwas zwingen, dem wir bisher weitgehend
ausgewichen sind, nämlich strategisch zu denken. Wir müssten uns darüber im
Klaren sein, wenn irgendwo auf der Welt etwas passiert, dass wir etwas dazu
sagen müssen und auch handeln müssen. Das ist ja bisher ausgeblieben.
Man kann ja etwas tun, auch wenn die Aussichten gering sind und damit
sozusagen einen Marker zu setzen, sozusagen ok, das nächste Mal wenn die
UNO darüber nachdenkt, dann muss sie darauf zurückkommen: Und insofern
haben sich die Bemühungen glaube ich schon jetzt gelohnt. Und es hat keinen
Sinn die Flinte ins Korn zu werfen.
Sprecher:
Die europäischen Verteidigungsinitiativen der letzten fünf Jahre hingen zweifellos
mit der Intensivierung der deutsch-französischen Zusammenarbeit zusammen.
Präsident Chirac, der bei den Bundestagswahlen 2002 voreilig auf Stoiber gesetzt
hatte, fand zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit Schröder zurück. Und
vollends zusammengeschmiedet wurden die beiden Länder an dem Tag, als sich
Regierungen und Parlamente anlässlich des 40jährigen Jubiläums des deutschfranzösischen Freundschaftsvertrages Anfang 2003 in Versailles trafen.
O-Ton Versailles
Voici l’Allemagne et la France réunies aujourd’ hui…
blenden
Sprecher:
Frankreich, fast immer in einer Sonderolle gegenüber den USA, bot den
Amerikanern im UN-Weltsicherheitsrat die Stirn, als es darum ging, die
amerikanische Irak-Intervention durch einen Beschluss dieses Gremiums zu
9
legitimieren. Dies hatte zur Folge, dass Gerhard Schröder, mit seiner AntiKriegsposition wenige Monate zuvor wiedergewählt, an seinem amerikakritischen
Kurs festhielt, den Frankreich und gelegentlich Freund Putin bei demonstrativen
Treffen absicherten. Einen der sichtbaren Preise, die das politische Berlin für
diese Konstellation zu entrichten hatte, war ein verstärktes deutsches humanitäres
Engagement in Afrika.
Zitator:
Die NATO muss sich nun zusammenraufen
Sprecher:
Die NATO schien unmittelbar nach den Anschlägen auf das World Trade Center
und das Pentagon ihre große Stunde zu haben, als zum ersten Mal in der
Geschichte der Organisation der Bündnisfall ausgerufen wurde und
Bundeskanzler Gerhard Schröder erklärte:
O-Ton
Es geht jetzt um die Solidarität der Deutschen mit den Vereinigten Staaten. Es
geht um die Tatsache, dass Deutschland fest an der Seite der Vereinigten Staaten
steht und uneingeschränkt, ich betone das, uneingeschränkte Solidarität übt…
blenden
Sprecher:
Der Zusammenhalt des westlichen Verteidigungsbündnisses in der Stunde der Not
verfiel jedoch rasch, weil es wegen des Irak-Kriegs zu einer Kluft zwischen den
Amerikanern und ihren Verbündeten aus aller Welt auf der einen Seite und
Franzosen und Deutschen auf der anderen Seite kam. Das zeigt sich selbst in
Afghanistan, wo die Nato halbwegs geschlossen operiert, daran, dass es dort zwei
10
‚war theater’ – zwei militärische Schauplätze nebeneinander gibt, den Raum Kabul
mit dem ISAF-Kommando unter deutscher Beteiligung und den großen Rest des
Landes. Hier führen die Amerikaner, vor allem entlang den Grenzen zu Pakistan,
ihren Anti-Terrorkrieg, gelegentlich von deutschen Spezialkommandos unterstützt.
Die auf den europäischen Kriegsschauplatz ausgerichteten Streitkräfte
Deutschlands und der anderen europäischen Staaten müssen mit Zivilmaschinen
und von der Ukraine angemieteten Großraumflugzeugen über Usbekistan versorgt
werden.
Binnen weniger Jahre wollen die Europäer diesen Zustand ändern, und mit neuen
Transportmaschinen mit erheblich größerer Reichweite jene Aufgaben
wahrnehmen, die ihnen nach dem Ende des Kalten Krieges zugefallen sind. Eine
Gefahr aus dem Osten droht nicht länger, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit, auch
wenn man die Modernisierung und Aufrüstung der russischen Streitkräfte ernst
nehmen muss, wie Lothar Rühl meint:
O-Ton
Putin hat für seine zweite Präsidentschaftsperiode das Ziel gesetzt, die russische
Machtstellung in der Welt zu stärkten, Russland im Innern weiter zu konsolidieren,
aber auch die Militärmacht wieder zu restaurieren, aber in einem geringeren
Umfang als ihn die Sowjetunion hatte, die ihn ja auch nicht halten konnte. Und das
geht nur einerseits über eine Reduzierung der Umfänge und andererseits über
eine durchgreifende Modernisierung nicht nur der Strukturen, sondern auch der
Ausrüstungen und damit auch der Ausbildung- und Führungsmethoden und der
Einführung neuer moderner technischer Organisationssysteme. Das geschieht,
damit müssen wir rechnen.
Sprecher:
Angesichts einer veränderten Bedrohungslage und nicht zuletzt bedingt durch die
so genannte „Friedensdividende“, die in allen Staaten Europas nach dem Ende
des Kalten Krieges von den Regierungen eingesammelt wurde, muss eine Armee
11
in Westeuropa heute mit sehr viel weniger Geld auskommen als noch vor 20
Jahren. Mit Ausnahme von Deutschland haben fast alle anderen Staaten auf
Berufsarmeen umgestellt, zuletzt die Franzosen und Italiener. Aber das spart
kaum Kosten, sondern wirft neue Probleme auf. Als Ausweg bleibt nur, die Zahl
der Soldaten erheblich zu reduzieren und durch Standardisierung und
Zusammenarbeit mit Truppen anderer Staaten die eigenen Mittel so effizient wie
möglich einzusetzen. In Deutschland ist dies in letzter Zeit durch die Schließung
und Zusammenlegung von Standorten und durch die Aufstellung von
supranationalen Korps geschehen, z.B. ein deutsch-niederländisches, ein
deutsch-polnisches oder das Eurokorps mit Sitz in Straßburg.
Mit dem so genannten „Kampfgruppen-Konzept“ haben die Europäer schließlich
auf die neuen Herausforderungen in der Weltpolitik reagiert. Weil auf absehbare
Zeit nicht damit zu rechnen ist, dass es Krieg in Europa gibt – Demokratien
kämpfen nicht militärisch gegeneinander. Ein Krieg von Nation gegen Nation ist
also unwahrscheinlich geworden, auch wenn Walther Stützle, der ExStaatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, sich zum neuen Verhältnis
von Amerikanern, Russen und Europäern vorsichtig äußert:
O-Ton
Es gibt zwischen diesen Dreien keine Interessenkonflikte mehr, die mit der Gefahr
eines Krieges bewehrt wären. Es gibt handfeste Interessenunterschiede, aber
keine, die mit der Kriegsgefahr, so wie früher zum Beispiel früher das BerlinProblem belegt wären. Dieses zu bewahren und zu festigen, ist eine erstrangige
politische Aufgabe von der ich bisher nicht sehe, dass sie wirklich angepackt
worden ist. Ob wir davon ausgehen können, dass zwischen Demokratien und
Russland ist ja noch keine Demokratie – dass zwischen Demokratien für Zeit und
Ewigkeit keine kriegerischen Konflikte ausbrechen, mit einer solchen Vorhersage
wäre ich sehr vorsichtig. Aber wahr ist, dass Demokratien sich sehr viel schwerer
tun und wir bisher davon profitiert haben, dass wir kriegsfrei geblieben sind.
12
Sprecher:
Weil stattdessen der so genannte ‚asymmetrische Krieg’ der Konflikt von
Gegenwart und Zukunft zu sein scheint, benötigt man kleine, schlagkräftige
militärische Einheiten, „battle groups“ mit einigen hundert Mann, die über tausende
von Kilometern hinweg verlegt werden können, um im günstigsten Fall einen
großen Konflikt zu verhindern, bevor er zum Ausbruch kommt. Der aktuelle Fall ist
der Sudan, wo Amerikaner wie Europäer im Augenblick noch zögern,
hineinzugehen, weil man nicht weiß, in welche Situation man in Dafur gerät, wie
sie zu lösen ist und welche Kapazitäten am Ende benötigt werden.
Das Setzen auf die Friedensdividende, die Hoffnung, von terroristischen
Anschlägen verschont zu werden – trotz Madrid, trotz London - hat bislang zur
Folge gehabt, dass die Europäer keines ihrer ehrgeizigen Ziele, die sie sich in den
neunziger Jahren in der Sicherheitspolitik setzten, erreicht haben. Beim
Europäischen Rat in Helsinki wurde beispielsweise beschlossen, 60 000 Soldaten
binnen sechzig Tagen im Notfall mobilisieren zu können. Daraus ist bis heute
nichts geworden.
Nun schlägt für das Kampfgruppenkonzept, das als Helsinki-Ersatz verabredet
wurde, allmählich die Stunde der Wahrheit. 1 500 Mann pro Gruppe, dreizehn
Gruppen insgesamt und damit etwa ein Drittel der Helsinki-Vereinbarung, sollen
ab 2007 zur Verfügung stehen. Für Deutschland besonders heikel: die Truppe soll
binnen fünf Tagen verlegt werden können. Wenn sich das Parlament in der
Sommerpause befindet, wird das schwer zu erreichen sein. Hier kommen auf eine
neue Bundesregierung schwerwiegende Entscheidungen zu.
13
Walther Stützle, der frühere Staatssekretär im Bundesministerium der
Verteidigung, vergleicht die Militärausgaben von Amerikanern und von Europäern
und geht dabei dem Hauptproblem der Europäer auf den Grund:
O-Ton
Die 25 Staaten der Europäischen Union haben gemeinsam einen
Verteidigungshaushalt von ungefähr 60 % von dem was die Vereinigten Staaten
haben und erzielen damit einen Wirkungsgrad von weniger als 10 %. Das zeigt,
wie groß die Verschwendung ist. Das zeigt wir groß die Notwendigkeit ist, damit
Schluss zu machen. Es zeigt aber auch noch etwas anderes: Für die Europäische
Union kommt es nicht darauf an, die Vereinigten Staaten zu kopieren, sondern es
kommt darauf an, über die Instrumente zu verfügen, die das europäische
Interesse gebieten und dazu gehört auch eine europäische Armee.
Sprecher:
So gut wie alle Fachleute in Deutschland sehen ungeachtet einer wachsenden
Bedeutung der europäischen Verteidigung eine Zukunft für die NATO, wie etwa
Andreas Falke, Amerikafachmann in Nürnberg-Erlangen:
O-Ton
Für die NATO gilt, dass sie einfach als Institution in ihren Strukturen bewährt ist
und keiner wird sie aus diesen Gründen fallen lassen. Wenn immer etwas
Transatlantisches anliegt, wird man die NATO immer aktivieren. Weder die
Vereinigten Staaten noch die wichtigsten europäischen Mächte werden je auf die
NATO verzichten können. Und schon gar nicht die neuen Beitrittsländer in
Osteuropa. Der NATO gebe ich langfristig weiterhin sehr große
Überlebenschancen, weil sie tatsächlich die Ebene ist´, auf der man in gleicher
Augenhöhe im transatlantischen Verhältnis handlungsfähig ist.
Sprecher:
Ähnlich sieht Karl-Heinz Kamp, Koordinator für Sicherheitspolitik bei der KonradAdenauer-Stiftung, die Verhältnisse:
14
O-Ton
Ich glaube, dass die NATO deshalb eine Zukunft hat, weil sie im Interesse beider
Seiten des Atlantiks ist. Die USA brauchen Europa, weil sie Verbündete brauchen.
Und natürlich können sie militärisch alles alleine machen, aber sie brauchen
Verbündete weil man auch seinem eigenen Bürger ja Missionen, auch gefährliche
militärische Missionen erklären muss. Und dann ist es immer besser, wenn man
sagen kann, wir haben unsere Verbündeten an Bord. Die Europäer brauchen die
USA weil ohne die USA, ohne deren militärisches aber auch politisches Gewicht
Europa nicht in der Lage ist, in großen Krisen in irgendeiner Form zu agieren.
Zitator:
Das Mächtesystem in 20 Jahren
Sprecher:
Der Historiker Walter Laqueur hat unlängst die Frage gestellt: Wie soll eine
europäische Verteidigungspolitik aussehen? Seine Antwort:
Zitator:
„Der Einsatz ‚weicher Mittel’, der so gelobt worden ist, hat seine Grenzen – und
Europa verfügt nicht einmal über viele sanfte Methoden. Gewiss, ‚Europa wird hart
bleiben’, wie die Leitartikler in den Medien berichten – das gilt aber nur gegenüber
Kroatien. Gegen Russland und China, die Arabische Liga und Indien wird es sich
das nicht leisten können. Es wird die iranische Bombe hinnehmen, obwohl es
weiß, dass es bald ein Dutzend weitere Länder geben wird, die über
Massenvernichtungswaffen verfügen. In Europa fehlen der notwendige innere
Zusammenhalt und die Solidarität sowie der politische Wille zu einer effektiven
gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik“,
Sprecher:
15
so das harte Urteil Laqueurs. Für ihn wie für viele Beobachter in der
angelsächsischen Welt reicht es nicht aus, sich über die böse Welt in der Weise
zu äußern, wie es der neue EU-Präsident Manuel Barroso unlängst getan hat, der
meinte: „Wir sind eine moralische Macht“.
So wie es unter den Fachleuten Einigkeit darüber gibt, dass die NATO überleben
wird, so gilt das auch für die Rolle der Supermacht Amerika auf absehbare Zeit.
Christoph Bertram, Direktor der Stiftung „Wissenschaft und Politik“ kann sich die
Welt in 20 Jahren ohne eine dominante Rolle der USA nicht vorstellen:
O-Ton
Vielmehr liegt es im Interesse der Vereinigten Staaten gerade diesen großen
Vorsprung an Macht, den sie haben, zu nutzen, um ihnen nützliche Institutionen
ins Leben zu rufen, deren Entwicklung zu unterstützten. Das gilt für die UNO, das
gilt für viele andere Bereiche auch. Das Amerika in 20 Jahren, wenn es
vernünftige Politik macht, wird immer noch Primus inter Pares sein. Aber es wird
gleichzeitig auch stärker institutionelle Strukturen in Asien und über den Atlantik
hinweg fördern und sich an ihnen beteiligen.
Sprecher:
Lothar Rühl, der Ex-Staatssekretär und Publizist, vielleicht der erfahrenste
Analytiker im Lande, verteilt die Gewichte so:
O-Ton 19
Wenn wir von den nächsten 20 Jahren sprechen, bleiben die Vereinigten Staaten
die führende und einzig global handlungsfähige Weltmacht. Es wird dann in jedem
Fall ein verändertes Russland hinzukommen, wir müssen abwarten, ob Putins
Pläne Wirklichkeit werden.
Als nächstes China. China wird aller Wahrscheinlichkeit nach eine wirtschaftliche
Großmacht werden wie Japan und es wird neben Japan und revitalisierend und
konkurrierend mit Japan aber auch kooperierend mit Japan auf allen Weltmärkten
präsent sein. Und China will mit Sicherheit seine Peripherie beherrschen, das
heißt die Küstenmeere und natürlich auch die sibirische Peripherie und die
zentralasiatische Peripherie. Sie werden also weiter große
Rüstungsanstrengungen machen. Ihr gewaltiger Energiebedarf wird sie in den
Mittleren Osten und ins Kaspische Becken führen. Das wird auch für Japan gelten.
16
Sprecher:
Entscheidend vorangebracht hat Herfried Münkler die außenpolitischen Debatten
in Deutschland mit seinen jüngsten Denkanstößen. Er sieht Amerika als Imperium,
vergleichbar dem Römischen Reich zur Zeit von Kaiser Augustus und nicht nur als
Hegemonialmacht.
Europa sieht Münkler in der Rolle eines Subzentrums, dass ohne Anlehnung an
amerikanische Herrschaftspraktiken nicht überleben kann, vor allem wegen seiner
unsicheren Ost- und Südgrenzen:
O-Ton 21 Münkler
Das ist das Problem der Europäer, dass sie aufpassen müssen, von den
Amerikanern nicht hemmungslos instrumentalisiert werden, die die Ziele und die
Art der Durchsetzung vorgeben und die Europäer haben dann die Mittel dafür
beizusteuern. Das andere ist, dass natürlich die Europäer als ein wichtiger Teil
dieser Wohlstandszone bzw. imperialen Ordnung ebenfalls von Außen bedroht
werden in unterschiedlicher Form und dass sie ihrerseits von prekären Staaten,
man sagt in der Regel „failing states“, zerfallenen Staatsordnungen umgeben sind,
was ihnen nicht gleichgültig sein kann und das ist gewissermaßen auch die
andere Seite der Herausforderung der Europäer, dass sie selber, weil sie es
eigentlich können müssten zumindest, aufgefordert sind, etwas für die
Stabilisierung der Ränder, die Ordnung der Peripherie, zu tun.
Sprecher:
Fazit: Den Europäern wird im Zeitalter der Globalisierung nichts anderes übrig
bleiben, als zusammenzurücken und die Ausgaben für Verteidigung so effizient
wie möglich zu nutzen. Viel Zeit wird für dafür nicht zur Verfügung stehen.
Musik
Absage
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In der Reihe Zeitfragen hörten Sie heute:
Wie stark ist Europa?
Die Diskussion um eine neue Sicherheitspolitik
Eine Sendung von Jochen Thies.
Es sprachen: Thomas Holländer und Udo Baumgartner
Ton: Bernd Friebel
Regie: Rita Höhne
Redaktion: Stephan Pape
Produktion: DeutschlandRadio Kultur 2005
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