Ziff. 2

Werbung
Essays - José Sáenz de Aguirre (1630-1699), Philosophia Moralis ab Aristotele tradita decem libris
Ethicorum ad Nicomachum a Ioanne Argyropilo byzantino latine...
Jo
sé
Sá
en
z
de
A
gu
irr
e
(1
63
016
99
),
P
hil
os
op
hi
a
M
or
ali
s
ab
Ar
ist
ot
Page 1 - zuletzt bearbeitet von Administrator am 2010/11/09 17:03
Essays - José Sáenz de Aguirre (1630-1699), Philosophia Moralis ab Aristotele tradita decem libris
Ethicorum ad Nicomachum a Ioanne Argyropilo byzantino latine...
el
e
tr
ad
ita
de
ce
m
lib
ris
Et
hi
co
ru
m
ad
Ni
co
m
ac
hu
m
a
Io
an
ne
Ar
gy
ro
pil
o
by
Page 2 - zuletzt bearbeitet von Administrator am 2010/11/09 17:03
Essays - José Sáenz de Aguirre (1630-1699), Philosophia Moralis ab Aristotele tradita decem libris
Ethicorum ad Nicomachum a Ioanne Argyropilo byzantino latine...
za
nti
no
lat
in
e..
.
Admi
nistra
tor
2010
/11/0
9
17:0
3
Inhaltsverzeichnis
Zur Gliederung .................................................................................................................................................................................................................................
Page 3 - zuletzt bearbeitet von Administrator am 2010/11/09 17:03
Essays - José Sáenz de Aguirre (1630-1699), Philosophia Moralis ab Aristotele tradita decem libris
Ethicorum ad Nicomachum a Ioanne Argyropilo byzantino latine...
Caput Primum ..................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 1 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 2 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 3 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 4 ................................................................................................................................................................................................................................................
Caput Secundum ............................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 1 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 2 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 3 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 4 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 5 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 6 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 7 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 8 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 9 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 10 ..............................................................................................................................................................................................................................................
Caput Tertium ..................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 1 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 2 ................................................................................................................................................................................................................................................
Caput Quartum ................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 1 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 2 ................................................................................................................................................................................................................................................
Caput Quintum .................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 1 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 2 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 3 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 4 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 5 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 6 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 7 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 8 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 9 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 10 ..............................................................................................................................................................................................................................................
Caput Sextum ..................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 1 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 2 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 3 ................................................................................................................................................................................................................................................
Caput Septimum .............................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 1 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 2 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 3 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 4 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 5 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 6 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 7 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 8 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 9 ................................................................................................................................................................................................................................................
Caput Octavum ................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 1 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 2 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 3 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 4 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 5 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 6 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 7 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 8 ................................................................................................................................................................................................................................................
Ziff. 9 ................................................................................................................................................................................................................................................
Zur Gliederung
•
•
Caput primum: Anlaß des Buches, Textgrundlage und weitere Quellen, Vorgehensweise und Stil ( VII - X)
Caput secundum: Ursprung, Würde, Nützlichkeit und Vorrang der Moralphilosophie gegenüber anderen
Page 4 - zuletzt bearbeitet von Administrator am 2010/11/09 17:03
Essays - José Sáenz de Aguirre (1630-1699), Philosophia Moralis ab Aristotele tradita decem libris
Ethicorum ad Nicomachum a Ioanne Argyropilo byzantino latine...
•
•
•
•
•
•
Disziplinen. Rolle moralphilosophischen Wissens in Theologie, Recht und Politik ( X - XIV)
Caput tertium: Der Nutzen der Moralphilosophie für Könige und Fürsten, Prolog des Prinzen Karl von Viana
zu seinem spanischen Lehrbuch der aristotelischen Ethik ( XIV - XVI)
Caput quartum: Die Autorschaft der Nikomachischen Ethik; ihr Verhältnis zu Eudemischer Ethik und den
Magna Moralia ( XVII - XVIII)
Caput quintum: Die Nikomachische Ethik als Grundlage der gesamten praktischen Philosophie (
philosophia actuosa seu Moralis), die Einteilung der praktischen Philosophie in Ethik, Ökonomik und Politik,
Ethik als Voraussetzung für das Erlernen weiterer praktischer Disziplinen, Verteidigung der These des
Thomas, daß die Ethik zuvörderts das Leben des Einzelnen anleitet, gegen die Einwände von Francisco
Piccolomini ( XIX - XXII)
Caput sextum: Zum Begriff der mores XXII - XXIII)
Caput septimum: Fünf Positionen zur Materie bzw. dem Gegenstand der praktischen Philosophie und ihrer
Disziplinen XXIII - XXVI)
Caput octavum: Verteidigung der Auffassung des Thomas, daß freie tugendhafte Handlungen Materie der
praktischen PHilosophie sind, Widerlegung Piccolominis XXVI - XXVIII*)
Caput Primum
Ziff. 1
VII Die Behandlung der Moralphilosophie folgt auf die Behandlung der theoretischen Philosophie, die der Autor
in drei Bänden abgehandelt hat. Die Bearbeitung der praktischen Philosophie ( philosophia actuosa) ist dringlich,
wenn man die Zahl der ihr gewidmeten Lehrbücher mit denen vergleicht, die über Dialektik, Naturphilosophie und
Metaphysik verfaßt werden. Die Vorbereitung von Vorlesungen auf einem Lehrstuhl für Moralphilosophie, wie er
in Salamanca, Alcalá de Henares und anderen Orten existiert, ist deswegen mühselig. VIII Deswegen wählen
viele Hochschullehrer den Ausweg, Themen für ihre Vorlesungen aus der Metaphysik und Theologie zu
entlehnen. Dies steht den Erwartungen ihrer Hörer entgegen, die in einer Vorlesung über Ethik allein Ethik als
Gegenstand erwarten. Dies ist vor Sáenz de Aguirre schon von anderen bemängelt worden (er nennt als
Gewährsmänner die Juristen Iosephus Fernandez de Retes und Franciscus Ramos de Manzano sowie weitere
Mitglieder des Senats seiner Universität, die die Herausgabe seiner Vorlesungen zur Ethik, die die Grundlage
des vorliegenden Buches zu bilden scheinen, unterstützt haben).
Ziff. 2
Sáenz de Aguirre zeichnet insgesamt zehn Übersetzungen der Nikomachischen Ethik als tauglich aus: die von
Thomas von Aquin benutzte, außerdem die Übersetzungen von Johannes Argyropilos, Aretinus, Fiecentinus,
Felicianus, Jaochim Perionius, Adrianus Turnebus, Petrus Victorius, Gruchius, Dionysius Lambinus, Theodorus
Zuingerus, sowie die Paraphrase eines unbekannten Autors und die Bemerkungen Theophrasts, die von Daniel
Heinsius ins Lateinische übersetzt worden sind. Außerdem wurden Übersetzung und Kommentar der Ausgabe
von Obertus Giphanius benutzt, auch wenn diese durch ihre antikatholischen Ausfälle schwer zu lesen ist
(Aguirre de Sáenz mutmaßt, das Buch könne, da posthum erschienen, verfälscht worden sein und u. U. nicht die
wahren Intentionen seines Autors enthalten).
Als Kommentatoren der Nikomachischen Ethik wurden Donatus Acciaiolus, Franciscus Piccolomineus (
Philosophia de Moribus), Theophilus Raynaudus ( De Virtutibus et Vitiis), Sfortia und Tarquinius Gallutius
herangezogen. IX In quaestiones organisierte Literatur - Sáenz de Aguirre nennt Buridan, iavellus, Burley, und
unter den Neueren die Conimbricenser, Pontius, Eustachius a Sancto Fausto und Irenaeus - sind hingegen
außer acht gelassen worden, weil diese Werke sehr schmal ausfallen, da ihre Autoren ‘sehr sparsam
geschrieben haben’ ( parce scripserunt), zum andern im vorliegenden Buch ein Kommentar statt einer Reihe von
quaestiones zur Ethik geliefert werden sollen.
Ziff. 3
Als Text wird diesem Kommentar die Übersetzung von Johannes Argyropilos zugrundegelegt, nicht aufgrund
ihrer Qualitäten, sondern weil sie die in Spanien am meisten verbreitete ist. Sofern die Erhellung einer dunklen
Stelle dies erforderlich macht, werden auch andere Übersetzungen herangezogen. Insgesamt zielt der
Kommentar nicht auf Originalität, sondern will das in den erwähnten Quellen vorhandene Wissen
zusammenführen und ordnen. Davon sollen neben Philosophen auch Theologen, Juristen und alle profitieren
können, die auf irgendeine Art und Weise gebildet und an der Ausbildung ihrer moralischen Fähigkeiten (
honestas) interessiert sind.
Page 5 - zuletzt bearbeitet von Administrator am 2010/11/09 17:03
Essays - José Sáenz de Aguirre (1630-1699), Philosophia Moralis ab Aristotele tradita decem libris
Ethicorum ad Nicomachum a Ioanne Argyropilo byzantino latine...
Ziff. 4
Hinsichtlich seines Stils kündigt Sáenz de Aguirre an, sich nicht wie Giphanius an ciceronischen Idealen zu
orientieren, sondern an den Üblichkeiten der Schulphilosophie auszurichten, wie er es auch schon in der
Behandlung der theoretischen Philosophie gehalten hat. Abgelehnt werden jedoch auch scholastische
Spitzfindigkeiten. X Sie tragen dazu bei, jene, die an eine gepflegetere Ausdrucksweise gewohnt sind, von der
Beschäftigung mit philosophischen Fragen abzuhalten. Zwischen diesen Extremen wird ein Mittelweg zu suchen
sein. Allerdings darf, wenn es die Klarheit des Gedankens erfordert, vor dem Gebrauch von Fachterminologie (
privatae uniuscuiusque disciplinae voces) nicht zurückgeschreckt werden.
Caput Secundum
Ziff. 1
Aguirre hält die Philosophie, jedoch insbesondere die im Gegensatz zur theoretischen nicht mit Subtilitäten
belastete praktische Philosophie ( philosophia actuosa) mit Seneca für etwas Heiliges. Da nicht nur das Leben,
sondern auch das gute Leben ein götliches Geschenk ist, muß die Philosophie, die zu einem solchen Leben
verhelfen kann, ebenfalls etwas Heiliges sein.
Gemeinhin wird Pythagoras als derjenige angesehen, der zum ersten Mal über das Gute und Böse philosophiert
habe. Josephus Flavius, Ambrosius und Clemens Alexandrinus werden als Autoritäten für die Behauptung
angeführt, Pythagoras habe sein diesbezügliches Wissen aus jüdischen Quellen erworben. Was er an Richtigem
über Fragen der Sittlichkeit gelehrt habe, sei also aus den heiligen und sehr reinen Quellen der jüdischen
Überlieferung geschöpft worden. Die Moralphilosophie ist also nicht von Pythagoras oder anderen Sterblichen
erfunden, sondern von Gott den Menschen geschenkt worden.
Ziff. 2
Sokrates habe lange Zeit nach Pythagoras die Jugend Athens und die Einhaltung moralischer Normen (
disciplina moralis) gebessert und trotz der Gefahr für sein eigenes Leben öffentlich den griechischen
Polytheismus kritisiert (Gewährsmann ist hier Tertullian). Anders als dies Erasmus von Rotterdam tut, kann
Sokrates aber nicht gänzlich gutgeheißen oder zu den göttlichen bzw. gottgleichen Menschen gezählt werden. XI
Für weiteres verweist Sáenz de Aguirre auf seine Theologiae Florulentae. Platon habe seine Moralphilosophie
nicht rein, sondern nur in ‘trüber und verschmutzter Weise von seinem Lehrer Sokrates übernommen. Zwar habe
er jüdische Weisheit aus ägyptischen Quellen oder, wie Tertullian meint, von Hermes Trimegistus schöpfen
können, sei aber selbst des Hebräischen nicht mächtig gewesen. Er lehre deswegen im Protagoras nur vom
Menschen selbst ausgedachte Fertigkeiten der Lebensbewältigung. Die Führung eines guten Lebens muß
jedoch von Gott den Seelen der Menschen eingeprägt werden.
Einige Kirchenväter vertreten die These, daß Platon in Ägypten die Bücher Moses studiert und anhand ihrer die
Politeia verfaßt habe. Die in ihr enthaltene Einsicht, daß ungläubige und verbrecherische Menschen, auch wenn
sie über äußere Güter verfügen und den Anschein der Rechtschaffenheit erwecken können, dennoch unglücklich
und für die Götter hassenswert ( odibilis) sind. Wer ein unschädliches Leben führt und moralisch handelt, ist
hingegen auch im größten äußeren Unglück ( calamitas) glücklich zu nennen. Eusebius von Caesarea vertrete
beispielsweise die Ansicht, daß ein Vers des Jesaja auf Umwegen aus dem zweiten Buch der Politeia entlehnt
worden sei. Ähnliche Parallelen könnten zwischen Sap. 2 und dem ersten Buch der Politeia festgestellt werden.
Die alten griechischen Weisen verfügten, sofern sie sich mit ethischen Fragen auseinandergesetzt haben, über
Kenntnis der göttlichen Offenbarung, aus der, auch wenn sie unklar gewesen sein mag, dennoch Hinweise zur
richtigen Ausrichtung der eigenen Lebensführung abzuleiten gewesen sind. Als weitere Autoritäten werden
Numenius und Augustinus angeführt.
Ziff. 3
Aristoteles hat nach Ansicht von Sáenz de Aguirre einen großen Teil der Ethik bei Platon erlernt, auch wenn er
manches hinzugefügt und ihm in vielen Hinsichten widersprochen hat. Aus diesem Grund kann man, anders als
im Falle der Dialektik, Physik bzw. Naturphilosophie und Metaphysik, auch nicht davon ausgehen, daß
Aristoteles die Ethik erfunden habe. Als Autorität wird das Prooemium zum Physik-Kommentar des Averroes
Page 6 - zuletzt bearbeitet von Administrator am 2010/11/09 17:03
Essays - José Sáenz de Aguirre (1630-1699), Philosophia Moralis ab Aristotele tradita decem libris
Ethicorum ad Nicomachum a Ioanne Argyropilo byzantino latine...
angeführt. Inwiefern die moralphilosophischen Schriften des Aristoteles als authentisch gelten können, wird
später erörtert. Einstweieln hält Sáenz de Aguirre als Ergebnis dieser historischen Untersuchung fest, daß die
Moralphilosophie nicht von Menschen erfunden, sondern von Gott den Menschen geschenkt worden ist.
Ziff. 4
Die Nützlichkeit der Moralphilosophie beruht erstens darauf, daß sie den Menschen lehrt, gemäß der Vernunft (
ratio) zu leben und seine Sitten gemäß den Geboten der Ehrenhaftigkeit ( honestas) einzurichten ( regere).
Zweitens führt sie den Menschen zum höchsten Glück und zur Freundschaft ( amicitia) mit Gott. Für ein
vernunftbegabtes Geschöpf kann es nichts Herausragenderes und Nützlicheres als diese Beziehung zu Gott
geben. Dies wird insbesondere deutlich, wenn man die praktische Philosophie mit der theoretischen vergleicht,
die für viele Kirchenväter nutzlos und verdammenswert erschien. Als Autoritäten hierfür werden Laktanz, Gregor
von Nazianz, Tertullian, Hieronymus und Ambrosius angeführt. Für eine Erörterung dieser Stellen verweist Sáenz
de Aguirre auf die erste Disputation seiner Philosophia rationalis, in der er deren Nützlichkeit dargelegt hat. Im
vorliegenden Text begnügt er sich mit dem Hinweis darauf, daß die Kirchenväter nur auf den Mißbrauch der
Philosophie, v. a. den sophistischen, abstellen. XII Dieser ist entweder von Hochmut geprägt ( arrogantia plenus)
oder vom Unglauben getragen ( pietate vacuus).
Dieser Vorwurf trifft aber nur jene, die in der theoretischen Philosophie nicht auf die Suche nach Wahrheit,
sondern das Ausdenken von Neuerungen um ihrer selbst willen abzielen. Für diese These werden Augustinus,
Clemens, Hermes Trismegistus (”Mercurius Ter Maximus”) und Seneca als Beleg angeführt, sechshundert
weitere Testimonia Senecas läßt der Autor aus.
Ziff. 5
Aber auch wenn man den richtigen Gebrauch der theoretischen Philosophie und der freien Künste betrachtet,
steht fest, daß sie der praktischen Philosophie an Nützlichkeit unterlegen sind. Zwar bereiten diese Disziplinen
den Weg zum Erlernen der Theologie. Für sich genommen kann ihnen jedoch kaum Nützlichkeit zugesprochen
werden. Spekulative Disziplinen leiten allein zur Kontemplation von Wahrheiten, nicht jedoch zu einer moralisch
guten bzw. ehrenvollen Handlung. Dies wird im einzelnen anhand der Geometrie, der Astronomie, der Dialektik,
der Naturphilosophie und der Metaphysik belegt: Der Geometer zieht aus der Vermessung der Welt keinen
Gewinn für richtiges Handeln. Der Astronom wird sich durch die Erkenntnis des Sternenlaufs nicht die eigene
Hinfälligkeit vergegenwärtigen oder seinen Geist von ihr befreien. Der Dialektiker kann durch seine Fertigkeiten
im Disputieren allein nicht erkennen, wie er sich von den Fallstricken dieses Lebens, etwa den Affekten befreien
kann. Der Naturphilosoph lernt durch die Beobachtung der Elemente, ihrer Mischung, des Entstehens und
Vergehens von Körpern nichts darüber, wie er die Furcht vor dem eigenen Tod hinter sich lassen kann. Der
Metaphysiker betrachtet die allgemeinsten Gründe des Seienden, des Wahren und Guten, weiß aber dennoch
nicht wie in menschlichen Angelegenheiten ( in rebus humanis) bzw. im Einzelfall ( in singulari) zu handeln ist,
etwa wo Gefahr droht, das moralisch Richtige nicht zu tun, wann Gerechtigkeit bewahrt oder Tapferkeit bewiesen
werden muß.
Die Moralphilosophie stellt diese Einsichten bereit. Sie lehrt, nicht allein durch allgemeine Normen, sondern auch
im Einzelfall. Auf diesem Wege wird gezeigt, wie das menschliche Leben richtig einzurichten ist, wie Laster
vermieden werden können, auf welche Weise Tugenden praktiziert werden und wie solche Tugenden bewahrt
und vergrößert werden können und auf welche Weise sie zur gewünschten Glückseligkeit ( felicitas) führen.
Weiterhin lehrt sie den Menschen, mit sich selbst Frieden zu schließen und, wenn die richtige Mitte zwischen
Affekten (also die Tugend im aristotelischen Sinne) gefunden ist, anderen Menschen gegenüber wohltätig zu
wirken und sich auf diese Weise mit Gott zu versöhnen. Als Autoritäten werden hierfür Iustinus Martyr und Philo
angeführt. Auch Posidonius habe, so Sextus Empiricus, die Philosophie mit einem Lebewesen verglichen. Die
Logik entspreche Knochen und Nerven, die Naturphilosophie entspreche Fleisch und Blut, die Ethik schließlich
dem Gemüt bzw. Geist ( animus). Vergleicht man die Philosophie mit einem Ei, so entspricht die Schale der
Logik, das Eiweiß der Naturphilosophie und die Ethik dem Dotter. XIII Das referierte Lob der Philosophie schließt
v. a. Autoren ein, die nicht dem Christentum zugehören ( ethnici), da die entsprechenden Stellen christlicher
Autoren allgemein bekannt sind und deswegen nicht angeführt wurden. Es kann sich außerdem entweder
speziell auf die Moralphilosophie oder auf die Philosophie im allgemeinen, sofern sie die Moralphilosophie
enthält, beziehen.
Ziff. 6
Page 7 - zuletzt bearbeitet von Administrator am 2010/11/09 17:03
Essays - José Sáenz de Aguirre (1630-1699), Philosophia Moralis ab Aristotele tradita decem libris
Ethicorum ad Nicomachum a Ioanne Argyropilo byzantino latine...
Die Moralphilosophie darf allerdings nicht, weil sie auf eine Verbesserung unserer sittlichen Einstellung zielt, als
unzugänglich oder unangenehm ( asper aut insuavis) mißverstanden werden. In Wahrheit sichert sie die mit
Ehrenhaftigkeit verbundene Freude bzw. Fröhlichkeit ( iucunditas). Um dies zu belegen, wird auf jene alten
Weisen hingewiesen, die alle Gunst des Schicksals ausschlugen, um jener Freude teilhaftig zu werden, die die
Philosophie ihren Anhängern in Aussicht stellt. Diese Einstellung ist allerdings übertrieben: In Wahrheit ist die
Moralphilosophie gebildet ( urbanus)und auf das Gemeinwesen bezogen ( civilis). Sie verhilft zu einem
ehrenvollen Umgang auch mit anderen. Ihre Einsichten stehen jedem offen, sofern nicht Laster sich schon
verfestigt haben, man sich also in der für den Menschen schlechtestmöglichen Lage befindet und vor ihr schon
kapituliert hat. Ansonsten steht sie Adligen und Nichtadligen, Reichen und Armen, Königen und untertanen,
Männern und Frauen offen und ist allen nützlich, die begierig sind, in ihr Kenntnisse zu erwerben.
Sáenz de Aguirre schließt hieran eine kurze autobiographische Auskunft an: Er könne nämlich nicht
vorhersagen, welche Wirkungen die Befassung mit der Moralphilosophie bei anderen haben wird, aber Auskunft
geben, wie es ihm selbst in dieser Hinsicht ergangen ist. Von 28 Jahren, die er insgesamt mit Philosophie und
Theologie innerhalb des Benediktinerordens zugebracht hat, hat er lediglich zwei mit dieser ‘himmlischen Lehre’
zugebracht. Daraus hat er aber weit mehr Freude ( suavitas) und Vergnügen ( delectatio) gezogen als aus den
langen Jahren der Auseinandersetzung mit Fragen der theoretischen Philosophie zuvor. Stunden, Tage, Nächte
und Nachtwachen ( pervigilia) sind ihm währenddessen nur wie Augenblicke vorgekommen. Wer sich auf die
Moralphilosophie einläßt, so Sáenz de Aguirre abschließend, wird die gleichen Erfahrungen machen.
Ziff. 7
Die Befassung mit der Moralphilosophie ist in besonders hohem Maße für Theologen, Rechtsgelehrte und
Politiker nützlich. Theologen finden in der Moralphilosophie die Hauptsätze ( capita) hinsichtlich aller
Gegenstände, die in der Moralphilosophie behandelt werden. Außerdem werden Tugenden, Laster und die aus
beidem resultierenden Handlungen ihrem Ursprung nach behandelt. Aus diesem Grund hat Thomas von Aquin
fast alles, was Aristoteles in seiner Ethik behandelt, in die Prima Secundae der Summa theologiae übernommen.
Deswegen wird im folgenden auf Thomas und seine Interpreten immer wieder bezug genommen.
Ziff. 8
Der Rechtskundige bekommt durch die Moralphilosophie nicht nur Einblick in alle Bereiche menschlicher Taten
und Angelegenheiten - und damit alle Prinzipien der Jurisprudenz -, sondern auch in den Ursprung aller Gesetze,
gleich ob sie zum ius civile oder zum ius canonicum gehören. Denn Tugenden und Laster sind die Grundlage (
fundamentum) aller menschlichen Gesetze. Nicht umsonst betrachte es Seneca als die wichtigste Aufgabe der
Moralphilosophie, jedem das Seine zukommen zu lassen (Verweis auf Epist. 90). Im Mittelpunkt der
Moralphilosophie steht also die Gerechtigkeit und das Recht. Dies ist uch daran abzulesen, daß Aristoteles
diesem Thema das gesamte fünfte Buch der Nikomachischen Ethik gewidmet hat.
Häufig findet sich in Kommentaren zur Ethik auch ein Kapitel, in dem juristische Streitfraen behandelt werden.
Besonders ausführlich tut dies der in Rechtsdingen sehr beschlagene Giphanius.
Ziff. 9
Wer schließlich die doctrina civilis bzw. Politik auf eine Weise erlernen will, die mit der Vernunft übereinstimmt
und dem Gemeinwesen und dem menschlichen Zusammenleben nützt, muß zuerst Moralphilosophie verstanden
habe, weil sie die Grundlage der Politik darstellt. Sie führt dazu, daß das Leben der Menschen als einzelner
nüchtern und in Übereinstimmung mit der Vernunft geführt wird. Ohne eine solche Ehrenhaftigkeit der eigenen
Sitten kann aber niemand ein wahrer Politiker sein.
XIV
Ziff. 10
Sáenz de Aguirre zitiert Basileius Imperator: Der Leser kann, unabhängig von seinem Hintergrund, von der Arbeit
des Aristoteles profitieren, die Tugenden der moralisch Guten und die Laster der moralisch Schlechten erkennen,
die im menschlichen Leben möglichen “Veränderungen und Umstürze” ( mutationes et conversiones) und der
daraus folgende Mangel an Verläßlichkeit ( instabilitas), die auch politische Herrschaft betreffen kann, sowie die
Strafen der Übeltäter und den Lohn der Guten kennenlernen und auf diese Weise erlernen, wie den Guten zu
folgen ist und wie schlechte Menschen zu fliehen sind.
Page 8 - zuletzt bearbeitet von Administrator am 2010/11/09 17:03
Essays - José Sáenz de Aguirre (1630-1699), Philosophia Moralis ab Aristotele tradita decem libris
Ethicorum ad Nicomachum a Ioanne Argyropilo byzantino latine...
Caput Tertium
Ziff. 1
Sáenz de Aguirre zitiert eingangs das Buch der Weisheit (cap. 6) und verweist darauf, daß nicht die theoretische,
sondern einzig die praktische Philosophie Anspruch darauf erheben kann, im biblischen Sinne als Weisheit in
Frage zu kommen, weil sie nicht mit Unterscheidungen angefüllt ist, die lediglich auf die theoretische
Wissensvermittlung zielen, sondern sich mit der Ausübung der Tugend befaßt und den menschlichen Geist nicht
nur bildet, sondern anleitet und zur mit der Ausbildung aller Tugenden einhergehenden Ehrenhaftigkeit führt. Sie
sei für Regenten ein ruhmvollerer Schmuck als Thron, Szepter und Krone (als Beleg wird Xenophon angeführt).
Die Moralphilosophie sei nicht zuletzt deswegen von Wichtigkeit, weil sie die Sicherheit und lange Dauer der
Herrschaft eines Regenten sicherstelle.
Als mahnendes Beispiel soll Nero dienen, der als Knabe in allen freien Künsten unterrichtet wurde, sich aber
später auf Befehl seiner Mutter Agrippina von der Philosophie abwendete. Vielmehr gilt, daß Könige jene
Gattung unter den Menschen sind, denen die Beschäftigung mit der Moralphilosophie am meisten anzuraten ist,
denn es ist ihre Pflicht, alle anderen Menschen hinsichtlich ihrer Würde und Weisheit zu übertreffen. Es sei kein
Zufall, wie Sáenz de Aguirre unter Verweis auf Varro festhält, daß Beamte im Lateinischen magistratus heißen:
Ihre Aufgabe sei die Unterrichtung der ihnen Anbefohlenen. In gleicher Weise müßten Herrscher ihre Untertanen
übertreffen, um sie richtig anleiten zu können, wie Sáenz de Aguirre unter Hinweis auf Seneca ausführt. Wer also
lernen will, wie er andere sich selbst unterordnen kann, muß zunächst erlernt haben, wie er sich selbst der
Vernunft unterordnet. Dies kann nur durch die Beschäftigung mit der Moralphilosophie erreicht werden.
Ziff. 2
XV - XVI Um seine Thesen weiter zu untermauern, schließt Sáenz de Aguirre eine längere Passage aus den
ethischen und politischen Schriften des Prinzen Karl von Viana an. Es handelt sich um einen Brief des Prinzen
Viana D. Carlos an seinen Onkel, den König Alfons V. von Aragón. Anlaß des Briefes ist eine neue Übersetzung
der Ethiken des Aristoteles aus dem Lateinischen ins Romanische/Spanischen, verfaßt von Leonardo de Areto.
Zwischen seinen zahlreichen Respektbezeugungen und Ehrerbietungen gegenüber dem Adressaten bestimmt
der Autor die Ethik und ihre Gegenstände, kritisiert Aretos’ Text, betont aber die Wichtigkeit einer spanischen
Übersetzung der Ethiken des Aristoteles und verweist auf diverse andere Übersetzungen bzw. Kommentare der
aristotelischen Ethik.
Für die Ethik als Wissenschaft der Tugend ist praktische Erfahrung notwendig (Aristoteles, 1. Buch, 5. Kap.). Die
Tugenden bestehen in der Praxis/Ausübung und den Gewohnheiten/Gebräuchen. Die intellektuellen Tugenden
bestehen in der Vernunft und in den Fähigkeiten der Seele. Der Autor geht nun das Gedächtnis ( memória), den
Willen ( voluntad) und die Klugheit bzw. Besonnenheit ( prudencia) durch. Im Anschluß warnt er vor der
Verwirrung durch die Leidenschaften ( passiones) sowie vor den Lastern ( vicios) und der Eitelkeit ( vanagloria).
Aufgrund seiner Vernunft, die den Adressaten unter allen Königen hervorhebt, wird er in den Büchern über die
Ethik wie in einem Spiegel sehen.
An dem Text Leonardos kritisiert er die Einteilung. Leonardos Kapiteleinteilung orientiert sich offenbar an den
Büchern des Aristotelischen Textes. Dagegen bevorzugt der Autor an Einteilung nach den verschiedenen
Themen ( diversidad de la materia subjeta). Trotz dieser Kritik am Aufbau des Textes, betont er die Wichtigkeit
einer spanischen Übersetzung der Ethiken des Aristoteles. In diesem Zusammenhang geht er (allerdings sehr
oberflächlich) auf verschiedene Übersetzungen bzw. Kommentare der Ethiken des Aristoteles ein (Leonardo de
Areto, Hl. Thomas, Sant Geronimo und Tulio).
Caput Quartum
Ziff. 1
XVII Daß Aristoteles die Nikomachische Ethik, die nach Ansicht des Autors den Kern ( medulla et nervus) der
aristotelischen Moralphilosophie enthält, selbst verfaßt hat, wird von vielen bezweifelt. So vermutet Cicero im
sechsten Buch von De finibus, daß nicht Aristoteles, sondern sein Sohn Nicomachus das Buch abgefaßt habe.
Während Cicero aber lediglich Zweifel an der Urheberschaft des Aristoteles äußert, wird von anderen explizit
Page 9 - zuletzt bearbeitet von Administrator am 2010/11/09 17:03
Essays - José Sáenz de Aguirre (1630-1699), Philosophia Moralis ab Aristotele tradita decem libris
Ethicorum ad Nicomachum a Ioanne Argyropilo byzantino latine...
verneint. Sáenz de Aguirre referiert fünf Argumente:
(1) Diogenes Laertius verzeichnet nur vier von Aristoteles verfaßte Bücher zur Moralphilosophie. Die
Nikomachische Ethik umfaßt jedoch zehn Bücher.
(2) Aristoteles behauptet am Anfang des zweiten Buchs der Politik, daß Gemeinwesen durch die Proportionalität
von Vergehen und Strafe ( aequalitas talionis) bewahrt werden, wie er in der Ethik näher ausgeführt habe. Die
Nikomachische Ethik behauptet jedoch nichts derartiges, sondern vielmehr das Gegenteil: Im fünften Kapitel des
fünften Buchs wird die Proportionalität der Vergeltung ausdrücklich als illegitim abgelehnt.
(3) Im siebten Buch der Politik (cap. 13) soll Aristoteles die Ansicht vertreten, daß alle Glückseligkeit in
Gegensätzen liegt, wie er in der Ethik ausgeführt habe. In der Nikomachischen Ethik ist hiervon jedoch nicht die
Rede.
(4) Im sechsten Buch (cap. 3) der Nikomachischen Ethik werde die Wissenschaft unter Verweis auf die
Analytiken als habitus ostensivus definiert. Dort finde sich diese Definition jedoch nicht.
(5) Bei Diogenes Laertius finde sich der Hinweis darauf, daß Nicomachus die Auffassung vertreten habe, die Lust
sei das höchste Gut. Dies werde im ersten und zehnten Buch der Nikomachischen Ethik ebenfalls behauptet,
weswegen der Sohn des Aristoteles als Autor in Frage komme.
Ziff. 2
Es ist jedoch nach Sáenz de Aguirre die beständige und gewiße Auffassung fast aller Interpreten des Aristoteles,
daß diese Bücher tatsächlich von Aristoteles verfaßt worden sind. Dies wird durch insgesamt sieben Argumente
belegt.
(1) Alle antiken Kommentatoren des Aristoteles schreiben die Nikomachische Ethik dem Aristoteles zu, allen
voran Alexander Aphrodisias und Plutarch. Ihnen stimmen Simplicius, Eustratius, Aspasius, also sehr gelehrte
Ausleger des Aristoteles, die als Griechen die einschlägigen Werke des Aristoteles kannten, zu.
(2) Sowohl in der Metaphysik als auch in der Politik wird das Werk angeführt. Die Authentizität dieser Schriften
steht nicht in Frage.
(3) Die Nikomachische Ethik enthält Hinweise auf exoterische Schriften des Aristoteles. Diese stammen
unzweifelhaft von Aristoteles. Ähnliche Verweise finden sich auch in De coelo (lib. 1) und in der Metaphysik (lib.
13).
(4) Das letzte Kapitel im zehnten Buch der Nikomachischen Ethik stellt die Untersuchung genau derjenigen
Themen in Aussicht, die in der Politik verhandelt werden, nämlich die Beantwortung der Frage, wodurch ein
Gemeinwesen verbessert oder zugrundegerichtet wird. Weil die Politik auf jeden Fall von Aristoteles stammt, gilt
dies folglich auch für die Nikomachische Ethik.
(5) Das erste Buch der Nikomachischen Ethik verteidigt die aristotelische Konzeption des Guten gegen Platon,
der ein Freund des Autors zu sein scheint. Da Nikomachus erst viele Jahre nach dem Tod Platons geboren
worden ist, kann er also als Freund Platons nicht in Frage kommen.
(6) Zu den Büchern, auf die der Autor der Nikomachischen Ethik verweist, gehören auch die Analytiken. Die
Befähigung des Nikomachos, diese Schriften verfaßt zu haben, ist zweifelhaft.
(7) Weil alles, was in der Nikomachischen Ethik auftaucht, mit den Lehren des Aristoteles in jenen Schriften, die
ihm sicher zugeschrieben werden können, übereinstimmt, das Werk außerdem die Begabung ( ingenium), das
Urteilsvermögen ( iudicium), die Beständigkeit ( constantia), die Tatkraft ( energia), die Ordnung ( ordo), die
Vorgehensweise ( methodus) und den Sprachstil ( lexis) des Aristoteles widerspiegelt, kann an seiner
Authentizität kein Zweifel bestehen.
XVIII Die von der Gegenseite vorgebrachten Argumente sind von nur geringem Gewicht, da sie überwiegend von
Philologen ( grammatici) wie Nizolius vorgebracht werden, die lediglich Cicero nacheifern. Der einzige Philosoph,
Page 10 - zuletzt bearbeitet von Administrator am 2010/11/09 17:03
Essays - José Sáenz de Aguirre (1630-1699), Philosophia Moralis ab Aristotele tradita decem libris
Ethicorum ad Nicomachum a Ioanne Argyropilo byzantino latine...
der die Echtheit der Autorschaft des Aristoteles bezweifelt, ist Franciscus Patricius. Cicero selbst legt sich aber in
dieser Angelegenheit gar nicht fest. Außerdem ist an vielen Stellen festzustellen, daß er die Lehrmeinung des
Aristoteles nur höchst ungenau wiedergibt. Zu den vorgebrachten Argumenten im einzelnen:
(1) Der Katalog aristotelischer Schriften bei Diogenes Laertius hat keine Beweiskraft. Denn auch Schriften, bei
denen die Urheberschaft des Aristoteles feststeht, werden von ihm nur ungenau angegeben. Außerdem scheint
er viele Werke des Aristoteles gekannt zu haben, die tatsächlich nicht existiert haben. Also ist es ohne weiteres
möglich, daß ihm die Existenz der Nikomachischen Ethik unbekannt war. Außerdem ist anzumerken, daß nach
Plutarch und Strabo aristotelische Texte lange verschollen waren. Sie gingen nach dem Tod von Aristoteles
zunächst an Theophrast über, der sie an Helius Scepsius weitergab, dessen Erben den Wert der Schriften nicht
erkannten. Damit sie nicht den reges attalorum in die Hände fielen, die die Bibliothek der Stadt aufbauten,
wurden die Schriften zunächst vergraben, dann verkauft und Apeliconus Teius übergeben, der sie kopieren ließ.
Sylla brachte einige Stücke nach Rom, wo sie in die Hände des Grammatikers Tyrnionus gerieten. Aufgrund
dieser Verwirrungen ist es möglich, daß die Quellen, die Laertius benutzt hat, Nikomachus als Autor angeben.
(2) Die Proportionalität von Strafe und Vergehen wird von Aristoteles im fünften Buch der Nikomachischen Ethik
nicht in jeder Hinsicht geleugnet. Abgelehnt wird lediglich die arithmetische Proportionalität, wie sie von den
Pythagoräern vertreten und als iustum rhadamanti bezeichnet wurde. Denn er merkt ausdrücklich an, daß ein
Gemeinwesen durch die Einführung des geometrischen ius talionis in seinem Bestand gesichert werden kann.
Politik und Nikomachische Ethik stimmen hier also in ihrem Standpunkt überein.
(3) Auch in der Nikomachischen Ethik wird an vielen Stellen behauptet, daß Glückseligkeit auf Gegensätzen
beruhe. Ein glückseliger Mensch ( vir beatus) wird von Schicksalsschlägen angetrieben, nicht niedergestreckt.
Moralische Tugenden bestehen in einem Mittelweg zwischen zwei Extremen. Da Glückseligkeit in der
vollkommenen Realisierung dieser Tugenden besteht, kann man mit Recht behaupten, daß auch sie sich
zwischen Gegensätzen befindet. [Es ist allerdings anzumerken, daß die Stelle in der Politik von beatitudo in
contrariis spricht.]
(4) Es ist nicht zutreffend, daß in den Analytiken keine Definition von Wissenschaft ( scientia) enthalten ist. Im
ersten Buch von Anal. Post. (cap. 2) wird die scientia in actu definiert. Dort werden der Begriff des Wissens (
scire) und der scientia ostensiva, der beweisenden Wissenschaft, expliziert. Das Nachwort der zweiten
Analytiken behauptet die Identität von Syllogismus, Beweis und beweisender Wissenschaft ( scientia
demonstrativa) behauptet. Die Nikomachische Ethik selbst verweist ausdrücklich darauf, daß Wissenschaft nur
aus vorher Bekanntem ( praecognita) entstehen kann und verweist auf die entsprechenden Stellen der Zweiten
Analytik, die diesen Gedanken näher ausführen.
(5) Die zur Begründung des Einwands angeführte Passage bei Diogenes Laertius ist so zu interpretieren, daß die
Nikomachische Ethik von Aristoteles für Nikomachus geschrieben worden ist, so wie die Eudemische Ethik für
Eudemus. Gleiches gilt für die Titel platonischer Dialoge (Timaios, Parmenides, Phaedrus Alcibiades), die
ebenfalls den Adressaten, nicht den Autor bezeichnen. Wenn andere einwenden, Nikomachus sei zur Zeit der
Abfassung des Buches zu klein gewesen, um als Adressat in Frage zu kommen, kann ihnen entgegengehalten
werden, daß die Zueignung als Zeichen väterlicher Liebe und der Hoffnung, daß der Sohn das Buch in späteren
Jahren lesen wird, zu deuten ist.
Sáenz de Aguirre resümiert, daß die Autorschaft des Aristoteles für alle moralphilosophischen Schriften feststeht.
Dies gilt auch für die Magna Moralia, aus denen Passagen sowohl in der Eudemischen Ethik als auch in der
Nikomachischen Ethik auftauchen. Er vermutet, daß die Eudemische Ethik und die Magna Moralia frühere
Schriften darstellen, während die endgültige Gestalt der aristotelischen Moralphilosophie in der Nikomachischen
Ethik enthalten ist. Sie ist deswegen von den meisten Interpreten als einzig gültige Formulierung der
aristotelischen Moralphilosophie aufgefaßt worden. Sofern also zwischen den früheren Schriften und der
Nikomachischen Ethik Widersprüche festzustellen sind, ist anzunehmen, daß Aristoteles seine Position
entsprechend revidiert hat.
XIX
Caput Quintum
Ziff. 1
Eine vollständige Darstellung des Inhalts der Nikomachischen Ethik und des in ihr überlieferten Wissens muß
Page 11 - zuletzt bearbeitet von Administrator am 2010/11/09 17:03
Essays - José Sáenz de Aguirre (1630-1699), Philosophia Moralis ab Aristotele tradita decem libris
Ethicorum ad Nicomachum a Ioanne Argyropilo byzantino latine...
auch die Zwecke einbeziehen, die mit der Abfassung des Textes verfolgt werden. Sáenz de Aguirre vertritt die
These, daß Aristoteles in ihr die Grundlagen der gesamten praktischen Philosophie behandeln will. Die
Tatsache, daß Aristoteles am Ende des Werks zur Behandlung der Politik übergeht, liefert dafür einen wertvollen
Hinweis: Das Wissen, das in der Nikomachischen Ethik entwickelt wird, erlaubt es zu verstehen, wie ein
Gemeinwesen am besten eingerichtet wird.
Der Mensch ist ein von Natur aus zur Gemeinschaft mit anderen bestimmtes Lebewesen ( animal natum ad
societatem). Der Mensch ist sich selbst nicht genug, sondern bedarf anderer, entweder um sein Leben überhaupt
zu führen oder um es zumindest angenehm zu führen. Dem korrespondieren zwei Gattungen von
Gemeinschaften ( societates), die Familie (das genus oeconomicum), die, so steht zu vermuten, zur
Lebensführung unerläßlich ist, und der Staat (das genus politicum), der zumindest zur angenehmen
Lebensführung erforderlich ist und sich aus Familien, Gemeinwesen und Provinzen als Königreich ( regnum)
konstituiert, das im übertragenen Sinne ( antonomastice) auch als Staat ( respublica) bezeichnet wird. Alles, was
in diesem Werk von Aristoteles behandelt wird, verfolgt jedoch einzig das Ziel, den einzelnen Menschen zu
moralischer Güte anzuleiten und sich in seinem persönlichen Leben ( vita privata) richtig zu verhalten. Das
richtige Handeln in Familie und Staat ist als Folge dieser richtigen Ausrichtung des Lebens des Einzelnen zu
begreifen. Deswegen wurde die Ethik absichtlich losgelöst von der Politik und Ökonomie verfaßt. Darin folgt
Aristoteles seinem Lehrer Platon, der ebenfalls mehrere Bücher über Gesetze und Staat verfaßt hat.
Ziff. 2
Teile gehen ihrer eigentümlichen Beschaffenheit ( natura) nach dem Ganzen, das aus ihnen zusammengesetzt
ist, voraus. Zunächst ist also über diese Teile zu sprechen, bevor das Ganze behandelt werden kann. Deswegen
muß das persönliche Leben des Einzelnen vor Fragen der Ökonomie und Politik behandelt werden, weil dieses
Leben Teil jeder menschlichen Gemeinschaft ist. Deswegen müssen Bücher über Ethik geschrieben werden,
bevor man sich der Ökonomie und Politik zuwenden darf, weil in ihnen das persönliche Leben des Menschen
erforscht und begründet wird, damit es der Vernunft gemäß eingerichtet und nach den Vorschriften der
Ehrenhaftigkeit ( honestatis praescriptum) ausgebildet wird.
Dies stimmt überein mit der Position des Thomas, wie er sie im Vorwort zu seinem Kommentar der
Nikomachischen Ethik feststellt: Aristoteles entwickele in der Nikomachischen Ethik lediglich den ersten Teil
seiner Moralphilosophie. Der Grund hierfür ist, daß die Güte des Menschen allgemein, die Güte des
Familienvaters und die Güte des Staatsbürgers auf unterschiedlichen Gründen beruhen. Deswegen müsse
zuerst erlernt werden, wie man ein guter Mensch ist. Erst dann könne man ein guter Familienvater und ein guter
Staatsbürger sein. Man darf aber nicht dem Mißverständnis erliegen, daß das persönliche Leben ( vita privata)
nur das einsame Leben ( vita solitaria) sei, wie es beispielsweise von Einsiedlern geführt wird, obwohl gilt, daß
ein solches Leben, wie es auch von heidnischen Philosophen propagiert wurde, zu einem großen Teil von den
Lehren der Ethik profitieren kann. Vielmehr wird auch dieses persönliche Leben in der Gemeinschaft mit anderen
geführt. Dies wird in der Behandlung derjenigen Tugenden in der Nikomachischen Ethik, die auf andere
Menschen ( ad alterum) ausgerichtet sind. Sie würden in einem Leben, das auf Gemeinschaft mit anderen
verzichtet, keine Rolle spielen.
Ziff. 3
Die Ethik ist also in gleicher Weise Vorbereitung für die Ökonomik und Politik, wie das persönliche Leben auf das
Leben in der häuslichen und staatlichen Gemeinschaft vorbereitet. Im ersten Buch der Magna Moralia wird die
Behandlung der Sitten ( tractatio de moribus) als Teil und Grundlage der Politik bezeichnet. Sie ist deswegen ein
Teil, weil die Ethik häufig allgemeine Prinzipien der Politik verwendet und weil gelegentlich pars pro toto die
gesamte praktische Philosophie als Politik bezeichnet wird (und die Ethik ja ein Teil dieser praktischen
Philosophie ist). Als Prinzip der Politik gilt die Ethik, weil die richtige Einrichtung des persönlichen Lebens die
Grundlage aller weiteren Anleitungen zur Lebensführung bildet, wie sie in Ökonomik und Politik gegeben werden.
Aus diesem Grund wird die Ethik von Aristoteles auch insgesamt als doctrina civilis bezeichnet (so im ersten
Buch der Nikomachischen Ethik cap. 2).
XX Die Bezeichnung der gesamten praktischen Philosophie als Politik leitet sich also von ihrem wichtigsten Teil
her. Als Moralphilosophie wird die praktische Philosophie insgesamt bezeichnet, weil sie zur richtigen Ausbildung
der Sitten anleitet. Im eigentlichen Wortsinn sollte diese Bezeichnung aber der Ethik vorbehalten bleiben,
während als doctrina civilis jener Teil der praktischen Philosophie zu bezeichnen ist, der über den Staat handelt.
Page 12 - zuletzt bearbeitet von Administrator am 2010/11/09 17:03
Essays - José Sáenz de Aguirre (1630-1699), Philosophia Moralis ab Aristotele tradita decem libris
Ethicorum ad Nicomachum a Ioanne Argyropilo byzantino latine...
Ziff. 4
Die praktische Philosophie insgesamt wird also von Thomas in drei Teile eingeteilt: die Ethik, die Ökonomik und
die Politik, die das persönliche, häusliche und staatliche Leben des Menschen betreffen. Nach dem Vorwort zu
Thomas’ Kommentar der Nikomachischen Ethik betrifft die Ethik die Handlungen des einzelnen, die Ökonomik
die Handlungen von häuslichen Gruppen ( multitudines), die Politik schließlich die Handlungen staatlicher
Gruppen. Als weitere Belege für diese Auffassung können die Secunda secundae (q. 48, art. I.1), der mittlere
Platoniker Alkinoos, Philo von Alexandria, Eustratios und Albertus Magnus angeführt werden.
Die Aufgabe der praktischen Philosophie insgesamt besteht nach Thomas darin, unsere Handlungen auf das uns
verpflichtende Ziel ( finis debitus) auszurichten. Die Anzahl ihrer Arten ( species) muß also der Einteilung
menschlicher Handlungen in persönliche, häusliche und staatliche entsprechen.
Ziff. 5
Die Position des Thomas wird von Francisco Piccolomini (In der Introductio ad decem gradus seiner Philosophia
de moribus) kritisiert: Aristoteles betrachte in der Ethik nicht die Handlungen einzelner Menschen oder die
richtige Einrichtung des persönlichen Lebens. Sáenz de Aguirre referiert fünf Gründe, die Piccolomini für diese
Behauptung vorbringt:
(1) Wie Aristoteles im prooemium der Physik und an anderen Stellen lehrt, müssen zu Beginn die Prinzipien und
allgemeinen Grundlagen ( communia fundamenta) der jeweils zu behandelnden Disziplin vorgetragen werden. In
der Moralphilosophie müssen also die Grundlagen und Prinzipien nicht bloß des persönlichen Lebens, sondern
aller drei Arten der Lebensführung dargelegt werden.
(2) Jede Disziplin muß einen für sie spezifischen Gegenstand ( subiectum) haben, aus dem die allgemeinen
Prinzipien und Eigenschaften abgeleitet werden. Sofern also die praktische Philosophie eine solche Disziplin ist,
müssen an ihrem Anfang ihre allgemeinen Prinzipien, ihr allgemeiner Zweck und die allen Gegenständen
gemeinen Eigenschaften entwickelt werden. Es ist also falsch anzunehmen, daß das höchste Gut, von dem zu
Beginn der Ethik die Rede ist, nur für eine Form der Lebensführung, nämlich das persönliche Leben, verbindlich
ist.
(3) Aristoteles diskutiert zu Beginn der Nikomachischen Ethik das höchste Gut nicht bloß bezogen auf die
persönliche Lebensführung, sondern hinsichtlich der Lebensführung des handelnden Menschen insgesamt. Aus
diesem Grund wird in den weiteren Teilen der praktischen Philosophie kein gesondertes, auf die Familie oder
den Staat bezogenes höchstes Gut expliziert. Das in der Ethik erörterte höchste Gut, nämlich jenes Glück, das
aus dem Handeln aufgrund vollkommener Tugend hervorgeht, ist vielmehr zugleich das höchste Gut aller
weiteren Disziplinen der praktischen Philosophie. Aristoteles erklärt im ersten Buch der Nikomachischen Ethik
ausdrücklich, daß seine Erörterung des höchsten Guts auch für die Politik soll nutzbar gemacht werden können.
Sie bezieht sich also auf alle Arten der menschlichen Lebensführung und nicht bloß auf das persönliche Leben.
(4) Die in der Nikomachischen Ethik behandelten Tugenden sind Prinzipien auch der unterschiedlichen Stufen
der bürgerlichen Tugend, wie sie in der Politik behandelt wird: Im dritten Buch der Politik (cap. 12) behauptet
Aristoteles die Identität moralischer Tugenden und derjenigen Tugenden, durch die ein Gemeinwesen oder Staat
gut wird. Auch das Glück des einzelnen und das Glück des Gemeinwesens fallen zusammen (7. Pol. cap. 2). Die
Gesetze eines Gemeinwesens sind nichts anderes als die in der Nikomachischen Ethik explizierten Lehrsätze
der Tugend ( praecepta virtutum). Gesetze müssen von den Tugenden ausgehen ( emanare) und von ihnen
gelenkt wird, damit sie zu einem tugendhaften Leben anleiten (5 Pol.). Die Nikomachische Ethik diskutiert also
Prinzipien nicht nur des persönlichen Lebens, sondern der gesamten doctrina civilis.
(5) Die Freundschaft wird im achten Buch der Nikomachischen Ethik ausführlich behandelt. Als Grund hierfür
wird angegeben, daß in ihr das Gemeinwesen als ganzes enthalten ist, die Gesetzgeber sich deswegen mit ihr
ausgiebiger befaßt hätten als mit der Gerechtigkeit. Die Behandlung der Freundschaft dient also der richtigen
Einrichtung nicht nur der persönlichen, sondern auch der öffentlichen und bürgerlichen Lebensführung. Diese
Meinung vertritt auch Gallutius in Prolegom. 3.
Ziff. 6
Piccolominis Kritik beruht auf Verwirrung. Zwar ist zuzugestehen, daß in der Nikomachischen Ethik auch
Page 13 - zuletzt bearbeitet von Administrator am 2010/11/09 17:03
Essays - José Sáenz de Aguirre (1630-1699), Philosophia Moralis ab Aristotele tradita decem libris
Ethicorum ad Nicomachum a Ioanne Argyropilo byzantino latine...
allgemeine Prinzipien der Moralphilosophie insgesamt behandelt werden. XXI Sie betreffen den höchsten Zweck
bzw. das höchste Gut des Menschen und alle oben (Cap. V Ziff.2) als auf einen anderen ausgerichteten
Tugenden. Diese Prinzipien werden aber deswegen in der Ethik behandelt, weil sie zeigen, wie der Mensch an
sich gut sein kann, nicht wie er zum guten Familienvater oder Staatsbürger wird. Dieses wird in der Ökonomik
bzw. Politik näher untersucht. Dies zeigt Sáenz de Aguirre durch einen “moralischen Beweis” ( demonstratio
moralis).
Der menschliche Geist muß für all jene Gattungen von Gegenständen, die erstens von ihm schwierig zu erfassen
oder zu bewältigen sind und die zweitens wichtig sind, intellektuelle Habitus ausbilden, die es ihm erlauben,
hinsichtlich dieser Gegenstände ohne Irrtum oder Schwierigkeiten zu wirken. Dies wird durch das Urteil aller
Weisen bestätigt und kann auch a priori durch die Existenz intellektueller und moralischer, theoretischer und
praktischer Habitus belegt werden. Der Mensch hat große Schwierigkeiten, an sich gut zu sein, also alle seine
Handlungen gemäß den Vorschriften der Ehrenhaftigkeit auszuführen. Es steht weiterhin ohne Beweis fest, daß
dies von großer Wichtigkeit ist. Piccolomini selbst gesteht zu, daß die Ausübung von Tugenden im persönlichen
Leben außerordentlich heilsam ( saluberrimus) ist und als der größte Sieg, den der Mensch hinsichtlich seiner
selbst berichten kann gelten muß, wie die Stoiker feststellten. Die Mäßigung der Verwirrungen der Seele ist von
höchstem moralischem Wert und die Grundlage aller weiteren Güter. Also muß der Mensch über einen
intellektuellen Habitus verfügen, der es ihm ermöglicht, diese Ziele zu erreichen. Dieser Habitus muß die Ethik
sein. Sie zeigt, wie die Verwirrungen der Seele gemäßigt und auf jenes mittlere Maß zurückgeführt werden,
durch das der Mensch gut wird. Die Ethik lehrt also, wie der Mensch an sich selbst bzw. in seinem persönlichen
Leben gut wird.
Ziff. 7
Thomas von Aquin zeigt in ST II.2 q. 48. art. 11, daß die das persönliche Leben betreffende Klugheit ( prudentia
monastica) der Art nach sowohl von der das Leben der Familie betreffenden Klugheit ( prudentia oeconomica)
als auch von der das Gemeinwesen oder das Königreich betreffenden Klugheit ( prudentia politica)
unterschieden ist. Als Prämisse dient wird das in art. 5 derselben quaestio und in I.2 q. 54 art. 2 aufgestellte
Prinzip, daß Habitus der Art nach durch die Unterschiedenheit ihrer Gegenstände bzw. ihre ratio formalis
unterschieden werden. Die ratio formalis aller auf einen Zweck ausgerichteten Dinge hängt wiederum von diesem
Zweck ab. Dies behandelt Thomas im prooemium der Prima Secundae und in deren q. 101 art. 1. Habitus
unterscheiden sich also der Art nach aufgrund ihrer Tauglichkeit ( habitudo) zu unterschiedlichen Zwecken. Das
für den Einzelnen Gute, das für die Familie Gute und das für den Staat Gute sind aber unterschiedliche Zwecke.
Also müssen auch die der Klugheit zuzuordnenden Habitus der Art nach unterschieden sein, die sich auf das je
eigene Gute, das Gute der Familie und das Gute des Staates beziehen. Sofern man, wie viele annehmen, die
disciplina moralis mit der Klugheit identifiziert oder zumindest die große Nähe beider annimmt, muß diese, je
nachdem, ob sie sich auf das je eigene Gute, das Gute der Familie oder das Gute des Staates bezieht, der Art
nach unterschieden werden.
Ziff. 8
Sáenz de Aguirre gesteht zu, daß in der Nikomachischen Ethik Prinzipien behandelt werden, die sich auf alle
Formen der Lebensführung, das persönliche, das familiäre und das staatliche Leben beziehen und die deswegen
für alle drei Arten der Moralphilosophie gelten. Es gilt nämlich für alle Wissenschaften, die in mehrere Arten
untergliedert sind, daß an ihrem Anfang einige Prinzipien zu behandeln sind, aus denen in jeder der
Teildisziplinen Schlußfolgerungen für den Gegenstandsbereich der jeweiligen Teildisziplin gezogen werden
können, die somit für diese Teildisziplin eigentümlich ( proprius) sind. Dies gilt auch für die Moralphilosophie. An
ihrem Anfang, also in der Ethik, entwickelt Aristoteles allgemeine Prinzipien des höchsten Guts sowie der
intellektuellen und moralischen Tugenden, die allen Arten der Moralphilosophie, also ihren Teildisziplinen
gemeinsam sind. Und genauso wie diese Teildisziplinen in der Ökonomie auf das für die Familie Gute und in der
Politik auf das für den Staat Gute bezogen werden, werden sie in der Ethik auf das gute Leben der einzelnen
Menschen bezogen. Die Ethik, so wie sie in der Nikomachischen Ethik behandelt wird, sorgt sich also nur um die
Unterrichtung einzelner Menschen hinsichtlich des guten Handelns ( mores). Die dadurch zu erreichende
moralische Güte ( probitas) des Einzelnen wird dann auf das für die Familie und den Staat Gute bezogen.
Ziff. 9
Ein weiterer Einwand gegen diese Position: Gegenstände, die hierarchisch aufeinander bezogen sind ( quorum
unum ordinatur ad aliud), erzeugen keine der Art nach unterschiedenen Habitus ( non variant speciem
habituum). Das Gute für den einzelnen Menschen, das Gute für die Familie und das Gute für den Staat sind aber
in dieser Weise hierarchisch aufeinander bezogen. Aus dieser Diversität des Guten kann also keine Diversität
Page 14 - zuletzt bearbeitet von Administrator am 2010/11/09 17:03
Essays - José Sáenz de Aguirre (1630-1699), Philosophia Moralis ab Aristotele tradita decem libris
Ethicorum ad Nicomachum a Ioanne Argyropilo byzantino latine...
der korrespondierenden Habitus geschloßen werden.
Ziff. 10
Einen ähnlichen Einwand diskutiert Thomas von Aquin anläßlich der Unterscheidung von Klugheit des einzelnen
( prudentia monastica), Klugheit für die Familie ( prudentia oeconomica) und Klugheit für den Staat ( prudentia
civilis). Sáenz de Aguirre stimmt Thomas darin zu, daß schon die Unterschiedlichkeit von Zwecksetzungen eine
Unterscheidung von Habitus rechtfertigt, selbst wenn diese Zwecksetzungen hierarchisch aufeinander bezogen
sind. Als Beleg dient die Unterscheidung von Reitkunst ( disciplina equestris), Militärkunst ( disciplina militaris)
und Politik: Alle drei Habitus sind hierarchisch aufeinander bezogen (da der unmittelbare Zweck der Reitkunst als
Mittel der Militärkunst gilt). XXII Es kann also zugestanden werden, daß in ähnlicher Weise das Gute für den
Einzelnen, wie es von der Ethik untersucht wird, auf das Gute für die Familie und das Gute für den Staat
bezogen ist und dennoch die Moralphilosophie insgesamt sich in die erwähnten drei Arten gliedert. Denn in
erster Linie werden Habitus über ihre Gegenstände und ihren unmittelbaren Zweck unterschieden. Diese
Unterscheidung wird nicht in Frage gestellt, wenn in einem zweiten Schritt dieser unmittelbare Zweck als Mittel
für die Erreichung eines höheren Zwecks erkannt wird. Dies begründet zugleich den Vorrang der Politik vor
Ökonomie und Ethik, weil der Zweck dieser beiden Disziplinen auf den Zweck der Politik (als Mittel) bezogen
sind.
Caput Sextum
Ziff. 1
Der Begriff der philosophia moralis dient sowohl zur Bezeichnung der gesamten praktischen Philosophie (die
Sáenz de Aguirre ja auch als philosophia actuosa bezeichnet) als auch zur Bezeichnung der Ethik im
besonderen, weil sie die Sitten des einzelnen so auszubilden trachtet, daß er zum guten Menschen wird ( probus
evadat). Diese moralische Tauglichkeit des Menschen ist die Grundlage aller menschlichen Gemeinschaft, sei es
in der Familie oder im Staat. Deswegen ist die Bezeichnung der Ethik als philosophia moralis angemessen. Die
Griechen bezeichnen die Sitten nämlich als ta êthê, woraus sich das Adjektiv êthikos ( moralis) ableitet.
Sittlichkeit ( to êthos, mos) kann bei den Griechen nur einem mit Vernunft und Freiheit begabtem Handelnden
zugesprochen werden. Sofern der Ausdruck also auf unbelebte Lebewesen oder Tiere angewendet wird, handelt
es sich um eine metaphorische Verwendung, die Sáenz de Aguirre an zahlreichen Beispielen belegt, die
teilweise auch über die Dichtkunst hinausreichen (Columellas De re rustica, Gregor von Nazianz).
Auch innerhalb der Philosophie kann der Ausdruck in übertragenem Sinne verwendet werden, nämlich nicht für
die Sittlichkeit des Menschen, sondern die in ihm angelegten naturgegebenen Fähigkeiten zu richtigem Handeln.
So spricht Aristoteles im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik, daß den êthos eine natürliche Beschaffenheit
( physis) zugrundeliege. In eine ähnliche Richtung weist auch die Temperamentenlehre des Galenus, der
annimmt, daß die Handlungsweise eines Menschen auch von seinen Körpersäften bestimmt wird. Schließlich
wird der Begriff, etwa bei Cicero, zur Bezeichnung natürlicher Anlagen im allgemeinen verwendet.
Ziff. 2
Innerhalb der Moralphilosophie wird der Begriff der Sitten jedoch einzig für jene Fähigkeiten verwendet, die der
Mensch durch Übung und Gewöhnung erwirbt. Dies lehrt Aristoteles beispielsweise im zweiten Buch der
Nikomachischen Ethik (Cap. 1) und führt als Beleg unter anderem die Etymologie, insbesondere die enge
Verknüpfung zwischen XXIII Sitte und Gewohnheit im Griechischen an. Weiterhin ist zu unterscheiden zwischen
der Sitte als habitus, also als einer Eigenschaft des Handelnden, die durch Wiederholung sittlicher Handlungen
erworben wird, und der aus dem habitus erwachsenden Handlung. Der habitus verleiht dem Handelnden
Festigkeit ( firmitas) und Beständigkeit ( consistentia), die es ermöglicht, die durch den habitus vorgegebenen
Handlungen leichter auszuführen als im Falle einer bloßen Gewohnheit der Fall wäre. Deswegen wird ein habitus
auch als zweite Natur bezeichnet. Da die handlungen, durch die wir einen habitus erwerben, entweder gut oder
schlecht sind, können auch die korrespondierenden habitus entweder gut oder schlecht sein.
Ziff. 3
Die Ethik oder Moralphilosophie untersucht Sittlichkeit alleine im engeren Verständnis des Aristoteles, also die
durch tägliche Übung und Gewöhnung erworbenen, unveränderlichen und durch gute Handlungen entstandenen
moralischen Tugenden, nicht aber die durch schlechte Handlungen erworbenen Laster. Von letzteren ist bei
Page 15 - zuletzt bearbeitet von Administrator am 2010/11/09 17:03
Essays - José Sáenz de Aguirre (1630-1699), Philosophia Moralis ab Aristotele tradita decem libris
Ethicorum ad Nicomachum a Ioanne Argyropilo byzantino latine...
Aristoteles nur deswegen die Rede, weil, wie in der Medizin auch von Krankheiten die Rede ist, auch in der Ethik
die Laster erwähnt werden müssen, damit sie vermieden werden können. In Medizin und Ethik ist von Krankheit
und Laster nur per accidens, von Gesundheit und Tugend aber unmittelbar und per se die Rede.
Caput Septimum
Ziff. 1
Die Behauptung, daß die Moralphilosophie sich mit dem moralischen Tugenden, die durch die Einübung
moralisch guten Handelns erworben werden, zu befassen hat, muß noch ausführlicher erörtert werden, weil zu
diesem Gegenstand verschiedene Auffassungen festzustellen sind. Da, wie oben gezeigt, die praktische
Philosophie als Gattung in Ethik, Ökonomik und Politik als Arten einzuteilen ist, muß zunächst die Materie der
Gattung, also der praktischen Philosophie, festgestellt werden, bevor auf die Materie ihrer Arten, also Ethik,
Ökonomik und Politik eingegangen werden kann.
Ziff. 2
Aguirre referiert insgesamt fünf Positionen zur Materie der praktischen Philosophie: Die erste wird von Antonius
Mirandulanus vertreten und betrachtet das höchste Gut bzw. die Glückseligkeit des Menschen als Gegenstand
der praktischen Philosophie. Die zweite Position behauptet, daß der Mensch als Materie der praktischen
Philosophie anzusehen ist. Entweder kann man mit Gerald Odonis der Ansicht sein, daß dies den Menschen
betrifft, insofern er frei ist. Oder man kann den Menschen, insofern er von Natur aus zur Glückseligkeit erschaffen
worden ist, zum Gegenstand der praktischen Philosophie erklären. Die dritte Position folgt Zabarella darin, den
Menschen als Art der Gattung Tier und damit in erster Linie hinsichtlich der Affektionen seiner Seele zu
betrachten: Die praktische Philosophie trage in gleicher Weise zum Heil bzw. der Gesundheit der Seele bei wie
die Medizin zur Gesundheit des Körpers. Insofern werde in der praktischen Philosophie der Mensch als heilbar (
sanabile) hinsichtlich seiner Seele betrachtet. Die vierte Position wird von Marsilio Ficino im Dialogus Platonis de
Sapientia vertreten: Gegenstand der praktischen Philosophie sei das Gemeinwesen. Fünftens schließlich ist
Averroes anzuführen, der zu Beginng seines Kommentars zur platonischen Politeia alles, was vom Willen des
Menschen abhängt, zum Gegenstand der philosophia civilis erklärt.
Ziff. 3
Um zu zeigen, in welchen Hinsichten zwischen diesen Positionen Übereinstimmung hergestellt werden kann,
muß an Lehrstücke der Dialektik erinnert werden, die in diesem Zusammenhang von Belang sind.
Erstens gilt es, zwischen der materia remota und der materia proxima einer Wissenschaft zu unterscheiden. Die
materia proxima des Gesichtssinns ist die Farbe, die materia remota der ‘Farbträger’ bzw. der farbige
Gegenstand (das subiectum colore affectum).
Zweitens gilt gleiches für den Zweck: Auch hier muß zwischen finis proximus und finis remotus unterschieden
werden. Der ‘nächstliegende Zweck’ wird vom entsprechenden Habitus seinem eigenen Wesen nach ( ex prima
inclinatione) erstrebt. Der Letztzweck ist hingegen dasjenige, worauf der Habitus sich in zweiter Linie ( ex
secundaria consideratione) bezieht. Erster zweck der Dialektik ( finis primarius et proximus) ist die Erkenntnis
zweiter Intentionen. Finis secundarius et remotus) ist die Anleitung unseres Intellekts zur irrtumsfreien Erkenntnis
der Gegenstände der Wissenschaften.
Drittens wird gemeinhin das subiectum einer Wissenschaft mit ihrer materia identifiziert. Zwar plädiert Giphanius
dafür, den Begriff subiectum durch stratum zu ersetzen. Aguirre aber bleibt dem Schulgebrauch treu. XXIV Er
begründet die Zulässigkeit dieser Identifikation von subiectum und materia damit, daß die Materie einer Disziplin
ihr in dem Sinne zugrundeliegt ( subiicitur), daß die Eigenschaften dieser Materie in der jeweiligen Wissenschaft
zu beweisen sind.
Viertens gilt im Bereich des Praktischen, daß zwischen der materia effectionis actionisve, also der Materie, in der
etwas hergestellt oder bewirkt wird, und der materia considerationis unterschieden werden muß. Die materia
considerationis ist diejenige Materie, die in der disciplina einer Kunstfertigkeit ( ars), also dem zu ihrem Erwerb
nötigen Wissen des Schülers, betrachtet wird. Die materia effectionis einer ars ist beispielsweise das Holz oder
das Eisen, aus dem ein Werkstück ( opus) hergestellt werden. Als materia actionis gelten diejenigen
Page 16 - zuletzt bearbeitet von Administrator am 2010/11/09 17:03
Essays - José Sáenz de Aguirre (1630-1699), Philosophia Moralis ab Aristotele tradita decem libris
Ethicorum ad Nicomachum a Ioanne Argyropilo byzantino latine...
kontingenten Gegenstände, die der Kontrolle des menschlichen Wollens unterliegen, die wir also tun oder lassen
können. Materia effectionis und materia actionis sind aber zwar die Materie von effectiones und actiones, nicht
aber das eigentlich der Lebenskunst ( ars moralis) oder ihrer Lehre ( disciplina moralis) Zugrundeliegende. Die
materia considerationis ist vielmehr der materia effectionis actionisve nachgeordnet und umfaßt das Ganze (
totum) dessen, was Menschen bewirken oder tun, in Entsprechung zu den theoretischen Disziplinen, die
ebenfalls alles umfassen, was der Mensch durch kontemplatives Denken erfassen kann.
Nachdem diese Grundsätze der Dialektik, an denen nach Sáenz de Aguirres Ansicht nicht sinnvoll zu zweifeln
ist, ins Gedächtnis gerufen worden sind, kann nun zur Beurteilung der referierten Standpunkte zur Materie der
praktischen Philosophie übergegangen werden.
Ziff. 4
Die erste Meinung, daß das höchste Gut oder die Glückseligkeit des Menschen als Materie der praktischen
Philosophie zu gelten hat, ist offensichtlich widersinnig ( plane absurdus). Hierfür bringt Sáenz de Aguirre
insgesamt vier Begründungen vor.
Erstens verwechselt diese Auffassung das letzte Ziel, um dessen willen das in der praktischen Philosophie
enthaltene Wissen erworben wird, mit der Materie dieses Wissens.
Zweitens stimmen alle Interpreten überein, daß Aristoteles in der Ethik die analytische bzw. resolutive Ordnung (
ordo) befolgt hat. Diese Form der Ordnung von Wissen geht aus von einem Zweck und legt dann dar, welche
Mittel zu dessen Erreichung erforderlich sind ( a fine initium ducat, exindeque procedat circa ea, quae sunt ad
finem). Wie am gesamten ersten Buch der Nikomachischen Ethik zu ersehen ist, beginnt Aristoteles seine
Darstellung der praktischen Theorie mit einer Betrachtung des höchsten Guts. Deswegen ist das höchste Gut
das letzte Ziel der praktischen Philosophie und nicht ihre Materie, weil nämlich sonst die Unterstellung, daß
Aristoteles in der Ethik die analytische bzw. resolutive Ordnung der (Darstellung von) Wissen beachtet habe,
würde falsch sein müssen.
Drittens ist es allgemein anerkannt, daß die praktische Philosophie alle Stufen ( gradus) des menschlichen
Lebens muß anleiten können und sich nicht mit der Analyse der Glückseligkeit bzw. des höchsten Guts
begnügen darf, weil es nämlich nur eine dieser Stufen darstellt und faktisch ( in re) nur den allerwenigsten
Menschen zuteil wird.
Viertens muß jede Disziplin, die als Gattung mehrere Arten unter sich enthält, eine diesen Arten gemeinsame
Materie aufweisen. Dies gilt erstens aufgrund des Begriffs der Gattung, zweitens wegen entsprechender
Beispiele auf allen Stufen der Wissenschaft, in der theoretischen wie der praktischen, der auf Gegenstände
bezogenen ( scientia realis) wie in der auf die Vernunft bezogenen ( scientia rationalis). Also muß das gleiche für
die praktische Philosophie gelten, die Ethik, Ökonomie und Politik als Arten unter sich enthält. Das höchste Gut
kann aber nicht der Gattung nach verschiedenen Arten gemeinsam sein: Es gibt nämlich nicht verschiedene
Arten der auf Handlungen zu beziehenden Glückseligkeit ( felicitas activa), sondern nur eine, die auf einem
einzigen letzten Zweck als Grund beruht, auf den hin alle weiteren Zwecke des Menschen ausgerichtet sind, wie
in Buch 1 und 2 der Nikomachischen Ethik gezeigt wird. Deswegen ist das höchste Gut nicht die eigentliche
Materie ( materia propria) der praktischen Philosophie als Gattung betrachtet ( considerata in genere).
Ziff. 5
Die zweite Meinung, die den Menschen als Materie der praktischen Philosophie betrachtet, wird durch zwei
Argumente widerlegt.
Erstens gilt, daß der Mensch nicht materia proxima, sondern materia remota der praktischen Philosophie ist:
Innerhalb der praktischen Philosophie wird die Kenntnis des Menschen hinsichtlich seiner Beschaffenheit (
constitutio) und seiner angeborenen Vollkommenheit ( perfectio innata) vorausgesetzt, wie sie innerhalb der
Naturphilosophie erworben werden kann. Unabhängig davon, ob er als freies Wesen oder als zur Glückseligkeit
taugliches Wesen betrachtet wird, müssen diese Kenntnisse außerhalb der praktischen Philosophie erworben
werden. Daß im Menschen etwas Freies und zur Glückseligkeit Fähiges existiert, ist nämlich eine Sache seiner
Beschaffenheit, wenn auch unter dem Gesichtspunkt, daß es sich um Fähigkeiten handelt, die ihm von Natur aus
zukommen ( per modum proprietatis connaturalis).
Page 17 - zuletzt bearbeitet von Administrator am 2010/11/09 17:03
Essays - José Sáenz de Aguirre (1630-1699), Philosophia Moralis ab Aristotele tradita decem libris
Ethicorum ad Nicomachum a Ioanne Argyropilo byzantino latine...
Zweitens kann der Mensch weder seine Freiheit noch seine Fähigkeit zur Glückseligkeit selbst handelnd
bewirken - sie ist kein agibile. Denn beides wird vor allem Handeln schon vorausgesetzt. Um die praktische von
der theoretischen Philosophie unterscheiden zu können, muß aber der Gegenstand der ersteren etwas sein, was
der Mensch handelnd bewirken kann. Deswegen kann der freie oder zur Glückseligkeit taugliche Mensch nicht
unmittelbar Gegenstand der praktischen Philosophie sein.
Ziff. 6
Die dritte Meinung, die Zabarella zugeschrieben wird, betrachtet den Menschen, sofern er hinsichtlich seiner
Seele heilbar ( sanabilis) ist, als Gegenstand der praktischen Philosophie, XXV in Entsprechung zum dem Körper
nach heilbaren Menschen, der Gegenstand der Medizin ist. Dies wird wegen der offensichtlichen Ungleichheit
beider Disziplinen zurückgewiesen. Auch wenn man zugestehen mag, daß sie beide darin übereinkommen, den
Menschen hinsichtlich eines seiner beiden Teile heilen zu wollen, unterscheiden sie sich in anderer Hinsicht in
höchstem Maße. Denn die Medizin ist eine Kunstfertigkeit ( ars), die, wie im 2. und 4. Kapitel des 6. Buchs der
Nikomachischen Ethik gezeigt wird, immer auf die Herstellung eines außerhalb ihrer selbst liegenden Zustands
oder Gegenstands zielt und folglich dieser Gegenstand damit ihre unmittelbare Materie ist (im Falle der Medizin
ist dies eben der Mensch, sofern er heilbar ist). Einziger Gegenstand (hier spricht Sáenz de Aguirre allerdings
von der materia sive obiectum, nicht materia sive subiectum!) der theoretischen Philosophie ist die Wahrheit, die
von ihr betrachtet wird ( contemplatur). Als Materie der praktischen Philosophie gilt insgesamt die menschliche
bzw. freie Handlung, durch die der Handelnde in sich selbst vervollkommnet wird. Weil also die Moralphilosophie
im Gegensatz zur Medizin disciplina activa ist, muß ihre Materie das menschliche Handeln ( actio) sein, wie
später noch genauer ausgeführt werden soll.
Ziff. 7
Die Auffassung von Ficino schreibt der praktischen Philosophie als ganzer eine zu eng gefaßte Materie zu: Sie
sucht nämlich das Gute nicht nur für den Staat, wie Ficino meint, sondern auch für die Familie und den
Einzelnen. Die Materie der praktischen Philosophie muß etwas allgemeineres ( magis commune) als der Staat
sein.
Zweitens sind die in den ethischen, ökonomischen und politischen Büchern des Aristoteles behandelten
Gegenstände nicht deckungsgleich. Einzig die Politik widmet sich dem Staat. Deswegen kann der Staat nicht
auch Gegenstand der Ethik oder Ökonomie sein, so daß er auch nicht als Gegenstand der gesamten praktischen
Philosophie in Frage kommt, die ja alle drei Teile umfaßt.
Drittens muß die Materie einer Disziplin weiter gefaßt sein als die eines ihrer Teile, auch wenn dieser Teil
hervorragender ist als die anderen Teile. Dies kann durch Induktion, d. h. den Vergleich mit allen anderen
Wissenschaften erwiesen werden. Weil aber der Staat nur innerhalb der Politik behandelt wird, diese nur ein Teil
der praktischen Philosophie, wenn auch der wichtigste, ist, kann der Staat nicht Materie der gesamten
praktischen Philosophie sein.
Viertens ist es unmöglich, daß die Materie einer Disziplin von dieser abgetrennt wird und die Disziplin als solche
fortbesteht. Jedoch kann man sehr wohl die Behandlung des Staates von der praktischen Philosophie als
Gattung abtrennen, ohne daß diese deswegen nicht mehr existent wäre. Die Betrachtung des Staates ist also
kein konstitutiver Bestandteil der praktischen Philosophie. Sie wäre nämlich immer noch befähigt, das Leben des
Einzelnen und das Leben der Familie richtig einzurichten und anzuleiten.
Ziff. 8
Der Standpunkt des Averroes grenzt den Gegenstand der praktischen Philosophie nicht spezifisch genug ein. Er
identifiziert den Gegenstand mit der res considerata, nämlich menschlichen Handlungen, und zwar entweder
insofern sie vom menschlichen Willen abhängen oder insofern sie geeignet zur Leitung von Staatswesen sind.
Die erste Bestimmung ist deswegen nicht spezifisch genug, weil in der praktischen Philosophie Handlungen nicht
an sich, sondern als gute Handlungen zum Gegenstand werden, während schlechte Handlungen nur per
accidens in ihr behandelt werden. An sich betrachtet sind menschliche Handlungen gegenüber dem Guten und
Bösen indifferent, denn aus unserem Willen gehen sowohl gute wie auch böse Handlungen hervor. Die zweite
Bestimmung gibt die Materie der praktischen Philosophei nicht vollständig an: Zwar sind Handlungen zur
Lenkung eines Staatswesens eine Hauptmaterie ( materia principalis) der praktischen Philosophie, nicht jedoch
ihre ausschließliche Materie ( materia adaequata). Denn sie betreffen nur die Politik, nicht aber Ökonomik und
Ethik.
Page 18 - zuletzt bearbeitet von Administrator am 2010/11/09 17:03
Essays - José Sáenz de Aguirre (1630-1699), Philosophia Moralis ab Aristotele tradita decem libris
Ethicorum ad Nicomachum a Ioanne Argyropilo byzantino latine...
Ziff. 9
Aguirre diskutiert einen möglichen Einwand gegen seine Position: Das Gute des individuums und der Familie ist
dem bonum commune, dem allgemeinen Gut des Staates untergeordnet. Deswegen muß das bonum commune
des Staates als vollständige Materie der gesamten praktischen Philosophie bezeichnet werden, weil damit auch
das in der Ethik und Ökonomik zu erörternde Gute mitbezeichnet wird.
Die Gültigkeit des Schlusses wird von Aguirre bestritten. Er gesteht zu, daß das das Gute des Einzelnen und der
Familie dem allgemeinen Guten untergeordnet sind, weil letzteres wichtiger ( praestantius) ist. Dennoch werden
beide Güter von den ihnen zugeordneten Disziplinen der praktischen Philosophie für sich und in erster Linie
untersucht. Auch wenn die Reitkunst der Militärkunst und diese der Staatskunst untergeordnet sind, folgt daraus
nicht, daß Reitkunst und Militärkunst nicht Zwecke verfolgen, die ihnen als solchen eigentümlich sind. Dasselbe
wird auch in einer der Art nach einheitlichen Wissenschaft wie der Logik beobachtet: XXVI Definition und
Einteilung in Gattung und Art sind dem Beweis als dem Vorzüglicheren untergeordnet. Dennoch werden sie an
sich von der Logik untersucht. Beide Verfahren haben ihrem eigenen Ziel entsprechend bestimmte
Anforderungen, die an sich zu erfüllen sind und der Ordnung nch von anderen Aspekten unabhängig sind. Wer
diesen Einwand verteidigt, ist implizit auf dieselbe Auffassung festgelegt, wenn seine Meinung nicht mit der
ersten (Mirandulanus) zusammenfallen soll. Denn auch das Gut des STaates ist dem höchsten Gut, nämlich der
Glückseligkeit untergeordnet. Dennoch ist das höchste Gut nicht die Materie, sondern der Letztzweck der Politik,
auf das sie als ganze ausgerichtet ist. Wenn also auch das von der ethik und Ökonomik untersuchte Gute dem
Gut des Staates untergeordnet ist, wird es dennoch nicht richtig sein, das Gut des Staates deswegen als Materie
auch von Ökonomik und Ethik anzunehmen. Vielmehr ist es deren Letztzweck ( finis remotus). Sowohl das Gute
des individuums wie auch das Gute der Familie sind es wert, von einer eigenständigen Disziplin per se
untersucht zu werden.
Caput Octavum
Ziff. 1
Den referierten Positionen muß also der Standpunkt des Thomas vorgezogen werden, wie er im prooemium
seines Kommentars zur Nikomachischen Ethik entwickelt wird. Die von Piccolomini in der Einleitung zu seiner
Moralphilosophie entwickelte Kritik an Thomas soll zurückgewiesen werden.
Ziff. 2
Zunächst wird die Position des Thomas ausführlich referiert. Grundlage seiner Argumentation ist die
Unterscheidung von insgesamt vier Seinsordnungen (**ordines rerum*). Die Ordnung der Naturdinge ( ordo
rerum naturalium) enthält alles, was von der Vernunft nicht bewirkt, sondern nur betrachtet wird. Die zweite
Ordnung betrifft Dinge, die die Vernunft durch ihre Betrachtung zugleich hervorbringt. Hierzu zählen die Klärung
der Relationen zwischen Begriffen oder die Betrachtung von Zeichen für Begriffe bzw. der Sprache. Die dritte
Ordnung befaßt sich mit dem, was die Vernunft durch Betätigung des Willens hervorbringt. Die vierte Ordnung
betrifft dasjenige, was die Vernunft in Dingen, deren Ursache sie ist, also in ARtefakten wie einem Schrank oder
einem Haus bewirkt. Eine vollkommene Betrachtung ( consideratio) dieser Gegenstände setzt die Existenz eines
entsprechenden Habitus voraus. Also müssen in Entsprechung zu diesen vier Ordnungen von Dingen vier mit
ihnen befaßte (Gruppen von) Habitus unterschieden werden.
Der ersten Ordnung entspricht die Naturphilosophie, insofern sie die Naturlehre im engeren Sinne ( physiologia)
und die Metaphysik umfaßt. (Frage: Gibt es also keine supranaturale Zuständigkeit der Metaphysik?) Der zweiten
Ordnung entspricht die Logik ( philosophi arationalis), wenn sie beispielsweise die Relationen von Satzteilen,
Prinzipien und die aus solchen Prinzipien zu ziehenden Schlußfolgerungen betrachtet. Der vierten Ordnung
entsprechen die artes mechanicae.
Aguirre zitiert: Die Moralphilosophie betrachte also folglich die dritte Ordnung, also menschliche Vollzüge (
operationes), sofern sie von einem vernunftgeleiteten Willen abhängen ( operationes, quae procedunt a voluntate
hominis secundum ordinem rationis). Vollzüge des Menschen, die dieses kriterium nicht erfüllen, seien nicht im
eigentlichen Sinne menschlich, sondern natürlich. Dies gilt beispielsweise für alle dem vegetativen Seelenteil
zuzurechnenden Vollzüge (also beispielsweise Wahrnehmung oder Verdauung).In Entsprechung zur
Naturphilosophie, in der die Ortsbewegung ( motus) bzw. die bewegliche Sache ( res mobilis) gelten, müsse in
Page 19 - zuletzt bearbeitet von Administrator am 2010/11/09 17:03
Essays - José Sáenz de Aguirre (1630-1699), Philosophia Moralis ab Aristotele tradita decem libris
Ethicorum ad Nicomachum a Ioanne Argyropilo byzantino latine...
der Moralphilosophie die auf einen Zweck gerichtete Handlung des Menschen bzw. der aufgrund eines Zwecks
willentlich handelnde Mensch als Gegenstand der Moralphilosophie angesehen werden.
Weiter begründet Thomas die Notwendigkeit menschlicher Gemeinschaft, sowohl als Familie bzw. Hausstand
wie auch als Gemeinwesen bzw. Staat. Beide Gemeinschaften dienen der ausreichenden Versorgung mit Gütern
sowohl für den Körper wie auch für die Seele ( sufficientia ad corporalia et moralia).
Die Moralphilosophie müsse in drei Teile eingeteilt werden und in der monastica die zweckhaften Handlungen
eines individuums betrachten, XXVII in der oeconomica die zweckhaften Handlungen innerhalb eines
Hausstands und in der politica die zweckhaften Handlungen innerhalb eines Gemeinwesens.
Ziff. 3
Auf diese Weise ist die praktische Philosophie von Naturphilosophie, Logik und den artes mechanicae
abzugrenzen. Materie der praktischen Philosophie sind also Handlungen des Menschen, die der Ordnung der
Vernunft folgend aus dem menschlichen Willen hervorgehen. Genauer heißt dies, daß nur jene Vollzüge des
Menschen, die entweder direkt aus der freien Willensentscheidung des Menschen ( arbitrium liberum)
hervorgehen oder auf andere Vermögen des Menschen zurückzuführen sind, aber mit Zustimmung des Willens
vonstatten gehen, als Materie der praktischen Philosophie in Frage kommen. Weiter gilt, daß diese Materie in
einer bestimmten Hinsicht ( modus) betrachtet wird, nämlich insofern sie entweder zueinander oder zu einem
Zweck in Beziehung stehen. Beide Dimensionen müssen nun bewiesen werden.
Ziff. 4
Der Beweis der These, daß Handlungen des freien Willens Materie der praktischen Philosophie bilden, geht aus
davon, daß -- entsprechend der thomistischen Unterscheidung von vier Ordnungen, die unter Ziff. 2 erörtert
worden ist, eine Disziplin sich mit solchen Handlungen zu befassen hat. Dies um so mehr, weil sie zu den
vorzüglichsten und würdigsten Gegenständen zu rechnen sind, mit denen sich eine Disziplin befassen kann und
sie keiner anderen Disziplin als Gegenstand zugerechnet werden können. Außerdem gilt, daß einzig
menschliches Handeln derjenige Gegenstand ist, anhand dessen die Sitten der Menschen wissenschaftlich
betrachtet werden können. So weit stimmt Aguirre also mit dem Standpunkt des Averroes überein.
Ziff. 5
Für die Begründung der Notwendigkeit, den Gegenstand der Moralphilosophie auf Handlungen einzuschränken,
die in der Ordnung der Zwecke ihren Platz finden können, kannn auf Ziff. 8 des vorigen Kapitels, also die
Widerlegung von Averroes verwiesen werden: Die Moralphilosophie darf schechte Handlungen nicht per se,
sondern bestenfalls indirekt, also per accidens behandeln. Deswegen werden Handlungen in der
Moralphilosophie nicht als freie, sondern als der Ordnung der Zwecke entsprechende und damit ehrenwerte (
honestae)zum Gegenstand.
Ziff. 6
Die unter Ziff. 2 zitierte Stelle aus dem Kommentar des Thomas zur Nikomachischen Ethik, derzufolge sowohl
die Handlungen des Menschen als auch der Mensch selbst als Gegenstand der Moralphilosophie in Frage
kommen, gneauso wie bewegliche Dinge und die Bewegung selbst Gegenstand der Naturphilosophie sind, muß
jedoch präzisiert werden. Denn während für die Naturphilosophie die Ortsbewegung nur mittelbar, unmittelbar
jedoch das bewegliche Ding als Geenstand gelten muß, ist dies für die Moralphilosophie umgekehrt: Der Mensch
soll die Moralphilosophie zwar erlernen (er ist deswegen subiectum repeptionis), nicht aber deren Gegenstand.
Direkt werden nämlich die Sitten des Menschen erörtert. Über den Menschen muß nur gesprochen werden,
sofern dies für die Erörterung der Sitten erforderlich ist.
Ziff. 7
Die bislang erarbeitete Bestimmung des Gegenstands der Moralphilosophie kann leicht auf ihre drei
Teildisziplinen übertragen werden. XXVIII Die Ethik befaßt sich mit den moralisch guten und der Ordnung der
Zwecke entsprechenden Handlungen des einzelnen menschen, die Ökonomik mit solchen Handlungen innerhalb
einer Hausgemeinschaft, die Politik mit solchen innerhalb eines guten Gemeinwesens und in Übereinstimmung
Page 20 - zuletzt bearbeitet von Administrator am 2010/11/09 17:03
Essays - José Sáenz de Aguirre (1630-1699), Philosophia Moralis ab Aristotele tradita decem libris
Ethicorum ad Nicomachum a Ioanne Argyropilo byzantino latine...
mit der für öffentliche Angelegenheiten geltenden Ehrenhaftigkeit ( honestas publica). Die drei Disziplinen der
praktischen Philosophie unterscheiden sich der Art nach, gehören aber in einen einzigen Sachzusammenhang (
conveniunt in unitate ordinis). Außerdem verfolgen alle drei Disziplinen den gleichen Letzzweck, nämlich das
höchste Gut bzw. die Glückseligkeit des Menschen.
Ziff. 8
Sofern die Position des Thomas richtig interpretiert wird, haben die von Piccolomini vorgebrachten Einwände (s.
o. Cap. V Ziff. 5) keine Kraft mehr. Dies wird von Aguirre allerdings nicht weiter ausgeführt. Er diskutiert vielmehr
zwei weitere Einwände gegen Thomas’ auffassung.
Erstens müsse nämlich als Gegenstand der Moralphilosophie als ganzer das höchste Gut angesehen werden,
weil dessen Existenz in ihr vorausgesetzt, definiert und es in seine Arten eingeteilt werden, außerdem alle
weiteren Gegenstände der Moralphilosophie darauf bezogen würden. Da weiterhin das höchste Gut für den
Menschen in vollkommenem Handeln aus der Tugend heraus bestehe, muß, wenn tugendhafte Handlungen als
Gegenstand der Moralphilosophie zugelassen werden, gleiches auch für das höchste Gut gelten.
Zweitens sei zu beachten, daß die Moralphilosophie auf gleiche Weise das Gemüt 8*animus*) heile wie die
medizin den Körper. Gegenstand der Medizin ist aber nicht die Herbeiführung der Gesundheit im Kranken,
sondern der Körper des Kranken, insofern er durch die medizin heilbar sei. Auf gleiche Weise müsse dann nicht
zu bessernde Handlung einer Tugend der Seele, sondern die Seele selbst, insofern sie heilbar ist, Gegenstand
der Moralphilosophie sein.
Ziff. 9
Beide Einwände sind nicht stichhaltig.
Zum ersten Einwand: Das höchste Gut des Menschen ist nicht Gegenstand der Moralphilosophie. Der Einwand
selbst gesteht nach Aguirres Ansicht zu, daß es sich dabei in Wahrheit um das Letztziel des Menschen handelt.
Sofern eine Disziplin unter Nutzung der analytischen bzw. resolutiven Methode dargestellt wird, ist es indes
legitim, ihren Zweck vorauszusetzen, dann Verfahren der Definition und Einteilung darauf anzuwenden, um erst
dann von guten Handlungen und ihren Prinzipien zu sprechen. Außerdem ist es ratsam, zu Beginn der
Erörterung der praktischen Philosophie ihren Rang zu betonen. Dies geschieht am einfachsten dadurch, daß die
Würde ( nobilitas) ihres Zwecks zutreffend erkannt wird. Letztzweck und Gegenstand einer Disziplin sind jedoch
klarerweise voneinander unterschieden. Des weiteren ist darauf hinzuweisen, daß das höchste Gut des
Menschen nicht in allen tugendhaften Handlungen befördert wird. Die Behandlung tugendhafter Handlungen in
der Moralphilosophie kann aber nicht bloß auf jene Handlungen eingeschränkt werden, die tatsächlich zur
Glückseligkeit des Menschen beitragen.
Zum zweiten Einwand: Gegenstand der Medizin als einer ‘herstellenden Disziplin’ ( ars effectrix) kann nicht die
diesem Habitus zugeordnete Tätigkeit der Heilung, sondern nur deren Ergebnis, also Gesundheit in einem
heilbaren Körper. Die Moralphilosophie betrifft praxis, nicht poiesis und hat deswegen die Handlung selbst,
insofern sie den Menschen im Inneren vervollkommnet, als Gegenstand. Poietische Disziplinen zielen auf die
Bewirkung eines Ergebnisses, das außerhalb ihrer selbst liegt, praktische Disziplinen zielen auf eine beim
Handelnden bleibende Handlung ( actio immanens), durch die der Handelnde in sich selbst vervollkommnet wird.
Page 21 - zuletzt bearbeitet von Administrator am 2010/11/09 17:03
Herunterladen