Gerhart Hauptmann Der Biberpelz

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Gerhart Hauptmann
Der Biberpelz
Wir befinden uns heute Abend, einmal geschichtlich gesehen, im letzten Viertel
des vorletzten Jahrhunderts, in der Gegend von Berlin, etwa um 1880. Es ist die
Zeit des zweiten deutschen Kaiserreiches, Nach dem ersten, dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, das immerhin 1000 Jahre gedauert hat, lebt das
zweite, das Reich Bismarcks, nur gerade ein halbes Jahrhundert. Ganz zu schweigen vom Dritten Reich, vom sogenannten tausendjährigen, das zum Glück nur
zwölf Jahre gedauert hat. Ich will Ihnen nicht die komplexe Verfassung Bismarcks
erläutern, sie spielt heute Abend keine grosse Rolle. Trotzdem ist die Atmosphäre
dieser Zeit von grosser Bedeutung für das Stück heute Abend. Es muss deswegen
zu Beginn ein kleiner Ausflug in die deutsche Geschichte unternommen werden.
Bismarck wurde 1862 zum preussischen Ministerpräsidenten ernannt, er nahm sofort – eines Preussen würdig – eine Verstärkung der Armee vor, die Armee prägt
fortan das Gesellschaftsbild Preussens. Mit der Macht Preussens im Rücken gelingt
es Bismarck, Deutschland, das immer noch aus vielen Königreichen und Fürstentümern besteht, zum Nationalstaat zu machen. Er schafft dies vor allem durch eine
geschickte Kriegspolitik, die im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 gipfelt
und mit der Proklamation des zweiten deutschen Kaiserreiches endet. Der preussische König Wilhelm I. wird deutscher Kaiser. Es ist ein militärisch organisiertes
Reich – die soziale Frage beachtet Bismarck kaum. Er steht dem Sozialismus und
den sozialen Anliegen überhaupt völlig verständnislos gegenüber. Die Sozialisten
im Reichstag, die es immerhin gleich auf 13 Sitze geschafft hatten, waren ihm ein
Dorn im Auge, vor allem, weil sie seine Rüstungspolitik und die Stärkung des Heeres vehement bekämpften. Als er inne wurde, dass die Gründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Partei Deutschlands – August Bebel und Wilhelm Liebknecht – diese ganz marxistisch ausrichteten auf Klassenkampf und künftiger Herrschaft des Proletariats, merkte er, dass die soziale Frage gelöst werden musste.
Und es ist nicht verwunderlich, dass Bismarck die soziale Frage nicht sozial zu
lösen gewillt war, sondern mit dem Versuch der Unterdrückung oder sogar Auslöschung der Sozialdemokratie. 1878 wurde das „Sozialistengesetz“ beschlossen, ein
Gesetz auf drei Jahre, aber mehrfach verlängert bis 1890. Es erlaubte der Polizei
rücksichtslos gegen alle Formen des Sozialismus’ vorzugehen, Verbot der Vereine,
Beschlagnahmung der Presse, Inhaftierung der Exponenten und was totalitäre
Staaten sonst noch tun.
Die Folgen für Deutschland waren unabsehbar. Resultat war eine allgemeine
Schnüffelei, es herrschte eine Willkürherrschaft der Polizei, das Gesetz forderte
zum Missbrauch geradezu auf. Überall gab es Denunzianten und Glücksritter, die
versuchten, durch Verleumdung ehrbarer Bürger sich Vorteil zu verschaffen. Sie
können sich, meine Damen und Herren, die Situation lebhaft vorstellen, sie wiederholt sich immer wieder, sie ist typisch für alle totalitären Regimes der Welt. Es
gab sogar Schauprozesse, die den verderblichen Umgang mit einem Sozialisten
vor Augen führen sollten. Gerhart Hauptmann musste in Breslau selbst auch in so
einem Prozess aussagen. Vielleicht ist die Bezeichnung „totalitäres Regime“ für
den preussischen Staat zu hart. Aber bezogen auf die Sozialistengesetze mag er
berechtigt sein.
In dieser Atmosphäre spielt nun die Komödie „Der Biberpelz“, die Sie heute Abend
sehen werden. Es mag Sie erstaunen, dass Hauptmann für die Darstellung dieser
Zeit und ihrer Atmosphäre die Gattung Komödie wählt. Und dazu noch eine der
Gerhart Hauptmann: Der Biberpelz
besten Komödien der deutschen Literatur darüber schreibt, der deutschen Literatur, die an guten Komödien sehr arm ist. Auch dafür mag es eine Erklärung geben,
die uns veranlasst, einen Blick in die Geschichte der deutschen Literatur zu werfen.
Gerhart Hauptmann gilt als der bedeutendste Vertreter des „Naturalismus“. Naturalismus ist ein Programm, welches das Literaturlexikon wie folgt umschreibt: „Gesteigerter Realismus, der das Gegensätzliche zu einer idealistischen Weltauffassung zu verwirklichen sucht.“ Naturalismus ist bestrebt, die Wirklichkeit so, wie
sie ist, ungeschminkt und unverhohlen, nackt und so realistisch wie möglich darzustellen und auf die Bühne zu bringen. Es liegt auf der Hand, dass naturalistische
Werke nun nicht eine schöne und unproblematische Wirklichkeit suchen, das wäre
eine zu idealistische Wirklichkeit und auch nicht interessant. Sie suchen die Wirklichkeit der Erniedrigung, des Schmutzes, des Elends, des proletarischen Milieus.
Sie legen soziale Zustände schonungslos offen und nehmen kein Blatt vor den
Mund. Arno Holz – einer der frühen Vertreter - bringt das Programm auf die berühmte Formel:
Kunst = Natur – x
Mit x meint er all das, was einem Abbild der Realität 1:1 im Wege steht, weil die
Bedingungen der Kunst dummerweise anders sind. X muss aber möglichst klein
gehalten werden.
Die Zeit des Sozialistengesetzes ist nun wie geschaffen für naturalistische Werke.
In der Literatur und auf der Bühne konnte die soziale Frage anders angegangen
werden als in der Wirklichkeit. Hier finden sich Situationen zu Hauf, die genau das
auf die Bühne bringen, was der Naturalismus will. Es finden sich auch genügend
„naturalistische“ Figuren. Gerhart Hauptmann gilt als der bedeutendste Vertreter
des Naturalismus in der deutschen Literatur. Er ist auch – vielleicht abgesehen von
Gotthelf – der erste deutsche Dichter, der die soziale Frage thematisiert, auf die
Bühne bringt und behandelt. Sehr spät geschieht dies in der deutschen Literatur.
In der französischen Literatur ist dies viel früher der Fall. Die grossen Romanciers
des 19. Jahrhundert, Balzac und Hugo bringe diese Frage viel früher in die Literatur. Gewiss also, ist Hauptmann zu Recht der wichtigste Vertreter des Naturalismus; aber nicht weil seine Werke besonders naturalistisch wären. Das sind sie
nicht. Die Formel „Kunst = Natur – x“ lässt sich nicht im Kunstwerk verwirklichen.
Das gibt nichts Rechtes. Kunst ist etwas anderes als Natur, etwas anderes als
Realität auch.
Und – das ist das Entscheidende: Man bringt die Wirklichkeit nicht auf die Bühne,
indem man sie möglichst genau nachbildet. Ein Abklatsch der Wirklichkeit auf der
Bühne ist völlig uninteressant, weil er den Zuschauer nicht führt, weil er nicht
hinweisen könnte auf das, was dargestellt werden soll. Die Wirklichkeit der Kunst
ist eine höhere Wirklichkeit, eine gestaltete Wirklichkeit. Und nur eine durch und
durch gestaltete Wirklichkeit kann einem Zuschauer ein Bild von ihr vermitteln.
Das wusste auch Gerhart Hauptmann. Und seine als naturalistisch berühmten
Werke haben mit dem Naturalismus nichts gemein als die Thematik.
Hier haben Sie nun auch die Antwort, meine Damen und Herren, wieso Hauptmann
die Zeit des Terrors des Sozialistengesetzes in eine Komödie einfängt.
Die Komödie kann das Groteske und Absurde, das Lächerliche auch, der Sozialistenverfolgungen weit gültiger und krasser darstellen, als es ein Abklatsch der Wirklichkeit dies könnte.
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Gerhart Hauptmann: Der Biberpelz
Kommen wir – nach diesen einleitenden Überlegungen – zum Stück von heute
Abend. Der Inhalt ist recht schnell erzählt. Der Biberpelz lebt nicht von der Handlung. Die ist äusserst einfach, was für eine gute Komödie wichtig ist. Alle guten
Komödien haben eine eigentlich fast dürftige Handlung. Die Komödie lebt von anderen Dingen: sie lebt von den Figuren, von den Charakteren, von den Situationen
auch, in die diese Charaktere und Figuren kommen.
Denken Sie an Kleists „Zerbrochenen Krug“. Die Handlung ist fast nicht vorhanden.
Die Grossartigkeit lebt einzig von den Verstellungskünsten des Dorfrichters Adam.
Oder auch an Lessings „Minna von Barnhelm“. Auch hier wenig Handlung. Diese
Komödie lebt von den unvorhergesehenen Situationen, in welche die Figuren hineingestossen werden. Zählen wir zu den beiden erwähnten Komödien nun noch
den Biberpelz hinzu, dann haben wir in etwa das, was die deutsche Literatur an
Komödien zu bieten hat.
Der Biberpelz lebt von zwei Charakterfiguren: Von der Mutter Wolff und dem Amtsvorsteher von Wehrhahn.
Zuerst aber eine kurze Inhaltsangabe:
Zwei Schauplätze bestimmen das Stück: Die Küche der Mutter Wolffen und das
Büro des Amtsvorstehers.
Mutter Wolff kommt gerade mit einem gewilderten Rehbock nach Hause und findet
dort ihre Tochter Leontine unerwartet vor. Leontine ist angestellt als Dienstmädchen bei dem Rentner Krüger. Mutter Wolff vernimmt, dass Leontine dort davongelaufen ist, weil sie in der Nacht noch einen Stapel Holz ins Haus hätte schaffen
sollen. Leontine findet das eine Zumutung, deswegen ist sie weggelaufen. Die
„ehrbare“ Mutter ist natürlich auf ihren guten Ruf bedacht und will die Tochter
sofort zurückschicken. Als sie aber vernimmt, dass es sich um „schöne, trockene
Knüppel“ handle, sieht sie die Sache gleich anders. Sie erlaubt der Tochter dazubleiben, weil sie eine fette Beute wittert. Sie verkauft den gewilderten Rehbock als
einen, „zufällig verendet gefundenen“, dem Spreeschiffer Wulkow, dabei erzählt
Adelheid, die andere Tochter der Wolff, dass die Frau des Rentners Krüger ihrem
Mann kürzlich einen wertvollen Biberpelz geschenkt habe. Der von Rheumatismus
geplagte Schiffer Wulkow meint, dass er für so einen Biberpelz glatt 60 Taler zahlen würde. Mit dieser Summe könnte die Wolff gerade ihre Schulden begleichen.
Da sie nicht kleinlich ist, wenn es um das Wohl ihrer Familie geht, fasst sie den
Plan, den Pelz an sich zu bringen, um ihn dem Schiffer Wulkow für die 60 Taler zu
verkaufen.
Vorher muss sie aber das Knüppelholz noch ins Trockene bringen. Der Amtsdiener
Mittelholz ist ihr dabei sogar nichtsahnend behilflich. Auch den Biberpelz bringt sie
noch in dieser Nacht in ihren Besitz.
Der Rentner Krüger erhebt nun Anzeige wegen Diebstahls beim Amtsvorsteher
Wehrhahn. Der ist aber daran keineswegs interessiert. Er fühlt sich durch derlei
Banalitäten geradezu belästigt. Er ist nur daran interessiert, „dunkle Existenzen,
politisch verfemte, reichs- und königsfeindliche Elemente“ aufzuspüren. So will er
den Privatgelehrten Dr. Fleischer, der zwanzig verschiedene Zeitungen abonniert
hat und dauernd fremde Literaten empfängt, wegen Majestätsbeleidigung verhaften lassen. Er stützt sich für diese Anschuldigung auf den notorischen Denunzianten und Schwindler Motes. Dr. Fleischer berichtet nun dem Amtsvorsteher, dass
er einen schmuddeligen und armen Spreeschiffer gesehen habe, der einen teuren
und nagelneuen Biberpelz getragen habe, was doch sehr seltsam sei und eigentlich
der Aufklärung bedürfe, wenn schon der Rentner Krüger einen Pelzdiebstahl anzeige. Wehrhahns kriminalistischer Spürsinn kennt keine Grenzen, er lässt sich
vom zufällig anwesenden Wulkow bestätigen, dass dies nichts Aussergewöhnliches
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Gerhart Hauptmann: Der Biberpelz
sei und viele Spreeschiffer solche Pelze trügen. Damit ist für Wehrhahn der Fall
gelöst und erledigt. Mutter Wolffen, die bei Wehrhahn waschen soll, tritt herzu und
stellt sich völlig unschuldig, als sie vernimmt, wovon die Rede ist. Sie hat sogar
die Stirn, Krüger vorzuwerfen, dass er ihre Tochter nachts um elfe habe Holz
schleppen lassen, was Krüger derart in Rage versetzt, dass er Schadenersatz für
das gestohlene Holz von der Wolff fordert. Das lässt diese sich nun nicht gefallen,
weil sie sich in ihrer Ehre angetastet fühlt, und so gehen die Verwicklungen weiter.
Ich will sie Ihnen nicht alle erzählen. Der Biberpelz ist ein äusserst kunstvolles
Gewebe von Intrigen und von Situationskomik, und es wäre schade, dies alles
nacherzählen zu wollen.
Nur noch soviel: Krüger kommt zu Mutter Wolffen, weil er ihre Dienste als Waschfrau braucht. Er will sie wieder versöhnen. Gemeinsam beklagen sie sich über die
Schlechtigkeit der Welt, dabei nimmt Krüger einen Knüppel von seinem eigenen
Holz und beschwört damit seine Absicht, die Diebe des Holzes und des Pelzes ausfindig zu machen, auch wenn es ihn tausend Taler koste. Frau Wolff ist von diesem
Gerechtigkeitssinn ganz begeistert.
Wehrhahn will mit dem Querulanten Krüger nichts mehr zu tun haben, ihn interessiert nur noch der politische Fall Fleischer und er setzt alle Hebel in Bewegung,
ihn endlich zu überführen. Dass Mutter Wolffen eine durch und durch ehrbare Frau
ist, davon kann ihn nichts abbringen. Die Diebstähle werden nicht aufgeklärt, Fleischer nicht überführt, alles verläuft im Sande. Aber am Schluss sind alle der Meinung, die Welt sei schlecht und die Menschen seien böse und hinterlistig ausser
der Mutter Wolffen. Sie glaubt das selber auch, und ich bin überzeugt, dass auch
Sie, meine Damen und Herren, das Theater heute Abend verlassen werden, unsicher darüber, ob Frau Wolff wirklich ein schlechter Mensch und eine Diebin sei. Ich
bin fast überzeugt, dass auch Sie sie heimlich für einen ehrbaren Menschen halten
werden, der ab und zu ein wenig das Glück korrigiert hat, gewiss, aber dem man
im Ernst keine bösen Absichten unterschieben kann, weil sie die einzige ist in diesem Stück, bei der Herz und Verstand noch in Ordnung sind.
Diese Ihre Überzeugung, die ich nun meinerseits Ihnen unterschiebe, macht die
Grossartigkeit von Hauptmanns Komödie aus. Wir sind nach diesem Stück sofort
und unbesehen bereit, die Mutter Wolffen, die mit Herz und mit Verstand handelt,
auch wenn es mit dem Gewissen hapert, über alle anderen Figuren zu stellen,
obwohl die juristische Seite des ganzen anders aussieht. In dieser zwiespältigen
Figur rollt Hauptmann gleichsam die ganze Verlogenheit der Zeit auf und prangert
sie an, viel mehr und viel wirkungsvoller als eben ein nur naturalistisches Stück es
könnte. Der Umkehrung der Werte und der Moral in der Ära des Sozialistengesetzes wird – eigentlich ganz logisch – eine andere Umkehrung der Werte entgegengesetzt. Was entsteht, ist eine glaubwürdige Figur, ein Mensch, der trotz Diebstahls und Lüge am Schluss als ehrliche Haut erscheint. Wehrhahn, der eigentlich
ja nur nach dem geltenden Gesetz handelt, steht da als umfassender Dummkopf,
in nichts glaubwürdig, eine Karikatur seiner selbst – und was schlimmer ist, eine
Karikatur des aufgeblasenen Kaiserreiches, das unschuldige Sozialisten verfolgt,
dabei aber nicht im Stande ist, handfeste Diebstähle auch nur annähernd aufzuklären.
Der verkehrten Wertewelt des preussischen Staates den seinerseits verkehrten
Spiegel vorhalten. Und damit die Welt wieder zurechtrücken, denn zweimal verkehrt gibt gerade. Das ist der Sinn des Stücks, und das ist auch eine wunderbare
Grundlage für eine sehr tiefsinnige Komödie. Sie ist eine tendenzlos vorgetragene
Kritik an den Zuständen der Zeit: Mutter Wolff führt einen privaten Krieg gegen
die gesellschaftlichen Zustände. Jeder drischt Phrasen, die leer und sinnlos sind.
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Gerhart Hauptmann: Der Biberpelz
Wehrhahn brüstet sich damit, die „höchsten Güter der Nation“ zu verteidigen, in
Wahrheit aber begibt er sich ins Netz eines notorischen Denunzianten und besudelt
die Ehre des Mitbürgers Fleischer – in dem Hauptmann sich selbst dargestellt haben soll. Das System gibt ihm dazu alle Mittel und alle Macht in die Hand. Mutter
Wolff pflichtet dem wütenden Krüger bei, wenn er, einen Knüppel seines eigenen
gestohlenen Holzes in der Hand haltend, ruft: „Die entgehen dem Zuchthause
nicht“ – ihm pflichtet sie im Brustton der Überzeugung bei: „Das wäre ein Segen
– wahrhaftiger Gott!“ Alle reden an der Wirklichkeit vorbei, weil alle in einer Welt
der Täuschung und der Vorwände leben. Niemand kommt auf den Gedanken, dass
die Mutter Wolff hier nicht tatsächlich entrüstet wäre. Immerhin hat sie das Holz
selber geholt und den Pelz mühsam genug losgeschlagen. Sie hat nun ein Eigentum zu verwalten, wie andere auch. Sie ist keineswegs eine Revolutionärin, sie
denkt keinen Moment an den Umsturz der bestehenden Ordnung. Wehrhahn würde
sie sonst sofort in Gewahrsam nehmen. Die gegebenen Zustände nimmt sie hin,
deswegen schätzt Wehrhahn sie ja auch so. Sie führt aber ihren Krieg gegen diese
Zustände auf ihre Weise. Sie sorgt auf ihre Weise für eine gerechte Verteilung der
materiellen Güter, und es ist für sie keinen Moment ein Problem, wenn der Amtsdiener ihr beim Diebstahl die Lampe hält.
Die verkehrte Welt noch einmal umkehren. Das ist das Geheimnis des Biberpelzes.
Sie werden sich heute Abend dem Zauber dieser genialen Theateridee nicht entziehen können.
Auf das Publikum der Erstaufführung allerdings soll die Aufführung erschreckend
gewirkt haben. Sie fand 1893 in Berlin statt, das Sozialistengesetz war noch in
frischer Erinnerung. Eben war Hauptmanns Drama „Die Weber“ zum zweiten Mal
verboten worden. Und eine Uraufführung des Biberpelzes kam nur zustande, Ironie
des Schicksals, weil die zuständige preussische Zensur zu dumm war, die Gesellschaftskritik darin auch nur im Entferntesten wahr zu nehmen. Der zuständige
Beamte – vielleicht hat er Wehrhahn geheissen, schrieb: „Kleinmalerei ohne Handlung von Belang, welche in solcher Ausdehnung nur langweilt. Dass das öde Machwerk mehrere Aufführungen erleben dürfte, steht kaum zu erwarten.“
Die Zuschauer spürten aber die subtile und ungreifbare Kritik an ihrer Gesellschaft,
in der sich diejenigen, die ins Theater gehen konnten, doch so wohl fühlten. Die
bürgerliche Moral fühlte sich verletzt, wenn der Amtsvorsteher eine so lächerliche
Gestalt ist und die Diebin alle Sympathien des Publikums bekommt. Die Zuschauer
der Uraufführung mögen dumpf empfunden haben, dass die Verhältnisse eben
doch nicht so sein sollten, wie sie waren, dass aber jede Änderung eine empfindliche Störung des Behagens mit sich gebracht hätte.
So wurde der Biberpelz immer wieder totgesagt, aber sie werden heute Abend
erleben, dass dieses Stück eine der grössten Komödien deutscher Sprache ist.
Auch wenn uns das Sozialistengesetz heute lächerlich fern ist: Hauptmann hat
mehr gemacht, als seine Zeit kritisiert. Er zeigt – und das ist das Geniale an diesem
Stück – Zustände und Gestalten, die in der menschlichen Natur liegen, und die in
zeitbedingter Abwandlung in jedem Zeitalter wiederkehren. Das Historische ist verblasst, und wir vermissen es nicht. Geblieben sind die menschlichen Züge in der
Frische der ersten Aufführung. Daran erkennen wir die grosse Dichtung.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.
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Gerhart Hauptmann: Der Biberpelz
17. Februar 2004
4. Dezember 2012
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