„Und hätte die Liebe nicht“ – Predigt von Bischof Prof. Dr. Martin Hein im Gottesdienst am 02.03.2008 (Laetare) in St. Martin zu Kassel im Rahmen der Reihe „Inspiriert: Theater im Gottesdienst“ über Gerhart Hauptmanns Drama „Vor Sonnenaufgang“ Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus, der sich für uns dahingegeben hat. Predigttext: I Kor 13,1-8+13 1 Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. 2 Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. 3 Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen und hätte die Liebe nicht, so wäre mir's nichts nütze. 4 Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, 5 sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, 6 sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; 7 sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. 8 Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. 13 Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen. Kaputte Beziehungen, wohin man nur schaut, liebe Gemeinde! Wohl nie zuvor ist in Deutschland die auseinander brechende Fassade menschlicher Konventionen so drastisch geschildert worden wie in Gerhart Hauptmanns Stück „Vor Sonnenaufgang“, das in dieser Saison auf dem Spielplan des Kasseler Staatstheaters steht. 1889 löste es schon bei der Uraufführung rasende Tumulte aus, wurde bald aber zum „Flaggschiff“ des deutschen Naturalismus. 1 Rückhaltlos schildert Hauptmann das verquere Leben auf dem Hof des zu großem Reichtum gekommenen, dem Suff ergebenen Gutsbesitzers Krause, seiner Familie und seines Gesindes in Schlesien. Hier bewirkten die fortschreitende Industrialisierung und der Kohlebergbau einen tief greifenden Wandel, dem viele nicht gewachsen waren – mochten sie auch zu den vorgeblichen Gewinnern gehören. Ein Panoptikum seelischer Abgründe tut sich auf, und die Charaktere, die Hauptmann entwirft, sind fast ausnahmslos gekennzeichnet von der Unfähigkeit zu lieben. Wenn uns eines auf der Bühne ins Auge springt, dann ist es diese dumpfe Lieblosigkeit, in der alle miteinander und gegeneinander agieren: Krause, der Bauerngutsbesitzer, den der Alkohol zum „Tier“ macht, seine Frau, der der plötzliche Reichtum zu Kopf gestiegen ist und deren Primitivität zum Himmel schreit, Hoffmann, der Schwiegersohn, Ingenieur immerhin und damit Bote der neuen Zeit, aber ein skrupelloser Geschäftemacher, der im Zweifelsfall vor nichts zurückschrecken würde, Dr. Schimmelpfennig, der Hausarzt, der offen zugibt, lediglich zum Geldverdienen nach Schlesien gekommen zu sein. Diese Reihe lässt sich unschwer fortsetzen. Und dann ist da Alfred Loth, der unvermutet auf dem Gut auftaucht, alter Freund von Hoffmann und doch aus einer anderen Welt stammend. Er wenigstens könnte sich der Spirale der Lieblosigkeit entziehen. Aber er ist der prinzipientreue Sozialreformer, der die fixen Ideen vom Fortschritt des Menschengeschlechts höher stellt als menschliche Empfindungen: ein Rigorist allererster Güte, anfangs noch ein Sympathieträger, doch je länger das Drama währt, wird er zum herzlosen Verfechter seiner verbohrten Ideologie. Und mitten drin und einzig sie: Helene, im pietistischen Herrnhut erzogen und dort der Ahnung eines anderen Lebens begegnet, erfüllt von der Sehnsucht, aus den aberwitzigen Bedingungen des Lebens auf dem Hof ihres Vaters ausbrechen zu können. Doch selbst die zarte Anbahnung der Liebe zwischen Loth und Helene scheitert letztlich. „Zu Ende“, stößt sie hervor, nachdem Loth sie heimlich nach einem kruden Gefasel mit Dr. Schimmelpfennig über Erbkrankheit und Rassereinheit verlassen hat. Helene, dem einzigen Menschen, der 2 wirklich zu lieben wagte, bleibt nichts anderes als der Tod. Auch sie ist vom Strudel der Sinnlosigkeit dieses Lebens erfasst. Am Schluss gibt es nur noch eines: Nichts! Das alles lässt einen, mehr als hundert Jahre später, trotz des zeitlichen Abstands in den bequemen Sesseln des Staatstheaters nicht kalt. Mit zunehmender Dauer sind, so empfinde ich es, die aus der Raffgier erwachsende Dekadenz und die Reduzierung menschlicher Beziehungen auf Geld, Alkohol und Sex kaum auszuhalten. Man möchte auf die Bühne springen, die Akteure packen und zur Besinnung bringen, aber bleibt wie gelähmt sitzen. Warum geht es nicht anders zwischen uns Menschen zu? Rücksichtsvoller, aufmerksamer, solidarischer – liebevoller? Dr. Schimmelpfennig hat die zynische Antwort parat: „Was ihr da alles nötig habt, um flott zu bleiben, Glaube, Liebe, Hoffnung. Für mich ist das Kram. Es ist eine ganz simple Sache: die Menschheit liegt in der Agonie, und unsereiner macht ihr mit Narkoticis die Sache so erträglich als möglich.“ Ein bitterböses Resümee, und eine bitterböse Lebenseinstellung. Glücklich – glücklich ist in Schlesien niemand. Wie auch, wenn es nichts zu glauben, zu lieben, zu hoffen gibt. Alles Kram! Gerhart Hauptmann war zeitlebens nicht nur ein präziser Beobachter, sondern ein großer Moralist. Er gibt seinen grell gezeichneten Personen keine individuell zurechenbare Schuld. Das Versagen menschlicher Beziehungen bis hin zur totalen hoffnungslosen Vereinzelung ist für ihn Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich als übermächtig erweisen. Ihnen erliegen die Menschen hilflos. Und so kommt, was kommen muss: Der Einzelne fällt hinten runter. Die alte Welt vergeht. Doch was kommt, ist noch nicht ausgemacht vor Sonnenaufgang! Wie würde Hauptmann heute schreiben? Schlesien ist doch mitten unter uns: eine unvorstellbare Raffgier, die sich darin ausdrückt, dass das eigene Managergehalt ins schier Unermessliche steigt, wenn nur der so 3 genannte „Shareholder Value“ stimmt, unabhängig davon, wie viele Arbeitsplätze draufgehen und wie viele Menschen damit abgeschrieben werden; eine unheimliche Dekadenz, wenn Deutschland im Privatfernsehen wieder den Superstar sucht und sich daran weidet, wie Menschen vor der Kamera fertiggemacht werden und zerbrechen. Verwilderung und Verwahrlosung feiern Exzesse. Gerhart Hauptmann als Moralist hätte viel zu tun! In seinem Drama „Vor Sonnenaufgang“ gibt er keine Antworten, wie es anders sein könnte. Das ist, denke ich, eine sehr bewusste Entscheidung. Die Zuschauer selber sollen sich eine Meinung bilden, sollen in der Konfrontation mit dem ganzen menschlichen Elend im Zustand taumelnder Agonie eine eigene Haltung gegenüber dem entwickeln, was auf der Bühne zu sehen ist – und diese Bühne ist mehr als die des Theaters: Es ist die Weltbühne, auf die wir blicken. Und spätestens hier, wo es um die Deutung menschlichen Lebens geht und um die Ermöglichung eines menschlichen Miteinanders, das diesen Namen wirklich verdient, öffnet sich der Horizont und bringt sich der christliche Glaube ins Spiel. Hauptmanns Stück muss nicht getauft werden! Es steht für sich und sperrt sich gegenvorschnelle Vereinnahmungen. Aber mir fällt denn doch auf, dass im Grunde schon der Apostel Paulus in der Beschreibung kaum von dem abweicht, was uns Hauptmann in der Kassler Inszenierung drei Stunden lang vor Augen führt: wohlgesetzte Worte – ohne Liebe sind sie nur wie Geklapper; die ganze Summe menschlicher Erkenntnis und menschlichen Wissens – ohne Liebe nutzlos, weil herzlos; ja selbst die soziale Tat, von der wir doch hoffen könnten, dass sie die Verhältnisse wandelt, ist nichts, wenn ihr die Liebe fehlt. Alles Gute, wenn ihm nicht die Liebe innewohnt, bleibt auf der Strecke. Die Diagnose des Paulus zeugt von großem Realismus, finde ich. 4 Im Umkehrschluss aber muss das dann bedeuten: Wo Liebe wächst und das menschliche Miteinander durchdringt, weichen die Beziehungslosigkeit und die Seelenlosigkeit – und weicht die unendliche Einsamkeit, der nicht nur Hauptmanns Gestalten ausgeliefert sind. Das Lied, das Paulus auf die Liebe anstimmt, mag manchen abgegriffen erscheinen oder zu vollmundig daherkommen. Allein: Paulus hat Recht! Ohne Liebe erstirbt alles. Dann ist die Agonie, von der Dr. Schimmelpfennig so trefflich zu schwadronieren wusste, unausweichlich. Glaube, Liebe, Hoffnung – das ist eben kein „Kram“. Und dass die Liebe die größte unter ihnen ist, schon gar nicht! Fragt sich also, wie wir zu dieser Einsicht, ja mehr noch: wie wir zur Liebe als prägender Haltung unseres Menschseins gelangen – angesichts der Verhältnisse, die auch heute (wie schon zu Hauptmanns Zeiten oder zu denen des Apostels Paulus) lieblos sind. Das Leben selbst mag uns ja eher dazu anleiten, im Zweifelsfall auf den Einsatz unserer Ellenbogen zu vertrauen, um nur nicht unterzugehen. Und wer es, wie Helene, wagt, die eigene, zerbrechliche Liebe zu offenbaren, wird leicht im Getriebe der Macht des Faktischen die eigene Machtlosigkeit verspüren. Nicht von ungefähr lässt Hauptmann sie ohnmächtig in Loths Arme sinken, nachdem sie ihm gestanden hat, was sie für ihn fühlt. Wer liebt, wird angreifbar und manchmal sehr, sehr schutzlos. Darum noch einmal: Wie kommen wir zu einer starken Liebe, die nicht nur als kurzes Gefühl auflodert, sondern die sich als Grundton durch unser Leben zieht und sich darin sichtbar Gestalt bekommt, dass wir füreinander Verantwortung übernehmen, dass wir Solidarität vor Eigennutz stellen und unsere Gesellschaft menschlich gestalten? Hier traue ich der Erfahrung des Apostels Paulus: Solch eine Liebe können wir uns nicht selbst erzeugen, von ihr müssen wir ergriffen werden. 5 Liebe, die die Welt zum Guten ändert, kann darum nur die Antwort auf die große Liebe sein, die wir darin erfahren, dass wir an Christus sehen, wie Gott uns bedingungslos liebt – ohne alle eigenen Vorleistungen. Gottes Beziehung zu uns macht unsere unverlierbare und unzerstörbare Würde aus! Wem diese Erfahrung geschenkt wird, kann gar nicht anders, als Liebe, gegenseitige Verantwortung und Solidarität zum Leitbild einer Gesellschaft werden zu lassen – und sich dafür bewusst und tatkräftig einzusetzen. Und weil die Liebe weder eifert noch sich aufbläht, ist ihr auch jeder Rigorismus fremd, der ansonsten den Weltverbesserern zu Eigen ist. Nichts gegen die Ideale, die Alfred Loth zur Schau stellte: Allein, es fehlte ihm die Liebe. Und damit das Entscheidende. Und damit alles! Nichts anderes zu tun, als die große Liebe Gottes, die das eigene Leben erwärmt, in die Alltäglichkeit der Welt hineinzuspiegeln – damit fängt es an. Und allen Einwänden zum Trotz: Das geht! Dann lichtet sich das Halbdunkel, die Grautöne vor Sonnenaufgang wandeln sich allmählich in das Bunt des Tages, und es wird hell. Denn die Sonne der Barmherzigkeit und Liebe ist aufgegangen. Nein, liebe Gemeinde: Glaube, Liebe, Hoffnung - und die Liebe als Größte unter ihnen: Für mich ist das kein Kram, auch kein Narkotikum, auch kein Opium des Volkes! Es ist die Voraussetzung, leben zu können, beziehungsfähig zu sein, Hingabe für andere zu wagen, und zu erfahren: Die Welt verändert sich, ohne dass Köpfe rollen müssen. Und Beziehungen werden heil. Zu schön, um wahr zu sein? Ich glaube nicht. Fangen wir nur an – im Vertrauen, dass Gottes Liebe uns begleitet. Die hört niemals auf. Amen. Prof. Dr. Martin Hein Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck 6 >>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> medio!-Internetservice © Dieses Dokument ist urheberrechtlich geschützt und elektronisch im Internet abrufbar unter http://www.ekkw.de. 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