John - Residenztheater

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Zum Stück
Auf dem Dachboden eines Berliner Mietshauses hat der ehemalige Theaterdirektor Hassenreuter
seinen Theaterfundus eingerichtet. Nach jahrelanger Theaterarbeit in der Provinz muss er sich und
seine Familie als Kostümverleiher und Schauspiellehrer durchbringen. Die im Mietshaus wohnende
Frau Maurerpolier John hat er als Putzkraft engagiert. In der Großstadt gehen die Gespenster des
gesellschaftlichen Abstiegs um und entwickeln in Hassenreuters Fundus ihr Eigenleben: Ist das
Realität oder Illusion? Theater oder Wirklichkeit?
Denn auf eben diesem Dachboden trifft sich Frau John mit dem polnischen Dienstmädchen Piperkarcka, das hochschwanger, von den Eltern und dem Vater des Kindes verstoßen, in ihrer Not auf Frau
John angewiesen ist. Hier bringt Pauline Piperkarcka ihr Kind zu Welt, das von Frau John als das Ihre
ausgegeben wird. Im Alter von acht Tagen hatte Frau John ihren eigenen Sohn Adelbert verloren. Um
ihre Ehe mit dem in Hamburg arbeitenden Mann zu retten, schlägt sie der Piperkarcka den Kinderhandel vor. Bruno Mechelke, Frau Johns kleinkrimineller Bruder, und Selma, die Tochter der morphiumsüchtigen Frau Knobbe, helfen ihr dabei.
In dieser Konstellation streiten der Kandidat der Theologie Spitta und sein Schauspiellehrer
Hassenreuter über alte und neue Theaterformen und verfolgen mit Interesse die Konflikte der im
„echten und engen Elend“ lebenden Unterschicht. Ist deren Schicksal als Gegenstand einer Tragödie
brauchbar oder selbstverschuldet und so nur Stoff für eine banale Komödie? Spitta kämpft für das
Tragödienrecht der John und trägt das Schicksal seiner ins Elend gefallen Schwester mit gefühlvoller
Geste Hassenreuters Tochter Walburga vor. Der Intellektuelle und der ehemalige Theaterdirektor
beginnen einen Wettstreit und es scheint fast, als „inszenierten“ sie, dass die verzweifelte Frau John
dem polnischen Dienstmädchen Piperkarcka ihr uneheliches Kind abkauft. Hassenreuter gratuliert
Frau John mit großer Geste zur Geburt. Auch ihr aus Hamburg zurückgekehrter Ehemann ahnt
offenbar nichts von dem Betrug. Doch das polnische Dienstmädchen will ihr Kind zurück, und Frau
John schiebt der Piperkarcka das kranke Kind der asozialen Nachbarin Knobbe unter. Im Theaterfundus des Direktor Hassenreuters gerät der soziale Konflikt außer Kontrolle und Frau John für ihr
kleines Familienglück auf die schiefe Bahn.
Hauptmanns dramaturgischer Grundeinfall, die aufbrechenden sozialen Widersprüche am Beginn
des 20. Jahrhunderts zwischen Theaterleuten und Bewohnern einer Berliner Mietskaserne auszutragen, enthält eine Fülle von Interpretations- und Wirkungsmöglichkeiten. Im Gegensatz zu zahlreichen
aktuellen Inszenierungen untersucht der griechischen Regisseur Yannis Houvardas nicht die Nähe
sondern die Distanz zwischen den sozialen Schichten des Stückes. Die Fremdheit sowie die Konkretheit der Figurensprache der proletarischen Unterschicht inszeniert er als Sprachmaske in medialer
Stilisierung. Houvardas interessiert der künstliche Charakter des sozialen Dialektes sowie die mythologischen Aura von Hauptmanns Proletarierfiguren. Die bürgerliche Mittelschicht in Persona des
Theaterdirektors Hassenreuter und seiner Familie sowie des Kandidaten Spitta zeichnet Hourvadas
in ihrer Hybris aber auch in ihrer Unsicherheit als selbstbezogene Bürger, die, in Zeiten der Krise vom
sozialen Abstieg bedroht, immer wieder das Glück auf ihrer Seite haben.
Die 1911 in Berlin uraufgeführte Berliner Tragikomödie „Die Ratten“ gilt neben seinen „Webern“
und dem „Biberpelz“ als Hauptmanns erfolgreichstes Theaterstück. Trotz Berliner Dialekt und lokaler
Verortung wurden „Die Ratten“ bereits im Jahr ihrer Uraufführung auch in München gespielt. Nach
den berühmten Inszenierungen von Otto Falkenberg (1932) und Hans Schweigart (1952) jeweils mit
Therese Giese in der Rolle der Frau John an den Münchner Kammerspielen, sowie weiteren Inszenierungen in den 1960er und 70er Jahren wird seine Berliner Tragikomödie nach mehr als drei Jahrzehnten erstmals wieder in München aufgeführt.
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Oliver Nägele Harro Hassenreuter, ehemaliger Theaterdirektor
Ulrike Willenbacher Therese Hassenreuter, seine Frau
Marie Seiser Walburga Hassenreuter, seine Tochter
Thomas Gräßle Erich Spitta, Kandidat der Theologie
Rütterbusch,
Sophie Melbinger/ Genija Rykova Alice
Schauspielerin
Michele Cuciuffo John, Maurerpolier
Valery Tscheplanowa Frau John
Tom Radisch Bruno Mechelke, ihr Bruder
Katharina Schmidt Pauline Piperkarcka, Dienstmädchen
Sierk Radzei Quaquaro, Hausmeister
Hanna Scheibe Frau Sidonie Knobbe
Sara Tamburini Selma, ihre Tochter
Musiker— Michael Gumpinger
DIE RATTEN
Berliner Tragikomödie
von Gerhart Hauptmann
Regie
Bühne Kostüme
Musik
Licht
Dramaturgie
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Yannis Houvardas
Katrin Nottrodt
Esther Bialas
Rudolf Gregor Knabl
Tobias Löffler
Andrea Koschwitz
Regieassistenz Maria Weise
Bühnenbildassistenz Franziska Boos,
Margarethe Mast
Kostümassistenz Johanna Hlawica
Regiepraktikum Heilwig Schwarz-Schütte
Kostümpraktikum Lisa Schmitt-Hausser
Bühnenbildhospitanz Mara Metzmacher
Kostümhospitanz Anna Fenderl
Inspizienz Johanna Scriba
Soufflage Thomas Rathmann
Bühnenmeister Guido Ernst, Karl-Heinz Weber
Beleuchtungsmeister Fabian Meenen
Stellwerk Zvonimir Petrovic
Ton Michael Gottfried
Requisite Armin Aumeier, Frank Kutzora, Susanne Roidl
maske Greta Bastir, Isabel Krämer, Babett Wagner
Garderobe Dieter Jung, Ute Stritzel
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Realismus als Illusion
Katharina Schmidt + Oliver Nägele
Hautnah am Leben sollte ein Kunstwerk für die Naturalisten sein. In detailgenauen Bildern, Romanen und Theaterstücken zeigten die Künstler schonungslos den Alltag und die Nöte der Land- wie der
wachsenden Stadtbevölkerung, die verschärften Arbeitsbedingungen in den Fabriken, Obdachlosigkeit und Armut, aber auch Volksbräuche oder häusliche Szenen. Der Naturalismus als internationale
Kunstströmung (1875-1918), die sich von Frankreich bis nach Skandinavien und die USA ausbreitete, wurde 2010 in einer großen Ausstellung im Van Gogh Museum (Amsterdam) und im Ateneum Art
Museum, Finnish National Gallery (Helsinki) vorgestellt. Die Ausstellung und der Katalog zeigten auf
verblüffende Art und Weise die enge Verbindung der naturalistischen Malerei zur Fotografie sowie den
Anfängen des Stummfilms und beschrieben sehr eindringlich die Intensität des künstlerischen Schaffens der naturalistischen Künstler.
Valery Tscheplanowa + Tom Radisch
„Scheinbar ist nichts einfacher, als Lumpensammler, Bettler oder sonstige Arbeiter zu malen,
aber es gibt kein Motiv in der Malerei, das so schwer wäre wie diese alltäglichen Figuren.” Schrieb
Vincent van Gogh seinem Bruder Theo, als er 1885 monatelang an seinem ersten großen Gemälde
„Die Kartoffelesser“ arbeitete. Van Gogh hatte nicht nur sein Hab und Gut unter den Minenarbeitern
verteilt, sondern versuchte die Realität der Arbeiterfamilien zu begreifen. Irgendwann begann er sie
auch zu zeichnen und war fasziniert von deren menschlicher Tiefe. Er kaufte sich billige SchwarzWeiß-Drucke von naturalistischen Malern, weil sie ihn, im Gegensatz zur akademischen Malerei tatsächlich inspirierten. An seinen Bruder Theo schrieb er weiter: „Gern hätte ich dir zu diesem Tag das
Bild von den Kartoffelessern geschickt, doch obwohl es gut vorwärtsgeht, ist es doch noch nicht ganz
fertig. Obschon ich das eigentliche Bild in verhältnismäßig kurzer Zeit gemalt haben werde, und zwar
größtenteils aus dem Kopf, so hat es doch einen ganzen Winter Malen von Studienköpfen und Händen
gekostet. (...) Ich habe mich nämlich sehr bemüht, den Betrachter auf den Gedanken zu bringen, dass
diese Leutchen, die bei ihrer Lampe Kartoffeln essen, mit denselben Händen, die in die Schüssel langen, auch selber die Erde umgegraben haben; das Bild spricht also von ihrer Hände Arbeit und davon,
dass sie ihr Essen ehrlich verdient haben. Ich habe gewollt, dass es an eine ganz andere Lebensweise
gemahnt als die unsere, die der Gebildeten.“
Realismus oder Illusion? Diese Frage stellt sich in der Gegenwart umso deutlicher, da die Darstellbarkeit des sozialen Elends in der Bildenden Kunst oder auf der Theaterbühne immer schwieriger
geworden ist. Wie schafft man es, die gesellschaftliche Misere, der immer größer werdenden, in der
Öffentlichkeit aber kaum wahrnehmbaren, Kluft zwischen den sozialen Schichten auf der Bühne darzustellen, eine Kluft, die doch da ist und laut den neuesten Statistiken immer größer wird?
Egon Friedell erkannte in seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit“ im Deutschen Naturalismus
„einen wilder Heißhunger nach Realität“, um gleichzeitig festzustellen „betrachtet man die naturalistischen Dichtungen, zum Beispiel die Theaterstücke, etwas genauer, sozusagen mit dem Mikroskop,
so stellt sich heraus, dass sie genauso Kunstwerke, nämlich arrangierte, adaptierte, interpolierte,
interpretierte Wirklichkeit waren wie ihre Vorgänger. Sie verpönten den Monolog und das Beiseite
sprechen als unnatürlich, aber sie ersetzten diese durch die sorgfältig berechnete Pause und jenen
durch die genau ausgearbeitete Pantomime, was ebenfalls gestelltes Theater ist, nur raffinierteres
und daher wirksameres. Der Naturalismus war, ähnlich wie die Kultur der Gründerzeit, ein Stil der
Stillosigkeit. Schon Maupassant hat vor der ‚photographie banale de la vie‘ gesprochen. Aber Photographien mögen banal sein, naturalistisch sind sie nur für die Zeitgenossen. Den Späteren erscheinen
sie wie altertümliche, verschnörkelte, höchst stilvolle Holzschnitte. Dies zeigt sich am stärksten bei
dem stärksten Naturalisten der 1890er Jahre, Gerhart Hauptmann. Seine Dramen sind Volkslieder,
stark und zart, herb und sentimental, primitiv und unergründlich, erdnah und weltentrückt.“
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Georg Trakl
Die Ratten
Im Hof scheint weiß der herbstliche Mond.
Vom Dachrand fallen phantastische Schatten.
Ein Schweigen in leeren Fenstern wohnt,
Da tauchen leise herauf die Ratten
Und huschen pfeifend hier und dort,
Und ein gräulicher Dunsthauch wittert
Ihnen nach aus dem Abort,
Den geisterhaft der Mondschein durchzittert
Und sie keifen vor Gier wie toll
Und erfüllen Haus und Scheunen,
Die von Korn und Früchten voll.
Eisige Winde im Dunkel greinen.
1910
Gerhart Hauptmann
Im Jahr 1885, dem Jahr des Durchbruchs des Naturalismus in Deutschland mit der Publikation von
Arno Holz’ „Das Buch der Zeit“ und der ersten Ausgabe von Michael Georg Conrads Münchner Zeitschrift „Die Gesellschaft - realistische Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben“,
lebte Gerhart Hauptmann in Berlin Moabit. Nach seinem abgebrochenen Kunststudium in Dresden,
studierte er an der Universität Berlin und nahm Schauspielunterricht bei Alexander Heßler. Heßler war
wie Hassenreuter ein ehemaliger Theaterdirektor der Klassischen Schule, der sich mit seinem Eleven
Hauptmann auf dem Dachboden einer zum Mietshaus umgebauten Kaserne in der Alexanderstraße
in der Mitte von Berlin heftige Streitgespräche geliefert hat. Der dreiundzwanzigjährige Hauptmann
schwärmte von Büchner und hielt ein Jahr später im Dichterverein „Durch“ einen flammenden Vortrag über dessen „Woyzeck“. Denn Hauptmann, am 15. November 1862 in Schlesien als viertes Kind
eines verarmten Hotelbesitzers geboren, lernte früh mit sozialen Konflikten leben. 1877 musste der
Vater das Hotel verkaufen und übernahm eine einfache Bahnhofswirtschaft. In seinem Theaterstück
„Fuhrmann Henschel“ (1898) hat sein Sohn den sozialen Abstieg der Familie beschrieben. Hauptmann
brach eine Lehre als Landwirt ab und konnte anfangs nur dank des Erbes seiner ersten Frau als freier
Schriftsteller existieren. Von 1886 bis 1888 lebte er mit ihr und seinen Kindern in Erkner im Osten
Berlins. Hier entstand auch sein erstes naturalistisches Drama „Vor Sonnenaufgang“, das 1889 mit
großem Erfolg und Skandal an der Freien Bühne im Berliner Lessingtheater aufgeführt wurde. Es folgten „Das Friedensfest“ (1890), „Einsame Menschen“ (1891), „ Die Weber“ und „Der Biberpelz“ (1893).
Spätestens nach seinen „Webern“, die im überzeichneten schlesischen Dialekt die soziale Misere
der Industrialisierung und ihre sozialen Umbrüchen Mitte des 19. Jahrhunderts zum Thema hatten,
wurde Gerhart Hauptmann, wie Fontane über ihn schrieb, „zum wirklichen Hauptmann der schwarzen Realistenbande“.
In den folgenden Jahren spielte man Hauptmanns Theaterstücke in ganz Europa. Nach seiner
ersten Amerikareise und während eines längeren Griechenlandaufenthaltes entstanden um 1910 „Die
Ratten“. In seiner „Berliner Tragikomödie“ thematisierte er nicht nur die Härte der sozialen Konflikte
in der Umbruchsituation der modernen Industriegesellschaft einer Großstadt. Hauptmann ging einen
Schritt weiter und beschrieb die Motive der naturalistischen Kunstbewegung und des philosophischen
Positivismus seiner Zeit bereits aus kritischer Distanz. Seine persönlichen Erlebnisse als junger Schauspieleleve in der Berliner Alexanderstraße wurden zwei Jahrzehnte später zum Ausgangspunkt der
kritischen Befragung seiner eigenen erfolgreichen Theaterarbeit.
„Viele meinen heute, dass diese Berliner Tragikomödie, die so naturalistisch sein möchte und
es so wenig ist, geschrieben in einem Dialekt, der in solcher Weise niemals gesprochen wurde,
zum Größten gehört, was Hauptmann gestaltet hat.“ Hans Mayer
Hermann Bahr, notierte in seinem, in der Wochenschrift Pan 1 (1910/1911) veröffentlichten Tagebuch: „2. Februar. Berlin. Lessingtheater, die Ratten. Ich habe seit Jahren im Theater Stärkeres nicht
erlebt … Da stehen auf einmal auf der Bühne, man weiß nicht woher, man weiß nicht warum, ohne
Zusammenhang eine Engelmacherin, ein Schutzmann, eine verluderte Person, ein Dienstmädchen,
ein schwätzender Theatermensch und ein paar Jungen herum, und jedes redet vor sich hin und keins
weiß, was das andere will, und plötzlich bemerkt einer, dass das Kindchen in den Armen der Engelmacherin schon tot ist, und nun sagen sie nichts mehr, nur der alte Komödiant schwätzt noch – darin
ist für mein Gefühl das Leben und sein Schatten, der Tod mit solcher Intensität da, wie nur noch etwa
im Lear, wenn die drei Narren, der wirkliche, der von Beruf und der falsche, in der Hütte beisammen
sind. Das lässt mich auf den Grund des Lebens sehen; wohin kein Gedanke, wohin nur Ahnung reicht.
Das Herumstehen der Menschen im Dasein, und dass keiner je den anderen erlangen kann, bis der
Tod unter sie tritt, dann erinnern sie sich erst …und das Verstummen, das Verlöschen von Begierden,
Leidenschaften, Mächten, wenn der Tod ins Zimmer kommt … mich greifst mit solchem Grauen an,
als wäre mir der Nabel des Schicksals entblößt! Aber Artisten sagen: auch jede Lokalnotiz enthält
das Menschenschicksal. Ja. Sie haben recht, es ist wirklich am Ende nicht mehr als eine Lokalnotiz, zur Anschauung gebracht. Aber ist der Oedipus mehr? Nur dass da der Chor zur Lokalnotiz noch
Betrachtungen macht. Ich aber brauche den Chor nicht, ich mache mir meine Betrachtungen selbst,
darin stört er mich bloß. Der Freund Hauptmanns jedoch, der sein neues Stück an den alten misst,
sagt: es ist nicht fertig. (Bahr verweist hier auf die Kritik von Alfred Kerr vom 15. Januar 1911.) Er hat
Recht, es ist nicht so fertig wie jene, es ist nicht so deutlich, es hat Schleier. Aus einer künstlerischen
Schwäche Hauptmanns? Aus Ungeduld? Aus Nachlässigkeit? Vielleicht. Aber dann lass mich diese
Nachlässigkeit segnen! Denn es ist die Nachlässigkeit, die das Leben selbst hat. Und das Leben macht
auch nichts fertig, habt ihr das noch nicht bemerkt? Mein Photograph gibt mir bisweilen Platten zurück, weil er sie „verwackelt“ findet. Und das sind dann immer die einzigen, die für mich die Unwahrheit der Photographie nicht haben. Wie jene van Goghs am stärksten auf mich wirken, von denen man
zu sagen pflegt, der Maler müsse betrunken gewesen sein. Wenn ich nämlich im Frühling den Wind
über meinen Acker streichen sehe, kommt mir auch vor, die Natur müsse betrunken sein; und erst der
Photograph ernüchtert sie. Ich kann nur sagen, auf mich hat in Hauptmanns letzten Stücken immer
gerade das Undeutliche, das Unfertige, das Schwankende, Verwischte, Zitternde mit einer Macht
gewirkt, die seine fertigen Stücke nicht über mich hatten, und ich finde dass er gerade dort, wo die
Freunde, die ausführende Kraft vermissen, über den Naturalismus hinaus in einen Bezirk kommt, den
ich noch nicht anders nennen kann als mit dem zerriebenen Wort: mystisch. Ich weiß, dass ich da
die besten Köpfe gegen mich habe. Aber was soll, was kann ein ehrlicher Mann als sich an seinen
Eindruck halten?“
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Michele Cuciuffo + Valery Tscheplanowa
Oliver Nägele + Valery Tscheplanowa + Sophie Melbinger
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Von Ratten und rastlosen Seelen
Katharina Schmidt + Sara Tamburini +
Hanna Scheibe
Sophie Melbinger + Ulrike Willenbacher + Oliver Nägele
Hauptmann selbst schrieb 1910 über den Ursprung und den Reichtum seiner plastisch gezeichneten Figuren: „Ich habe wohl kaum beim Werden meiner Werke anders als gewissermaßen schweigend
zugeschaut und sozusagen medial gedient. (...) Alle Urteile sind Vorurteile. (...) Es gibt nichts so
Grauenvolles, als die Fremdheit derer, die sich kennen.“ Bezugnehmend auf die Titelmetapher seiner
Tragikomödie hatte er in seinen autobiographischen Schriften auf die „Literaturbohème von damals
(Mitte der 1880er Jahre) mich inbegriffen“ verwiesen, „die in einem gewissen Sinne wohl nicht den
Staat, aber die herrschende Literatur von damals unterminierten. Die Tummelplätze dieser Bohème
lagen in ebenen dumpfen Winkeln und Verstecken, die bei ihr üblich und manchmal nur wenig von
den Spelunken des Verbrechens bestachen. Eine gewisse Lichtscheuheit mochte mitsprechen, da
mancher dieser Zigeuner – es war unter dem Sozialistengesetz – den Lehren der Sozialdemokratie
nicht allzu fernstand.“ Die politische Distanz Hauptmanns zu seiner eigenen Jugend mag im Jahr 1938
- in dem seine autobiographische Schrift „Zweites Vierteljahrhundert“ entstand - nicht weiter verwunderlich sein. Doch sein Hinweis auf die Poeten und Künstler des Deutschen Naturalismus zeigten
deutlich, dass es ihm hier in seiner Rattenmetapher nicht allein um die halbkriminelle Unterschicht
ging. Hauptmann versucht einen gesellschaftlichen Gesamtzustand zu beschreiben, der den „Deutschen Zuständen“ der Jetztzeit nicht unähnlich ist. Die wirtschaftliche Entwicklung der Gründerjahre
hatte in den deutschen Großstädten nach Industrialisierung und Wohlstand auch Armut und Arbeitslosigkeit zur Folge. Vor der neuen bürgerlichen Mittelschicht stand die Gefahr ihren bescheidenen
Wohlstand zu verlieren. Trotz positiver Grundeinstellung bestimmten Abstiegsängste und eine neue
Form der Unsicherheit ihren Alltag.
Allgemeine Entsicherung prägen nach Wilhelm Heitmeyer und seinen Untersuchungen der „Deutschen Zustände“ (Berlin, 2012) auch die gegenwärtige Bundesrepublik. Diese Entsicherung verbindet
sich mit der politischen und kulturellen Richtungslosigkeit und dem Verlust des gesellschaftlichen
Zusammenhalts: „Jede Zeit trägt ihre Kennzeichnungen. Es können Zeiten mit positiven Konnotationen sein, aber auch mit negativen. Hier wird die These vertreten, dass das zurückliegende Jahrzehnt
von Entsicherung, Richtungslosigkeit im Sinne einer fehlenden sozialen Vision markiert ist, in dem
auch die schwachen sozialen Gruppen sowie solche mit spezifischen Lebensstil eine Ideologie der
Ungleichheit sowie psychischen und physischen Verletzungen erfahren.“
Der Philosoph Byung-Chul Han beschäftigt sich in seinem Buch „Topologie der Gewalt“ mit
den Folgen allgemeiner Unsicherheit und der scheinbaren Unsichtbarkeit der Negativität von
Herrschaft, Feindschaft und Gewalt in der Jetztzeit. Gewalt zieht sich, seiner Meinung nach
„in subkutante und neurotische Räume“ zurück. Sie verlagert sich vom Sichtbaren ins Unsichtbare.
„Das gesellschaftIich-politische Geschehen wird nicht mehr von dem inzwischen archaisch klingenden Widerstreit von Ideologien und Klassen bestimmt. Die Positivisierung der Gesellschaft schafft
aber die Gewalt nicht ab. Die Gewalt geht nicht nur von der Negativität des Widerstreits oder der
Konflikte, sondern auch von der Positivität des Konsenses aus. (…) Die Tatsache, dass der Kampf
heute nicht zwischen den Gruppen, Ideologien oder Klassen, sondern zwischen den Individuen
stattfindet, ist für die Krise der Leistungsgesellschaft nicht so ausschlaggebend. Das Problematische ist nicht die individuelle Konkurrenz an sich, sondern ihre Selbstbezüglichkeit, die sie zu einer
absoluten Konkurrenz verschärft. Das Leistungssubjekt konkurriert nämlich mit sich selbst und gerät
unter den destruktiven Zwang, sich selbst überbieten zu müssen. (…) Das Ich bekämpft sich selbst,
führt Krieg mit sich selbst. Die Gesellschaft der Positivität, die sich von allen Fremdzwängen befreit
zu haben glaubt, verstrickt sich in destruktive Selbstzwänge. Die psychischen Erkrankungen wie
Burnout oder Depression, die Leitkrankheiten des 21. Jahrhunderts, weisen alle autoaggressiven
Züge auf. Man tut sich selbst Gewalt an und beutet sich selbst aus. An die Stelle der fremdverursachten Gewalt tritt eine selbstgenerierte Gewalt, die fataler ist als jene, denn das Opfer dieser
Gewalt wähnt sich in Freiheit. (…) Angesichts der fehlenden ‚Ortung‘ kann die Seele nicht einrasten.
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Sie rastet aus und wird rastlos. Wo stabile, objektivierbare Identitäts- und Orientierungsmuster wegbrechen, kommt es zu einer psychischen Instabilität und Charakterstörung. Die Unabschließbarkeit
und Unabgeschlossenheit des Selbst macht nicht nur frei, sondern auch krank.“
Bin ick denn hier von
Jespenster umjeben?
… Wat is det?
De Sonne scheint!
et is hellichter Tag!
ick weeß nich:
sehen kann ick et nich!
Det kichert, det wispert,
det kommt jeschlichen!
und wenn ick nach jreife,
denn is et nischt. «
Michele Cuciuffo +
Valery Tscheplanowa
»
Oliver Nägele + Michael Gumpinger +
Katharina Schmidt
John
Thomas Gräßle + Marie Seiser
Frau John irrt durch die Großstadt Berlin. Eine verwirrte Frau mit einem gestohlenen Kind auf der
Flucht. Jahrelang hat sie die „Jroschens mühsam zusammengescharrt“, den Verdienst des Mannes
gut angelegt und „uff jede Art wat zuzuverdien“ versucht. Nun steht sie vor ihrem Mann und fragt
nach dem Warum. In einer der zahlreichen Fassung seiner „Ratten“ lässt Hauptmann seine Frau John
am Ende des Stückes im Wahnsinn enden, verschärft aber zur Uraufführung des Stückes den Schluss
seiner Tragikomödie mit den Selbstmord der verzweifelten Putzfrau.
Sierk Radzei + Katharina Schmidt + Marie Seiser + Ulrike Willenbacher
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Sozialstaatsdämmerung
Deutschland als Industrieland wie als Exportweltmeister wird vom globalen Sturm voll getroffen, das ist sicher. Umso entscheidender wäre es deshalb, mit Blick auf die Großwetterlage den Kurs
zu bedenken und rechtzeitig alles für die Stabilität des Staatsschiffes zu tun. Dafür gibt es jedoch
keinerlei Anzeichen. Im Gegenteil. Obwohl die mittlerweile vier offiziellen Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesrepublik seit dem Jahr 2001 schwarz auf weiß dokumentieren, dass die Ladung
längst verrutscht ist und die Gewichte sich rasant verschoben haben, wird der falsche Kurs beibehalten und die irre Schlagseite nicht behoben: Das untere Drittel der Bevölkerung versinkt bereits in
Armut und Schulden, das mittlere Drittel rutsch hinterher, wird abwärtsmobil, und die obersten zehn
Prozent („Dezil“) werden von der Entwicklung umso mehr nach oben gehievt, je tiefer die anderen
abrutschen. Die Bundesrepublik Deutschland ist in den letzten Jahren zum Paradies für Superreiche
geworden, in dem rund hundert Milliardäre und etwa 400 000 (Multi)-Millionäre leben. Dem obersten
Dezil der Bevölkerung gehört heute fast zwei Drittel des Privatvermögens und bei ihm landen circa
35 Prozent des Nettogesamteinkommens. Das Oberste 1 Prozent an der Spitze nennt sogar mehr als
ein Drittel aller Vermögen sein Eigen.
Hanna Scheibe + Oliver Nägele
*
Um die acht Millionen Menschen in Deutschland sind im Niedriglohnsektor beschäftigt. Sie können
von ihrer oft harten Arbeit allein nicht leben.
*
Unglaublich aber wahr: Obwohl die Geburtenraten in Gesamtdeutschland seit 1965 von über
1,35 Millionen auf rund 650 000 im Jahr 2012 glatt halbiert wurden, stieg die Anzahl der Kinder im
Sozialhilfe- bzw. Hartz-IV-Bezug auf das 16-Fache; stand 1965 nur jedes 75. Kind unter sieben Jahren
zeitweise oder auf Dauer im Leistungsbezug, so trifft dies heute jedes fünfte Kind insgesamt zu.
2,5 Millionen Kinder wurden zwischenzeitlich gezählt, in manchen Stadtteilen Berlins, Bremens und
anderswo reichen die Quoten bereits an die 50 Prozent heran. Anfang der 1990er Jahre waren es
„nur“ eine Millionen; seit damals hat die Gesamtzahl der Kinder unter zwanzig aber Jahr um Jahr im
Schnitt um circa 15 000 abgenommen. Und dieser relative und absolute Zuwachs der Armut ist auch
etwa nicht darauf zurückzuführen, dass Hartz IV so viel großzügiger wäre als die auf dem Höhepunkt
des Wirtschaftswunders 1963 eingerichtete Sozialhilfe. Im Gegenteil: Die für das Leistungsniveau
maß-gebenden Existenzminima wurden über die Jahrzehnte immer weiter heruntergeschraubt; um
das Existenzminimum von 1965 zu erreichen, müssten die Hartz IV-Leistungen heute um mehr als
30 Prozent angehoben werden. Nach den Maßstäben von damals läge der Anteil der Kinder im Sozialhilfebezug heute deshalb schätzungsweise beim Doppelten der gegenwärtigen Quote, denn die Hälfte
aller Kinder wird nach Angaben des Statistischen Bundesamtes in prekären Einkommensverhältnissen
rund um die Armutsgrenze groß. Auch andere amtliche Materialien belegen, dass schätzungsweise
5,9 Millionen Kinder, das wären rund ein Drittel aller kindergeldberechtigten Kinder, in Haushalten
mit einem Einkommen der Eltern von bis zu 15 300 Euro im Jahr und damit weit unter der Grenze
relativer Armut leben. Unglaublich aber wahr: Je weniger Kinder wir haben, desto schlechter werden
sie behandelt. Eine der reichsten Nationen der Welt lässt ihren Nachwuchs verkommen.
Jürgen Borchert
Katharina Schmidt + Valery Tscheplanowa
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RESIDENZTHEATER Spielzeit 2013/2014
INTENDANT Martin Kušej GESCHÄFTSFÜHRENDER DIREKTOR Holger von Berg TECHNISCHER DIREKTOR
Aufführungsrechte Felix Bloch Erben GmbH &
Thomas Bautenbacher KOSTÜMDIREKTORIN Elisabeth Rauner KÜNSTLERISCHER DIREKTOR Roland Spohr
Co.KG, Verlag für Bühne, Film und Funk, Berlin
CHEFDRAMATURG Sebastian Huber PRESSE- U. ÖFFENTLICHKEITSARBEIT Sabine Rüter TECHNIK Matthias
TEXTNACHWEISE
Neubauer, Natascha Nouak WERKSTÄTTEN Michael Brousek AUSSTATTUNG Bärbel Kober, Maximilian Lindner
Bellmann Werner: „Gerhart Hauptmann - Die Ratten.
BELEUCHTUNG/VIDEO Tobias Löffler TON Michael Gottfried REQUISITE Dirk Meisterjahn PRODUKTIONSLEITUNG
Erläuterungen und Dokumente“, Stuttgart 1990
KOSTÜM Enke Burghardt DAMENSCHNEIDEREI Gabriele Behne, Petra Noack HERRENSCHNEIDEREI Carsten
Borchert Jürgen: „Sozialstaatsdämmerung“,
Zeitler, Aaron Schilling MASKE Andreas Mouth GARDEROBE Cornelia Faltenbacher SCHREINEREI Stefan
München 2013
Baumgartner SCHLOSSEREI Ferdinand Kout MALERSAAL Anthony Blades, Natalie Schaffler, Hannes Zurheiden
Friedell Egon: „Kulturgeschichte der Neuzeit“,
TAPEZIERWERKSTATT Peter Sowada HYDRAULIK Karl Daiberl GALERIE Christian Unger TRANSPORT Harald Pfähler
München, 2011
BÜHNENREINIGUNG Adriana Elia
Han Byung-Chul: „Topologie der Gewalt“, Berlin 2011
Gerhart Hauptmann: Die Ratten, Berlin 2006
Georg Trakl: „Sämtliche Werke und Briefwechsel“,
Frankfurt am Main und Basel 2007
Redaktion Andrea Koschwitz Fotos Andreas Pohlmann GESTALTUNG Herburg Weiland, München
DRUCKEREI Weber Offset HERAUSGEBER Bayerisches Staatsschauspiel, Max-Joseph-Platz 1, 80539 München
Frau John
Angst! – Sorje!
– Da wisst ihr
nischt von!
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