Musik und „Schreibabys“ Gehörte Töne als Strukturhilfe 4. Sonderausbildung für Kinder- und Jugendlichenpflege Bildungszentrum / Landeskrankenhaus Salzburg Universitätsklinikum der Paracelsus medizinischen Privatuniversität MUSIK UND „SCHREIBABYS“ GEHÖRTE TÖNE ALS STRUKTURHILFE schriftliche Abschlussarbeit eingereicht von DGKS Regina Habjan Betreuungslehrerin Ursula Mußhauser, Bakk. Salzburg, Juni 2009 1 Vorwort Nach meinem Diplom zur allgemeinen Gesundheits- und Krankenschwester entschloss ich mich dazu die Sonderausbildung für Kinder- und Jugendlichenpflege anzuschließen. Im Rahmen dieser Ausbildung absolvierte ich ein Praktikum auf der integrativen Wochenbettstation in Villach. Dort erzählte mir eine Mutter von drei Kindern, dass ihr zweites Kind ein „Schreibaby“ war. Sie berichtete mir die klassische Geschichte: Kind, das (subjektiv) den ganzen Tag schreit - daraufhin körperliche Abklärung beim Arzt - der sagt, dass es sich um die sogenannten DreiMonats-Koliken handle - dann wird die Nahrung umgestellt und das Kind schreit trotzdem weiter - am Spielplatz empfiehlt eine andere Mutter, dass es für „solche“ Kinder die Schreiambulanz gibt – dort sagt man, dass es auf Grund von Personalmangel den nächsten freien Termin erst in drei Monaten gäbe… Was in drei Monaten ohne Therapie bzw. entsprechender Hilfe im schlimmsten Fall passieren kann, lesen wir dann nicht selten in der Zeitung, wenn es heißt: „Baby schwer misshandelt“ oder „Tochter zu Tode geschüttelt“! Nach meinem Praktikum habe ich mich zunehmend mit dem Thema „Schreibaby“ beschäftigt und entdeckt, dass in der Therapie von „Schreibabys“ auch immer wieder mit Musik gearbeitet wird. Da Musik in meinem Leben eine sehr wichtige und große Rolle spielt, war mein Interesse an dem Thema „Schreibabys“ und Musik sehr schnell geweckt. Musik ist etwas, dass in jedem Menschen, egal welcher Altersgruppe, Gefühle, Emotionen und Erinnerungen auslöst. Noch dazu kann sie in der Behandlung von „Schreibabys“ von den Eltern selbst dosiert, reguliert und angewendet werden. Bedanken möchte ich mich bei meiner Betreuungslehrerin Ursula Mußhauser, Bakk., und bei meiner Ausbildungsleiterin Maria Rainer, IBCLC, für die professionelle Unterstützung bei dieser Arbeit. Weiters bedanke ich mich bei meiner Familie und meinen Freunden für das Korrekturlesen und für ihre Geduld. 2 Inhaltsverzeichnis Vorwort __________________________________________________________ 1 1. Einleitung ______________________________________________________ 3 2. Das „Schreibaby“ – exzessives Schreien ____________________________ 4 2.1 Definition_____________________________________________________ 4 2.2 Prävalenz, Verlauf und Komorbidität _______________________________ 4 2.3 Ursachen des exzessiven Schreiens _______________________________ 2.3.1 Der Einfluss des modernen Lebens ____________________________ 2.3.2 Schwangerschaft und Geburt _________________________________ 2.3.3 „Dreimonatskolik“___________________________________________ 2.3.4 Soziale Hintergründe ________________________________________ 2.3.5 Defizit des Säuglings in der Selbstregulationsfähigkeit ______________ 5 5 5 6 6 6 2.4 Belastungen für Eltern eines „Schreibabys“ __________________________ 6 3. Musik im Leben eines Menschen ___________________________________ 8 4. Musik im Leben eines Kindes ______________________________________ 9 4.1 Das Hörorgan bzw. die ersten Hörerfahrungen eines Kindes ____________ 9 4.2 Musik in der kindlichen Entwicklung _______________________________ 10 5. Musik und Schreibabys __________________________________________ 11 5.1 Der Schrei als Schritt ins Leben __________________________________ 11 5. 2 Die Gestaltung des Alltags _____________________________________ 11 5.3 Eigenschaften des Mediums Musik in Bezug auf „Schreibabys“ _________ 12 5.4 Möglichkeiten von Musik in der Behandlung von „Schreibabys“ _________ 5.4.1 Die freie Improvisation______________________________________ 5.4.2 Stimm-/Liedergebrauch _____________________________________ 5.4.3 Musikalische Begleitung durch einen Therapeuten________________ 5.4.4 Gustl – ein Fallbeispiel _____________________________________ 12 12 13 14 14 5.5 Möglichkeiten von Musik in der Behandlung von Eltern von „Schreibabys“ _ 15 6. Zusammenfassung______________________________________________ 16 Literaturverzeichnis _______________________________________________ 18 3 1. Einleitung Säuglinge mit blauen Flecken, Rippenbrüchen, unkontrollierten Zuckungen, Atembeschwerden oder sogar Hirnblutungen gehören in Krankenhäusern mittlerweile leider fast zum Alltag. Oft werden diese Symptome falsch eingeordnet und den Ärzten ist nicht bewusst, dass es sich um ein „Shaken Baby Syndrom“ (Schütteltrauma bei Babys) handeln kann. Das wird so bezeichnet, weil die Verletzungen vom Versuch verzweifelter Eltern stammen, ihr schreiendes Baby zum Schweigen zu bringen. Die meisten Babys, die so misshandelt werden, sind sogenannte „Schreibabys“, die viel mehr schreien und weinen als ihre Altersgenossen (vgl. http://www.mdr.de/brisant/gesundheit/1287783.html, 07.04.2009, S.1). Mit diesem erschreckenden Einstieg möchte ich auf die Wichtigkeit des Themas „Schreibaby“ hinweisen und zeigen, wie notwendig es ist, dass man diesen Babys und ihren dadurch belasteten Eltern Unterstützung anbietet. Eine Möglichkeit der Unterstützung ist Musik. Musik hat nicht nur eine beruhigende Wirkung sondern bietet dem Baby auch Struktur. Und genau das ist es, was schreiende Säuglinge unter anderem brauchen: einen Rhythmus. Ihr Leben ist chaotisch, denn sie können die vielen Reize nicht verarbeiten. Musik kann dabei helfen die Reize zu reduzieren, bzw. dass sich das Baby langsam an die Reize gewöhnt (vgl. Büning, 2002, S. 44 und S. 50). Aus diesen Überlegungen ergeben sich für mich folgende Fragen: 1) Wann ist ein Baby ein „Schreibaby“? 2) Welche Belastungen ergeben sich für die Eltern eines „Schreibabys“? 3) Welche Wirkung hat Musik auf den Menschen? 4) Welchen Beitrag kann Musik in der Behandlung von „Schreibabys“ und deren Eltern leisten? Nach der Begriffserklärung „Schreibaby“ soll kurz auf die Ursachen und anschließend auf die Belastungen, die sich für Eltern ergeben, eingegangen werden. Weiters werden die Eigenschaften von Musik und deren Wirkung auf den Menschen dargestellt. Abschließend werden die bisherigen Möglichkeiten des Einsatzes von Musik in der Behandlung von „Schreibabys“ aufgelistet. 4 2. Das „Schreibaby“ – exzessives Schreien 2.1 Definition Vorab soll hier festgehalten werden, dass man in der Forschungsliteratur nicht den Begriff „Schreibaby“ sondern den Begriff exzessives Schreien verwendet, bzw. vom exzessiv schreienden Säugling spricht. Die ICD-10 bietet zurzeit für spezifische Erscheinungsformen von Verhaltensstörungen im frühen Kindesalter nur unzureichende Möglichkeiten der Klassifikation an. Deshalb wird auch heute noch sehr oft die so genannte Dreier-Regel nach Wessel angewandt: „Sie verlangt, dass die Schrei- und Unruhephasen länger als drei Stunden pro Tag, öfter als 3-mal die Woche und insgesamt länger als drei Wochen anhalten müssen, um von exzessivem Schreien sprechen zu können“ (Bolten, 2009, S. 52). Wenn Eltern die Schrei- und Unruheneigungen ihres Babys subjektiv als so problematisch und belastend empfinden, dass sie deswegen klinische Hilfe suchen, wird das Schreien heutzutage ebenfalls als exzessiv angesehen (vgl. Büning, 2002, S. 14). 2.2 Prävalenz, Verlauf und Komorbidität Die Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) von exzessivem Schreien ist abhängig vom Erhebungsinstrument bzw. den Diagnosekriterien und ist von Land zu Land verschieden hoch. Während in den Niederlanden die Prävalenzrate 1,5%, in Dänemark 9,2% beträgt, ist sie in Deutschland momentan mit 16,3% am höchsten. Vom Verlauf her ist zu beachten, dass Alter und Entwicklungsstand eines exzessiv schreienden Säuglings eine große Rolle spielen. Hier gilt es insbesondere, das passagere unstillbare Schreien innerhalb der ersten drei Lebensmonate vom andauernden exzessiven Schreien über den dritten Lebensmonat hinaus zu unterscheiden. Typischerweise beginnen die vermehrten Schrei- und Unruhephasen in den ersten zwei Lebenswochen, erreichen circa in der sechsten Lebenswoche ihren Höhepunkt und nehmen bis zum dritten Lebensmonat kontinuierlich wieder ab. Nicht nur bei „Schreibabys“, sondern auch bei „normalen“ Säuglingen, natürlich in abgeschwächter Form, zeigt sich dieser charakteristische Verlauf. In der Literatur wird dieses Schreien in den ersten drei Lebensmonaten auch oft als „DreiMonats-Kolik“ beschrieben (vgl. Bolten, 2009, S. 52-53). 5 Durch oder mit exzessivem Schreien kommt es in vielen Fällen auch zu Fütterund/oder Schlafstörungen (vgl. Bolten, 2009, S. 52-53). Auf diese Problematik wird im folgenden Kapitel noch genauer eingegangen. 2.3 Ursachen des exzessiven Schreiens Zu Beginn dieses Kapitels möchte ich gerne ein paar wichtige Zeilen aus Stephanie Bünings Arbeit „Ein Weg aus der Disharmonie“ zitieren: „…Ursachen und Folgen von exzessivem Schreien können von außen betrachtet an einem gewissen Punkt nicht mehr auseinandergehalten werden. Eltern und Kind befinden sich in einem Teufelskreis aus Reaktionen, die sich gegenseitig beeinflussen und das exzessive Schreien aufrechterhalten können…Eltern verstehen nicht mehr, was das Baby mit dem Schreien sagen will und das Baby ist irritiert, dass seine Schreisignale nicht richtig interpretiert werden…“ (Büning, 2002, S. 15). Im Folgenden werden verschiedene auslösende sowie aufrechterhaltende Faktoren, die zum „Urteil“ exzessiv schreiender Säugling bzw. „Schreibaby“ führen können, aufgelistet und kurz beschrieben. 2.3.1 Der Einfluss des modernen Lebens Die heutige Lebensweise, in der Radio, Fernseher, lauter Straßenlärm und laute Geschäfte mit grellem Licht zum Alltag gehören, lässt einen Säugling oft nicht zur Ruhe kommen. Reizüberflutung und Überlastung sind vor allem für sensible Babys mit entwicklungsbedingten selbstregulatorischen Schwierigkeiten eine zusätzliche Belastung (vgl. Büning, 2002, S.16). 2.3.2 Schwangerschaft und Geburt Bereits im Mutterleib wird das Verhalten eines Säuglings mit geprägt. Das Ungeborene kann bereits Gefühle wie Freude, Trauer, Enttäuschung, Schmerz und Stress miterleben und entsprechende Erlebnisse haben, die sich postpartal auf sein Temperament auswirken können. Einleuchtend ist auch, dass stressreiche Geburten wie Früh- oder Spätgeburten, Zangengeburten, eingeleitete Geburten und Nabelschnurgeburten etc., ein vermehrtes Schreien des Babys begünstigen können. Postpartale Depressionen, die das Wohlbefinden beeinträchtigen und bei Müttern Ängste entwickeln, mit dem Kind nicht zurechtzukommen, können zu einer Antriebslosigkeit und Lustlosigkeit der Mutter führen und in weiterer Folge auch auf das Baby übertragen werden, welches durch vermehrtes Schreien sein Unwohlsein ausdrückt (vgl. Büning, 2002, S.17). 6 2.3.3 „Dreimonatskolik“ Verdauungsbedingte Störungen beim Säugling werden immer noch sehr häufig als primär auslösender Grund für exzessives Schreien angesehen. Man vermutet, dass es während des Verdauungsprozesses zu Gasansammlungen im Magen-DarmTrakt und in Folge zu Verkrampfungen der Muskulatur kommt. Heute weiß man jedoch, dass Blähungen auch Folge (durch das Schreien schlucken Babys Luft) und nicht unbedingt Ursache des Schreiens sein können (vgl. Büning, 2002, S. 20). 2.3.4 Soziale Hintergründe Psychosoziale Belastungen wie Partnerkonflikte, Finanznot, mangelnde Qualität der Eltern-Kind-Interaktion oder mangelnde Unterstützung durch das soziale Umfeld stehen in Wechselwirkung mit Schrei- und Unruheneigungen des Kindes (vgl. Büning, 2002, S. 22). 2.3.5 Defizit des Säuglings in der Selbstregulationsfähigkeit Säuglingsforscher sehen vor allem eine cerebrale Unreife, die folglich zu einer mangelnden Ausreifung der Verhaltensregulation des Säuglings führt, als auslösenden Faktor für unstillbares Schreien. Das „Schreibaby“ kann also seinen SchlafWachrhythmus nicht organisieren und seinen Umgang mit Reizen nicht adäquat regulieren (vgl. Büning, 2002, S. 21). „′Schreibabys’ brauchen für die Entfaltung der Selbstregulation mehr Zeit und Unterstützung, und sind daher auf eine gelungene Interaktion angewiesen. Da die Signale eines „Schreibabys“ schwerer erkennbar sind, kommt es oft zu Fehldeutungen und Missverständnissen zwischen Baby und Eltern, was das Schreiverhalten wiederum verstärken kann“ (Büning, 2002, S. 21). 2.4 Belastungen für Eltern eines „Schreibabys“ „Meine Hauptbeschäftigung bestand darin, die Wärmeflasche heiß zu machen den Bauch zu massieren und mein Kind herumzutragen. Meine Nerven lagen blank. Alles drehte sich nur um das Kind. Ich kam kaum zum Duschen oder Essen. Manchmal wurde ich auch furchtbar wütend, denn ich habe so viel gemacht und sie schrie trotzdem weiter. Dann wieder war ich sehr erschrocken, dass man so viel Wut auf ein so kleines Kind haben kann“ (Fries, 2004, S. 5). Eltern sind, was Beruhigungsmethoden angeht, sehr erfinderisch und probieren auch sehr viel aus. Vom Tragen im Fliegergriff oder über der Schulter übers Schaukeln im Autokindersitz bis hin zum Hüpfen auf dem Pezziball wird alles versucht, damit der kleine Sprössling endlich Ruhe gibt. Das Baby hält bei einem Lagewechsel einmal kurz inne, doch es dauert nicht lange und die Brüllerei geht wieder von vorne los. Das bringt die Eltern selbst in eine angespannte Situation, in 7 der sie sich hilflos, erschöpft und eventuell auch extrem wütend fühlen (vgl. Fries, 2004, S. 5). Neben dieser Hilflosigkeit, Erschöpftheit und Wut, wachsen die Beunruhigung und Sorge um den Gesundheitszustand und das Wohlbefinden des Babys. Auch Zweifel an der eigenen elterlichen Kompetenz und Selbstvorwürfe sowie die Enttäuschung über das eigene Baby werden immer stärker. Nicht nur seelische Probleme sind die Folge eines andauernd schreienden Säuglings sondern auch körperliche Erschöpfungszustände machen sich mit der Zeit bemerkbar. Stresszeichen wie Schlafmangel, Übelkeit, Zittern, Schweißausbrüche, aber auch Gereiztheit, Weinanfälle und Vergesslichkeit, machen es den Eltern erst recht unmöglich auf ihr „Schreibaby“ einzugehen. Es bewirkt eher das Gegenteil, denn das Baby spürt den Stress und die Anspannung der Eltern genau und reagiert darauf mit weiterem Schreien. Aus diesem Teufelskreis können Eltern nur schwer ausbrechen und rufen in ihnen Gefühle wie Wut und Aggressivität hervor. Diese werden durch verständnislose Blicke und unnötige Kommentare in der Öffentlichkeit noch zusätzlich verstärkt und bewirken eine zunehmende Isolation der Mutter (vgl. Büning, 2002, S. 22-23). „Neben dem vielen Schreien unserer Tochter hat mich besonders belastet, dass meine Frau so müde und traurig war, wenn ich abends nach Hause kam. Erst dachte ich ja, das kann doch nicht sein, dass man nach einem Tag zu Hause mit einem Baby so fertig sein kann. Dass ich so dachte, hat sie dann auch noch als Vorwurf aufgefasst, als sei sie keine gute Mutter. Aber je mehr Wochen vergingen, desto erschöpfter und vor allen Dingen hilfloser fühlte ich mich auch. Für mich kam ja noch der Stress bei der Arbeit hinzu. In diesen Wochen haben wir uns dann auch oft gestritten“ (Fries, 2004, S. 5). In dieser Zeit leidet die Partnerschaft oft besonders und die Bedürfnisse der Eltern werden denen des „Schreibabys“ häufig untergeordnet. Die Paare erleben sich nur mehr als Eltern, als Menschen ohne eigene Interessen und es gibt keine intensiven Gespräche, Unternehmungen oder Zärtlichkeiten mehr (vgl. Büning, 2002, S. 23). Das viele Schreien und die leichte Irritierbarkeit des Babys schränkt die Interaktionsfähigkeit auf beiden Seiten ein. Dies führt zu Kommunikations- und Beziehungsstörungen zwischen Eltern und Kind. Und genau hier bietet Musik eine Möglichkeit, dass Eltern und Kind wieder auf „eine Wellenlänge kommen“. Wie das funktioniert und welche Voraussetzungen dafür notwendig sind bzw. wir Menschen von Geburt an schon mitbringen, wird in den nächsten Kapiteln genauer erklärt. 8 3. Musik im Leben eines Menschen Ein Leben ohne Musik kann man sich kaum vorstellen. Es gäbe keine Filme mehr die uns zum Weinen oder Gruseln brächten, einem Dorffest oder feierlichen Empfang würde die passende Stimmung fehlen und Opern oder Popkonzerte würde es gar nicht mehr geben. Musik hat seit jeher in allen Kulturen die vielfältigsten Funktionen: zum Beispiel bei Festen und Feiern, Kulten und Heilritualen wie auch bei der Arbeit ist sie wichtig. In einigen afrikanischen Gesellschaften werden noch heute Lieder in Frage-Antwort-Form gesungen, um den Arbeitsrhythmus zu halten. In Form von Chören, Musikkapellen, Bands oder bei Mönchen im gregorianischen Choral hilft Musik auch dabei ein Gefühl von Zugehörigkeit und Gemeinschaft zu erfahren. Weiters hat Musik Auswirkungen auf den Körper. Sie verursacht Gänsehaut, bewirkt ein Wippen mit den Füßen im Rhythmus, sie geht zu Herzen, kann den Puls beschleunigen oder verlangsamen und sogar minimale Muskelbewegungen hervorrufen (vgl. Plahl und Koch-Temming, 2005, S.24-27). Es gibt bereits erste Studien wo Bluthochdruckpatienten eine Hörkur mit einer eigens komponierten Musik, die sie ein- bis zweimal täglich vorgespielt bekamen, erhielten. Die Musik half den Betroffenen sich zu entspannen und genau das hatten sie verlernt. Bereits nach acht Wochen besserten sich die Beschwerden bei achtzig Prozent der Probanden (vgl. http://www.medical-tribune.at/dynasite.cfm?dssid=4170 &dsmid=75698&dspaid=589938#dstitle_589940, 2006, S.1). Musik kann aber nicht nur starke körperliche sondern auch emotionale Reaktionen bewirken. Die emotionale Wirkung einer bestimmten Musik ist allerdings keine der Musik innewohnende Eigenschaft sondern stark kulturabhängig. Aber warum bringt uns ein Lied überhaupt zum Weinen? Ein Klang wird durch Ohr und Gehirn verarbeitet. Die Hörbahn setzt sich zusammen aus spezifischen Leitungsbahnen für die akustischen Sinnesreize und aus den unspezifischen Leitungsbahnen, die mit anderen Gehirnbereichen verbunden sind. Die Hörbahn leitet die ankommenden Schallreize im Gehirn weiter und löst z.B. im limbischen System die Ausschüttung von körpereigenen opiatähnlichen Stoffen (Endorphine) aus. Auch das retikuläre System (ausgedehntes, diffuses Neuronennetzwerk) im Stammhirn wird durch Musik angeregt und führt zu einer gesteigerten Wachheit und Aufmerksamkeit. Durch musikalische Betätigung werden weite Teile des Gehirns aktiviert, bei denen je nach musikalischer Aktivität (Tanzen, Singen, Dirigieren) andere neuronale Schaltkreise beteiligt sind (vgl. Grawe 2004 in Plahl und Koch-Temming, 2005, S. 9 26). Durch die Stimulation bestimmter Regionen im limbischen System ändern sich auch die Konzentrationen einer ganzen Reihe von Hormonen im Blut. Wenn man harmonisch klingende „schöne“ Musik hört, verringert sich bereits nach wenigen Minuten das Stresshormon Kortisol. Da ein zu viel dieses Hormons zu den wichtigsten Risikofaktoren für die Entstehung von Herz-Kreislauferkrankungen zählt, ist eine Reduktion von Kortisol durchaus wünschenswert. Weiters wird durch die Senkung von Kortisol die Bildung von Immunglobulinen angeregt, was im Gesamten eine Stärkung des Immunsystems zur Folge hat. Das Hormon Oxytocin wird im Gegensatz zu Kortisol bei „wohlklingender“ Musik vermehrt ausgeschüttet. Oxytocin ist dafür bekannt, dass es den Aufbau stabiler Beziehungen zwischen Menschen unterstützt. Serotonin, das Hormon für die Glücksgefühle, wird ebenso vermehrt gebildet. Musik wirkt also auf mehreren Ebenen und bewegt den Menschen auf der Ebene des Körpers, jener der Gefühle und jener des Geistes (vgl. Bernatzky, 2006, S. 243-247). 4. Musik im Leben eines Kindes 4.1 Das Hörorgan bzw. die ersten Hörerfahrungen eines Kindes Schon intrauterin ist der Fötus einer ganzen Geräuschkulisse ausgesetzt. Er hört den Herzschlag der Mutter, vernimmt die Geräusche ihres Darms und auch anderer innerer Organe. Auch Geräusche der Außenwelt dringen zum ungeborenen Kind hinein. Hier spielt vor allem die Stimme der Mutter eine bedeutende Rolle. Wann genau der Fötus hören kann, lässt sich nur indirekt feststellen. Ab der 20. und 24. Schwangerschaftswoche löst jedoch ein auditiver Reiz eine motorische Reaktion beim Fötus aus. Er beginnt auf die Töne von außen, die zu ihm durchdringen, zu reagieren. Hörerfahrungen haben also einen Einfluss auf die Befindlichkeit des Föten. Offensichtlich erinnert sich ein Kind an den vertrauten Herzschlag, den es aus der Gebärmutter kennt, und lässt sich dadurch auf der Brust der Mutter besonders gut beruhigen. Interessant ist auch, dass sich Föten Musikstücke, die während einer Schwangerschaft häufig gespielt werden, merken können. Dies gilt nicht nur für klassische Musik, sondern auch für Erkennungsmelodien von Seifenopern. Neugeborene von Müttern, die täglich eine solche Serie während der Schwangerschaft gesehen hatten, reagierten mit sofortiger Beruhigung, wenn sie diese Musik hörten. Sie hatten im Mutterleib gelernt, dass diese Melodie eine gemütliche Zeit einläutet. Warum ungeborene Kinder eine Vorliebe für die mütterliche Stimme haben liegt daran, dass sie die Mutterstimme nicht nur von 10 außen wahrnehmen, sondern auch zusätzlich über die Knochen der Wirbelsäule und des Beckens (vgl. Hüther und Krens, 2008, S. 75-77). „Das Becken gerät im Bereich von 2500 bis 3000 Hertz in Schwingung. Dies ist genau die Frequenz, die einer Frauenstimme entspricht. Hinzu kommt, dass die Beckenschalen einen Resonanzkörper bilden, durch den die Oberschwingungen wie bei einem Lautsprecher verstärkt werden. Die mütterliche Stimme ist dadurch innerhalb der uterinen Welt ziemlich gut wahrnehmbar. Wenn man davon ausgeht, dass die Stimme nicht nur hörbar, sondern über Schwingungen auch fühlbar ist, wird das Kind die ganze Schwangerschaft über in irgendeiner Weise von der mütterlichen Stimme begleitet“ (Hüther und Krens, 2008, S. 76-77). 4.2 Musik in der kindlichen Entwicklung Beeindruckend ist die frühe mögliche Kommunikation zwischen dem Neugeborenen und dessen Eltern. Die Eltern passen sich intuitiv seinen anfangs noch stark begrenzten Verarbeitungs- und Ausdrucksmöglichkeiten an, indem sie ihr Verhalten übertreiben, vereinfachen und häufig wiederholen. Kinder können von Anfang an diese Botschaften verstehen. Diese Art von Kommunikation mit musikalischen, mimischen und gestischen Aspekten der Sprache wird weltweit genutzt, um die frühe Bindungsbeziehung zwischen Kind und Bezugsperson zu festigen. Dazu kommen musikalische Elemente wie Sprachmelodie, Sprechrhythmus oder Stimmhöhe, die dem gesprochenen Wort eine emotionale Färbung geben und eine Reihe wichtiger Funktionen im Laufe der kindlichen Entwicklung erfüllen. Kinder beteiligen sich dann sehr bald selbst an dieser präverbalen Kommunikation mit Hilfe musikalischer Elemente, mit Lauten, Gesten und Mimik, um sich auch ohne Sprache von Anfang an mit ihrer Umgebung auszutauschen. Sie lernen dabei, dass man durch Lautäußerungen etwas bewirken kann. Zum einen bekommen sie Reaktionen von ihren Eltern, zum anderen können sie mit Lauten und Gesten in Verbindung mit dem passenden Gesichtsausdruck bewirken, dass Situationen beendet oder wiederholt werden. Das Kind erlebt Selbstwirksamkeit und lernt so seine Befindlichkeit zu regulieren. Musik ist also ein wichtiges Medium für ein Kind um zu kommunizieren und um Beziehungen zu anderen herzustellen. Mit der Zeit entwickelt sich das kindliche Experimentieren mit Stimmlauten zum so genannten spontanen Singen. Mit dem Alter von eineinhalb Jahren erkennt man bereits einfache Formen in der Struktur dieser Stimmspiele. Wenn das Kind sich sprachlich weiterentwickelt, singt es auch immer häufiger ohne Aufforderung spontan Lieder. Es schildert Erlebnisse in erfunden Liedern oder singt bekannte Lieder, die es nach eigenen Vorstellungen variiert (vgl. Plahl und Koch-Temming, 2005, S. 28-72). 11 „Mit seiner Stimme kann das Kind Geschichten erzählen, Erinnerungen, Ideen und Phantasien ausdrücken und so auf lustvoll-spielerische Art seine Musikalität entfalten“ (Plahl und Koch-Temming, 2005, S. 29). Durch das gemeinsame Singen von Kinderliedern ebenso wie durch Kinderspiele und –tänze versucht das Kind sich mitzuteilen und Beziehungen aufzubauen. Die musikalische Entwicklung des Kindes lässt sich also insgesamt als eine musikalische Sozialisation verstehen, bei der das Kind zugleich seine Kreativität entfalten kann. Im Vorschulalter äußert sich musikalische Kreativität durch ein phantasievolles Spiel mit Klängen und durch Improvisieren mit der eigenen Stimme. Diese schöpferische musikalische Entwicklung wird meist beim Schuleintritt gebremst durch einen Musikbegriff, der sich auf komponierte und schriftlich überlieferte Musikstücke beschränkt (vgl. Plahl und Koch-Temming, 2005, S. 29). 5. Musik und Schreibabys 5.1 Der Schrei als Schritt ins Leben Säuglinge wollen bzw. müssen sich Luft machen. Zunächst um sich aus der Enge der Geburt und später um sich aus der Enge eines äußeren oder inneren Schmerzes (zum Beispiel der Hungerschmerz) zu befreien. Dies tun sie mittels Schreien, Brüllen oder Kreischen. Der Schrei und seine Folgeäußerungen entstehen durch Luft, die aus den tiefen Lungenwegen steigt, zum Überdruck wird und dann eine Explosion der Stimmlippen auslöst. Damit ist sie angelegt, die unverwechselbare individuelle Stimme, und wird ab diesen Zeitpunkt trainiert und ausgeformt (vgl. Decker-Voigt, 2008, S. 83). Aber was, wenn dieses Schreien einfach nicht aufhören will? 5. 2 Die Gestaltung des Alltags Für Eltern von „Schreibabys“ ist es wichtig, dass sie ihren Alltag so umgestalten, dass der Tagesablauf möglichst jeden Tag gleich strukturiert ist. Durch fixe Zeiten für Mahlzeiten oder feste Rituale beim Wickeln kann man dem Baby einen gleichmäßigen Rhythmus vorgeben. Hierbei ist es besonders wichtig dem Kind auch den Wechsel von aktiven und passiven Phasen aufzuzeigen. Wenn Eltern sich eine kurze Zeit nicht um das Kind kümmern können, sollen sie trotzdem in Sichtweite bleiben und dem Säugling gut zureden. Danach sollte dann wieder eine aktive Phase stattfinden, in der sich die Eltern mit dem Kind beschäftigen. Vor allem in schreifreien Wachphasen sollte man sich ganz dem Kind widmen, denn häufig passiert es, dass man in dieser Zeit etwas anderes erledigen möchte und sich 12 dadurch nur mehr in Schreiphasen dem Baby zuwendet. Je harmonischer und ruhiger Wachphasen gestaltet werden, umso harmonischer werden auch die Einschlafphasen (vgl. Büning, 2002, S. 44). „Dieser strukturierte Tagesablauf wirkt einerseits beruhigend, andererseits gibt es auch den Eltern die Möglichkeit, besser mit dem Alltag zurechtzukommen“ (Büning, 2002, S. 44). 5.3 Eigenschaften des Mediums Musik in Bezug auf „Schreibabys“ Musik ermöglicht Kontakt, bietet Struktur und kann eine beruhigende Wirkung haben. Sie ist ein ideales Mittel, um Säuglinge während eines Schreianfalls zu erreichen und zu regulieren. Wenn man das Schreien des Kindes durch Singen oder Spielen in ähnlicher Frequenz begleitet, fühlt sich das Baby offenbar nicht mehr so allein und besser verstanden. Vor allem durch einfach strukturierte Musik, die oft wiederholt wird, werden Reize dosiert eingesetzt und sind so für den Säugling leichter zu habituieren. Einen besonderen Stellenwert haben daher Wiegenlieder. Mit ihren langsamen Tempi, der „dunklen“ Klangfarbe und der gleichbleibenden, geringen Dynamik haben sie großen Einfluss auf physiologische Reaktionen. Die Atmung wird gleichmäßig, die Herzfrequenz sinkt und Bewegungen verlangsamen sich. Durch den Klang einer vertrauten Stimme kann Distanz aufgehoben werden, auch wenn kein visueller oder körperlicher Kontakt besteht. Deshalb kann Musik ebenso Nähe wie Geborgenheit vermitteln. Weiters ist Musik eine für den Säugling verständliche „Sprache“ und sie kann positive gemeinsame Erfahrungen und Freude fördern. Wenn Eltern ihren Kindern etwas vorsingen oder vorspielen, kann dies neue Wege der Interaktion mit ihren Kindern öffnen. Eltern haben dann das Gefühl, dass sie ihr Kind erreichen bzw. dass sie etwas bewirken können (vgl. Büning, 2002, S. 54-56). 5.4 Möglichkeiten von Musik in der Behandlung von „Schreibabys“ 5.4.1 Die freie Improvisation Bei der freien Improvisation wird das Baby mit seinen stimmlichen Äußerungen und Bewegungen als aktiver Partner in das gemeinsame Spiel eingebunden. Es wird versucht die Stimmung des Säuglings aufzufangen und durch Anpassen der Klänge, der Geräusche, des Tempos und der Lautstärke auf den jeweiligen Erregungszustand des Kindes einzugehen. Dadurch entsteht ein Kontakt mit dem Baby und gibt ihm in seinem Schreianfall Orientierung und sein innerer Zustand kann reguliert werden. Bei dieser Methode werden zuerst Instrumente mit hoher Frequenz und 13 Intensität wie z.B. Ocean-Drum, Rasseln oder Chimes eingesetzt. Wird das Baby darauf aufmerksam, kann der Rhythmus verlangsamt werden und es können tieffrequente Xylophone, Trommeln oder Monochorde mit einbezogen werden. Die freie Improvisation bietet verschiedene Techniken um auf das „Schreibaby“ einzugehen. Bei der Imitation wiederholen der Musiktherapeut bzw. später dann die Eltern alle Geräusche, Rhythmen, Melodien, Bewegungen oder Gesichtsausdrücke die der Säugling vorgibt. Bei der Synchronisation macht man dies im gleichen Moment wie der Säugling, wobei nur ein Element oder verschiedene Elemente synchronisiert werden können. Übereinstimmen nennt man die Technik, wo der Therapeut oder ein Elternteil die gleiche Dynamik/Intensität und das gleiche Tempo gebraucht, um mit dem Energieniveau des Klienten übereinzustimmen. Um die Interaktion zwischen Eltern und Kind festzustellen, beobachtet der Therapeut die Instrumentenwahl der Eltern, mit welcher Dynamik sie spielen und wie sie auf die Signale des Kindes eingehen können. Mit der freien Improvisation hat man herausgefunden, dass Kinder unmittelbar auf Klang reagieren, sich mit der Zeit Vorlieben des Babys für bestimmte Klänge herauskristallisieren und Eltern und Kinder das „Miteinandersein“ als positiv und angenehm erleben (vgl. Lenz 2000 in Büning, 2002, S. 59-60). 5.4.2 Stimm-/Liedergebrauch Körperkontakt schafft Geborgenheit und zeigt einem Baby, dass es nicht alleine ist. Manche „Schreibabys“ brauchen sehr viel Körperkontakt, andere wiederum halten zu viel an Körpernähe nicht aus. Bei letzteren ist es wichtig, dass sie trotzdem das Gefühl von emotionaler Nähe und Geborgenheit bekommen. Dies ist möglich, indem sich Eltern neben ihr Kind legen, es nicht berühren sondern sich ihm nur durch Vorsingen ganz bewusst und intensiv zuwenden. Durch die vertrauten Stimmen wird dem Baby in einer musikalisch-emotionalen Atmosphäre vermittelt, dass es nicht alleine ist. Wichtig ist dabei, dass die Eltern selbst vorher zur Ruhe finden und den eigenen Atemrhythmus auf die Situation einstimmen. Ist das Baby unruhig, können anregende Lieder und Melodien die Stimmung auffangen und die Aufmerksamkeit des Babys wecken. Die Einschlafphase eines Babys kann durch Wiegenlieder unterstützt werden. Ebenso beruhigend wirken Lieder, die während der Schwangerschaft gesungen oder gehört wurden. Eltern sollten darauf achten, dass sie Lieder auswählen, die auch in ihnen Wohlbefinden hervorrufen, denn sonst können sie das nicht ihrem Kind vermitteln. Um Reizüberflutung zu verhindern und dem Säugling Struktur zu bieten, sollten immer wieder die gleichen Lieder gesungen werden. Dies kann zur Orientierung dienen. Im Tagesablauf können bestimmte Lieder dann 14 bevorstehende Handlungen ankündigen und das Baby z.B. auf das Baden vorbereiten. Die Eltern sollten ihre eigene Tonlage finden und sich nicht vor dem Singen scheuen. Für ihr Kind ist ihre Stimme die ideale (vgl. Büning, 2002, S. 60-62). 5.4.3 Musikalische Begleitung durch einen Therapeuten Der Musiktherapeut begleitet die Interaktion musikalisch, während die Eltern ihr Kind füttern, es herumtragen, wiegen oder einfach nur halten. Dazu wählt der Therapeut die freie Improvisation (z.B. am Monochord) oder spielt bestehende Lieder (z.B. W. A. Mozarts Sonate in A Dur) am Klavier. Es bieten sich vor allem Lieder im ¾ Takt an, da diese einen leicht schwebenden und sanften Charakter haben und dadurch Bewegungsabläufe besonders gut unterstützen und eine entspannte Atmosphäre schaffen (vgl. Büning, 2002, S. 62-63). 5.4.4 Gustl – ein Fallbeispiel Als die Musiktherapeutin Gustl und seine Mutter, Frau N., kennenlernt, ist Gustl gerade einmal sieben Wochen alt. Frau N. hält ihren Sohn auf dem Arm. Einerseits braucht Gustl die körperliche Nähe, andererseits ist er die ganze Zeit am Jammern und Schreien und biegt sich immer wieder von seiner Mutter weg. Die Therapeutin merkt: was sie aneinander bindet ist nicht Freude, sondern quälende Not. Nach der ersten Kennenlernstunde, an der mehrere Kinder und deren Eltern teilnehmen, merkt Gustls Mutter, dass die Klänge der Musiktherapeutin ihr Kind erreichen und es aufmerksam wird und zuhört. Sie beschließt mit Gustl in die Musiktherapie zu kommen. In der ersten Einzelstunde ist auch Gustls Vater mit. Bei ihm scheint sich Gustl wohler zu fühlen. Nach einiger Zeit wird Gustl unruhig und seine Mutter ist sich unsicher, ob er hungrig ist oder nicht und ob es mit dem Stillen jetzt klappen wird. Es funktioniert, doch Frau N. sagt, dass sie nur an den nächsten Schrei denken und diese Situation jetzt nicht richtig genießen kann. Nach dem Stillen probiert Frau N. mehrere Instrumente aus und geht dann zum Xylophon. Gustl wird aufmerksam. Seine Mutter bemerkt es und fängt an mit ihm zu sprechen. Nach der ersten Stunde haben die Eltern ein gutes Gefühl und finden, dass Gustl in der Therapie nicht so lange und so schrill geschrien hat wie zu Hause. In der nächsten Therapiestunde liegt Gustl mit einem Lächeln auf der Decke. Aber warum? Als Frau N. merkte, wie ihr Sohn auf das Xylophon reagierte, ging sie sofort in die Stadt und kaufte eines. Gustl hat es mit ausgesucht und jetzt spielt sie ihm mehrmals am Tag darauf vor. Dabei beruhigt sich nicht nur Gustl, sondern auch seine Mutter, die schon seit längerer Zeit unter hohem Blutdruck leidet. Wenn sie spielt sind ihre Werte im Normbereich. Wichtig ist, dass Gustl aus seiner Isolation in die Welt 15 zurück gefunden hat. Er hat erlebt, dass sich seine innere Befindlichkeit verändern kann. Noch, nur mit Hilfe von außen, doch mit der Zeit werden auch die üblichen Beruhigungsmethoden wie Berührungen oder das Stillen bei ihm anders ankommen (vgl. Kraus, 2002, S. 94-96). 5.5 Möglichkeiten von Musik in der Behandlung von Eltern von „Schreibabys“ Exzessives Schreien löst in jeder Bezugsperson ab einem gewissen Punkt Gefühle wie Wut und Aggression aus. Die Unterdrückung solcher Gefühle kann nicht selten in Gewalt umschlagen, die sich dann auch gegen das eigene Kind richten kann. Eine Möglichkeit, solche ambivalenten Gefühle abzubauen, bietet das Trommeln auf Percussions-Instrumenten. Das Spielen solcher Instrumente kann alleine oder in der Gruppe, nach Noten oder in der freien Improvisation passieren. Eine weitere Möglichkeit ist das „musikalische Geschenk“. Dabei steht jeweils eine Person im Mittelpunkt, die eine für sie bequeme Haltung einnimmt. Die restlichen Gruppenmitglieder spielen oder singen dann für diese Person. Natürlich sollte hier auf die Wünsche der bespielten Person eingegangen werden. Welche Musik mag sie? Wie laut/leise soll sie sein? Welche Instrumente wähle ich aus? Die im Mittelpunkt stehende Person soll sich fallen lassen können und alle Töne und Klänge auf sich wirken lassen. Sie hat in dieser Zeit keine Verantwortung (für ein „Schreibaby“). Neben der Vokalimprovisation, bei der es um das bewusste Erleben seiner eigenen Stimme und seiner Atmung geht, gibt es auch noch die Möglichkeit des Hörens von mitgebrachter Musik. Hier sollen die betroffenen Eltern Musik hören die ihnen viel bedeutet bzw. einmal viel bedeutet hat. Damit soll aufgezeigt werden, dass man als Elternteil auch noch eigene Interessen hat bzw. haben darf. Nach dem Anhören von Musik kann mit dem Partner oder mit den Gruppenmitgliedern besprochen werden, welche Assoziationen und Erinnerungen sie ausgelöst hat (vgl. Büning, 2002, S. 63-67). „Die Musik hat ihre eigene Kraft in sich. Musik ist eine Notwendigkeit für den Menschen, für seinen psychischen, aber auch seinen physischen Zustand. Musik hat Heilkraft für die Seele und den Körper. Musik eliminiert das Ablenkende und das Oberflächliche“ (Kubelik in Kraus, 2002, S. 30). 16 6. Zusammenfassung Diese Arbeit versucht einen kleinen Einblick in das Gebiet Musik und „Schreibabys“ zu geben. In der gefundenen Literatur wird nach wie vor die Dreierregel nach Wessel als Definition für „Schreibaby“ bzw. exzessives Schreien am häufigsten angegeben. Sie besagt, dass die Schrei- und Unruhephasen eines Säuglings länger als drei Stunden pro Tag, öfter als drei mal die Woche und insgesamt länger als drei Wochen anhalten müssen. Häufig kommt es durch oder mit exzessivem Schreien auch zu Fütter- und/oder Schlafstörungen. Eltern von sogenannten „Schreibabys“ fühlen sich meist hilflos, erschöpft und wütend. Auch Zweifel an der eigenen elterlichen Kompetenz und Selbstvorwürfe sowie die Enttäuschung über das eigene Baby werden immer stärker. Zudem wachsen die Beunruhigung und Sorge um den Gesundheitszustand und das Wohlbefinden des Babys. Neben der psychischen Belastung machen sich mit der Zeit auch körperliche Erschöpfungszustände bemerkbar. Schlafmangel, Übelkeit, Zittern, aber auch Gereiztheit und Weinanfälle machen es den Eltern oft unmöglich auf ihr „Schreibaby“ einzugehen. Durch verständnislose Blicke und unnötige Kommentare in der Öffentlichkeit kommt es oft zu einer Isolation der Mutter bzw. der Eltern. In dieser Zeit leidet auch oft die Partnerschaft unter dem „Schreibaby“ und die eigenen Bedürfnisse werden denen des Babys häufig untergeordnet. Das alles führt in Folge zu Kommunikations- und Beziehungsstörungen zwischen Eltern und Kind. Musik bietet hier eine Möglichkeit um Eltern und Kind wieder auf „eine Wellenlänge“ zu bringen. Musik ist emotionalisierend, hat ordnende, strukturierende Eigenschaften, ist erinnerungsauslösend, kreativitäts-, interaktions- und gemeinschafts- sowie bewegungsfördernd und sie ist eine Art der Kommunikation, die Kinder von Anfang an verstehen können. Weiters beteiligen sich Kinder sehr bald selbst an dieser präverbalen Kommunikation mit Hilfe musikalischer Elemente, mit Lauten, Gesten und Mimik, um sich auch ohne Sprache von Anfang an mit ihrer Umgebung auszutauschen. Musik ist also ein wichtiges Medium für ein Kind um zu kommunizieren und um Beziehungen herzustellen. Musik ist ein ideales Mittel, um Säuglinge während eines Schreianfalls zu erreichen und zu regulieren. Dies ist durch die sogenannte freie Improvisation möglich. Dabei versucht man die Stimmung des Säuglings aufzufan-gen und durch Anpassen der Klänge, der Geräusche, des Tempos und der Laut-stärke auf den jeweiligen Erregungszustand 17 des Kindes einzugehen. Dadurch entsteht Kontakt und man gibt dem Baby in seinem Schreianfall Orientierung. Bei dieser Methode werden zuerst vor allem Instrumente mit hoher Frequenz und Intensität wie z.B. Ocean-Drum, Rasseln oder Chimes eingesetzt. Anschließend können tief-frequente Xylophone oder Trommeln miteinbezogen werden. Eine weitere Möglichkeit ist der Stimm- oder Liedgebrauch. Hierbei legen sich Eltern neben ihr Kind - ohne es zu berühren - und versuchen dann durch Vorsingen diesem Nähe und Geborgenheit zu vermitteln. Durch die vertrauten Stimmen wird dem Baby in einer musikalisch-emotionalen Atmosphäre vermittelt, dass es nicht alleine ist. Bei der musikalischen Begleitung durch einen Therapeuten werden Eltern bei einer Interaktion mit ihrem Kind (z.B. füttern, wiegen, herumtragen) von einem Musiktherapeut z.B. am Klavier begleitet. Hier bieten sich vor allem Lieder im ¾ Takt an, da diese durch ihren sanften und schwebenden Charakter Bewegungsabläufe besonders gut unterstützen können. An dieser Stelle sei noch erwähnt, wie wichtig es ist, dass man „Schreibabys“ einen strukturierten Tagesablauf bietet und ihnen vor allem den Wechsel zwischen aktiven und passiven Phasen aufzeigt. Viel Zuwendung sollte man ihnen in schreifreien Wachphasen geben, denn Eltern von „Schreibabys“ neigen dazu, ihren Sprösslingen nur noch in Schreiphasen Aufmerksamkeit zu schenken. Da für mich Musik wichtig ist, bin ich davon überzeugt, dass diese in der Behandlung von „Schreibabys“ als zusätzliche Therapie angewendet werden sollte. Mir ist klar, dass noch viel mehr Studien in diesem Bereich notwendig wären um die in meiner Arbeit genannten Methoden der Musiktherapie weiter zu etablieren. Es ist mir ein Anliegen, dass man dieses Thema zum Gesprächsthema macht und dass man Eltern, Großeltern und Verwandte von „Schreibabys“ über die Möglichkeiten des alltagserleichternden Einsatzes von Musik informiert. Als diplomierte Gesund-heitsund Krankenschwester und angehende Kinderkrankenschwester erlebe ich, dass Beratung und Anleitung von Patienten und deren Angehörigen einen immer größeren Stellenwert bekommt. Ebenso lernen wir im Gesetz, wie wichtig die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist. Ich hoffe, dass ich im Laufe meines Berufes einigen Eltern mit „Schreibabys“ helfen kann und dass ich immer offen bleibe für Ratschläge und die Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen. 18 Literaturverzeichnis Bernatzky, G. (2006). Musik in der Schmerztherapie. Musik auf Rezept. In: Österreichische Apotheker-Zeitung Nr. 5/27 (2006), 60. Jg., S.242-247. Bolten, M. (2009). Exzessives Schreien. [WWW Document]. URL http://www.beltz. de/leseprobe/3-621-27543-6les.pdf (7. April, 2009). Büning, S. (2002). Ein Weg aus der Disharmonie. Musiktherapeutische Möglichkeiten bei Familien mit „Schreibabys“. Unveröff. Diplomarbeit im Rahmen des Musiktherapie-Studiums am Konservatorium, Saxion Hogeschool Enschede. Decker-Voigt, H. (2008). Mit Musik ins Leben. München: Ernst Reinhardt. Fries, M. (2004). Schreibabys: Wenn die Nerven der Eltern blank liegen in: Das Familienhandbuch des Staatsinstituts für Frühpädagogik (IFP). [WWW Document]. URL http://www.familienhandbuch.de/cmain/f_Aktuelles/a_Haeufige_Probleme/s_ 1027.html (15. Jänner, 2009). Hüther, G. & Krens, I. (2008). Das Geheimnis der ersten neun Monate. Unsere frühesten Prägungen. Weinheim und Basel: Beltz. Kraus, W. (2002). Die Heilkraft der Musik. Einführung in die Musiktherapie. (2. akt. Aufl.). Bonn: Beck. Plahl, C. & Koch-Temming, H. (Hrsg.). (2005). Musiktherapie mit Kindern. Grundlagen-Methoden-Praxisfelder. Bern: Hans Huber. o. A. Wenn Eltern ihre Babys schütteln. „Shaken Baby Syndrom“ kann zum Tode führen. [WWW Document]. URL http://www.mdr.de/brisant/gesundheit /128 77 83. html (7. April, 2009). o. A. Kongress rund um die Musiktherapie – Heilende Klänge: Musik statt Pillen. [WWW Document]. URL http://www.medical-tribune.at/dynasite.cfm?dssid =4170 &dsmid=75698&dspaid=589938#dstitle_ 589940 (12. Mai, 2009) Ehrenwörtliche Erklärung Hiermit erkläre ich, dass es sich bei der hier vorliegenden Fachbereichsarbeit um meine eigene Arbeit handelt, die ich selbst verfasst und in der ich sämtliche verwendete Unterlagen zitiert habe. Ich bin damit einverstanden, dass meine Abschlussarbeit weiteren Personen zur Verfügung gestellt wird. Name SAB 2008/2009 Datum Unterschrift