Moral und Erziehung in der pluralistischen Gesellschaft

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Hans-Joachim Werner
Moral und Erziehung
in der pluralistischen Gesellschaft
Hans-Joachim Werner
Moral und Erziehung in
der pluralistischen Gesellschaft
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Einbandgestaltung: Neil McBeath, Stuttgart.
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Printed in Germany
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ISBN 3-534-16026-6
Inhalt
Einleitung
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Pluralismus, Moral und Ethik
Merkmale der pluralistischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . .
Pluralismus, Liberalismus, Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Pluralismus, Gesellschaft und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . .
Orientierungsprobleme und ihre ethisch-pädagogische Reflexion
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Moral, Ethik, moralische Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . .
Moral und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ethik als Theorie der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Allgemeinheitsstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Freiwilligkeit, Rücksichten gegen sich selbst und gegen die
Mitwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Moralische Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Normen und Werte in der pluralistischen Gesellschaft . . . . . . . .
Die Begriffe „Wert“ und „Norm“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Rücksichten gegen sich selbst: Selbstentfaltungswerte . . . . . . .
Geschichte, Strebensethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Bewertungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Personalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Werte der Gesellschaft: Gerechtigkeit und Wohlwollen . . . . . .
Tyrannei der Werte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Gerechtigkeit und Gleichheit: Aristoteles, Piaget, Kohlberg,
Rawls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Gerechtigkeit und Wohlwollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kategorischer Imperativ, Goldene Regel . . . . . . . . . . . . .
Werte der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ethik und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Moralische Erziehung
in der pluralistischen Gesellschaft
Ziele und Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der Realitätsbezug von Werten und Zielen . . . . . . . . .
Erziehungswissenschaftliche Zielbestimmungen . . . . . .
Dominanz des Kognitiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Wilsons Beschreibung der moralischen Person . . . . . .
Rest, Kekes, Höffe, Spiecker . . . . . . . . . . . . . . . .
Piaget, Kohlberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Evolution – Moral – Erziehung . . . . . . . . . . . . . . .
Zusammenfassung und offene Probleme . . . . . . . . .
Tugenden als Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Rücksichten gegen sich selbst: Persönlichkeit und Selbstentfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Persönlichkeit: Individualität, Vielfalt, Entwicklung . . .
Grundkompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Begriff des „guten Lebens“ . . . . . . . . . . . . . . . . .
Rücksichten gegen die menschliche Mitwelt: Gerechtigkeit
Pädagogischer Stellenwert . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kognitive und emotionale Aspekte . . . . . . . . . . . .
Legalität, Gleichheit, Fairness, Menschenrechte . . . . .
Rücksichten gegen die menschliche Mitwelt: Wohlwollen .
Wohlwollen und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . .
Wohlwollen und Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Wohlwollen, Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft . . . . . . .
Wohlwollen, Freundschaft, Sexualität . . . . . . . . . . .
Rücksichten gegen die natürliche Mitwelt: Wohlwollen . .
Ganzheitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Anthropozentrik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wirklichkeit und Methoden . . . . . . . . . . . . . . . .
Lehrerpersönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Erziehungsstile und Handlungstypen . . . . . . . .
Die Bedeutung des Zwischenmenschlichen . . . . .
Vorbildebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Einzelne Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sokratischer Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . .
Wertklärungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kohlbergs Stufentheorie und die Dilemmamethode
Compassion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Lernen für das Leben – „Startline“ und „Lifeline“ .
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Inhalt
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Orte moralischer Erziehung – Ethikunterricht . . . . . . . . . . 243
Konzepte zur Neugestaltung der Schule . . . . . . . . . . . . . . 257
Rücksichten gegen sich selbst, Rücksichten gegen andere:
Abschließende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
Einleitung
Dass es mit der Moral in unserer Gesellschaft nicht zum Besten stehe,
kann man allenthalben hören. Zuweilen bewegen sich die Klagen darüber
auf Stammtischniveau – so etwa dann, wenn pauschal über die Anspruchshaltung, die fehlende Leistungsbereitschaft oder die sittliche Verwahrlosung der „jungen Generation“ geklagt wird. Oft aber liegen Verdikten
über entsprechende Fehlentwicklungen auch durchaus seriöse Analysen
oder Beobachtungen zugrunde, die sich vielfach mit allgemein verbreiteten Erfahrungen decken und die Ursachen hierfür nicht in einer zufällig
gehäuft auftretenden Böswilligkeit oder geistigen Verwahrlosung von Individuen oder Individuengruppen suchen, sondern in bestimmten Risiken,
die mit der Struktur der modernen Zivilisation oder gar mit der „conditio
humana“ oder mit der Kombination von beidem gegeben sind. Die christliche Theologie lehrt uns, der Mensch sei von Geburt an mit der „Erbsünde“ belastet und falle schon deshalb immer wieder in sündiges Verhalten
zurück; eine philosophische Entsprechung zu dieser Betrachtung liefert
Kant mit seiner Analyse der menschlichen Natur und der resignativ klingenden Bemerkung, aus einem Wesen, welches aus so krummem Holz geschnitzt sei wie der Mensch, könne letztlich nichts ganz Gerades werden
(vgl. Kant, Idee 1983, 41), und A. Gehlen hat, auf solchen und anderen
Einsichten aufbauend, im gerade abgelaufenen Jahrhundert den Menschen als ein gefährdetes Wesen bezeichnet mit einer „konstitutionellen
Chance, zu verunglücken“ (Gehlen, Der Mensch 1986, 32).
Es scheint nun so, dass die unbestreitbaren Defizite, die der Mensch in
allen uns bekannten Bereichen besitzt, in der Gegenwart eine besonders
problematische Wirkung entfalten und dass dies strukturelle Gründe hat.
Der Mensch, der in dem von ihm selbst immer wieder inszenierten und
gespielten „Drama der Freiheit“ besonders anfällig für das Böse ist (vgl.
Safranski 1997), verträgt offenbar kein unbeschränktes Maß an Handlungsmöglichkeiten und überhaupt an Lebensmöglichkeiten. Wird dieses
Maß überschritten, so treten verschiedene, teils miteinander unverträgliche, teils komplementäre Folgen ein: Im äußeren Handlungsraum werden Prozesse in Gang gesetzt, die eine Art Eigendynamik entfalten und in
ihrer Wirkungskomplexität vom Menschen nicht mehr überblickbar und
deshalb auch nicht mehr beherrschbar sind. Im Bereich der Technik finden
wir hierfür Beispiele genug. Im inneren Orientierungsraum sieht sich der
Einzelne einer Vielfalt von Deutungsmustern und Sinnangeboten ausgesetzt, auf die er oft mit Verwirrung und Orientierungslosigkeit, oft aber
auch mit spontaner, besinnungsloser Proselytenhaltung reagiert. Ganz
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Einleitung
ähnlich kann die Situation übrigens im äußeren Orientierungsraum sein,
wenn etwa das Individuum als Konsument einer schier unübersehbaren
Vielfalt von Waren- und Freizeitangeboten gegenübersteht.
Besondere Probleme für die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander aber entstehen offenbar dann, wenn auch im Bereich von Moral
oder Sittlichkeit die Vielzahl von Verhaltensmöglichkeiten nicht mehr
durch allgemein anerkannte Vorgaben gebunden ist, und dies ist in den
westlichen, pluralistisch geprägten Gesellschaften vielen Analysen zufolge
zumindest eine bedrohliche Tendenz. S. Uhl stellt hierzu unter Berufung
auf die sozialwissenschaftliche Forschung fest, nur bei einer Minderheit
habe der „Wertwandel“ zu einer „neuen Wertrangordnung von einiger
Stabilität und Ausgewogenheit geführt … Bei ziemlich vielen Menschen
ist es statt dessen zu uneinheitlichen, widersprüchlichen und je nach Situation schwankenden Wertorientierungen gekommen“ (Uhl 1996, 12). Die
Folge hiervon können Apathie, Sprunghaftigkeit, Widersprüchlichkeit im
Verhalten, Anpassungsmentalität, gesellschaftliche Abstinenz oder fehlende Authentizität (vgl. Raths/Harmin/Simon 1976, 19 f.), aber natürlich
auch moralisch-soziale Verwahrlosung und aggressives bis hin zu gewalttätigem Verhalten gegenüber der sozialen Mitwelt sein.
Die vielfachen Diskussionen um diesen Komplex zeigen zumindest zwei
deutliche Tendenzen: Zum einen wird, wie bereits erwähnt, immer wieder
die Struktur der pluralistischen Gesellschaft mit den genannten Phänomenen in Verbindung gebracht; zum anderen wird dem Bereich der Erziehung zumindest deklamatorisch ein erhöhter Stellenwert zuerkannt.
Die Struktur der pluralistischen Gesellschaft und die mit ihr verbundene ethische Problematik werden später ausführlicher zur Sprache kommen. Aber bereits an dieser Stelle lässt sich sagen, dass ein rechtlich vorgesehener und abgesicherter Pluralismus innerhalb eines gewissen Rahmens
auf jeden Fall auch einen moralischen Pluralismus mit sich bringt, da in
einer pluralistischen Gesellschaft der Staat darauf verzichten muss, seinen
Bürgern Konzepte des guten Lebens und des moralischen Umgangs miteinander zu verordnen, und sogar jedes Individuum, jede soziale Gruppe
und auch jede Institution an dem Versuch hindern muss, sich selbst als
moralische Zwangsautorität für alle zu etablieren. Daraus folgen nicht
zwangsläufig die heute oft beklagte moralische Beliebigkeit und Anarchie,
aber als Möglichkeit scheinen diese in der Struktur einer solchen Gesellschaft ständig präsent zu sein.
Dass diese Möglichkeit in unseren Tagen offenbar virulente Realität
wird, liegt daran, dass in die Sphäre privater, durch Verordnungen aller
Art nicht regulierbarer Lebensorientierung immer öfter nicht nur weltanschaulich-religiöse Lebenskonzepte einbezogen werden, sondern auch
Bereiche, die bislang als Bestandteile des „common sense“ galten und pri-
Einleitung
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vater Beliebigkeit entzogen waren. Dass man z. B. Versprechen halten soll,
ist ein altes moralisches Prinzip, das zwar auch früher oft nicht befolgt
wurde, aber als Norm doch anerkannt war. Dass diese Norm zu den
Grundregeln des Zusammenlebens zählt und insoweit eben nicht der moralischen Beliebigkeit anheim fällt, ist evident und bedarf an dieser Stelle
keiner weiteren Begründung. Zwar wird die Geltung dieser Norm auch
heute theoretisch kaum bestritten; jedoch leben wir in einem öffentlichen
Klima, in welchem tendenziell jeder jedem misstraut und kaum noch
damit rechnet, dass jemand seine Versprechen einfach deshalb hält, weil er
sie eben abgegeben hat. Von Politiker/-innen etwa erwartet man kaum
noch, dass sie ihre Wahlversprechen sinngetreu einhalten – entsprechende
Beanstandungen sind meistens nur Bestandteile politischer Taktik; von
der Werbung, die uns täglich den Einzug ins „Gelobte Land“ verheißt, gilt
dies erst recht, und selbst bei einem drohenden Zerbrechen privater zwischenmenschlicher Beziehungen fällt der Hinweis, dass sich die Partner
schließlich etwas versprochen haben, wohl noch am leichtesten ins Gewicht. Kritisch wird der Zustand also nicht schon dann, wenn Gruppen
und Individuen ihre je eigenen moralischen Überzeugungen haben, sondern wenn diese Pluralisierung schließlich das Netz gemeinsamer Grundregeln des Zusammenlebens zerreißt – etwa so wie es W. Strombach unter
Berufung auf W. Welsch als postmodernes „Radikalwerden von Pluralität“
beschreibt, „die es zwar vorher … auch schon gab, aber nicht in dieser Unbedingtheit. Sie wird nicht mehr getragen und entschärft … durch die
Basis einer gemeinsamen Übereinstimmung“ (Strombach 1995, 13).
Es hat somit den Anschein, dass die moralisch problematischen Seiten
der menschlichen Natur, die an dieser Stelle nicht weiter zu diskutieren
sind, in der pluralistischen Gesellschaft einen besonders günstigen Nährboden finden. Durch keine rigiden Vorgaben und Verbote gehindert, realisiert der Mensch ohne Rücksicht auf das Wohl des Ganzen aus dem Möglichkeitsraum, den er vorfindet oder auch selbst schafft, eben diejenigen,
die seinen eigenen Interessen am ehesten entsprechen. Alles, was dieser
Verwirklichung im Wege steht, wird als Hindernis wahrgenommen und
entweder umgangen oder „bewältigt“ (vgl. Steinvorth 1994, 24 ff. und bes.
Kap.14).
Was nun die Konzentration auf die Erziehung als zweite deutlich werdende Tendenz der heutigen Diskussion angeht, so liegt die Verbindung
ebenso nahe. Nur radikale Vertreter der Postmoderne können bestreiten,
dass eine Gesellschaft ohne gemeinsame moralische Grundorientierungen
nicht lebensfähig ist. Wenn nun der Bestand an solchen Orientierungen
gefährdet ist, so erscheint es besonders wichtig, dafür Sorge zu tragen, dass
wenigstens in der Erziehung moralische Maßstäbe vermittelt werden. Man
setzt die Hoffnung dann auf die nachfolgende Generation, der man die
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Einleitung
moralische Kraft vermitteln will, die die Gesellschaft als ganze nicht mehr
aufbringt, und man lädt der Schule gern die ganze Verantwortung für das
Gelingen auf. Umso größer ist die Enttäuschung, wenn dieser Verschiebungsprozess nicht so recht funktioniert. Man schimpft dann leicht über
die Schule, über die profil- und erziehungsunwilligen Lehrer/-innen, und
nicht zuletzt über die Jugend selbst, die nur noch an Freizeit, „fun“ und
sich selbst interessiert sei, wobei leicht übersehen wird, dass sich die Gesellschaft als ganze in der Jugend, die ja ein Teil von ihr ist, besonders
deutlich widerspiegelt. Individuelle Defizite können zwar auch bei Kindern und Jugendlichen keineswegs immer als Folge gesellschaftlicher Einflüsse betrachtet werden; die kollektiven Defizite jedoch, die man heute
bei „der“ Jugend feststellt, sind durchweg ein Spiegel gesellschaftlicher
Zustände und Fehlentwicklungen. Das gilt z. B. für die von Th. Lickona
vorgelegte gesellschaftliche Zustandsbeschreibung, die steigende Jugendkriminalität, steigenden Drogenkonsum, steigende Gewaltbereitschaft und
als Ursache und gleichzeitig Folge dieses Prozesses ein Absinken moralischer Basiskenntnisse (Lickona 1991, 3 ff.) konstatiert. Diese Entwicklung
dürfte tendenziell in allen westlichen Gesellschaften anzutreffen sein.
Bei der Diskussion dieser Entwicklung gilt es nun, verschiedene Missverständnisse zu vermeiden. Zunächst darf man von der Erziehung und
insbesondere von der schulischen Erziehung nicht die grundlegende Reform der Gesellschaft erwarten. Das hieße, aus anderer Perspektive, mit
anderen Inhalten und einer anderen Zielrichtung den Fehler der späten
Sechziger- und frühen Siebzigerjahre zu wiederholen, als schon einmal von
einer grundlegenden Neugestaltung des Erziehungswesens durch radikalemanzipatorische Ansätze bis hin zur antiautoritären Bewegung eine
Basisreform der gesellschaftlichen Verhältnisse erhofft wurde. Das war
seinerzeit eine unsinnige Überforderung der Institution „Schule“, und das
wäre es auch heute. Die schulische Erziehung hat sich mit den beschriebenen Entwicklungen auseinander zu setzen, sie muss darauf reagieren, sie
muss nach pädagogischen Handlungsmöglichkeiten innerhalb des Systems
fragen und sie mag dadurch auch zu dessen Reform beitragen, so wie jede
wichtige gesellschaftliche Entwicklung dies tut. Die Reflexion des Systems
„Schule“ kann innerhalb des vorgegebenen Rahmens auch zu einer kritischen Selbstanalyse führen und eine Weiterentwicklung fordern. Mehr
aber darf man von ihr nicht verlangen und nicht erwarten.
Ein weiteres mögliches Missverständnis ergibt sich aus der Kritik selbst.
Sie erreicht zuweilen eine Schärfe, die den Eindruck erweckt, als sei alles,
was die neuere westliche Kultur an Einsichten und gesellschaftlichen Entwicklungen hervorgebracht habe, unter moralischem Aspekt von Grund
auf falsch und radikal abzulehnen. Wenn etwa A. MacIntyre in seiner Analyse des Verlusts der Tugenden gleich zu Beginn schreibt, es seien nur noch
Einleitung
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sprachliche „Scheinbilder der Moral“ in unserem Besitz, was auf einen
bisher gar nicht erkannten katastrophalen Verlust der Moral hinweise
(vgl. MacIntyre 1987, 15 ff.), und alle wesentlichen Entwicklungen in diesem Bereich dem Emotivismus zuordnet, also der Theorie, ethisch-moralische Urteile seien letztlich nur Ausdruck von argumentativ nicht miteinander zu vermittelnden Gefühlslagen (vgl. MacInytyre 1987, Kap. 2 bis 9),
so ist von vornherein klar, dass die Zerstörungskraft dieser Kritik die
Gesellschaft als ganze trifft. Wie trotz dieser Fundamentalkritik die von
MacIntyre als positives Gegenbild entfaltete aristotelische Tradition der
Tugendethik „in einer Weise neu formuliert werden“ kann, „die die Verständlichkeit und Rationalität unserer moralischen und sozialen Haltungen und Verpflichtungen wiederherstellt“ (ebd., 345), ist nicht erkennbar.
Der Hinweis auf die Bedeutung „lokaler Formen von Gemeinschaft, in
denen die Zivilisation und das intellektuelle und moralische Leben über
das finstere Zeitalter hinaus aufrechterhalten werden können“ (ebd.), und
die Hoffnung auf einen neuen, „völlig anderen heiligen Benedikt“ (ebd.,
350) wirken eher ratlos.
MacIntyre weist auf diese Möglichkeiten im Anschluss an eine umfassende Kritik des „liberalen, individualistischen Standpunktes“ (ebd., 345)
hin, der nicht mit dem Konzept des Pluralismus identisch ist, aber doch
wichtige Berührungspunkte mit letzterem hat. Es ist ja nicht zu übersehen,
dass das von der Aufklärung normativ entwickelte Prinzip freiheitlichtoleranter Selbstbestimmung sich in der politisch-gesellschaftlichen Praxis
eben nicht so entfaltet hat, wie sich das viele seiner Vertreter vorgestellt
hatten. Es ist eine eigenartige Symbiose eingegangen mit der Trägheit des
Einzelnen, seinem Unterhaltungsbedürfnis, seinen Egoismen, seinen individuellen Neigungen und Glücksansprüchen, seiner Verführbarkeit, und
natürlich auch mit neuen Zwängen, die nicht immer als solche empfunden
werden. Es besteht insoweit schon Anlass, von einer „Gesellschaft der Ichlinge“ oder sogar von einer „autistischen Gesellschaft“ zu sprechen (vgl.
Lempp 1996, 69–86; kritisch H. Keupp 2000, 6ff.).
Auf der anderen Seite ist aber auch festzuhalten, dass der Stellenwert
der Individualität leitmotivartig in der europäischen Geistesgeschichte
immer wieder und nicht erst in der Neuzeit auftaucht. Hegel stellt nicht
ohne Grund fest, dass für das Christentum das „Individuum als solches
einen unendlichen Wert“ gewonnen habe (Hegel 1959, § 482). In der
christlichen Philosophie lässt sich dies leicht an der Entwicklung des Personbegriffs weiterverfolgen, der bereits von Boethius definitorisch mit
dem Begriff der Individualität gekoppelt wird und seitdem über die Scholastik, Leibniz, Kant in dieser Richtung weiterentwickelt worden ist. Die
moderne Philosophie hat sich trotz mancher Korrekturbemühungen dieser Tradition angeschlossen, wobei der von Descartes gesetzte Akzent auf
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Einleitung
dem Bewusstsein des denkenden Ichs immer stärker das Verständnis von
individueller Personalität bestimmt hat – eine Entwicklung, die in anderer
Hinsicht sicher nicht unproblematisch ist (vgl. Honnefelder 1993, 254ff.).
Es ist wichtig, sich diese Tradition klar zu machen, um sich des Rahmens
zu vergewissern, in dem die immer wieder erhobenen Klagen über die
Auswüchse des modernen Egoismus und Individualismus ihren Ort
haben. Die Individualität der menschlichen Person bestimmt in der europäischen Geschichte mehr und mehr das Selbstverständnis des Menschen,
und trotz aller berechtigten Kritik an den damit zusammenhängenden
Fehlentwicklungen sollte unstrittig sein, dass der Gedanke einer individuellen menschlichen Würde zum Besten gehört, was unsere Kultur hervorgebracht hat. Die pluralistische Gesellschaft selbst verdankt ihre Entstehung dieser Geschichte und hat nicht zufällig die personale Würde unter
einen besonderen rechtlichen Schutz gestellt.
Es geht also in diesem Buch nicht darum, Möglichkeiten der moralischen Erziehung für einen grundsätzlich alternativen gesellschaftlichen
Kontext zu entwickeln, sondern in differenzierender Betrachtung zunächst
die Problematik zu entfalten, die sich von den Grundlagen der pluralistischen Gesellschaft aus für die moralische Erziehung ergibt, und Antworten aufzuzeigen, die sich ebenfalls in diesem grundsätzlichen Rahmen anbieten. Dabei geht es zunächst um die ethischen Fragen, die sich von den
Prinzipien der pluralistischen Gesellschaft her stellen (1. Kapitel), im Anschluss daran um die aus der Perspektive der philosophischen Ethik sich
ergebenden moralpädagogischen Antworten (2. Kapitel). Diese beziehen
sich auf Ziele und Inhalte (1), aber auch auf die Erziehungswirklichkeit
und besonders markante Erziehungskonzepte (2), die in den letzten Jahrzehnten erprobt und diskutiert wurden. In diesen Zusammenhang gehört
auch die Diskussion von institutionellen Möglichkeiten einer schulischen
Realisierung moralpädagogischer Ansätze in bestimmten Fächern sowie
einiger Konzepte zur Neugestaltung der Schule. Das Schwergewicht der
Darstellung wird auf der Schule als Erziehungsinstanz liegen, wenngleich
die allgemeine Problematik, die grundlegenden Erziehungsziele und oft
auch die Erziehungsmethoden natürlich nicht auf die Schule beschränkt
sind, sondern auch für andere gesellschaftliche Bereiche – nicht zuletzt
auch für die häusliche Erziehung – gelten.
Fragen der moralischen Erziehung haben sich seit jeher in einem interdisziplinären Kontext bewegt. Als Bezugsdisziplinen kommen neben der
Pädagogik vor allem die Theologie, die Soziologie, die Psychologie und die
Philosophie in Betracht. Einsichten und Betrachtungsweisen dieser Disziplinen werden auch in dieser Untersuchung ständig präsent sein. Von den
Bezugsdisziplinen außerhalb der Pädagogik wird dabei die Philosophie die
dominierende Rolle spielen. Man kann zwar nicht behaupten, dass diese
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