Zur Einführung der Studiengänge Historische Anthropologie - Biologische Anthropologie Die neuen Studiengänge entsprechen dem Bemühen, naturwissenschaftlich-medizinische, sozialund geisteswissenschaftliche Fragestellungen zu einer Lehreinheit zu verbinden, weil der Mensch einerseits Teil der Natur ist, andererseits die Fähigkeit besitzt, sich zur Natur und zu sich selber zu verhalten, sein Umfeld in einem umfassenden Sinne zu gestalten, Kultur hervorzubringen. Getragen werden die Studiengänge von den Fächern Biologie, Medizin (Humangenetik und Anthropologie, Medizingeschichte), Ur- und Frühgeschichte, Geschichte, Provinzialrömische Archäologie und Soziologie. Lehrveranstaltungen, die auf den Studiengang angerechnet werden können, werden außerdem von den Fächern Philosophie und Psychologie angeboten. An den Vorbereitungen für die Studiengänge war schließlich auch das Fach Völkerkunde beteiligt, welches ebenfalls als Träger für die Studiengänge gewonnen werden soll. Der Begriff Anthropologie ist nach seiner wörtlichen Bedeutung vage und viel zu wenig abgegrenzt, um eine ausreichende inhaltliche Präzision zu liefern. Daher bemüht man sich seit jeher, durch Präzisierungen deutlich zu machen, von welcher wissenschaftlichen Seite her man sich mit dem Menschen beschäftigt. In Mitteleuropa versteht man unter der Fachdisziplin Anthropologie in der Regel die Wissenschaft von der biologischen Variabilität des Menschen. Die Biologische Anthropologie ist dabei diejenige wissenschaftliche Disziplin, die sich primär mit der physischen Seite des Menschen, aber auch deren kultureller Überformung beschäftigt. Die „Lehre vom Menschen“, wie die biologische Richtung der Anthropologie auch traditionell genannt wird, beinhaltet so unterschiedliche Bereiche wie die Suche nach dem evolutionsbiologischen Ursprung des Menschen, bis hin zum Homo sapiens, dessen geographische Differenzierung und heutige Verbreitung über die Kontinente, aber auch die Beschäftigung mit seiner physischen Gestalt, den körperlichen Funktionen und deren Störungen in ihrem umweltbedingten Kontext. In England, den USA und anderen Ländern mit englischer Sprache oder Kultureinfluss ist mit der Biological Anthropology (oder Physical Anthropology, Human Biology), nur ein Teil der dortigen Anthropologie abgedeckt. Die umfassendere Sichtweise der Anthropologie drückt sich in der Fachrichtung der Cultural Anthropology aus, wobei Anthropologie umfassend als Überbegriff für all das verstanden wird, was man bei uns den Humanwissenschaften zuschreibt, d.h. neben der biologischen Anthropologie gehören dazu auch die Kultur- und Sozialwissenschaften (z.B. Ethnologie, Ur- und Frühgeschichte, Archäologie, Volkskunde, Soziologie, Linguistik). Auch in Mitteleuropa ist die Biologische Anthropologie keine isolierte Disziplin, sondern hat vielseitige Beziehungen zu Nachbardisziplinen, vor allem zur Humangenetik. Die Biologische Anthropologie kooperiert auch hier eng mit den Kultur- und Sozialwissenschaften, doch stellen diese vollständig selbständige Disziplinen dar. Die Biologische Anthropologie beschäftigt sich mit dem Menschen als lebendem Teil der Natur in seiner Abhängigkeit von seinen genetischen Anlagen und modifizierend wirkenden Umweltfaktoren und kann damit definiert werden als "Biologische Variabilität des Menschen in seiner zeitlichen und räumlichen Ausdehnung". Ein klassisches Thema der Biologischen Anthropologie ist die 1. Erforschung der menschlichen Stammesgeschichte (Paläoanthroplogie) Es wird der Weg nachvollzogen, „wie der Mensch zum Menschen wurde“. Dies beinhaltet die Rekonstruktion der Fossilgeschichte der Hominiden, um die rein physischen Veränderungen zu erkennen. Um sie aber erklären zu können, bedarf es eines Wissenschaftskonzeptes, das die beobachteten antomischen Konstruktionen in einen zeitlichen und räumlichen Kontext stellt. Dazu wird untersucht, unter welchen Umweltbedingungen sich bestimmte Veränderungen etablieren konnten (Konzept der biologischen Adaptation). Vor allem der Weg des Menschen „out of africa“ in der Hominidenevolution ist hier zentraler Forschungsgegenstand. Dabei beschränkt sich die Anthropologie nicht auf den Menschen allein, sondern bezieht die systematisch nahestehenden höheren Affen (Primaten) und deren Stammesgeschichte ein. Die Bearbeitung der Fossilfunde – deren Anzahl in den beiden letzten Jahrzehnten stark zugenommen hat – verlangt zwingend die Integration weiterer Fachgebiete wie der vergleichenden Anatomie, Botanik, Geologie, Klimatologie und Ökologie. Bessere Methoden zur absoluten Altersbestimmung und innovative Denkan- sätze führten seit den siebziger Jahren hier zu komplexen Modellbildungen (z.B. zur Out-ofAfrica-Theorie, die von einem uniregionalen Ursprung des modernen Menschen [H. sapiens] ausgeht; dazu im Gegensatz steht das multiregionale Modell von der Entstehung des modernen Menschen). Die Informationen aus den kooperierenden Fachgebieten dienen dabei u.a. dazu, mögliche Faktoren zu erkennen, die zufällig entstandene genetische Veränderungen selektiert bzw. den Prozess der Menschwerdung anderweitig beeinflusst haben. In ihren jüngeren Epochen wird die Paläoanthropologie zur Bevölkerungsgeschichte und mündet in die Prähistorische Anthropologie. 2. Prähistorische Anthropologie Der Übergang in die Prähistorische Anthropologie ist fließend. Von ihr spricht man in der Regel im Anschluss an die Fossilgeschichte, die mit dem Auftreten des neuzeitlichen Menschen (Homo sapiens) endet. Die Prähistorische Anthropologie beschäftigt sich mit jüngeren Skelettfunden, die zeitlich bis in historische Zeiten und sogar bis in die Frühe Neuzeit reichen. Kooperationen mit Nachbardisziplinen betreffen – im weitesten Sinne – Grundlagenfächer wie die Klimatologie, Bodenkunde und Anthropogeographie, Historische Biowissenschaften wie die Paläoethnobotanik, Archäozoologie und Medizingeschichte, Historische Sozial- und Kulturwissenschaften wie die Urund Frühgeschichte, die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Soziologie, Ethologie, Linguistik, Demographie sowie die Archäometrie. Unter dem Begriff Archäometrie sind diejenigen naturwissenschaftliche Methoden systematisiert, die zur Untersuchung von Sachüberresten im Sinne der allgemeinen historischen Quellenkunde herangezogen werden. Zu Sachüberresten zählen körperliche und organische Überreste, Bauwerke, Gerätschaften, Kunst- und Gewerbeerzeugnisse, aber auch Landschaftselemente, Böden und Landschaftsformen (B. Herrmann). Zu den Gegenständen der Prähistorischen Anthropologie gehören nicht nur Fragen der Bevölkerungsgeschichte, sondern auch solche der Ethnogenese (Untersuchung regionaler Bevölkerungen [Ethnien], die sich einer biologischen Abstammungsgemeinschaft zurechnen, unter dem Aspekt ihrer Herkunft und Ausbreitung, dazu kommt die demographische Rekonstruktion früherer Bevölkerungen (Paläodemographie) und die Erschließung der Krankheitsbelastung des Menschen in früheren Zeiten (Paläopathologie). Ein Ziel der Prähistorischen Anthropologie ist die Untersuchung der Frage, inwieweit Veränderungen der Umwelt auf die untersuchten Populationen differenzierend wirken, wie die jeweiligen Lebensbedingungen die biologische Natur des Menschen prägen und wie Umweltveränderungen den Menschen prägen. Eine der modernsten Arbeitsrichtungen der (Prä)Historischen Anthropologie stellt damit zweifellos die Umweltforschung dar. Die körperlichen Überreste des Menschen, welche die Prähistorische Anthropologie untersucht, sind ein bedeutendes Quellenmaterial. Aus ihnen lassen sich u.a. individuelle biologische Daten wie Alter, Geschlecht, Körperhöhe, Krankheiten und besondere Merkmale erschließen. Werden diese Individualdaten miteinander verbunden, ergeben sich daraus Aussagen über die biologischen Marker einer ehemaligen Bevölkerung. Die aus den Individualdaten auf der Bevölkerungsebene ableitbaren Aussagen zum Altersaufbau, zur Geschlechterrelation, zur Kindersterblichkeit und zur Krankheitsbelastung sind zugleich auch fundamentale sozialgeschichtliche Daten. In jüngster Zeit haben sich die methodischen Möglichkeiten der Prähistorischen Anthropologie durch die Einbeziehung der molekularen Ebene stark erweitert. Damit gewann die Rekonstruktion von Lebensgewohnheiten des Menschen anhand der Analyse von Spurenelementen und stabilen Isotopen an Gewicht (damit werden Aussagen zu lokalen ökologischen Gegebenheiten [Ressourcen], Subsistenzstrategien, zu differentieller Ernährung, Migration, Handelsbeziehungen u.a. möglich) und hat sich durch die aDNA-Analyse (Analyse alter DNA) das methodische Spektrum und die Sicherheit von Aussagen zur individuellen Geschlechtsbestimmung, zur Verwandtschaft von Individuen (Familienanalyse) und Gruppen (Interpopulationsanalyse) sowie die Identifizierung von Krankheiten (z.B. Tuberkulose) erheblich verbessert. Auf der Grundlage der Merkmalsvariabilität einschließlich ihrer genetischen Basis fußen weitere Gebiete aus der Biologischen Anthropologie, mit denen wir uns im Rahmen der neuen Studiengänge u.a. beschäftigen: Geographische Anthropologie, vergleichende Bevölkerungsbiologie und Soziobiologie. Die Geographische Anthropologie (oder Ethnische Anthropologie) widmet sich in ihrer heutigen Bedeutung Fragen nach der regionalen Differenzierung ethnischer Gruppen, d.h. sie untersucht die geographische Merkmalsverteilung und fragt nach deren Ursachen. In der Bevölkerungsbiologie werden z.B. biologische und demographische Aspekte der Bevölkerungsentwicklung im Verlauf der Geschichte bis zur Gegenwart betrachtet, also etwa der Aspekt der Migration, der schon für den frühen Homo sapies Bedeutung hat. Die Soziobiologie untersucht die evoluierten Mechanismen, die tierisches und menschliches Sozialverhalten bestimmen. Einsichten aus Genetik, Verhaltensforschung und Ökologie werden dabei zu einem aktuellen Bild von der Biologie des sozialen Miteinanders zusammengefügt. Es ist dies ein sehr modernes, wenn auch kontrovers diskutiertes Arbeitsgebiet der Anthropologie. Gerade hier werden aber auch die für unseren Studiengang so relevanten Wechselwirkungen zwischen Natur und Kultur besonders deutlich, etwa in der Betrachtung der Kooperation und der Konflikt in sozialen Gruppen, in der Beziehung der Geschlechter und im Eltern-Kind-Verhältnis. 3. Aktuelle anwendungsorientierte Arbeitsgebiete der biologischen Anthropologie Besondere anwendungsbezogenen Fragestellungen haben sich in den letzten Jahren entwickelt. Die entsprechenden Forschungsfelder betreffen u.a. die Forensische Anthropologie (z.B. Taphonomie, Identifizierung, Verifizierung), die Industrieanthropologie (z.B. Gestaltung der körpernahen Umwelt), Somatologie (Variabilität körperlicher Merkmale), Humanphysiologie (Biomechanik, Hormonhaushalt), Alternsforschung (z.B. Biogerontologie) und die Biodemographie (z.B. Morbiditäts-, Mortalitätsstrukturen, Sterblichkeitsdisparitäten, Migration). In den genannten Bereichen gibt die biologische Anthropologie häufig konzeptionelle Anregungen und bringt fachspezifische Forschungsansätze in die interdisziplinären Forschung ein. Eine Sonderstellung im Rahmen der Naturwissenschaften kommt der Biologischen Anthropologie dadurch zu, dass sie auf Beobachtungen des Menschen angewiesen ist und nicht in der Lage ist, reproduzierbare Ergebnisse in Form von naturwissenschaftlichen Experimenten aufzustellen. Dadurch hat sich ein spezielles Methodenspektrum ausgebildet, das einerseits sehr genau potentielle Einflussfaktoren auf die biologische Variabilität des Menschen erkennt und diese andererseits mit speziellen mathematisch-statistischen Methoden auf ihre Wirkung testet. Im Rahmen der Kulturwissenschaften ist die Frage danach, was den Menschen als Menschen ausmacht, was ihn also z. B. vom Tier unterscheidet, schon früh reflektiert worden. Historiker haben sich diese Frage kaum explizit gestellt, obwohl sie in ihren Erklärungen immer von Annahmen darüber ausgingen, was das Handeln des Menschen bestimmt, und in diesem Sinne auch Lehren für zukünftige Generationen vermitteln wollten. Eine „historische Anthropologie“ ist erst spät entstanden, in Deutschland seit den 60er Jahren unseres Jahrhunderts, aber je nach Ausrichtung kann man verschiedene „Vorläufer“ ausmachen. Die philosophische Anthropologie stützte sich seit der frühen Neuzeit entweder auf Beobachtungen von Reisenden oder auf naturwissenschaftlich-medizinische Untersuchungen und erfasste vor daher das „Wesen“ des Menschen; eine andere Richtung ging von geschichtsphilosophischen Konstruktionen aus; in unserem Jahrhundert schließlich haben Philosophen wie Plessner beide Ansätze zu vereinigen gesucht, indem sie den Menschen einerseits durch seine „Positionalität“ in der Natur, andererseits durch seine „Exzentrizität“ kennzeichneten, d.h. durch seine Fähigkeit, einen Standpunkt außerhalb seiner natürlichen Positionalität einzunehmen. - Die medizinische Anthropologie vor allem des 18. Jahrhunderts war durch die Schädelforschung bestimmt, auf deren Basis sowohl die Geschlechter als auch Rassen voneinander unterschieden wurden. Die Kulturanthropologie amerikanischer Prägung, in der Ethnologie, prähistorische Archäologie und Ethnolinguistik zusammenflossen, zielte darauf, menschliche Universalia zu konstituieren. Die französische Schule der Annales setzte sich von der traditionellen Ereignisgeschichte ab, propagierte statt dessen eine histoire totale de l’homme und wollte diese besonders in von „langer Dauer“ geprägten Phänomenen verwirklichen. Für jeden empirischen Zugang zur Geschichte und zur menschlichen Lebenswelt kann nicht der Mensch als solcher unmittelbar Gegenstand der Erkenntnis sein. Historiker, Soziologen, Ethnologen, Volkskundler haben es immer mit Frauen und Männern, mit Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und Alten, mit Angehörigen verschiedener Stämme, Völker, mit Repräsentanten unterschiedlicher Kulturen zu tun. Für die Freiburger Studiengänge wird folgende Annäherung an das Problemfeld „Historische Anthropologie“ zugrundegelegt: 1. Historische Anthropologie zielt auf Grundphänomene menschlichen Lebens. Was solche Grundphänomene sind, liegt nicht ein für allemal fest. Sicher dazu gehören alle die Erscheinungen, die mit der biologischen Natur des Menschen, dessen Körperlichkeit zusammenhängen, also z.B. die Differenz zwischen den Geschlechtern, Geburt, Lebenszyklen, Krankheit, Sterben, Tod, aber auch die Sinneswahrnehmungen und Emotionen des Menschen. Alle diese Erscheinungen sind uns nicht in einer biologischen Reinform gegeben, sondern immer schon als kulturell interpretierte. Zu menschlichen Grundphänomenen gehören weiter Formen der sozialen Organisation, so Inzest- und Heiratsregeln, Familie und Verwandtschaft, Besitzübertragung, normative Ordnungen, Legitimation und Ausübung von Macht, ferner Sinnstrukturen und Weltbilder. 2. Historische Anthropologie untersucht solche Erscheinungen in ihrer Zeitlichkeit und damit auch Veränderbarkeit. Ob es so etwas wie anthropologische Konstanten gibt, ist umstritten. Aber es gibt Herausforderungen an Menschen und menschliche Gruppen, die, auch wenn sie jeweils unterschiedlich wahrgenommen und formuliert werden, immer auftreten und miteinander vergleichbar sind: so das Verhältnis des Menschen zu seiner Körperlichkeit, seiner Physis; die Konstitution von Wir-Gruppen und deren Ordnung; die Frage nach der Begründung ethischer Forderungen und dem Sinn menschlichen Handelns etc. Grundsätzlich ist kein Bereich menschlichen Lebens aus der historisch-anthropologischen Forschung ausgeschlossen. 3. Für die konkrete wissenschaftliche Arbeit ergeben sich daraus folgende Forderungen: a) Es wird davon ausgegangen, dass jeder Studierende sich die Standards wissenschaftlichen Arbeitens in mindestens einem Fachgebiet (also z.B. Ethnologie, Geschichte, Soziologie) von Grund auf aneignet. b) Im Hinblick auf historisch-anthropologische Fragestellungen müssen Probleme so formuliert werden, dass sie als generelle Probleme erkennbar werden. Das bedeutet nicht, dass jede Lehrveranstaltung im Rahmen der Historischen Anthropologie vergleichend oder universalhistorisch angelegt sein muss. Man kann also auch das Sterben im Mittelalter oder die normative Ordnung im republikanischen Rom behandeln. Dies sollte aber so geschehen, dass die Fragestellungen im Rahmen vergleichender oder theoretischer Betrachtungen gewonnen und die Ergebnisse so gefasst werden, dass sie wiederum dem Vergleich mit anderen Gesellschaften oder der Theoriebildung dienen. Das Vergleichen ist ein wesentliches Mittel historisch-anthropologischer Forschung. c) Was die Methoden des Vergleichens angeht, so lassen sich grundsätzlich zwei Formen unterscheiden. Die eine besteht darin, dass bestimmte Gegenstandsbereiche wie z.B. Familie, das Geschlechterverhältnis, Formen religiöser Betätigung, die Konstitution normativer Ordnungen, die Ausübung von Macht etc. über verschiedene Kulturen hinweg miteinander verglichen werden. Die Ratio dieses Vergleichens liegt in der Setzung, dass 1. die genannten Gegenstandsbereiche, wie schon ausgeführt, auf gemeinsame Herausforderungen zurückgehen, und dass 2. den „Antworten“ auf die Herausforderungen eine gewisse „Sachlogik“ zugrunde liegt, anders ausgedrückt: es gibt nicht beliebig viele „Antworten“, und diese lassen sich - ebenso wie die unterschiedlichen Wahrnehmungen eines Problems - wesentlich im Rahmen der Entfaltung des Problemfeldes verstehen. - Die zweite Form des Vergleichens muss nicht im Widerspruch zur ersten stehen; faktisch werden beide aber nur selten kombiniert. Diese Form beruht auf der Annahme, dass sich sowohl Wahrnehmungsweisen als auch Problemlösungen nur im Rahmen eines kulturellen Zusammenhangs voll verstehen lassen, dass also z.B. Verwandtschaftsformen auf die gesellschaftliche Organisation insgesamt und diese wiederum auf die Ausübung von Macht bezogen sind; oder dass philosophische Reflexionen abhängig sind von den Formen, in denen in einer Gesellschaft Wirklichkeit wahrgenommen wird. Geht man von diesen Voraussetzungen aus, dann lassen sich Vergleiche sinnvoll nur dann durchführen, wenn jeweils der Gesamtkontext der betroffenen Gesellschaften berücksichtig wird. - Es gibt keinen Königsweg des Vergleichens. Für die Annahme von „Sachlogiken“ sprechen ebenso gute Gründe wie für die Notwendigkeit von tendenziell holistischen, d.h. ganzheitlichen Analysen von Gesellschaften. Beide Verfahren sollen in den anthropologischen Studiengängen ihren Platz haben. d) Da historische Anthropologie, wenn auch mittelbar, auf die Erkenntnis des Menschen zielt, müssen ihre Methoden derart sein, dass sie nicht nur der Erhellung von „Strukturen und Prozessen“ (J. Kocka) dienen, sondern dass auch die handelnden Personen selber in den Blick kommen. Es gilt also Praxis zu untersuchen, Mentalitäten, Dispositionen, „Habitus“ in den Handlungen aufzusuchen. Das ist z.B. ein Ziel der an der Ethnologie ausgerichteten Alltagsgeschichte. Deren Repräsentanten haben kritisiert, dass Historiker ihre Aussagen über Mentalitäten häufig aus hochkulturellen Objektivationen, also z.B. aus der Literatur und der Philosophie, gewinnen, ohne zu kontrollieren, ob so eruierte Mentalitäten tatsächlich die Praxis einzelner oder von Gruppen bestimmen. Diese Problematik hat zu der For- derung geführt, Aussagen über Mentalitäten überhaupt nur „praxeologisch“, d.h. durch Reihenuntersuchungen von Handlungen, zu gewinnen. Dabei wird der Unterschied zwischen Mentalität und Praxis aufgehoben, weil sich eben Mentalitäten in den Praktiken zeigen. So berechtigt die Einsprüche der Alltagsgeschichte sind, so wenig einsehbar ist es, Historische Anthropologie auf Alltagsgeschichte festzulegen. Denn zum einen ist es methodisch fragwürdig zu glauben, durch „dichte Beschreibung“ ließen sich alle Determinanten einer Praxis gewinnen; zum anderen gibt es keinen Grund, warum nicht kulturelle Objektivationen als Zuspitzungen, gegebenenfalls auch als „Transgressionen“ einer bestimmten Wirklichkeit für deren Rekonstruktion herangezogen werden sollten. Es bleibt die Forderung, im Handeln von Personen und Personengruppen die Verarbeitung von Wahrnehmungsweisen, Deutungsmustern, biographischen Erfahrungen deutlich zu machen. Wenn „Strukturen und Prozesse“ nicht mehr mit dem Handeln von Personen oder Gruppen vermittelbar sind, hat eine Historische Anthropologie ihr Recht verloren. e) Historische Anthropologie hat es schließlich auch mit der Frage zu tun, wie die Handlungskompetenzen des Menschen entstanden sind. Dafür sind Übergangssituationen besonders aufschlussreich, also z.B. die Entstehung der produzierenden Wirtschaftsweise, die Entstehung der frühen Hochkulturen und politisch organisierter Gemeinschaften („Staaten“), die Entstehung eines apersonalen Konzepts von Herrschaft etc. Im Hintergrund steht dabei nicht die Vorstellung einer linearen oder gar teleologisch bestimmten Entwicklung der Menschheit. Es geht vielmehr um die Bedingungen, unter denen menschliche Gruppen bestimmte Kompetenzen gewonnen - und ggf., wie z.B. beim Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter, auch wieder verloren - haben. Unmittelbar relevant werden genetische Fragen auch beim Übergang von der Naturgeschichte zur prähistorischen Geschichte der Menschheit (vgl. oben). In einem systematischen Sinn ist die Frage aber bis heute präsent: nämlich als Frage danach, wie die im Rahmen der Naturgeschichte des Menschen, der Phylogenese, entstandenen Selektionen den Raum menschlicher Möglichkeiten determinieren (oder ob solche Selektionen vielleicht sogar in historischer Zeit modifiziert wurden). Besonders heftig diskutiert wird die Frage z.B. im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis, aber auch im Rahmen bioethischer und sozio-biologischer Problemstellungen. Kürzlich wurde sogar die Behauptung aufgestellt, auch das religiöse Verhalten des Menschen sei von biologischen Faktoren abhängig (W. Burkert). Die besonderen Chancen der Freiburger Studiengänge bestehen darin, dass solche Fragen (und andere, die teilweise in den Ausführungen zur biologischen Anthropologie angesprochen sind) aus der Perspektive sowohl der Natur- als auch der Kulturwissenschaften angegangen werden können, dass ferner durch die beteiligten Fächer auch günstige Voraussetzungen für vergleichende Fragestellungen bestehen. Die beste Form für die Behandlung solcher Probleme wären gemeinsame Veranstaltungen der Repräsentanten verschiedener Fächer; sie scheitern aber oft an den anderweitigen Verpflichtungen der Dozentinnen und Dozenten, die ja nicht für die Anthropologie-Studiengänge freigestellt sind. Ein gewisser Ersatz dafür könnte es sein, dass häufiger die Möglichkeit wahrgenommen wird, Dozentinnen und Dozenten für eine oder zwei Sitzungen als Gäste einzuladen. Unabhängig davon sollten aber anthropologische Veranstaltungen grenzüberschreitend angelegt sein. Die Fragestellungen, Methoden und Ergebnisse der verschiedenen Disziplinen dürfen nicht nebeneinander stehen bleiben, die Integration nicht allein den Studierenden überlassen werden.