Zur Einführung der Studiengänge - Zentrum für Anthropologie und

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Zur Einführung der Studiengänge
Historische Anthropologie - Biologische Anthropologie
Die neuen Studiengänge entsprechen dem Bemühen, naturwissenschaftlich-medizinische, sozialund geisteswissenschaftliche Fragestellungen zu einer Lehreinheit zu verbinden, weil der Mensch
einerseits Teil der Natur ist, andererseits die Fähigkeit besitzt, sich zur Natur und zu sich selber
zu verhalten, sein Umfeld in einem umfassenden Sinne zu gestalten, Kultur hervorzubringen.
Getragen werden die Studiengänge von den Fächern Biologie, Medizin (Humangenetik und
Anthropologie, Medizingeschichte), Ur- und Frühgeschichte, Geschichte, Provinzialrömische Archäologie und Soziologie. Lehrveranstaltungen, die auf den Studiengang angerechnet werden
können, werden außerdem von den Fächern Philosophie und Psychologie angeboten. An den
Vorbereitungen für die Studiengänge war schließlich auch das Fach Völkerkunde beteiligt, welches ebenfalls als Träger für die Studiengänge gewonnen werden soll.
Der Begriff Anthropologie ist nach seiner wörtlichen Bedeutung vage und viel zu wenig abgegrenzt, um eine ausreichende inhaltliche Präzision zu liefern. Daher bemüht man sich seit jeher,
durch Präzisierungen deutlich zu machen, von welcher wissenschaftlichen Seite her man sich mit
dem Menschen beschäftigt. In Mitteleuropa versteht man unter der Fachdisziplin Anthropologie in
der Regel die Wissenschaft von der biologischen Variabilität des Menschen. Die Biologische
Anthropologie ist dabei diejenige wissenschaftliche Disziplin, die sich primär mit der physischen
Seite des Menschen, aber auch deren kultureller Überformung beschäftigt. Die „Lehre vom Menschen“, wie die biologische Richtung der Anthropologie auch traditionell genannt wird, beinhaltet
so unterschiedliche Bereiche wie die Suche nach dem evolutionsbiologischen Ursprung des
Menschen, bis hin zum Homo sapiens, dessen geographische Differenzierung und heutige
Verbreitung über die Kontinente, aber auch die Beschäftigung mit seiner physischen Gestalt, den
körperlichen Funktionen und deren Störungen in ihrem umweltbedingten Kontext.
In England, den USA und anderen Ländern mit englischer Sprache oder Kultureinfluss ist mit der
Biological Anthropology (oder Physical Anthropology, Human Biology), nur ein Teil der dortigen
Anthropologie abgedeckt. Die umfassendere Sichtweise der Anthropologie drückt sich in der
Fachrichtung der Cultural Anthropology aus, wobei Anthropologie umfassend als Überbegriff für
all das verstanden wird, was man bei uns den Humanwissenschaften zuschreibt, d.h. neben der
biologischen Anthropologie gehören dazu auch die Kultur- und Sozialwissenschaften (z.B. Ethnologie, Ur- und Frühgeschichte, Archäologie, Volkskunde, Soziologie, Linguistik). Auch in Mitteleuropa ist die Biologische Anthropologie keine isolierte Disziplin, sondern hat vielseitige Beziehungen zu Nachbardisziplinen, vor allem zur Humangenetik. Die Biologische Anthropologie kooperiert auch hier eng mit den Kultur- und Sozialwissenschaften, doch stellen diese vollständig
selbständige Disziplinen dar.
Die Biologische Anthropologie beschäftigt sich mit dem Menschen als lebendem Teil der Natur
in seiner Abhängigkeit von seinen genetischen Anlagen und modifizierend wirkenden Umweltfaktoren und kann damit definiert werden als "Biologische Variabilität des Menschen in seiner
zeitlichen und räumlichen Ausdehnung". Ein klassisches Thema der Biologischen Anthropologie
ist die
1. Erforschung der menschlichen Stammesgeschichte (Paläoanthroplogie)
Es wird der Weg nachvollzogen, „wie der Mensch zum Menschen wurde“. Dies beinhaltet die Rekonstruktion der Fossilgeschichte der Hominiden, um die rein physischen Veränderungen zu erkennen. Um sie aber erklären zu können, bedarf es eines Wissenschaftskonzeptes, das die beobachteten antomischen Konstruktionen in einen zeitlichen und räumlichen Kontext stellt. Dazu
wird untersucht, unter welchen Umweltbedingungen sich bestimmte Veränderungen etablieren
konnten (Konzept der biologischen Adaptation). Vor allem der Weg des Menschen „out of africa“
in der Hominidenevolution ist hier zentraler Forschungsgegenstand. Dabei beschränkt sich die
Anthropologie nicht auf den Menschen allein, sondern bezieht die systematisch nahestehenden
höheren Affen (Primaten) und deren Stammesgeschichte ein. Die Bearbeitung der Fossilfunde –
deren Anzahl in den beiden letzten Jahrzehnten stark zugenommen hat – verlangt zwingend die
Integration weiterer Fachgebiete wie der vergleichenden Anatomie, Botanik, Geologie, Klimatologie und Ökologie. Bessere Methoden zur absoluten Altersbestimmung und innovative Denkan-
sätze führten seit den siebziger Jahren hier zu komplexen Modellbildungen (z.B. zur Out-ofAfrica-Theorie, die von einem uniregionalen Ursprung des modernen Menschen [H. sapiens]
ausgeht; dazu im Gegensatz steht das multiregionale Modell von der Entstehung des modernen
Menschen). Die Informationen aus den kooperierenden Fachgebieten dienen dabei u.a. dazu,
mögliche Faktoren zu erkennen, die zufällig entstandene genetische Veränderungen selektiert
bzw. den Prozess der Menschwerdung anderweitig beeinflusst haben. In ihren jüngeren Epochen
wird die Paläoanthropologie zur Bevölkerungsgeschichte und mündet in die Prähistorische Anthropologie.
2. Prähistorische Anthropologie
Der Übergang in die Prähistorische Anthropologie ist fließend. Von ihr spricht man in der Regel
im Anschluss an die Fossilgeschichte, die mit dem Auftreten des neuzeitlichen Menschen (Homo
sapiens) endet. Die Prähistorische Anthropologie beschäftigt sich mit jüngeren Skelettfunden, die
zeitlich bis in historische Zeiten und sogar bis in die Frühe Neuzeit reichen. Kooperationen mit
Nachbardisziplinen betreffen – im weitesten Sinne – Grundlagenfächer wie die Klimatologie, Bodenkunde und Anthropogeographie, Historische Biowissenschaften wie die Paläoethnobotanik,
Archäozoologie und Medizingeschichte, Historische Sozial- und Kulturwissenschaften wie die Urund Frühgeschichte, die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Soziologie, Ethologie, Linguistik,
Demographie sowie die Archäometrie. Unter dem Begriff Archäometrie sind diejenigen naturwissenschaftliche Methoden systematisiert, die zur Untersuchung von Sachüberresten im Sinne der
allgemeinen historischen Quellenkunde herangezogen werden. Zu Sachüberresten zählen körperliche und organische Überreste, Bauwerke, Gerätschaften, Kunst- und Gewerbeerzeugnisse,
aber auch Landschaftselemente, Böden und Landschaftsformen (B. Herrmann). Zu den Gegenständen der Prähistorischen Anthropologie gehören nicht nur Fragen der Bevölkerungsgeschichte, sondern auch solche der Ethnogenese (Untersuchung regionaler Bevölkerungen
[Ethnien], die sich einer biologischen Abstammungsgemeinschaft zurechnen, unter dem Aspekt
ihrer Herkunft und Ausbreitung, dazu kommt die demographische Rekonstruktion früherer Bevölkerungen (Paläodemographie) und die Erschließung der Krankheitsbelastung des Menschen in
früheren Zeiten (Paläopathologie). Ein Ziel der Prähistorischen Anthropologie ist die Untersuchung der Frage, inwieweit Veränderungen der Umwelt auf die untersuchten Populationen differenzierend wirken, wie die jeweiligen Lebensbedingungen die biologische Natur des Menschen
prägen und wie Umweltveränderungen den Menschen prägen. Eine der modernsten Arbeitsrichtungen der (Prä)Historischen Anthropologie stellt damit zweifellos die Umweltforschung dar.
Die körperlichen Überreste des Menschen, welche die Prähistorische Anthropologie untersucht,
sind ein bedeutendes Quellenmaterial. Aus ihnen lassen sich u.a. individuelle biologische Daten
wie Alter, Geschlecht, Körperhöhe, Krankheiten und besondere Merkmale erschließen. Werden
diese Individualdaten miteinander verbunden, ergeben sich daraus Aussagen über die biologischen Marker einer ehemaligen Bevölkerung. Die aus den Individualdaten auf der Bevölkerungsebene ableitbaren Aussagen zum Altersaufbau, zur Geschlechterrelation, zur Kindersterblichkeit
und zur Krankheitsbelastung sind zugleich auch fundamentale sozialgeschichtliche Daten. In
jüngster Zeit haben sich die methodischen Möglichkeiten der Prähistorischen Anthropologie
durch die Einbeziehung der molekularen Ebene stark erweitert. Damit gewann die Rekonstruktion
von Lebensgewohnheiten des Menschen anhand der Analyse von Spurenelementen und stabilen
Isotopen an Gewicht (damit werden Aussagen zu lokalen ökologischen Gegebenheiten [Ressourcen], Subsistenzstrategien, zu differentieller Ernährung, Migration, Handelsbeziehungen u.a.
möglich) und hat sich durch die aDNA-Analyse (Analyse alter DNA) das methodische Spektrum
und die Sicherheit von Aussagen zur individuellen Geschlechtsbestimmung, zur Verwandtschaft
von Individuen (Familienanalyse) und Gruppen (Interpopulationsanalyse) sowie die Identifizierung
von Krankheiten (z.B. Tuberkulose) erheblich verbessert.
Auf der Grundlage der Merkmalsvariabilität einschließlich ihrer genetischen Basis fußen weitere
Gebiete aus der Biologischen Anthropologie, mit denen wir uns im Rahmen der neuen Studiengänge u.a. beschäftigen: Geographische Anthropologie, vergleichende Bevölkerungsbiologie und
Soziobiologie. Die Geographische Anthropologie (oder Ethnische Anthropologie) widmet sich in
ihrer heutigen Bedeutung Fragen nach der regionalen Differenzierung ethnischer Gruppen, d.h.
sie untersucht die geographische Merkmalsverteilung und fragt nach deren Ursachen. In der Bevölkerungsbiologie werden z.B. biologische und demographische Aspekte der Bevölkerungsentwicklung im Verlauf der Geschichte bis zur Gegenwart betrachtet, also etwa der Aspekt der Migration, der schon für den frühen Homo sapies Bedeutung hat. Die Soziobiologie untersucht die
evoluierten Mechanismen, die tierisches und menschliches Sozialverhalten bestimmen. Einsichten aus Genetik, Verhaltensforschung und Ökologie werden dabei zu einem aktuellen Bild von
der Biologie des sozialen Miteinanders zusammengefügt. Es ist dies ein sehr modernes, wenn
auch kontrovers diskutiertes Arbeitsgebiet der Anthropologie. Gerade hier werden aber auch die
für unseren Studiengang so relevanten Wechselwirkungen zwischen Natur und Kultur besonders
deutlich, etwa in der Betrachtung der Kooperation und der Konflikt in sozialen Gruppen, in der
Beziehung der Geschlechter und im Eltern-Kind-Verhältnis.
3. Aktuelle anwendungsorientierte Arbeitsgebiete der biologischen Anthropologie
Besondere anwendungsbezogenen Fragestellungen haben sich in den letzten Jahren entwickelt.
Die entsprechenden Forschungsfelder betreffen u.a. die Forensische Anthropologie (z.B. Taphonomie, Identifizierung, Verifizierung), die Industrieanthropologie (z.B. Gestaltung der körpernahen
Umwelt), Somatologie (Variabilität körperlicher Merkmale), Humanphysiologie (Biomechanik,
Hormonhaushalt), Alternsforschung (z.B. Biogerontologie) und die Biodemographie (z.B. Morbiditäts-, Mortalitätsstrukturen, Sterblichkeitsdisparitäten, Migration). In den genannten Bereichen
gibt die biologische Anthropologie häufig konzeptionelle Anregungen und bringt fachspezifische
Forschungsansätze in die interdisziplinären Forschung ein.
Eine Sonderstellung im Rahmen der Naturwissenschaften kommt der Biologischen Anthropologie
dadurch zu, dass sie auf Beobachtungen des Menschen angewiesen ist und nicht in der Lage ist,
reproduzierbare Ergebnisse in Form von naturwissenschaftlichen Experimenten aufzustellen.
Dadurch hat sich ein spezielles Methodenspektrum ausgebildet, das einerseits sehr genau potentielle Einflussfaktoren auf die biologische Variabilität des Menschen erkennt und diese andererseits mit speziellen mathematisch-statistischen Methoden auf ihre Wirkung testet.
Im Rahmen der Kulturwissenschaften ist die Frage danach, was den Menschen als Menschen
ausmacht, was ihn also z. B. vom Tier unterscheidet, schon früh reflektiert worden. Historiker haben sich diese Frage kaum explizit gestellt, obwohl sie in ihren Erklärungen immer von Annahmen darüber ausgingen, was das Handeln des Menschen bestimmt, und in diesem Sinne auch
Lehren für zukünftige Generationen vermitteln wollten. Eine „historische Anthropologie“ ist erst
spät entstanden, in Deutschland seit den 60er Jahren unseres Jahrhunderts, aber je nach Ausrichtung kann man verschiedene „Vorläufer“ ausmachen. Die philosophische Anthropologie
stützte sich seit der frühen Neuzeit entweder auf Beobachtungen von Reisenden oder auf naturwissenschaftlich-medizinische Untersuchungen und erfasste vor daher das „Wesen“ des Menschen; eine andere Richtung ging von geschichtsphilosophischen Konstruktionen aus; in unserem Jahrhundert schließlich haben Philosophen wie Plessner beide Ansätze zu vereinigen gesucht, indem sie den Menschen einerseits durch seine „Positionalität“ in der Natur, andererseits
durch seine „Exzentrizität“ kennzeichneten, d.h. durch seine Fähigkeit, einen Standpunkt außerhalb seiner natürlichen Positionalität einzunehmen. - Die medizinische Anthropologie vor allem
des 18. Jahrhunderts war durch die Schädelforschung bestimmt, auf deren Basis sowohl die Geschlechter als auch Rassen voneinander unterschieden wurden. Die Kulturanthropologie amerikanischer Prägung, in der Ethnologie, prähistorische Archäologie und Ethnolinguistik zusammenflossen, zielte darauf, menschliche Universalia zu konstituieren. Die französische Schule der Annales setzte sich von der traditionellen Ereignisgeschichte ab, propagierte statt dessen eine
histoire totale de l’homme und wollte diese besonders in von „langer Dauer“ geprägten Phänomenen verwirklichen.
Für jeden empirischen Zugang zur Geschichte und zur menschlichen Lebenswelt kann nicht der
Mensch als solcher unmittelbar Gegenstand der Erkenntnis sein. Historiker, Soziologen, Ethnologen, Volkskundler haben es immer mit Frauen und Männern, mit Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und Alten, mit Angehörigen verschiedener Stämme, Völker, mit Repräsentanten unterschiedlicher Kulturen zu tun. Für die Freiburger Studiengänge wird folgende Annäherung an das
Problemfeld „Historische Anthropologie“ zugrundegelegt:
1. Historische Anthropologie zielt auf Grundphänomene menschlichen Lebens. Was solche
Grundphänomene sind, liegt nicht ein für allemal fest. Sicher dazu gehören alle die Erscheinungen, die mit der biologischen Natur des Menschen, dessen Körperlichkeit zusammenhängen, also z.B. die Differenz zwischen den Geschlechtern, Geburt, Lebenszyklen, Krankheit,
Sterben, Tod, aber auch die Sinneswahrnehmungen und Emotionen des Menschen. Alle
diese Erscheinungen sind uns nicht in einer biologischen Reinform gegeben, sondern immer
schon als kulturell interpretierte. Zu menschlichen Grundphänomenen gehören weiter Formen
der sozialen Organisation, so Inzest- und Heiratsregeln, Familie und Verwandtschaft, Besitzübertragung, normative Ordnungen, Legitimation und Ausübung von Macht, ferner Sinnstrukturen und Weltbilder.
2. Historische Anthropologie untersucht solche Erscheinungen in ihrer Zeitlichkeit und damit
auch Veränderbarkeit. Ob es so etwas wie anthropologische Konstanten gibt, ist umstritten.
Aber es gibt Herausforderungen an Menschen und menschliche Gruppen, die, auch wenn sie
jeweils unterschiedlich wahrgenommen und formuliert werden, immer auftreten und miteinander vergleichbar sind: so das Verhältnis des Menschen zu seiner Körperlichkeit, seiner Physis;
die Konstitution von Wir-Gruppen und deren Ordnung; die Frage nach der Begründung ethischer Forderungen und dem Sinn menschlichen Handelns etc. Grundsätzlich ist kein Bereich
menschlichen Lebens aus der historisch-anthropologischen Forschung ausgeschlossen.
3. Für die konkrete wissenschaftliche Arbeit ergeben sich daraus folgende Forderungen:
a) Es wird davon ausgegangen, dass jeder Studierende sich die Standards wissenschaftlichen Arbeitens in mindestens einem Fachgebiet (also z.B. Ethnologie, Geschichte, Soziologie) von Grund auf aneignet.
b) Im Hinblick auf historisch-anthropologische Fragestellungen müssen Probleme so formuliert werden, dass sie als generelle Probleme erkennbar werden. Das bedeutet nicht, dass
jede Lehrveranstaltung im Rahmen der Historischen Anthropologie vergleichend oder universalhistorisch angelegt sein muss. Man kann also auch das Sterben im Mittelalter oder
die normative Ordnung im republikanischen Rom behandeln. Dies sollte aber so geschehen, dass die Fragestellungen im Rahmen vergleichender oder theoretischer Betrachtungen gewonnen und die Ergebnisse so gefasst werden, dass sie wiederum dem Vergleich
mit anderen Gesellschaften oder der Theoriebildung dienen. Das Vergleichen ist ein wesentliches Mittel historisch-anthropologischer Forschung.
c) Was die Methoden des Vergleichens angeht, so lassen sich grundsätzlich zwei Formen
unterscheiden. Die eine besteht darin, dass bestimmte Gegenstandsbereiche wie z.B. Familie, das Geschlechterverhältnis, Formen religiöser Betätigung, die Konstitution normativer
Ordnungen, die Ausübung von Macht etc. über verschiedene Kulturen hinweg miteinander
verglichen werden. Die Ratio dieses Vergleichens liegt in der Setzung, dass 1. die genannten Gegenstandsbereiche, wie schon ausgeführt, auf gemeinsame Herausforderungen zurückgehen, und dass 2. den „Antworten“ auf die Herausforderungen eine gewisse
„Sachlogik“ zugrunde liegt, anders ausgedrückt: es gibt nicht beliebig viele „Antworten“,
und diese lassen sich - ebenso wie die unterschiedlichen Wahrnehmungen eines Problems
- wesentlich im Rahmen der Entfaltung des Problemfeldes verstehen. - Die zweite Form
des Vergleichens muss nicht im Widerspruch zur ersten stehen; faktisch werden beide aber
nur selten kombiniert. Diese Form beruht auf der Annahme, dass sich sowohl Wahrnehmungsweisen als auch Problemlösungen nur im Rahmen eines kulturellen Zusammenhangs voll verstehen lassen, dass also z.B. Verwandtschaftsformen auf die gesellschaftliche Organisation insgesamt und diese wiederum auf die Ausübung von Macht bezogen
sind; oder dass philosophische Reflexionen abhängig sind von den Formen, in denen in einer Gesellschaft Wirklichkeit wahrgenommen wird. Geht man von diesen Voraussetzungen
aus, dann lassen sich Vergleiche sinnvoll nur dann durchführen, wenn jeweils der Gesamtkontext der betroffenen Gesellschaften berücksichtig wird. - Es gibt keinen Königsweg des
Vergleichens. Für die Annahme von „Sachlogiken“ sprechen ebenso gute Gründe wie für
die Notwendigkeit von tendenziell holistischen, d.h. ganzheitlichen Analysen von Gesellschaften. Beide Verfahren sollen in den anthropologischen Studiengängen ihren Platz haben.
d) Da historische Anthropologie, wenn auch mittelbar, auf die Erkenntnis des Menschen zielt,
müssen ihre Methoden derart sein, dass sie nicht nur der Erhellung von „Strukturen und
Prozessen“ (J. Kocka) dienen, sondern dass auch die handelnden Personen selber in den
Blick kommen. Es gilt also Praxis zu untersuchen, Mentalitäten, Dispositionen, „Habitus“ in
den Handlungen aufzusuchen. Das ist z.B. ein Ziel der an der Ethnologie ausgerichteten
Alltagsgeschichte. Deren Repräsentanten haben kritisiert, dass Historiker ihre Aussagen
über Mentalitäten häufig aus hochkulturellen Objektivationen, also z.B. aus der Literatur
und der Philosophie, gewinnen, ohne zu kontrollieren, ob so eruierte Mentalitäten tatsächlich die Praxis einzelner oder von Gruppen bestimmen. Diese Problematik hat zu der For-
derung geführt, Aussagen über Mentalitäten überhaupt nur „praxeologisch“, d.h. durch Reihenuntersuchungen von Handlungen, zu gewinnen. Dabei wird der Unterschied zwischen
Mentalität und Praxis aufgehoben, weil sich eben Mentalitäten in den Praktiken zeigen. So berechtigt die Einsprüche der Alltagsgeschichte sind, so wenig einsehbar ist es, Historische Anthropologie auf Alltagsgeschichte festzulegen. Denn zum einen ist es methodisch
fragwürdig zu glauben, durch „dichte Beschreibung“ ließen sich alle Determinanten einer
Praxis gewinnen; zum anderen gibt es keinen Grund, warum nicht kulturelle Objektivationen als Zuspitzungen, gegebenenfalls auch als „Transgressionen“ einer bestimmten Wirklichkeit für deren Rekonstruktion herangezogen werden sollten. Es bleibt die Forderung, im
Handeln von Personen und Personengruppen die Verarbeitung von Wahrnehmungsweisen, Deutungsmustern, biographischen Erfahrungen deutlich zu machen. Wenn „Strukturen
und Prozesse“ nicht mehr mit dem Handeln von Personen oder Gruppen vermittelbar sind,
hat eine Historische Anthropologie ihr Recht verloren.
e) Historische Anthropologie hat es schließlich auch mit der Frage zu tun, wie die
Handlungskompetenzen des Menschen entstanden sind. Dafür sind Übergangssituationen
besonders aufschlussreich, also z.B. die Entstehung der produzierenden Wirtschaftsweise,
die Entstehung der frühen Hochkulturen und politisch organisierter Gemeinschaften
(„Staaten“), die Entstehung eines apersonalen Konzepts von Herrschaft etc. Im Hintergrund
steht dabei nicht die Vorstellung einer linearen oder gar teleologisch bestimmten Entwicklung der Menschheit. Es geht vielmehr um die Bedingungen, unter denen menschliche
Gruppen bestimmte Kompetenzen gewonnen - und ggf., wie z.B. beim Übergang von der
Spätantike zum Frühmittelalter, auch wieder verloren - haben. Unmittelbar relevant werden
genetische Fragen auch beim Übergang von der Naturgeschichte zur prähistorischen Geschichte der Menschheit (vgl. oben). In einem systematischen Sinn ist die Frage aber bis
heute präsent: nämlich als Frage danach, wie die im Rahmen der Naturgeschichte des
Menschen, der Phylogenese, entstandenen Selektionen den Raum menschlicher Möglichkeiten determinieren (oder ob solche Selektionen vielleicht sogar in historischer Zeit modifiziert wurden). Besonders heftig diskutiert wird die Frage z.B. im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis, aber auch im Rahmen bioethischer und sozio-biologischer Problemstellungen. Kürzlich wurde sogar die Behauptung aufgestellt, auch das religiöse Verhalten
des Menschen sei von biologischen Faktoren abhängig (W. Burkert).
Die besonderen Chancen der Freiburger Studiengänge bestehen darin, dass solche Fragen (und
andere, die teilweise in den Ausführungen zur biologischen Anthropologie angesprochen sind)
aus der Perspektive sowohl der Natur- als auch der Kulturwissenschaften angegangen werden
können, dass ferner durch die beteiligten Fächer auch günstige Voraussetzungen für vergleichende Fragestellungen bestehen. Die beste Form für die Behandlung solcher Probleme wären
gemeinsame Veranstaltungen der Repräsentanten verschiedener Fächer; sie scheitern aber oft
an den anderweitigen Verpflichtungen der Dozentinnen und Dozenten, die ja nicht für die Anthropologie-Studiengänge freigestellt sind. Ein gewisser Ersatz dafür könnte es sein, dass häufiger
die Möglichkeit wahrgenommen wird, Dozentinnen und Dozenten für eine oder zwei Sitzungen
als Gäste einzuladen.
Unabhängig davon sollten aber anthropologische Veranstaltungen grenzüberschreitend angelegt
sein. Die Fragestellungen, Methoden und Ergebnisse der verschiedenen Disziplinen dürfen nicht
nebeneinander stehen bleiben, die Integration nicht allein den Studierenden überlassen werden.
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