Kasten 4.2 Erwartungsnutzen: Von Spielern zur Spieltheorie (PDF

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Kasten 4.2 Erwartungsnutzen: Von Spielern zur Spieltheorie
Der Chevalier de Méré war Mitte des 17. Jahrhunderts als leidenschaftlicher Glücksspieler bekannt.
Bei einem einfachen Spiel wird mehrfach nacheinander eine Münze geworfen. A erhält einen
Punkt bei «Kopf», B bei «Wappen». Wer zuerst 10 Punkte erreicht, gewinnt den Einsatz x von – sagen wir – 100 Silbermünzen. Nun wird das Spiel beim Stand «9 Punkte für A, 8 Punkte für B» abgebrochen. Die Streitfrage lautet: Wie soll der Gewinn fairerweise aufgeteilt werden? Im Verhältnis 9 : 8 wäre ein Vorschlag. Oder besser 2 : 1, denn B benötigt noch zwei, A aber nur noch einen
Punkt? Der Chevalier korrespondiert mit dem Mathematiker und Philosophen Blaise Pascal und
dieser wiederum mit seinem Kollegen Pierre de Fermat. Fermat berechnet zunächst die Gewinnwahrscheinlichkeiten der beiden Spieler. Es gibt genau drei einander ausschließende Ereignisse:
1. Beim nächsten Münzwurf kommt «Kopf» und A gewinnt. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist 1/2.
2. Im nächsten Wurf kommt «Wappen» und im übernächsten Wurf «Kopf», und A gewinnt ebenfalls. Die Wahrscheinlichkeit ist 1/2 1/2 = 1/4.
3. Nur wenn «Wappen», «Wappen» in Folge beobachtet wird, gewinnt B. Die Wahrscheinlichkeit
dafür ist 1/4.
Somit folgt für die Gewinnwahrscheinlichkeiten von A und B: p (A) = 3/4 und p (B) = 1/4 Dies ist
die Geburtsstunde der monetären Gewinnerwartung oder «Gelderwartung» (EM). Für A ist EM (A)
= p (A) · x = 75, für B ist EM(B) = 25. Die faire Aufteilung ist nach Fermats Vorschlag das Verhältnis
der Gewinnerwartungen von 3 : 1. Ein Problem gelöst, und schon sieht man sich mit einem Paradox konfrontiert, dem «St. Petersburger Paradox» nach Daniel Bernoulli, der im russischen Petersburg Mathematik lehrte. Eine Münze wird so häufig geworfen, bis zum ersten Mal «Wappen» aufn
tritt. Der Spieler erhält 2 Rubel, wobei n = 0, 1, 2, 3, … die Anzahl «Kopf» (K) bezeichnet. Tritt sofort
0
«Wappen» (W) auf, ist n = 0 und er erhält 2 = 1 Rubel. Kommt die Folge «KW», erhält er 2, bei KKW
4, bei KKKW 8 Rubel usw. Nehmen wir an, wir spielen mit Euro statt Rubel. Welchen Einsatz ist ein
Spieler bereit zu zahlen, um in diesem Spiel mitmachen zu dürfen? Die meisten Leute sagen vielleicht 10, 20 oder auch 30 Euro. Wenn die Gelderwartung der faire Preis ist, dann reicht dieser Einsatz bei weitem nicht aus. Die Gelderwartung ist nämlich unendlich hoch! Die Wahrscheinlichkeiten für die Ereignisse W, KW, KKW, KKKW … sind entsprechend 1/2, 1/4, 1/8, 1/16 usw., und die zugehörigen Gewinne sind 1, 2, 4, 8 usw. Die Gelderwartung des Spiels ist die Summe der konstann
(n+1)
ten Gelderwartungen von je 1/2 = 2 /2
für die unendlich vielen einander ausschließenden Ereig-
nisse: EM = 1 (1/2) + 2 (1/4) + 4 (1/8) + 8 (1/16) + … = 1/2 + 1/2 + 1/2 + 1/2 + … Aber wer würde, auch
wenn er es hätte, alles Vermögen opfern, um nur einmal bei diesem Spiel mitzumachen? Es gibt
zwei Lösungen für das Paradox. EM ist nur unendlich groß, wenn die Bank unendlich viel Kapital
hat, um die Gewinne auszuzahlen. Keine Bank hat aber unendlich viel Kapital. Hat sie z. B. «nur»
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2 €, dann wird ab dem 50. Glied der Reihe nur noch dieser Gewinn fällig, und die Gelderwartung
beträgt EM = 25,5 €. Die zweite Lösung wurde von Bernoulli vorgeschlagen. Seine Idee lautet, dass
sich erstens der Einsatz nicht nach der Gelderwartung, sondern nach der Nutzenerwartung richtet. Es kommt also ein psychologisches Moment ins Spiel. Zweitens trifft er die Annahme, dass der
«Grenznutzen» des Geldes abnimmt. Mit wachsendem Reichtum schwindet der Wert weiterer
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Gewinne. Mathematisch formuliert er den Zusammenhang zwischen psychologischem Nutzen u
und physischen Geldeinheiten x mit einer logarithmischen Funktion: u (x) = a log (x + b). Bei entsprechender Wahl der Parameter a und b erhält man mit u (x) anstelle von x einen endlichen Wert
für das Petersburger Paradox. Der Zusammenhang zwischen physischen Einheiten x und Nutzen
u ist eine Nutzenfunktion. Ist sie – wie Bernouillis logarithmische Nutzenfunktion – konkav, dann
bringt sie risikoaverses Verhalten zum Ausdruck. Der Grund ist, dass bei einer konkaven Funktion
ein sicherer Betrag x immer einer Lotterie mit dem Erwartungswert x vorgezogen wird. 10 € sicher
hat einen höheren Wert als beispielsweise die Lotterie «20 € mit Wahrscheinlichkeit 1/2, andernfalls nichts». Bei einer linearen Nutzenfunktion ist man indifferent zwischen dem sicheren Geldbetrag und der Lotterie (Risikoneutralität), und bei einer konvexen Nutzenfunktion besteht Risikofreude. Risikofreudige Personen präferieren die Lotterie einem gleich hohen, sicheren Geldbetrag.
Eine stetige, zweimal differenzierbare Nutzenfunktion vorausgesetzt, gilt zunächst einmal, dass
der Nutzen mit den physischen Einheiten x anwächst, d. h. du/dx > 0. Dann können wir die drei
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Fälle wie folgt charakterisieren: 1. d u/dx < 0 (risikoavers). 2. d u/dx = 0 (risikoneutral) und 3.
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d u/dx > 0 (risikofreudig). Die Nutzenfunktion ist im ersten Fall nach unten gekrümmt oder konkav, im zweiten linear und im dritten Fall nach oben gekrümmt oder konvex. Mit einer konkaven
Nutzenfunktion kann man erklären, dass Personen Versicherungen abschließen. Versicherungen
leben von den konkaven Nutzenfunktionen ihrer Kunden. Man kann allerdings nicht erklären,
dass die gleichen Kunden Lotto spielen oder ein Spielkasino aufsuchen. Dafür müsste die Funktion
nämlich konvex sein. Immer wieder neue Paradoxien treten im schönen Gebäude der Nutzentheorie auf. Auswege weisen psychologische Theorien wie die «Prospect-Theorie» von Tversky und
Kahneman (1981).
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