Diplomarbeit Ariane Mnouchkine und das Théâtre du Soleil

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ARIANE MNOUCHKINE UND DAS
THÉÀTRE DU SOLEIL
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WISSENSCHAFTLICHE DIPLOMARBEIT
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von Magdalena Wabitsch
Matrikelnummer: 0946078
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Eingereicht bei: O. Univ. Prof. Dr. phil. Evelyn Deutsch-Schreiner
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Universität für Musik und Darstellende Kunst Graz
Studienrichtung: Schauspiel
Studienkennzahl: V 561
Diplomstudium
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September 2016
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Abstract
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Ariane Mnouchkine ist eine der bedeutendsten französischen Theatermacherinnen des 20. Jahrhunderts. Sie arbeitet seit mehr als 50 Jahren
ausschließlich mit ihrem Kollektiv: dem Théâtre du Soleil. Diese Arbeit besteht
aus der historiographischen Darstellung des Lebens und Werkes Ariane
Mnouchkines. Neben der Beschreibung und Analyse der Stücke (besonders im
Bezug auf schauspielerische Aspekte) wird auf die verschiedenen Arbeitsmethoden des Théâtre du Soleil und ihre Ursprünge näher eingegangen.
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Ariane Mnouchkine is one of the most important French theatre directors in 20th
Century. She has been working exclusively with her collective - the Théâtre du
Soleil - for over 50 years. This paper contains an examination of Mnouchkines
creations to date, an analysis of the working methods of the Théâtre du Soleil as
well as it’s approaches to acting.
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Ich glaube an das Licht. Ich glaube an die Verzauberung. Ich glaube an die Anregung
durch Schönheit, Licht, Hoffnung, Freude, Lachen, Tränen. Ich glaube an die Emotion.
Ich denke, dass sie die Vermittler von Gedanken sind und all das auch Vermittler von
Leben ist. (Ariane Mnouchkine)1
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Mnouchkine, zit. nach Féral, Josette (2003) Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil. Berlin:
Alexander Verlag, 13.
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Bild von Martine Franck während einer Aufführung von Shakespeares Henry IV im Jahre 1984. Internet:
https://www.pinterest.com/pin/449093394062551718/
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Inhalt
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1. Vorwort.........................................................................................................................6
2. Gründung und Anfänge des Théâtre du Soleil .......................................................10
b.) Les Petits Bourgois (Die Kleinbürger) von Maxim Gorki ....................................16
c.) Le Capitaine Fracasse von Théophile Gautiers .....................................................17
d.) La Cuisine (Die Küche) von Arnold Wesker ........................................................17
3. Das Jahr 1968 und seine Folgen ...............................................................................21
a.) Theatersituation der 50er und 60er Jahre ..............................................................21
b.) Die Ereignisse im Mai 1968 ..................................................................................23
c.) Die Auswirkungen der Protestbewegung ..............................................................25
d.) Entstehung von Kollektiven in ganz Europa .........................................................27
e.) création collective..................................................................................................30
f.) Les Clowns ............................................................................................................31
4. 8 Jahre ‚création collective’ und der Umzug in die Cartoucherie ......................32
a.) 1789: La révolution doit s’arrêter à la perfection du bonheur ..............................32
b.) 1793: La cité révolutionnaire est de ce monde .....................................................37
c.) Die Cartoucherie....................................................................................................40
d.) L’age D’or .............................................................................................................42
e.) Molière - Ein Filmepos über das Leben von Molière ...........................................46
f.) Mephisto - nach dem Roman von Klaus Mann .....................................................52
5. Die Rückkehr zum Text ............................................................................................56
a.) Der Shakespeare-Zyklus........................................................................................56
b.) Sihanouk, L’Indiade und die Begegnung mit Hélène Cixous ...............................63
c.) Les Atrides .............................................................................................................67
d.) Moderne Tragödie/Hélène Cixous und französische Klassik/Molière..................72
6. Neue Texte - Neue Formen .......................................................................................75
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a.) Et soudain, des nuits d’éveil und Tambours sur la dique - von Hélène Cixous ....75
b.) Le derniere caravanserail ......................................................................................79
c.) Les Ephémère nach einem Vorschlag von Ariane Mnouchkine ............................82
d.) Les nauphragés du fol espoir.................................................................................84
e.) Macbeth von William Shakespeare .......................................................................87
7. Die Arbeit mit dem Schauspieler .............................................................................89
a.) Copeau - Lecoq - Mnouchkine ..............................................................................90
b.) Die Arbeit im Théâtre du Soleil ..........................................................................101
c.) Vorbereitungen auf eine Vorstellung ...................................................................108
d.) Auswahl der Schauspieler ...................................................................................110
8. Schluss ......................................................................................................................112
9. Literaturverzeichnis ................................................................................................114
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1. Vorwort
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Ariane Mnouchkine ist eine der bemerkenswertesten Theatermacherinnen des 20.
Jahrhunderts. Viele ihrer Stücke haben die Theaterlandschaft verändert. Bis heute
arbeitet sie ausschließlich mit ihrem Theaterkollektiv: dem Théâtre du Soleil.
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Inspiriert durch die Vorlesung „Theater- und Literaturgeschichte III“, in der
postdramatisches Theater behandelt wurde, begann ich mich für die Zeit rund um die
1968er Jahre zu interessieren. Die Arbeit von Peter Brook und die damals entstandenen
neuen Arbeitsformen weckten besonders meine Neugierde. Zusätzlich interessierte mich
das französische Theater, das nicht wie im deutschsprachigen Raum vornehmlich aus
staatlich geförderten Stadt-, Landes-, oder Staatstheatern besteht, sondern aus freien
Truppen, die von den Theaterleitern für ihre Bühnen gebucht werden. (Dies ist mit
Ausnahme der Comédie-Francaise zu verstehen, dem einzigen subventionierten
öffentlich-rechtlichem Theaterbetrieb mit fixem Schauspiel-Ensemble.)
Zwei Interessen fügten sich somit zusammen: Das französische Theater und seine
Organisation allgemein und die Entwicklungen in den 1960er/1970er Jahren.
Für meine Diplomarbeit hatte ich mir jedoch vorgenommen, über eine Frau zu
schreiben, da zur damaligen Zeit Frauen als Regisseurinnen im Theater kaum vertreten
waren. Als ich auf Mnouchkine und das Théâtre du Soleil stieß, verknüpfte sich alles.
Mein erkenntnisleitendes Interesse beruht somit darauf, durch die historiographische
Darstellung des Lebens und Werkes Ariane Mnouchkines die Bedeutung und
Konsequenz dieser ihrer Theaterarbeit aufzuzeigen und die besondere Art und Weise
ihres Schaffens zu beschreiben.
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Bevor ich mit der Recherche für meine Diplomarbeit begann, wollte ich letzten Februar
(2016) einen Ausflug nach Paris machen und ein Stück des Théâtre du Soleil ansehen.
Ich wollte mir selbst ein Bild der Cartoucherie, der Spielstätte des Théâtre du Soleil,
machen und Ariane Mnouchkine, die immer noch jeden Abend an der Kasse steht und
Karten abreißt, persönlich kennenlernen. Nachdem ich bereits zwei E-Mails geschrieben
und mehrere Wochen auf eine Antwort gewartet hatte, fand ich auf der Internetseite
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folgende Notiz: „Wir reservieren keine Plätze per E-Mail, außer für Zuschauer, die nicht
in unserer Zeitzone sind. Rufen Sie uns an. Wir haben noch menschliche Stimmen! Und
wir möchten sie gerne weiterhin verwenden.“2 Das erste Telefonat verlief katastrophal.
Nervös, durch Sprachschwierigkeiten und Verbindungsstörungen gehemmt, schaffte ich
es nicht, einen genauen Termin für die nächste Vorstellung herausfinden. Die folgenden
Tage verwendete ich damit, neue Vokabeln und Formulierungen zu lernen, um nicht
noch einmal, wie ich dachte, an der Verständigung zu scheitern. Als ich ein zweites Mal
anrief, wurde mir allerdings klar, dass es an einem völlig anderen Kommunikationsproblem lag: Ich hatte die nette Dame am Telefon nicht falsch verstanden, der Termin
für die nächste Premiere stand noch nicht fest. „Wir werden im Herbst wieder spielen“,
erklärte sie. Um welchen Monat im Herbst es sich handeln werde, könne sie noch nicht
sagen, „Wir proben ja gerade noch.“
Mein Paris-Ausflug musste warten, allerdings wurde mein Interesse für Ariane
Mnouchkine und das Théâtre du Soleil noch einmal neu entfacht: Ich wollte
herausfinden, wie es für dieses Kollektiv möglich ist, sich gegen so viele konventionelle
Theaterpraxen, wie beispielsweise einer sechswöchigen Probenzeit und einen FixTermin für die Premiere, hinwegzusetzen. Zwei Fragen tauchten in diesem
Zusammenhang für mich auf: Wie kam es zu diesem ganz eigenen Weg? Und was wird
zu seiner Umsetzung benötigt?
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„Eine Truppe beginnt immer mit einem Traum.“ erklärte Mnouchkine 2003.3
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Es beginnt, mit Hoffnung. Es beginnt mit Begeisterung und Unverfrorenheit. Weil man
doch einfach dreist sein muss. Und dann beginnt es vielleicht auch mit Leichtfertigkeit,
denn wir wussten nichts. Ich selbst hatte keine Ahnung davon, was eine Inszenierung
sein kann. So war das!4
Das Herzstück des Théâtre du Soleil bilden die Schauspieler. Ariane Mnouchkine ist ihr
Anker. Sie schafft es seit nunmehr 50 Jahren, trotz des Kommens und Gehens und der
2
vgl. Théâtre du Soleil, Online: http://www.theatre-du-soleil.fr/thsol/site-allemand/willkommen/article/
nehmen-sie-kontakt-mit-uns-auf Zugriff: 8.7.2016
3
Mnouchkine, zit. nach Féral 2003: 13.
4
ebd.: 59.
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damit verbundenen strukturellen Veränderungen der Truppe, ihre Theatervision
durchzusetzen. Und das mit Erfolg. Mit Preisen ausgezeichnet und von Kritik und
Publikum gefeiert, ist das Markenzeichen dieser Truppe das große Engagement,
welches nicht nur auf der Bühne praktiziert wird, sondern auch in politischen Aktionen
Raum findet.
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Ariane Mnouchkine und das Théâtre du Soleil sind immer auf der Suche nach neuen
dramatischen und theatralen Ausdrucksweisen, um unsere Geschichte einzufangen. Sei
es durch große Spektakel wie den Revolutionsstücken 1798 und 1793, auf der Leinwand
wie im Filmepos Molière oder durch dokumentarisches Theater wie in Le derniere
caravanserail, in dem ganz persönliche Flüchtlingsgeschichten verarbeitet wurden.
Immer geht es Mnouchkine um Leidenschaft. „[Theater] hat die Aufgabe, die
Bewegung der Seele, des Geistes, der Welt, der Geschichte darzustellen.“5
Die Vision lautet, ein Volkstheater zu schaffen, ein Theater, das Menschen durch
Sinnlichkeit und Schönheit berührt.
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In der Theaterwissenschaft gibt es noch kein umfassendes Buch, das die Arbeit Ariane
Mnouchkines und des Théâtre du Soleil bis heute beschreibt (die vorhandenen Werke
zu diesem Thema enden zwischen 2003 und 2007). Die folgende Auseinandersetzung
soll einen Überblick darüber geben, was das ‚Sonnentheater’ seit mehr als 50 Jahren
alles geschaffen hat.
Im ersten Teil soll die Umsetzung unterschiedlicher Themen und Stücke, die Ariane
Mnouchkine und ihre Truppe im Laufe der Zeit entwickelt haben, beschrieben und in
einen geschichtlichen Kontext gestellt werden. Vieles hat mit der Person Ariane
Mnouchkine zu tun, daher wird auf ihren Werdegang ein besonderes Augenmerk gelegt.
Die Anfänge, die Jahre um 1968 und die ersten Versuche einer neuen Arbeitsweise, der
création collective, werden ausführlich beschrieben, da sie den Grundstein bilden.
Danach wird jedes der knapp 25 Stücke des Théâtre du Soleil kurz umrissen. Hier wird
auch auf die unterschiedlichen Einflüsse - beispielsweise dem orientalischen Theater
und der Commedia dell’arte - eingegangen.
5
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Mnouchkine, zit. nach Féral 2003: 34.
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Im zweiten Teil wird Mnouchkines Methode mit den Schauspielern zu arbeiten vertieft.
Die Ursprünge dieser Arbeitsweise sowie die Praxis, wie sie bis heute angewandt wird,
soll einen Einblick in den Alltag des Théâtre du Soleil geben und den Mythos des
Erfolgs dieses Theaterkollektives ersichtlich machen.
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2. Gründung und Anfänge des Théâtre du Soleil
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Ariane Mnouchkine wurde am 3. März 1939 in Boulogne-sur-Saine geboren. Ihr Vater
Alexandre Mnouchkine, der aus Russland immigriert war, arbeitete als Filmregisseur
und Filmproduzent. Ihre Mutter Jane Hannen war eine britische Schauspielerin.6
Mnouchkine wuchs in einer Zeit auf, die von der Besatzung der Deutschen, dem Ende
des 2. Weltkrieges und dem Algerienkrieg7 geprägt war. In ihrer Jugend wurde sie von
den Denkweisen der Existenzialisten Jean-Paul Satre und Simone de Beauvoir
beeinflusst.8 Nach ihrem Schulabschluss ging sie ein Jahr an die Universität nach
Oxford. Dort machte sie erste Erfahrungen im Bereich Theater, als sie in die Oxford
University Drama Society (OUDS) eintrat und im März 1959 ihr erstes Stück
Coriolanus von Shakespeare als Produktions-Assistentin, Statistin und CoKampfchoreographin begleitete.9
Zurück in Paris, begann Mnouchkine an der Sorbonne Psychologie zu studieren.
Zunächst wollte sie sich dem Théâtre Antique de la Sorbonne anschließen, merkte
jedoch schnell, dass sie die Arbeit dort wenig interessierte und beschloss, eine eigene
Gruppe ins Leben zu rufen. So gründete Mnouchkine 1959 mit Studienkollegen die
Theatergruppe Association théâtrale des étudiants de Paris (ATEP). Es gelang ihr,
Roger Planchon zu überzeugen, sich für das junge, neugegründete Ensemble an der
Universität einzusetzen, wodurch er zum Ehrenpräsidenten der ATEP wurde.10
Roger Planchon leitete von 1952 bis 2002
das Théâtre de la comédie, das spätere
Théâtre National Populaire. Er engagierte sich vor allem für ein neues Volkstheater: ein
6
vgl. Floeck, Wilfried (1988): Tendenzen des Gegenwartstheaters. Tübingen: Francke Verlag, 22.
7
Krieg um die Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich zwischen 1954 bis 1962 (vgl. Bundeszentrale
für Politische Bildung 2016, Online).
8
vgl. Delgado Maria M. / Rebellato, Dan (2010): Contemporary european theatre directors. London/New
York: Routledge, 30.
9
vgl. Singleton, Brian Robert (1988): The Interpretation of Shakespeare by Ariane Mnouchkine and the
Théâtre du Soleil. University of Birningham (Shakespeare Institute), 47.
10
vgl. Seym, Simone (1992): Das Théâtre du Soleil. Ariane Mnouchkines Ästhetik des Theaters.
Stuttgart: Metzler, 19.
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Theater für die Arbeiterklasse.11 Dieses Ziel sollte auch Mnouchkine lange in ihrer
Arbeit begleiten.
Zunächst bot die ATEP die Erarbeitung von Szenen mit dem Schauspieler Gérard Lorin
an. Diese Szenenstudien dienten zur Ausbildung im Bereich Schauspiel. Für Unterricht
im Bereich Bühnenbild gab es die Möglichkeit, am Théâtre Sarah-Bernhadt als
Hospitant mitzuarbeiten und dadurch einen direkten Einblick in die Arbeit an einem
Bühnenbild zu bekommen.12 Mnouchkine kümmerte sich zu Beginn um die
Organisation und Verwaltung der Gruppe und organisierte neben der praktischen
Ausbildung auch Diskussionsrunden und Vorträge um zusätzlich die Möglichkeit des
theoretischen Diskurs zu schaffen. Für die erste Veranstaltung im Jahre 1960 gelang es
ihr Jean Paul Satre als Vortragenden zu gewinnen.13 In dem Vortrag mit dem Titel
Théâtre épique et théâtre dramatique legte Satre seine Gedanken zu einem politischen
und gesellschaftskritischen Volkstheaters dar und grenzte seinen Ansatz entschieden von
dem des epischen Theaters von Brecht ab.14 Die Theorien Brechts gefielen Satre zwar,
waren ihm jedoch in der Umsetzung zu wenig sinnlich. Er hatte die Idee, beides - das
dramatische (bürgerliche) und das epische - Theater zu überwinden, um ein neues
dramatisches, aber nicht bürgerliches Theater zu entwickeln.15 Theater war für ihn
immer Aktion und nie bloße Beschreibung und Erklärung von Konflikten. Laut Satre
sollte man im Theater die Widersprüche der Zeit widerspiegeln, um dem Publikum
11
vgl. Brauneck, Manfred (2007): Die Welt als Bühne. Fünfter Band. Stuttgart/Weimar: Verlag J.B.
Metzler, 149.
12
vgl. Seym 1992: 19f.
13
ebd.
14
1954 fanden die ersten ersten Gastspiele des Berliner Ensembles in Paris statt, die viel diskutiert und
großteils enthusiastisch gefeiert wurden (vgl. Brauneck 2007: 149). Es brach in Paris geradezu ein
‚Brechtfieber‘ aus, das außer Satre nur Wenige kritisch auseinandernahmen (vgl. Seym 1992: 20).
Es war für die Franzosen bemerkenswert Theater zu sehen, das beim Zuseher nicht Emotionen und
Mitgefühl ansprach, sondern den Verstand. Dies funktionierte insofern, als erstmals Verfremdungseffekte
eingesetzt wurden, bei denen die Schauspieler immer wieder aus ihren Rollen ausstiegen, an die Rampe
traten und direkt mit dem Publikum sprachen. Somit konnte sich der Zuseher nie mit bestimmten Figuren
identifizieren, sondern musste intellektuell über die dargebotenen Umstände reflektieren. Das Theater gab
sich also immer als Theater zu erkennen und hatte nicht den Anspruch - wie beim aristotelischen
(dramatischen) Theater - durch Einfühlung und der darauf folgenden Katharsis (seelische Reinigung) zu
verändern, sondern durch den Verstand, der zu kritischen Reflexion angeregt wurde. Besonders vertrat
Brecht die Meinung Theater solle über politische Möglichkeiten aufklären und dadurch den
Handlungswillen des Publikums zur Veränderung der bestehenden Umstände anregen.
15
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vgl. Brauneck 2007: 149.
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Möglichkeiten der eigenen Interpretation zu bieten. Was er am epischen Theater
ablehnte war der Versuch, gegenwärtige Probleme ‚objektiv’ zu erklären, da es seiner
Meinung nach diese Objektivität grundsätzlich nicht gebe. Gleichzeitig benötige das
dramatische Theater ein wenig mehr Objektivität bzw. mehr unparteiisches Handeln, um
nicht zu sehr in Einfühlung und Sympathie abzugleiten. Seine Idee des dramatischen,
nicht-bürgerlichen Theaters stellte die Aktion in den Mittelpunkt. Im Handeln soll
episches und dramatisches Theater verbunden werden, wobei Satre besonders der
Sprache eine aktive Rolle zubilligte und sie allein schon als Handlung sah.16 Als
Beispiel für ein gelungenes Handeln bzw. für eine gelungene in Handlung umgesetzte
Aktion nannte Satre die traditionelle chinesische Schauspielkunst.17 Dieser Input
entfachte auch Mnouchkines Interesse für die traditionellen Theaterformen des
Orients.18
Durch die Eintrittsgelder des Vortrags finanziert und durch Satres Ideen inspiriert,
begann die ATEP mit ihrem ersten Stück: Die Bluthochzeit von Frederico García Lorca.
Dominique Sérina, ein Mitglied der Gruppe, führte Regie und Mnouchkine kümmerte
sich um Bühne und Kostüme.19 Dieses Projekt unterschied sich wenig von den Arbeiten
anderer Studententheatergruppen; geprobt wurde zweimal pro Woche und die
Aufführung fand in einem Gemeindesaal in Vincennes statt.20
Mnouchkines erstes Stück als Regisseurin war Gengis Kahn von Henri Bauchau, das
1961 zur Aufführung kam. Vorbilder dafür waren die Shakespeare-Aufführungen von
Planchon, die Commedia dell’arte-Adaption: Arleccino, servitore di due padrone
(Harlekin, der Diener zweier Herren) inszeniert von Giorgio Strehler und die
Inszenierungen des Berliner Ensembles.21 Während dieser Arbeit vertiefte Mnouchkine
16
vgl. Seym 1992: 22ff.
17
1956 gastierte die Peking-Oper in Paris, deren Vorstellung Satre wie Mnouchkine beiwohnten (vgl.
Seym 2007: 24).
18
vgl. Brauneck 2007: 149.
19
vgl. Singleton 1988: 49./Seym 1992: 29f.
20
vgl. Seym 1992: 20.
21
vgl. Brauneck 2007: 150.
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auch ihr Interesse am Orient und an den dort üblichen Theaterpraktiken.22 Die
Aufführung fand in den arènes de Lutèce, einem ehemaligen Amphitheater, statt. Das
Stück wurde sechsmal gespielt, wobei viele Zuseher direkt von der Straße eingeladen
wurden, um das Theater voll zu bekommen. Dieser für damalige Zeit unkonventionelle
Ort deutet schon eine bestimmte Richtung in Mnouchkines Theaterverständnis an:
Einerseits aus konventionellem (bürgerlichen) Rahmen auszubrechen und gleichzeitig
zu traditionellen Theaterformen zurückzukehren.23 Diese Produktion ließ die Gruppe
um Ariane Mnouchkine zusammenwachsen und einige Mitglieder der Gruppe
beschlossen, von nun an professionell weiterzumachen.24
Durch Mnouchkines Mentor Planchon angeregt, trat sie 1962 eine lange Reise nach
Indien, Japan, Kambodscha und Korea an, um dort ursprüngliche Theaterformen
kennenzulernen.25 Für China jedoch bekam sie keine Einreise-Genehmigung.26
Aufgrund dieser Reise wurde die ATEP aufgelöst. Die Mitglieder der Truppe
vereinbarten, momentan getrennte Wege zu gehen, sich aber nach zwei Jahren wieder zu
treffen, um ihre Arbeit fortzusetzen.27
Bevor Mnouchkine ihre Reise antrat, arbeitete sie noch in Italien als Produktions- und
Regieassistenz bem Film L’homme de Rio, um die darauffolgenden Monate finanzieren
zu können.28
Da Mnouchkine auf ihrer Reise nicht nach China konnte, widmete sie sich stattdessen
den alten asiatischen Theaterformen wie dem indischen Kathakali, dem japanischen Nō
22
vgl. Seym 1992: 26f.
Nach den zwei Gastspielen der Peking Oper wurden Einladungen von Kabuki und Bunraku Truppen aus
Japan immer häufiger. In Frankreich wurde das Interesse an orientalischem Theater - durch Artaud
inspiriert - mehr und mehr zur Mode unter jungen Theatermachern (vgl. Singleton 1988: 51).
23
vgl. Seym 1992: 25.
24
ebd.
25
vgl. Brauneck 2007: 149.
26
vgl. Seym 1992: 28.
27
vgl. Singleton 1988: 51f.
28
ebd.: 52.
29
vgl. Seym 1992: 29.
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und Kabuki sowie den balinesischen und kambodschanischen Theaterkünsten.29
Zusätzlich ließ sie sich stark von der Kultur und Lebensweise beeinflussen.30
Nach Mnouchkines Rückkehr fanden sich zehn ehemalige Mitglieder der ATEP wieder
und beschlossen, ein Theaterkollektiv zu gründen. Die Vorstellung war, zusammen zu
Theater zu spielen, ohne Hierarchien und Strukturen wie sie normalerweise im Theater
üblich waren. Die Gründungsmitglieder waren: Myrrha und Georges Donzenac, Martine
Franck, Gerard Hardy, Philippe Leotard, Roberto Moscoso, Jean-Claude Pechenat,
Jean-Pierre Tailhade, Francois Tournafond und Ariane Mnouchkine.31 Auch bekam die
Gruppe 1964 einen neuen Namen: Théâtre du Soleil. Dieser Name wurde einerseits
gewählt, um aus den populären Abkürzungen wie TNP (Théâtre National Populaire)
und TEP (Théâtre de L’Est Parisien) hervorzustechen32, andererseits wählte
Mnouchkine diesen Namen, um ihre Vorliebe für Licht und Wärme und die damit
verbundene Schönheit auszudrücken. Auch steckt in diesem heiter-optimistischen
Grundton des Namens Mnouchkines Auffassung vom Theater als kollektives Spiel, als
Fest;33 Der Begriff ‚Sonne’ wird deshalb benutzt, um durch ihre Theaterarbeit
bestimmte Sachverhalte bzw. Geschichte(n) ‚in die Sonne‘ also ‚ins Licht‘ zu rücken.34
Weiters kündigte der Name ein Beziehungssystem an, das erst mit der Zeit
wahrnehmbar werden sollte: Die Gruppe organisiert sich nach dem kopernikanischen
Modell, bei dem die Planeten in verschiedenen Geschwindigkeiten um die Sonne,
Ariane Mnouchkine, kreisen.35
Die ersten administrativen Schritte der Truppe waren die Einholung einer Genehmigung
zur Gründung eines Schauspiel-Unternehmens beim Kulturministerium und die
Kontaktaufnahme mit der Schauspielergewerkschaft, die den Rat erteilte, sich mit der
30
vgl. Singleton 1988: 52.
31
vgl. Seym 1992: 42f.
32
ebd.
33
vgl. Floeck 1988: 22.
34
vgl. Seym 1992: 42.
35
vgl. Banu, Georges (2003) „Ariane Mnouchkine und das Vertrauen ins Theater.“, in: Josette Féral
(2003): Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil. Berlin: Alexander Verlag, 20.
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S.C.O.P in Verbindung zu setzten, dem Verband der Arbeitergenossenschaft der
Produktion. Als offizielle Organisationsform entschied man sich für die Form des
coopérative ouvrière de production. Alle Mitglieder mussten 900 Franc Startkapital
einzahlen, Mnouchkine wurde zur Präsidentin, Jean-Pierre Tailhade, Phillippe Léotard
und Jean-Claude Penchenat wurden zu den Geschäftsführern gewählt.36 Als Firmensitz
stellte die Produktionsfirma von Mnouchkines Vater, Alexandre Mnouchkine, ein
kleines Büro in der Champs Elysée 44 zur Verfügung, das allerdings zu klein war, um
als Proberaum zu dienen. Die immer neue Suche nach geeigneten Probe- und Spielorten
gestaltete sich in den ersten Jahren bis zum Einzug in die Cartoucherie als mühsam und
schwierig.37
Da sich die Truppe noch nicht finanzieren konnte, mussten alle Mitglieder tagsüber
arbeiten und trafen sich nur abends nach Feierabend und in ihrer Freizeit.38 Mnouchkine
hatte relativ vermögende Eltern, sodass sie tagsüber nicht arbeiten musste, sondern die
Schule von Lecoq besuchen konnte. Am Abend brachte sie alles, was sie tagsüber
gelernt hatte, den Anderen bei.39 Das trainierte ihre Fähigkeiten als Lehrerin und machte
sie automatisch zur Regisseurin der Truppe.40 Später lud Mnouchkine immer wieder
Lehrende des Kabuki und Kathakali Theaters ein, um sich und ihre Truppe fortzubilden,
aber ansonsten blieb das der einzige Kontakt zu einer staatlich anerkannten
Theaterschule. Das Fehlen einer staatlich anerkannten Ausbildung stellte sich der
Truppe zu Beginn immer wieder in den Weg, da sie oft als Laientheater abgestempelt
wurden. Dieser Umstand löste die Idee aus, sich in ein kleines Dorf am Land
zurückzuziehen, Schafe zu hüten und in Ruhe ein Stück zu proben, um dann damit auf
Tour zu gehen.41
36
vgl. Seym 1992: 42.
37
ebd.: 43.
38
Die Mitglieder des Théâtre du Soleil erhielten drei Jahre kein Gehalt. Schauspieler und
Schauspielerinnen, die nicht Mitglieder waren sondern als Gäste bei Produktionen mitarbeiteten, erhielten
Gagen pro Auftritt (vgl. Seym 1992: 43).
39
vgl. Delago; Rebellato 2010: 31.
40
vgl. Singleton 1988: 54.
41
ebd.: 55f.
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Nach etwa zwei Monaten verwarf die Truppe jedoch diese Idee; alle Mitglieder kamen
nach Paris zurück, begannen Schauspieler zu suchen und fingen mit den Proben zu
ihrem ersten Stück an: Die Kleinbürger von Maxim Gorki in einer Textbearbeitung von
Artur Adamov.42
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b.) Les Petits Bourgois (Die Kleinbürger) von Maxim Gorki
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Die Kleinbürger von Maxim Gorki markiert den eigentlichen Beginn von Mnouchkines
Karriere als Regisseurin. Als Anleitung zur Arbeit mit den Schauspielern nutze
Mnouchkine besonders die ‚Method‘ nach Stanislawski. So begannen die Schauspieler
den geschichtlichen Hintergrund des Stücks zu ergründen und analysierten die
Charaktere bis ins kleinste Detail. Dann übten sie verschiedene Körperlichkeiten der
Figuren und erst nach dieser langen Vorarbeit, stiegen sie in die Szenen des Stücks ein.43
Geprobt wurde insgesamt fünf Monate.44 Mnouchkine sah ihre Aufgabe nicht darin, den
Schauspielern genaue Anweisungen zu geben, sondern vor allem darin, die
Improvisationen in bestimmte Richtungen zu lenken und der Aufführung eine gewisse
Form zu geben - ganz im Sinne des vom Berliner Ensemble geprägten Ausdrucks:
Probenleiter.45 Bis heute hat sich Mnouchkines Position kaum verändert. Allerdings ließ
sie im Folgenden die Erarbeitung einer Figur nach den Methoden Stanislawskis
großteils wieder. Bis heute allerdings nehmen Kostüme und Maske, die schon zu
Beginn der Proben mit der Entwicklung der Charaktere entstehen, eine zentrale Rolle
für die Schauspieler im Probenprozess ein. So haben die Schauspieler die Möglichkeit,
sich mehrere Wochen in die originalen Kostüme einzufühlen.46
42
ebd.
43
vgl. Singleton 1988: 55f.
44
vgl. Seym 1992: 43.
45
vgl. Singleton 1988: 55f.
46
ebd.
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Der recht ansehnliche Erfolg des Stücks, das zuerst in Paris zur Aufführung kam und
dann durch die französische Provinz tourte, brachte der Truppe erste Subventionen des
Kulturministeriums ein.47
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c.) Le Capitaine Fracasse von Théophile Gautiers
1965/66 erarbeiteten die Mitglieder des Théâtre du Soleil den Abenteuerroman Le
Capitaine Fracasse von Théophile Gautiers, wobei sich zum Teil schon hier der später
charakteristische Stil das Théâtre du Soleil herauskristallisierte: erstens Mnouchkines
Vorliebe für das Prinzip des Theaters im Theater (erstmals durch in diesem Stück
eingebaute Jahrmarktsszenen versucht), zweitens verschiedene Formen des
ursprünglichen Volkstheaters (Zirkus-Elemente, Akrobatik, Musik, Spiel mit Maske und
Marionetten) und drittens die Spieltechniken der Commedia dell’arte.48 Besonders die
Mittel Musik, Tanz und Akrobatik waren in Frankreich zu dieser Zeit im Theater wenig
verbreitet und stießen beim Publikum auf großes Gefallen.49 Während des
Probeprozesses arbeitete die Truppe insofern im Kollektiv, als die Schauspieler zu
einzelnen Kapiteln des Romans improvisierten und Philippe Léotard, ein
schriftstellerisch begabtes Mitglied der Truppe, aus diesen Improvisationen eine
Textvorlage zusammenstellte.50 Wieder zog die Truppe nach der Premiere in Paris durch
die französische Provinz.51
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d.) La Cuisine (Die Küche) von Arnold Wesker
Darauf folgte eine Inszenierung des realistisch-sozialkritischen Stücks La Cuisine von
Arnold Wesker, welches, nachdem es von einigen Theatern abgelehnt worden war, 1967
47
vgl. Brauneck 2007: 151.
48
vgl. Floeck 1988: 22.
49
ebd.
50
vgl. Simhandl 2007: 451.
51
vgl. Brauneck 2007: 151.
!
!
!17
im Cirque de Montmartre Premiere feierte. Es war ein aufsehenerregendes Ereignis, das
Mnouchkine und Wesker schlagartig großen Erfolg brachte.52
Der Schauplatz von La Cuisine ist die Kellerküche eines großen Londoner Restaurants,
von 7:00 Uhr morgens bis 19:00 Uhr abends. Die Großraumküche wird zum grotesken
Abbild der Welt, in dem die entwürdigenden und enthumanisierenden Folgen
menschlicher Fließbandarbeit Thema sind.53 Es zeigt die Hoffnungen und Ängste der
Protagonisten (allesamt Küchen- und Servicepersonal), ihre Betriebsamkeit ebenso wie
ihre alltäglichen Konflikte. Dreißig Köche arbeiten und die Küche ist voller Bewegung:
Kellner geben Bestellungen auf, nehmen die fertigen Sachen mit, es herrscht ein
Kommen und Gehen, zunächst relativ langsam, bald aber mit größerer Geschwindigkeit.
Schlussendlich wird das Servieren ein einziger hektischer Wirbel.54 Hauptsächlicher
Spielgestus ist das immer größere Tempo des Servierens und die absurde Zuspitzung der
Arbeitsteilung. Diese Spielweise hatte eine neue realistische Komponente, die sich
durch die genaue soziologische und lebensgeschichtliche Ausarbeitung der Figuren
auszeichnete.55
Während der Proben besuchte Arnold Wesker Mnouchkine in Paris, da er das Stück der
Truppe ohne Vorauszahlung überlassen hatte. Er traf sich mit Mnouchkine, die ihn
gleich zur abendlichen Probe einlud. Mnouchkine hatte gerade Probleme damit, den Teil
der Hektik und des Herumwirbelns zu choreographieren, da sie mit ihrer Truppe den
Rhythmus nicht zu konkretisieren vermochte. Wesker schlug für diesen Teil eine
bestimmte Zählweise vor: So mussten die Schauspieler jedes Mal innerlich zählen,
bevor sie eine Bestellung aufgaben. Je schneller das Tempo des Servierens werden
sollte, desto weniger weit zählten die Schauspieler. Sie begannen also damit, zwischen
den Bestellungen bis acht zu zählen. In der nächsten Runde zählten sie bis sieben, dann
bis sechs, bis fünf usw.56
52
vgl. Floeck 1988: 23.
53
ebd.
54
vgl. Wesker, zit. nach Féral 2003: 104.
55
vgl. Brauneck 2007: 151.
56
vgl. Wesker, zit. nach Féral 2003: 104.
!
!
!18
Es ist das erste Stück, das Mnouchkines sozialkritisches Engagement in den Mittelpunkt
rückte. Für sie hieß politisches Theater aber nicht, zu realistischem Theater oder
intellektuellen Lehrstücken zurückzukehren. La Cuisine erregte deshalb bei Publikum
und Kritik so großes Interesse, da es eine sensible Spannung zwischen hyperrealistischer Inszenierung der Bewegungsabläufe des Küchenpersonals zeigt und
gleichzeitig durch die Abwesenheit realer Speisen verfremdet und stilisiert wird. So
konnte diese Inszenierung die alltägliche Wirklichkeit mit theaterspezifischen Mitteln
aufzeigen und immer noch genügend Raum für die Imagination der Zuseher lassen.57
Das Stück erreichte 63.400 Zuseher und wurde über zwei Jahre gespielt.58 Im Herbst
1968 reiste das Théâtre du Soleil mit diesem Stück zur Theaterbiennale nach Venedig.
Peter Iden schildert in einem Artikel der Zeitschrift Theater Heute im Dezember 1968
seine Eindrücke zu La Cuisine folgendermaßen:
!
Weskers ‚Küche‘ übrigens in einer vehementen Inszenierung Ariane Mnouchkines. Die
Franzosen reißen das Stück über die Bühne, kommen zu turbulenten Kulminationen,
gegen die dann, sehr formbewusst, Stille hart abgesetzt wird. […] Der proletarische
Elan der Aufführung ist in Venedig allerdings doch absorbiert worden vom feudalen La
Fenice.59
Zusammenfassend hat das Théâtre du Soleil in diesen ersten drei Stücken folgende
Arbeitsweisen bedient: das psychologisch realistische Theater nach Stanislawski und
die Lehre der neutralen Maske nach Lecoq, welche automatisch zur Commedia dell’arte
führte. Durch die intensive psychologische Arbeit an Die Kleinbürger erwarben die
Schauspieler bestimmte Fähigkeiten des Einfühlen und Analysieren. Man könnte dies
als die erste, grundlegende ‚Zutat‘ einer gelungenen Theaterarbeit beschreiben. Von der
expressiven, kreativen, kollektiven Arbeit in Le Capitaine Farcasse, die mit Pantomime,
Musik und Akrobatik gemischt war, entstand die zweite ‚Zutat‘. Beides vereinte die
Truppe in La Cuisine.60 Nun wollte Mnouchkine aber ein Stück finden, das zusätzlich
eine dritte ‚Zutat‘ beinhaltete: die Dramatik - das heißt dramatische Handlungen. Dies
57
vgl. Floeck 1988: 23.
58
vgl. Féral 2003: 199.
59
Iden, Peter (1968) „Theaterbiennale in Venedig - ein demokratisches Fest?“, in: Theater Heute
1968/12. Berlin: Friedrich GmbH, 53.
60
!
vgl. Singleton 1988: 61ff.
!
!19
hatte weniger mit den Fähigkeiten der Schauspieler zu tun, als damit, ein Stück zu
finden, das nicht nur sprachlich und inhaltlich, sondern vor allem hinsichtlich seines
dramatischen Bogen interessant war. Diese Idee führte Mnouchkine zu Shakespeare.
Shakespeares Stücke tragen zwei Komponenten von vornherein in sich: ein guter Text
und einen interessanten dramatischen Bogen. Gut ausgebildete Schauspieler finden hier
die Möglichkeit, mit all ihren Fähigkeiten Figuren zu interpretieren.61 Nicht nur
Mnouchkine, sondern auch Barrault und Planchon entdeckten zu jener Zeit ihr Interesse
an Shakespeares Tragödien und Historischen Stücken.
!
e.) Le songe d’une nuit d’été (Ein Sommernachtstraum) von Shakespeare
Mit der Arbeit zu Shakespeares Ein Sommernachtstraum konkretisierte das Théâtre du
Soleil seine Methode des kollektiven Arbeitens. Das Ensemble bestand hier aus
Schauspielern und Tänzern, wobei die Rolle des Oberon und die der Titania von
Tänzern verkörpert wurden. Die Bühne und große Teile des Zuschauerraums waren mit
Ziegenfellen ausgelegt, auf denen die Schauspieler und Tänzer sich rollen, sich wälzen
und akrobatische Einlagen durchführen konnten.62 Mnouchkine ließ sich für diese
Arbeit unter anderem von Antonin Artaud inspirieren und deutete somit die Komödie
als eine Art Traum, in dem Tabus gebrochen und heimliche Wünsche offenbart werden.
Auch ließ sie die Bedeutung der Worte und Texte in den Hintergrund rücken und sprach
der Handlung mehr Aufmerksamkeit zu, die hauptsächlich durch körperliche Gesten
erzählt wurde. Das Stück sollte nicht nur zum Träger von Sinn, sondern zum
Sinnzentrum selbst werden.63 Unterstützt durch Musik und Choreographien
komponierte sie ein körpersprachliches Geschehen, das 1968 wieder im Cirque de
Montmartre zur Aufführung kam.64 Henning Ritschbieter beschrieb die Inszenierung in
einem Artikel der Zeitschrift Theater Heute im Juni 1972 wie folgt:
61
ebd.
62
vgl. Brauneck 2007: 151.
63
ebd.
64
vgl. Féral 2003: 199.
!
!
!20
!
!
Leder und Felle, zu Jeans und knappen Jacken verarbeitet, zeigte die Spieler als
Jugendliche der sechziger Jahre. Die Elfen wandelten langsam als hohe, spitzbehütete
Nachtmare heran, zu einer dünnen, sirrenden, asiatisch anmutenden Musik. Der
Athenische Hof, an dem der Rausch und Wahn sich schließlich besänftigen, trat in
weißen, weiten Leinenanzügen auf, indisch-orientalisch. Und alle Spieler tanzten zum
Schluss Sirtaki. Eine sportive überwiegend gutgelaunte, auf nicht unsympathische
Weise modische Aufführung: sie fand vor dem Mai 68 statt. In ihr freundlich gefälliges
Paradies gab es nach dem Mai für die Truppe des Théâtre du Soleil keinen Rückweg.65
3. Das Jahr 1968 und seine Folgen
!
Die Ereignisse vom Mai 1968 unterbrachen jäh die Arbeit des Théâter du Soleil.
Mnouchkine und alle Mitglieder der Truppe solidarisierten sich mit den Studenten,
unterbrachen ihre Proben und nahmen an Demonstrationen und Besetzungen teil.66
Die Studentenrevolte 1968 warf neue, kritische Fragen an die Gesellschaft auf,
problematisierte deren Grundwerte und Verfassung und weigerte sich, deren Tabus
anzunehmen.
!
a.) Theatersituation der 50er und 60er Jahre
!
Die Theaterspielpläne der 1950er und 60er Jahre waren zwar in Frankreich wie in
Deutschland nicht völlig unpolitisch, hatten jedoch entpolitisierenden Charakter.67
Konflikte wurden individualisiert und ins Innere der Figuren verlagert. Zur Erklärung
eignet sich das Stück Die Fliegen von Jean Paul Satre: Das Stück handelt von Orest und
Elektra, die Rache an ihrer Mutter Klytaimnestra und ihrem Stiefvater Aegist üben,
indem sie die beiden ermorden und so die Stadt von der Schreckensherrschaft befreien.
Dieser Kampf um Freiheit kann natürlich mit der Möglichkeit des Aufbegehrens gegen
das Regime verbunden werden. Allerdings geht es hier nicht um gesellschaftliches
Aufbegehren, sondern viel mehr - im Sinne des Existenzialismus - um die individuelle
65
Ritschbieter, Henning (1972) „Das eingemottete Theater. Zur Situation in Prag.“, in: Theater Heute
1972/6. Berlin: Friedrich GmbH, 30.
66
vgl. Floeck 1988: 21.
67
vgl. Kraus, Dorothea (2007): Theater Proteste. Zur Politisierung von Straße und Bühne in den 1960er
Jahren. Frankfurt/Main: Campus Verlag GmbH, 46.
!
!
!21
Entscheidung der einzelnen Figuren. Die Freiheit an sich wird als individuell gesehen,
zu der sich Figuren persönlich entscheiden und somit auch mit ihren Konsequenzen
leben müssen. Dieses Stück ist gegen jede Art von Fremdbestimmung gerichtet, hat also
universellen Charakter. Sartre sowie Camus ordnen somit historische Bedingungen und
Zusammenhänge der Entscheidungssituation des Einzelnen unter.68
Auch die Stücke des absurden Theaters von Beckett oder Ionesco kann man in diesem
Sinne nicht als politisch begreifen, da sie sich gegen ein allgemeines Gefühl der
Sinnlosigkeit des Lebens richten. Sie greifen metaphysische Fragen auf, bieten jedoch
keinerlei Antworten oder Lösungen.69 Sie tragen allerdings grundlegend zur
Veränderung des Theaters in den 1950er und 60er Jahren bei: Ganz im Sinne des
Vorreiters Antonin Artaud drängen auch sie die Bedeutung der Sprache als theatrales
Ausdrucksmittel in den Hintergrund.70 Der Idee eines ‚totalen Theaters‘, die Artaud
schon Anfand der 1940er Jahre in seinem Werk Das Theater und sein Double
beschreibt, konnte sich somit angenähert werden. In den Vordergrund traten die Sprache
in ihrem Ursprung sowie die Körpersprache, die Einheit zwischen Mimik, Gestik, Wort
und Bewegung sowie Kostümen und Requisiten. Das psychologische Nachempfinden
und das naturalistische Spiel rückten in den Hintergrund.71
Eine Strömung, die sich hauptsächlich darum bemühte, ein Volkstheater zu schaffen ein Theater für ein sozial breitgefächertes Publikum - wird vor allem mit dem
Theatermacher Jean Vilar verbunden. 1951 übernahm er die Leitung des Théâtre
National Populaire (kurz: T.N.P.). Anfangs verstand sich dieses Bestreben unpolitisch,
als kulturelles Angebot für das gesamte Volk. Anziehen sollten zusätzlich zu den
besonders günstigen Tickets auch preiswertes Essen, musikalische Einlagen vor Beginn
der Vorstellung, kostenlose Garderobe und Diskussionsveranstaltungen mit den
Schauspielern und Regisseuren.72
68
ebd.
69
ebd.
70
vgl. Floeck 1988: 20ff.
71
ebd.
72
vgl. Brauneck 2007: 17.
!
!
!22
Als 1954 zwei Gastspiele im Rahmen des Festival international d’art dramatique de la
ville de Paris von Brechts Berliner Ensemble nach Paris kamen, nahm die Politisierung
der Volkstheaterbewegung in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zu.73 Diese Gastspiele
übten großen Eindruck auf die vorwiegend linke Theaterszene in Paris aus. Vor allem
das Stück Mutter Courage entsprach einem französischen Bedürfnis nach der Erklärung
einer Gegenwart, die geprägt war durch die wirtschaftlichen und politischen Folgen des
Zweiten Weltkriegs.74 Zusätzlich interessierte die Franzosen die Spielweise des
Ensembles. „Die Expressivität und Authentizität der Darstellung und der im Spiel zum
Ausdruck kommenden künstlerischen Konzeptionen“ bewundert der Theaterkritiker
Robert Kemp in Le Mond 1955.75 Diese Gastspiele waren der Beginn einer vielfältigen
Auseinandersetzung mit Brechts epischen Theater in Frankreich. In den Folgejahren
entwickelte sich diese Auseinandersetzung insofern, als die Brecht’sche Theaterpraxis
bald als zu realistisch und zu unmittelbar didaktisch angesehen wurde. Die Theorien
und Ideologien galten aber weiterhin als Vorbild.76
Die Entwicklung des politischen Theaters hatte 1968 ihren Höhepunkt und die MaiEreignisse bedeuteten einen nachhaltigen Einfluss dahingehend, dass selbst Brechts
politischem Theater vorgeworfen wurde, es sei bürgerlich.77
!
b.) Die Ereignisse im Mai 1968
!
Der Beginn der Revolte fand an der Universität von Nanterre statt, deren Studenten,
beeinflusst durch die Proteste und Demonstrationen in den USA, den Hochschulunterricht zu stören begannen. Die Studenten protestierten gegen den Vietnamkrieg und
sprachen sich für eine Neuerung des Hochschulsystems aus. Mit der Zeit schlossen sich
immer mehr Studenten den Protesten an, wobei sie die Themen bald zu wirtschaftlichen
73
vgl. Wenkel, Christian (2014) Auf der Suche nach einem ‚anderen Deutschland‘. Das Verhältnis
Frankreichs zur DDR im Spannungsfeld von Perzeption und Diplomatie. München: Oldenbourg
Wissenschaftsverlag GmbH. Online: Google Books, 180.
74
ebd.: 181.
75
Kemp, Robert (1955): „‚Homme pour Homme’ au mardi de l’oeuvre.“, in: Le Mond 1955/3, Online.
76
vgl. Floeck 1988: 20f.
77
ebd.
!
!
!23
und sozialen ausweiteten. Als von Seiten der Politik über eine Schließung der
Universität in Nanterres diskutiert wurde, solidarisierten sich die Studenten der
Sorbonne in Paris und besetzten die Räume der Universität. Am Abend desselben Tages
wurde die Universität von der Polizei geräumt und mehr als 500 Studenten wurden
festgenommen. Daraufhin gingen Tausende auf die Straße, demonstrierten gegen den
Materialismus, für eine sozial gleichberechtigte Gesellschaft, forderten die Freilassung
der inhaftierten Studenten und den Abzug der Polizei aus der Sorbonne. Als dies
abgelehnt wurde, gingen immer mehr Menschen, unter ihnen nicht mehr nur Studenten,
auf die Straße, demonstrierten und errichteten Barrikaden. Aufgrund der ideologischen
Offenheit der Revolte konnten Anhänger verschiedenster Herkunft gewonnen werden.
Künstler und Intellektuelle standen an vorderster Front. Jean-Paul Sartre war eine der
Leitfiguren neben bekannten Bühnenkünstlern und einer kleinen Gruppe wortgewandter
Studenten, die als Anführer galten.78 Die Polizei ging so hart gegen die Demonstranten
vor, dass sich bald auch die Arbeiter ihnen anschlossen: Es wurde ein Generalstreik
ausgerufen der insofern Wirkung zeigte, als die festgehaltenen Studenten freigelassen
wurden und die Polizei aus der Sorbonne abzog. Daraufhin besetzen die Studenten die
Universität wieder.79 An weiteren Demonstrationen, Streiks und Besetzungen von
Fabriken und Theatern beteiligten sich nahezu zwei Million Menschen. Die
Forderungen waren unter anderem: Lohnerhöhungen, 40-Stunden-Woche,
Sozialversicherung, freie Universitäten und vor allem Neuwahlen. Die NachkriegsRegierung unter de Gaulles sollte reformiert werden. Als es de Gaulle und rechten
Sympathisanten allerdings gelang, die Arbeiter unter Androhung der Verhängung des
Ausnahmezustands wieder zu ihren Arbeitsplätzen zurückzubringen, zerbrach die
Protestbewegung Stück für Stück. Nachdem sich als Reaktion auf die linken Proteste
auch das rechte Lager vermehrt zusammenschloss, gelang de Gaulle ein Monat später
bei den Neuwahlen ein überragender Sieg.80 Der Minister für Kultur, André Malraux,
wurde durch den „alten, ehrlichen, farblosen, etwas müden Gaullismus-Getreuen“
78
vgl. Brauneck 2007: 135.
79
ebd.
80
ebd.
!
!
!24
Edmond Michelet ersetzt.81 Als erste Maßnahmen wurden die Abteilung ‚Theater und
Kultur‘ aufgelöst und die Subventionen für Theater nur bis zum 1. Oktober 1969
garantiert. Der Theaterwissenschaftler Bernhard Dort schreibt im September 1969 in
einem Artikel der Zeitschrift Theater Heute folgendes:
Man hat wirklich das Gefühl, dass eine Epoche französischen Theaters - die des T.N.P.
unter Jean Vilar, die der Dezentralisierung der Theater und die des Aufkommens von
Theater an der Pariser Peripherie - an ihr Ende gelangt ist, bevor sie letztendlich eine
wirkliche Reife erreicht hat.82
!
In diesem Zusammenhang verlor Jean-Luise Barrault die Leitung des berühmten Odéon
Theaters, da er die Besetzung der Studenten geduldet hatte.83 Laut Bernhard Dort war
das eigentliche Problem jedoch das Theater selbst, das durch die Ereignisse enormen
Rückgang der Abonnenten- und Besucherzahl erfahren musste. Der Traum von einem
Theater, das für jedermann Teilhabe an der Kunst und Kultur bereithalten sollte, konnte
nicht erfüllt werden.84
Denn in dem Bestreben, die Kultur an die Massen zu tragen oder in dem Wunsch nach
einer politischen […] Wirksamkeit, hat sich das französische Theater ein wenig selbst
vergessen.85
!
c.) Die Auswirkungen der Protestbewegung
!
Man kann sagen, dass die Auswirkungen der Protestbewegung vor allem in einem
veränderten Bewusstsein der Gesellschaft bezüglich unterschiedlicher Bereiche liegen.
Das Theater wurde gezwungen, über die tatsächlichen Existenzgrundlagen, über die
Mittel und Methoden seiner Praxis und über seine Macht und seine Grenzen zu
81
vgl. Dort, Bernhard (1969) „Das Ende eines Traums. Das französische Theater starb im Mai 68 - es
bereitet seine Wiederauferstehung vor.“, in: Theater Heute 1969/9. Berlin: Friedrich GmbH, 22.
82
ebd.: 23.
83
vgl. Brauneck 2007: 135.
84
vgl. Dort 1969: 27.
85
ebd.
86
ebd.: 28f.
!
!
!25
reflektieren.86 Dies galt für das Theaterverständnis und für Theatermacher in ganz
Europa.87
1969, ein Jahr nach den Ereignissen des Mai 1968, trat de Gaulle zurück, hatte aber
durch seinen Wahlsieg 1968 den Machterhalt seiner Partei gesichert.88 Von da an kam es
zu einer kontinuierlichen Stärkung der sozialistischen Partei, bis sie 1981 die Macht
übernahm. Der Sozialist Francois Mitterand wurde Präsident und ernannte Jack Lang
zum neuen Kulturminister, der bald als Symbolfigur für den Aufbruch in Richtung
Innovation und Offenheit gesehen wurde.89 Er stellte die Wiederbelebung des
Dezentralisierungsprogramms an erste Stelle. Daraus folgten in den 1980er Jahren
enorme Erhöhungen der Theatersubventionen. Viele Theater wurden renoviert und
einige neu erbaut (z.B. die Opéra Bastille in Paris).90 Die Tendenz, weg von den
hochsubventionierten Nationaltheatern hin zu unabhängigen Theatertruppen, ist am
enormen Publikumsaufschwung der privaten und freien Truppen zu erkennen. Laut
einer Studie von 1991 vermeldeten unabhängige Theatertruppen mehr als doppelt so
viele Zuseher als die Centres Dramatiques.91 Eine der größten Errungenschaften der
1980er Jahre war das Prinzip der ‚intermittence‘, wonach für die am Theater tätigen
Künstler, Techniker und Produzenten eine spezifische Form der Sozialversicherung
eingeführt wurde. Sie bekamen in den Phasen zwischen den Produktionen, in denen sie
kein Einkommen hatten, Arbeitslosengeld. Dies trug stark zur Stabilisierung des
Theaterwesens bei und ermöglichte den Künstlern eine gewisse Unabhängigkeit.92
!
!
!
87
vgl. Gilcher-Holtey, Ingrid / Kraus, Dorothea / Schößler, Franziska (2006): Politisches Theater nach
1968. Regie, Dramatik und Organisation. Frankfurt/Main: Campus Verlag, 154.
88
vgl. Brauneck 2007: 135.
89
ebd. 136f.
90
ebd.
91
ebd.
92
ebd.
!
!
!26
d.) Entstehung von Kollektiven in ganz Europa
!
Ein wichtiger Ausdruck dieser Aufbruchsstimmung waren die Gründungen zahlreicher
unabhängiger Theatergruppen, die sich meist als Kollektiv begriffen. Hierbei ging es
vor allem um alternative Lebensentwürfe. Die Form des Kollektives wurde vielfach als
ideale Form gemeinschaftlichen Lebens und Arbeitens probiert.93 Das wichtigste
Beispiel hierfür in Deutschland war die Gründung der Schaubühne am Halleschen Ufer
in Berlin unter der Leitung von Peter Stein. Es war das erste staatlich subventionierte
Theater, das direkt demokratisch aufgebaut war.94
In England ist vor allem Peter Brook hervorzuheben. Seine Theaterauffassung brachte
wichtige Wendepunkte Anfang der Sechziger Jahre. Er reagierte sensibel auf die
Produktionsprozesse am Theater und auf die Politischen - vom Vietnamkrieg
bestimmten - Verhältnisse.95 Brook galt nicht nur in England, sondern in ganz Europa besonders in Frankreich und Deutschland - als Vorbild.96 Sein Konzept war es, mit
einem multikulturellen Ensemble Kommunikationsformen, die von der Sprache
unabhängig waren, zu erforschen. Seine Theaterauffassung fasste er 1968 in dem Buch
Der leere Raum zusammen.97 1974 gründete er in Paris das Forschungslabor Centre
93
vgl. Gilcher-Holtey; Kraus; Schößler 2006.
94
Nachdem Stein und seine Gruppe von Schauspielern durch die Tasso-Inszenierung (Johann Wolfgang
Goethes Torquato Tasso, mit Bruno Ganz als Tasso, Jutta Lampe als Prinzessin und Edith Clever als
Leonore Sanvitale. Bremen: 1969) weltweit berühmt wurden, bot ihm die Stadt Berlin im Bezirk
Kreuzberg ein 1962 gegründete Privattheater an, das von der Stadt subventioniert und dessen Spielplan
dezidiert politisch links ausgerichtet war. Dort zogen Stein und seine Gruppe 1970 als KollektivUnternehmen ein. Geregelt wurde der Betrieb so, dass die Theaterleitung (Peter Stein, kurze Zeit Claus
Peymann und der Dramaturg Dieter Sturm) und alle Mitarbeiter gemeinsam über künstlerische und
organisatorische Vorgänge entschieden (vgl. Brauneck 2007: 305).
95
vgl. Gromes, Hartwin (2006) „Peter Brooks intellektuelle Theaterpraxis: Die Kultur der Verknüpfungen
als Neuformulierung des Politischen“, in: Gilcher-Holtey, Ingrid / Kraus, Dorothea / Schößler, Franziska
(2006): Politisches Theater nach 1968. Regie, Dramatik und Organisation. Frankfurt/Main: Campus
Verlag, 189f.
1965 begann Peter Brook mit der Materialsammlung für das Stück US, welches die britische,
amerikanisch und eigene Haltung zum Vietnamkrieg untersuchte. Nach monatelanger Vorarbeit und
monatelanger Probenzeit, kam das Stück, produziert von der Royal Shakespeare Company, 1966 im
Londoner Aldwych Theatre zur Aufführung (vgl. Gromes 2006: 190f). Zum ersten Mal hatte er ein Stück
mit einer Gruppe von Co-Autoren entwickelt (ebd.: 192).
96
ebd.: 189f.
97
vgl. Brook, Peter (1983): Der leere Raum. Berlin: Alexander Verlag.
!
!
!27
International de Recherches Théâtrales und baute eine professionelle Theatertruppe auf,
deren Mitglieder aus verschiedensten Ländern und Kulturen stammten.98
In Italien sind der Theatermacher Giorgio Strehler und das Piccolo Theatro di Milano
besonders hervorzuheben. Das 1947 von Strehler und seinem Partner Paolo Grassi
gegründete Piccolo Theatro wurde durch die Inszenierungen der Stücke Nachtasyl von
Maxim Gor’kij und Harlekin, der Diener zweier Herren von Goldoni weltberühmt. Von
den Entwicklungen in Frankreich und Deutschland inspiriert, verließ Strehler in den
1960er das Piccolo Theatro, um eine eigene völlig unabhängige Truppe zu gründen,
kehrte allerdings einige Jahre später wieder nach Mailand zurück, um seine Arbeit am
Piccolo Theatro fortzusetzen. Er inszenierte eigene Stücke und lud immer wieder
interessante Truppen aus ganz Europa in sein Theater ein (ua. auch im Jahre 1970 das
Théâter du Soleil um die Premiere des Stück 1789 zu ermöglichen) und förderte somit
den europäischen Austausch verschiedener Kollektive.99
Zusammenfassend brachte der Mai 1968 kein neues einheitliches Theater hervor,
sondern eine Menge unterschiedlicher neuer Formen in allen Bereichen. Oft wurden die
traditionellen Theaterbauten verlassen und andere Orte, wie zum Beispiel die Straße,
öffentliche Plätze und Fabrikhallen für Theateraufführungen verwendet. Die vierte
Wand - zwischen Bühne und Publikum - wurde geöffnet und man versuchte das
Publikum unmittelbar in das Spiel einzubeziehen. Rationale Belehrung und
intellektueller Diskurs wurden zu Gunsten emotionaler und sinnlicher Erzählweise
abgelehnt. Daraus folgte, dass literarische Vorlagen immer mehr zurückgedrängt
wurden, um eigene Themen und Texte zu schaffen.
Diese Tendenzen wurden auch von Ariane Mnouchkine und dem Théâtre du Soleil
aufgegriffen, indem sie im Revolutionsstück 1789 gänzlich auf literarische
Textgrundlage verzichteten und sich im Sinne der ‚création collektive‘ ganz der
Improvisation und kollektiven Schaffenslust hingaben.
Der Theaterwissenschaftler Wilfried Floeck fasste das Theater in Frankreich nach der
Mai-Revolte in einem Begriff zusammen: das „Théâtre différent“.100 Dieses ‚andere
98
vgl. Gromes 2006: 199.
99
vgl. Brauneck 2007: 552ff.
100
!
vgl. Floeck 1988: 22.
!
!28
Theater’ – mit ‚anders‘ ist hier der bewusste Unterschied zu staatlichen Theatereinrichtungen gemeint - stellt besonders eine Neudefinition des politischen Theaters und
des Volkstheaters in den Vordergrund. Anstelle eines an den Verstand appellierenden
Lehrtheaters wurde eine Form gesucht, die betont sinnliche und emotionale Elemente
beinhaltet und an traditionelle Theaterformen anknüpft, die - anti-intellektuell - die
volkstümliche Spott- und Lachlust herausfordern. Zusätzlich wurde Volkstheater nicht
mehr nur durch das Zielpublikum definiert. Egal, wer die Zuseher waren, man verstand
unter Volkstheater ein Theater das sich - abgesehen vom Umgang der Theaterleute
untereinander - im Umgang mit dem anwesenden Publikum vom bürgerlichen Theater
unterschied. Arbeits- und Lebensform befruchteten einander, die hierarchischen
Abstufungen wurden nach allen Seiten geöffnet.101
!
Wie schon zu Beginn des Kapitels angedeutet, unterbrachen die Studentenaufstände
1968 die Arbeit der Truppe, da alle Mitglieder der Truppe in einen Solidaritätsstreik mit
den Studenten und Arbeitern traten. Sie demonstrierten und diskutierten, traten teilweise
sogar in einen Hungerstreik.102 Ein Sommernachtstraum von Shakespeare, der erst am
15. Februar 1968 Premiere hatte, wurde vorläufig eingestellt, stattdessen spielte das
Soleil - meist in besetzten Fabriken - wieder Arnold Weskers La Cuisine.103 Im Sommer
desselben Jahres verbrachte die gesamte Truppe einen mehrmonatigen Aufenthalt in der
französischen Provinz, um verschiedene Standpunkte zu diskutieren und neue Konzepte
zu erarbeiten. Zusammen improvisierten die Schauspieler, spielten Szenen aus
Shakespeare-Stücken, trainierten Körpertechniken, akrobatische Kunststücke und
Zirkusnummern und übten sich in unterschiedlichen Schauspielmethoden. Dazu zählten
Übungen aus dem Nō- und Kabuki-Theater sowie Stanislawskis Methoden und
Übungen. Ziel dieses Aufenthalts war ein neues Verhältnis zwischen Bühne und
Publikum zu finden: Das Publikum sollte als Mitspieler einbezogen werden.104 Das
Ergebnis dieser Arbeit war das Stück Les Clowns, das Erste, das durch die sogenannte
101
vgl. Neuschäfer, Anne (1983): Das „Théâtre du Soleil“. Rheinfelden: Schäuble Verlag, 8.
102
vgl. Floeck 1988: 23.
103
ebd.
104
ebd.: 24.
!
!
!29
‚création collective‘ entstanden war. (Im Unterschied zum Stück Le capitaine farcasse,
bei dem trotz der freien und kollektiven Herangehensweise im Probenprozess immer
noch die Romanvorlage benutzt wurde, gab es nun keine vorhandene Textvorlage
mehr.) Dieses Konzept des gemeinschaftlichen Erarbeitens wurde von vielen
westeuropäischen Truppen übernommen.105
!
e.) création collective
!
Bei der création collective werden nicht nur Vorgänge und Figuren eines Stückes im
Kollektiv erarbeitet, sondern auch der Text, der - ohne Vorlage - durch gemeinsame
Improvisationen entsteht. Den Begriff création collective näher zu bestimmen birgt
allerdings Schwierigkeiten in der Übersetzung. Das Wort ‚création‘ meint nicht nur
Produktion im Sinne der Fertigung eines Produktes für den Kunstmarkt, ‚Création‘
bezieht sich vor allem auf den „künstlerischen Moment der Schöpfung“ in dem die
„Erfindung“ und die „künstlerische Originalität“ mit einbezogen sind, wie es Anne
Neuschäfer in ihrem Buch Das ‚Théâtre du Soleil‘ beschreibt.106 In einer Erläuterung
aus dem französischen Wörterbuch Grand Larousse de la lanque francaise heißt es
auch „action de faire quelquechose qui n’existe pas encore“107. Diese Beschreibung
beinhaltet neben dem Produzieren ebenfalls die Erfindung.108 Auch das Wort ‚collectiv‘
wirft Probleme bei der Definition auf. Das Wort wird schnell mit einer
kommuneähnlichen Lebensform verbunden, meint aber ausschließlich die kollektive
Arbeitsweise, also ein Stück, das von der gesamten Truppe gemeinsam erfunden
wird.109
Mnouchkine weitete dieses Prinzip insofern aus, als die Schauspieler eine sehr lange
Zeit an mehreren, verschiedenen Rollen arbeiteten, die sie sich selbst aussuchten, wobei
es egal war, ob die Rollen zu Geschlecht und Alter passten. Die endgültige Besetzung
105
vgl. Brauneck 2007: 151.
106
vgl. Neuschäfer 1983: 159.
107
ebd. „Die Aktion etwas zu machen, das bis dahin noch nicht existierte.“ (M.W.)
108
ebd.: 159f.
109
ebd.
!
!
!30
kristallisierte sich erst spät im Probenprozess heraus. Auch waren die Schauspieler
verstärkt in den Bau des Bühnenbilds und in die Entwicklung der Kostüme
eingebunden. Aus dieser gleichberechtigten Partnerschaft im Entstehungsprozess
entstand eine größere Identifikation mit dem Ganzen. Die Aufführungen sollten von
jedermann, ohne Umweg über einen literarischen Text, unmittelbar verstanden werden.
Der Zuseher sollte der Kraft der spielerischen Suggestion, der Imagination und der
Improvisation der Schauspieler folgen. Voraussetzung dafür war, dass die Schauspieler
während der Proben die Tiefe der Figuren zu ergründen versuchten, um diese dann in
eine vorzeigbare Form umzuwandeln, die sich hauptsächlich im Körper ausdrückt. Das
heißt: Mnouchkine ging mit ihren Schauspielern den Weg von Innen nach außen. Sie
wollte nicht, dass Schauspieler ihre Gefühle gut versteckten, sondern - wie in östlichen
Kulturen - für ihre Gefühle körperliche Ausdrücke fanden. Denn letztendlich war für
Mnouchkine das eigentliche Theater das, welches sich in den Köpfen der Zuschauer
abspielt, inspiriert durch die Bilder und Handlungen auf der Bühne.110
!
f.) Les Clowns
!
Das Stück Les Clowns bestand aus einer Serie von Monologen, Sketchen und
artistischen Nummern, die das Ergebnis monatelanger Einzelimprovisationen waren.
Rahmenhandlung war die stetige Weitergabe der Wunderblume Mandragora, die der
Legende nach hilft, den geheimsten Wunsch des Besitzers in Erfüllung gehen zu lassen.
Das ermöglichte den Schauspielern über die traditionell-komischen Clownsfiguren
hinauszugehen und sich mit menschlichen Themen wie Liebe, Tod, Angst, Macht und
Leben zu beschäftigen. Es gab märchenhafte Geschichten und Alltagsszenen (wie zum
Beispiel das Leben einer Hausfrau mit vielen Kindern).111
Die Spielweise der Schauspieler war keineswegs mehr naturalistisch; vielmehr
verwendeten sie stilisierte Körperzeichen und Sprechweisen. Dies wurde auch durch das
Bühnenbild - einen Laufsteg und an den Seiten hängende, mit Lichtern umrahmte
Spiegel - unterstützt, das zur Imagination eines Zirkus diente. Eine sichtbare
110
vgl. Brauneck 2007: 148f.; Mnouchkine, in: Féral 2003: 35; Simhandl 2007: 452.
111
vgl. Simhandl 2003: 453.
!
!
!31
Musikgruppe begleitete die Schauspieler in ihren Bewegungen, Handlungen, Zuständen
und Gefühlen.112
Es wurde ein Vokabular gefunden von ebenso viel Künstlichkeit wie höchster
Geschicklichkeit, durch welches fünf Schauspieler von ihren intimsten Ängsten
berichteten, beschrieb Bernhardt Dort im Jahre 1969 in einem Artikel der Zeitschrift
Theater Heute seine Eindrücke des Stückes.113 „Eines der wenigen lustigen Schauspiele
der Saison, […] in dem sich das Theater als Theater zeigte und bekannt gab.“114
Mnouchkine selbst betrachtete das Stück im Nachhinein eher kritisch. Es war die
Quintessenz einer Reihe individueller Einzelkreationen, das den eigenen Ansprüchen
des Soleil nicht ganz genügen konnte, da die behandelnden Themen zu allgemein
menschlich und unpolitisch blieben.115
Brauneck spricht in seiner Analogie Die Welt als Bühne von einem missglückten
Versuch in diese Richtung und lässt den Erfolg erst mit den beiden Revolutionsstücken
1789: La révolution doit s’arrêter à la perfection du bonheur (1970/71) und 1793: La
cité révolutionnaire est de ce monde (1972/73) beginnen.116
!
!
4. 8 Jahre ‚création collective’ und der Umzug in die Cartoucherie
!
a.) 1789: La révolution doit s’arrêter à la perfection du bonheur
!
Mit dem Stück 1789 startete das Théâtre du Soleil ein Projekt in einer neuen
Größenordnung. Da schon Les clowns nicht mehr im Cirque de Montmartre gespielt
werden konnte, sondern ins Théâtre de la Commune d’Aubervilliers ausgewichen
werden musste, suchte Mnouchkine jetzt eine neue, eigene Spielstätte. Nach langem
112
ebd.
113
vgl. Dort, Bernhard (1969) „Das Ende eines Traums. Das französische Theater starb im Mai 68 - es
bereitet seine Wiederauferstehung vor.“, in: Theater Heute 1969/9. Berlin: Friedrich GmbH, 27.
114
ebd.
115
vgl. Floeck 1988: 24.
116
vgl. Brauneck 2007: 151.
!
!
!32
Drängen und zahlreichen Widerständen von Seiten der Behörde stellte die
Stadtverwaltung eine Halle der Cartoucherie, einer alten Munitionsfabrik im Wald von
Vincennes, für die Proben zur Verfügung.117 Das Gebäude war jedoch zu baufällig, um
dort die Aufführungen stattfinden zu lassen und so nahm Mnouchkine die Einladung
Giorgio Strehlers gerne an, nach Mailand in das Piccolo Teatro zu kommen, um dort die
Premiere zu spielen. In Paris fehlte jedoch weiterhin ein geeigneter Spielort. Nach
langem Hin und Her, der Besetzung einiger Hallen der Cartoucherie durch das
Ensemble und der Unterstützung einer Stadträtin von Paris, wurde der Truppe eine
Halle für eine symbolische Miete überlassen.118 In Eigenarbeit wurde das Gebäude
renoviert und so konnte im Dezember 1970 die Pariser Premiere von 1789
stattfinden.119
Wie der Titel schon sagt, befasste sich das Ensemble in diesem Stück mit der
französischen Revolution von 1789. Es zeigte die Geschehnisse der Revolution durch
eine fiktive Schauspielergruppe. Durch diese Verfremdung des Theaters im Theater war
die Gefahr gebannt, in eine historische Faktenschau abzugleiten.120
Die Illustration des einfachen Volkes und seiner Unterdrückung durch Adel und Klerus
bildeten einen Teil der Inszenierung. Ein Beispiel dafür ist eine Szene, bei der
Hofnarren einer Schwangeren in den Wehen das einzige weiße Laken wegnahmen, um
sich die Füße zu trocken, nachdem sie sie in einem Kübel mit dem für das Neugeborene
bereitstehenden, frischen Wasser gebadet hatten.121 In einer weiteren Szene sah man
Bauern, die lieber ihre Kinder umbrachten, als ihnen dasselbe leidvolle Leben
zuzumuten, das sie selbst führten.122 Daneben wurde das überhebliche Leben der
Adeligen und des Klerus sowie die Beeinflussung des Königs durch seine Gemahlin
geschildert. Szenen wie die Einberufung der Generalstände, die Beratung der
117
cgl. Simhandl 2007: 454.
118
vgl. Floeck 1988: 24f.
119
vgl. Féral 2003: 199.
120
vgl. Simhandl 2007: 454f.
121
vgl. Kessler, Sinah (1971) „Ariane Mnouchkine inszeniert ‚1789‘ im Sportpalast“, in: Theater Heute
1971/1. Berlin: Friedrich GmbH, 28.
122
!
ebd.
!
!33
Nationalversammlung über die Menschenrechte und der Verkauf der Kirchengüter
waren wichtige historische Ankerpunkte der Inszenierung. Den Höhepunkt bildete der
Bericht über die Erstürmung der Bastille, der gleichzeitig an verschiedenen Orten und
auf verschiedene Weise von mehreren Schauspielern erzählt wurde. Am Ende erklärte
das Bürgertum die Revolution für beendet und schlug den Volksaufstand vom 17. Juli
1791 auf dem Marsfeld nieder. Das Stück beendete ein einziger Schauspieler, indem er
den Verrat des Bürgertums aufzeigte und das Volk zu einem weiteren Kampf
aufforderte.123 Man muss dem Volk zu Mut verhelfen, um die Revolution konsequenter
weiterzuführen - das sollte die Botschaft sein.124
Mnouchkine suchte dieses Thema aus, da sie ein breitgefächertes, nicht-bürgerliches
Publikum ansprechen wollte. Das Bewusstsein über die französische Revolution gehörte
in Frankreich zum allgemeinen Bildungsgut und stieß damals auf großes Interesse. Es
eignete sich auch besonders gut, um das Konzept der ‚création collective‘
weiterzuentwickeln, da es genügend Stoff für Improvisationen bot.125
Man kann die Erarbeitung hierbei in drei Phasen einteilen, die sich über ein ganzes Jahr
hinzog: In der ersten Phase beschäftigte sich die Truppe theoretisch mit dem Thema. Sie
besuchten gemeinsam Vorlesungen, die sich mit dieser Epoche beschäftigten, lasen
zeitgenössische Text und historische Quellen, arbeiteten Referate aus, die ausgewertet
und in der Gruppe diskutiert wurden. So erwarben die Schauspieler ein fundiertes und
kritisches Wissen über die Geschehnisse der Revolution und die zeitgeschichtlichen
Hintergründe. Hier begann auch schon die Arbeit zur Textfindung, wobei hauptsächlich
auf authentische Quellen der Revolutionszeit zurückgegriffen wurde. Bei den
Recherchen wurde schnell klar, dass die gewaltige Stoffmenge nicht in einem Stück
untergebracht werden könnte und so beschloss Mnouchkine, den Ereignissen nach dem
Massaker auf dem Marsfeld ein eigenes Stück zu widmen: Man konzentrierte sich also
vorerst auf den ersten Teil der Revolution.126 Um dieses Wissen künstlerisch
umzusetzen, wurden in der zweiten Phase kleine Gruppen von vier bis fünf
123
vgl. Floeck 1988: 25f.
124
ebd.
125
ebd.
126
vgl. Floeck 1988: 25f.
!
!
!34
Schauspielern gebildet. Die Gruppen wählten jeweils bestimmte Ereignisse der
Revolution und setzten sie dramatisch um, wobei Improvisationen die allgemeine
Arbeitsform war. Dann spielten sie ihre erarbeiteten Szenen den anderen Mitgliedern
vor und diskutierten wieder gemeinsam das Ergebnis. In dieser Phase entstanden
parallel die Kostüme und das Bühnenbild.127 Gegen Ende, in der dritten Phase, wurden
die einzelnen Szenen von Mnouchkine zu einem Gesamtspiel zusammengefügt. Somit
bestand die Aufgabe Mnouchkines bei dieser Form der Arbeit zuerst im kritischen
Beobachten und Korrigieren und dann in der Verbindung der einzelnen Szenen und der
Koordination zu einem Gesamtwerk. Der Text trat automatisch in den Hintergrund und
das körperliche Spiel rückte in den Mittelpunkt.128
Dies wurde auch mit der Darstellung der Geschehnisse durch zeitgenössische
Jahrmarktschauspieler verstärkt. Gestik, Pantomime, Tanz und Akrobatik spielten eine
zentrale Rolle. Die Distanzierung der Schauspieler mit den von ihnen dargestellten
Figuren schaffte wirkungsvolle Möglichkeiten. Die Schauspieler spielten nie
unmittelbar die historischen Figuren, sondern stellten einen Komödianten des 18.
Jahrhunderts dar, der die Rolle des Königs verkörperte. Somit konnte sich der
Komödiant, während er den König spielte, gleichzeitig über ihn lustig machen. Weitere
Mittel der Distanzierung waren zum Beispiel der Einsatz von Kasperlefiguren und die
Verwendung von überdimensionalen Puppen.129
Das Brechtsche Verfahren der Episierung verwendete Mnouchkine, indem sie mehrere
Erzähler einsetzte, die das Geschehen an das Publikum vermitteln, deuten und
kommentieren konnten. Sie agierten aus der Sicht des einfachen Volkes. Die
markanteste Szene hierbei war der Bericht vom Sturm auf die Bastille. In dieser Szene
berichteten mehrere Erzähler gleichzeitig, positioniert an unterschiedlichen Orten, um
die sich das Publikum herum scharen konnte. Genau wie Brecht wollte Mnouchkine
auch bekannte Wirklichkeiten durch distanzierte Verfremdung in ein neues Licht
rücken. Der Zuseher sollte zur Verwunderung gebracht werden und selbst beginnen,
über die Themen kritisch nachzudenken. Allerdings beruht Mnouchkines Inszenierung
127
ebd.
128
ebd.
129
vgl. Floeck 1988: 27f.
!
!
!35
nicht wie bei Brecht-Stücken auf intellektueller Belehrung, sondern auf emotionaler
Identifikation.130 Die Gefahr, ins Kitschig-Melodramatische abzugleiten, war durch ein
hohes Maß an Komik gebannt. Ein Beispiel hierfür war eine Szene, in der der König
einen Boten in ein kleines Bauerndorf schickte, damit die Bauern dem Boten einen
Brief mit ihren Anliegen mitgeben konnten. Die Bauern waren begeistert. Da sie kein
Papier hatten, verwenden sie einen Fetzen, als Feder rupfen sie ein Huhn und als Tinte
sollte das Blut eines Knechts dienen. Nachdem sie endlich alles hatten, bemerkten sie,
dass sie gar nicht schreiben konnten. Hier kippte eine heiter-komische Szenerie
unmittelbar und plötzlich ins Tragische und bot gleichzeitig Raum für Identifikation.131
Das gesamte Geschehen wurde aus der Sicht der Verlierer, des vierten Standes
geschildert.132 Mnouchkine wollte so mit der offiziellen bürgerlichen Beschreibung der
Revolution brechen. Das bedeutete auch, dass sie keineswegs eine unpolitische
Erzählung der Geschehnisse inszenieren wollte. Das Scheitern der Revolution, d.h. das
Scheitern des einfachen Volkes gegenüber den bürgerlichen Gewinnern sollte
unmittelbar auf die Geschehnisse von 1968 verweisen.
Moscoso entwickelte dazu einen Raum mit einem Steg und vier Podien, die alle,
teilweise auch synchron, bespielt wurden. Das Publikum hatte keine fixen Sitzplätze,
sondern konnte entweder auf ansteigende Bankreihen an einer Querseite Platz nehmen,
oder zwischen den Podien umherwandern und selbst entscheiden, welchen Szenen sie
sich gerade zuwenden wollten. Die Trennung von Publikum und Bühne durch die so
genannte 4. Wand wurde somit eingerissen. Die Aufhebung der Grenzen zwischen
Schauspieler und Zuseher wurde wiederum in den Szenen rund um die Erstürmung auf
die Bastille am sichtbarsten, in denen sich einige Schauspieler unter das Publikum
mischten und so gemeinsam mit den Zusehern den Sieg der Revolution feierten.133
Zudem war das Schminken und Kostümieren der Schauspieler unmittelbar einzusehen,
was den fiktionalen Charakter des Stücks unterstützte.134
130
ebd.: 28.
131
ebd.
132
vgl. Brauneck 2007: 152.
133
vgl. Brauneck 2007: 152.
134
ebd.
!
!
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Eine Zuschauerin beschrieb das Stück wie folgt:
Eine Gruppe passionierter Schauspieler erzählt den Sturm auf die Bastille, wobei die
Zuschauer ins Geschehen mit einbezogen wurden, dabei entweder abseits auf den
Rängen bleiben oder sich direkt unter die Revolutionäre mischen konnten. 1789 war
weder ein Theaterstück noch ein Happening, sondern ein Ereignis, das das Theater
destabilisierte, ohne es zu verleugnen. Es gab ihm hingegen die verlorene Freiheit der
Jahrmarktsbühnen zurück, die auf die direkte Kommunikation begründet war.135
!
1789 erreichte über 280.000 Zuseher und war somit das bisher erfolgreichste Stück des
Soleils. Es wurde zu mehreren Festivals eingeladen und fuhr auf Tournee nach
Martinique, Lausanne, Berlin, London und Belgrad.136
!
b.) 1793: La cité révolutionnaire est de ce monde
!
Die folgenden Jahre, von 1972-73, befasste sich das Ensemble mit dem 2. Teil, also mit
der Zeit nach dem Massaker auf dem Marsfeld: der Sturm auf die Tuilerien, die
Enthauptung Ludwis XVI. bis zur Aufhebung der Volkssouveränität. Die Arbeitsweise
war die gleiche, wieder wurden die Ereignisse aus der Sicht des Volkes veranschaulicht.
Während aber in 1789 laut getönt und zum Angriff auf Ungerechtigkeit und Elend
gerufen wurde, ist der Tenor nun auf Ruhe, Überlegenheit und distanziertes Verständnis
gestimmt. Die Revolution hat gesiegt.137 Im Stück 1789 spielten Gaukler die Ereignisse
der Revolution nach; in 1793 wurde das Volk selbst zum Akteur der Revolution, ohne
die Vermittlerrolle der Jahrmarktsschauspieler.138
Zu Beginn marschierten die Schauspieler als historische Figuren auf ein Podium in
einer der Hallen der Cartoucherie auf. Ein Trommelwirbel untermalte diesen Auftritt.
Die gekrönten Häupter verneigten sich voreinander. Sie stellten das Bürgertum, die
Gewinner der Revolution dar. Nach diesem knalligen Eingangsspektakel, ungefähr zehn
Minuten später, begann das eigentliche Stück damit, dass die Zuschauer den
135
Banu, Georges (2003) „Ariane Mnouchkine und das Vertrauen ins Theater“, in: Féral (2003): Ariane
Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil. Berlin: Alexander Verlag, 18.
136
vgl. Féral 2003: 199.
137
vgl. Schlocker, Georges (1972) „Schattenloses Licht/Nebel überm Wasser. Theaterereignisse in
Frankreich: ‚1793‘ und ‚Das Massaker von Paris“, in: Theater Heute 1972/7. Berlin: Friedrich GmbH, 33.
138
!
vgl. Brauneck 2007: 152.
!
!37
Schauspielern durch einen Vorhang in den hinteren Teil der Halle folgen mussten. Hier
wurde ein Beratungssaal mit drei erhöhten Szenentischen aufgebaut. Die Zuschauer
saßen auf Bänken, Podesten und am Boden verteilt.139 Die Schauspieler rekonstruierten
nun in unterschiedlichen kleinen Szenen Beratungen der Sansculotten. In diesem
zweiten Teil gab es wenig Ausbrüche und Aufschwünge, wie es in 1789 der Tenor war,
die Tonlage blieb gleich; zum Beispiel wurden die Tuilerien gestürmt, aber der Sieg
wurde nur wenig gefeiert, zu viele Mitkämpfer waren dabei ums Leben gekommen. Es
fehlte an Brot, da die Reichen das Getreide zurückbehielten, was dazu führte, dass
Schlangen von Menschen vor den Bäckereien warteten. Die Wutausbrüche der
Zukurzgekommenen wurden gedämpft und flüchtig dargestellt.140
Diese Stimmung der mittleren Ausdrucksebene wurde auch durch das Licht unterstützt.
Die Cartoucherie war durch nahezu perfekte Illusion in Tageshelle getaucht. „Der
Zuschauer sieht die Handlung sowohl wie sich selbst in ein regelmäßiges Tageslicht
getaucht, das man noch nie dieserart auf einer Bühne erlebte.“ schrieb Georges
Schlocker in einem Artikel der Zeitschrift Theater Heute 1972.141 Das Licht kam von
außen durch die großen Fenster an der Decke. Siebenhundert Lichtquellen wurden auf
dem Glasdach montiert. Bei Szenen die am Morgen spielten, schien die Sonne durch die
Seitenfenster zu dringen. In der ganzen riesigen Halle gab es nur vier Lichtquellen, die
selten für Stubenlicht sorgten. Dieses helle, sanfte, alles umspielende Licht wurde zum
theatralischen Mittel, da es die Schattenlosigkeit dem Auge sichtbar machte und somit
zusätzlich eine Art von Mittellage auszudrücken vermochte. „Dies ‚natürliche‘ Licht
sorgt paradoxerweise dafür, dass wir uns seiner theaterbedingten Herkunft bewusst
werden. Auch wir Zuseher sind gleichzeitig drinnen und draußen bei den Sanscouletten
[…].“142 Durch das Licht wurde eine Gemeinschaft von Handlung, Spielenden und
Publikum erzeugt.143
139
vgl. Schmieding, Walter (1974) „Zu Besuch bei Thalias Töchter. Tagebuchnotizen von Walter
Schmieding.“, in: Theater Heute 1974/12. Berlin: Friedrich GmbH, 2.
140
vgl. Schlocker 1972: 34.
141
Schlocker 1972: 34.
142
ebd.: 35.
143
ebd.
!
!
!38
Wieder bediente sich Mnouchkine an Brecht’schen Mitteln: Jeder Schauspieler hatte
eine Rolle als ‚sectionnaire‘ und sprach zugleich abwechslungsweise dazu
Kommentare. Die Kommentare bestanden aus Zusammenfassungen historischer
Sachverhalte und Interpretationen der Texte. Als Erzähler hatte der Darsteller die
Aufgabe, auf die Geschehnisse hinzuweisen, als Schauspieler trug er zu ihnen bei.
Wieder wollte Mnouchkine im Vergleich zu Brecht alles Didaktische vermeiden; die
Kommentare wurden aus dem Off gesprochen. Diese grauen Stimmen, die aus dem Off
kamen, vermitteln den Eindruck einer Körperlosigkeit.144
Im April 1974 filmte Walter Schmieding - Kulturjournalist, Moderator der ZDFSendung ‚aspekte‘ und Intendant der Berliner Festspiele von 1969 bis 1973145 - eine
Vorstellung von 1793 mit. In einem Tagebucheintrag vom 19. April 1974 schrieb er
folgendes:
!
1793 […] ist ein zeitgenössisches politisches Theater, manchmal sinnlich, manchmal
theoretisch, hat viel von einem Brecht’schen Lehrstück (und 1789 wäre dazu eine Art
Dreigroschenoper). […] Am meisten Beifall kommt auf, als die Revolutionäre ‚ihre‘
Verfassung entwerfen, die die Zuschauer direkt auf die IV. Republik beziehen.“146
Durch den Schlusstext vermittelte die Truppe noch einmal ihre politische Philosophie.
Theaterspiel bedeutete für sie nicht nur bloße szenische Darstellung der Vergangenheit,
um dem Publikum einen Blick in die Gegenwart zu ermöglichen, sondern die
Materialisierung von Licht und Gebärde in eine Vision, in der Kunst und Politik
gleichermaßen ihren Platz finden sollten.147
Nachdem 1793 im März 1972 Premiere hatte, spielte die Truppe immer wieder beide
Stücke hintereinander, was für Schauspieler wie auch für Publikum eine große
Herausforderung war. Der Ablauf sah folgendermaßen aus: Um halb sieben endete die
Nachmittagsvorstellung von 1789. Dann wurde in einer Stunde das Bühnenbild aus der
Halle geräumt, selbst die Tribüne wurde abgebaut. Um acht Uhr stand in der Nebenhalle
alles für 1793 bereit. Alle Schauspieler mussten mitarbeiten. Inzwischen hielten sich die
144
ebd.: 34.
145
vgl. Der Spiegel Online: „Gestorben. Walter Schmieding.“, in Der Spiegel 21/1980. http://
www.spiegel.de/spiegel/print/d-14318481.html Zugriff: 27.6.16
146
Schmieding 1972: 2.
147
vgl. Schlocker 1972: 35.
!
!
!39
Zuseher im Foyer an der Bar auf oder nahmen auf Klappstühlen, die kurz vor Ende der
ersten Vorstellung von den nicht-spielenden Mitgliedern der Truppe bereitgestellt
wurden, Platz. Es gab Wein, Limonade, belegte Brote und andere Kleinigkeiten zu
essen. Diejenigen aus der Truppe, die Küchendienst hatten, bereiteten alles selbst vor.
Um acht Uhr fing die nächste Vorstellung - 1793 - an. Dieses Stück hatte eine Pause, die
vor allem für die Schauspieler, die schon seit vier Uhr spielten notwendig war. Das
Stück endete knapp vor Mitternacht. Danach musste noch das Nötigste aufgeräumt
werden.148 Insgesamt erreichte dieses Stück 102.370 Zuschauer und wurde über ein Jahr
lang gespielt.149
!
c.) Die Cartoucherie
!
Die Cartoucherie wurde zu einer Oase für Theaterliebhaber. Binnen kurzer Zeit
etablierte sich der Ort zu einer anerkannten Bühne. Zuschauer aus aller Welt strömten
dorthin, um diesen Ort und diese Art von Theater zu erleben. Bis heute kommen die
Zuschauer oft eine Stunde vor Stückbeginn, manche sogar schon früher. Essen und
Trinken, das zum Thema des Stücks passt, wird ausgegeben, alles ist geschmückt. Die
Zuseher haben die Möglichkeit, den Schauspielern beim Schminken und bei der
Vorbereitung auf die Vorstellung zuzusehen. Für Mnouchkine ist es wichtig, diese
Rituale durchzuführen, da man so gemeinsam mit dem Publikum die Reise in das Stück
antreten kann. In diese Welt einsteigen heißt für sie, dem Publikum die Möglichkeit zu
geben, sich mit allen Sinnen auf das Folgende einzulassen.
Die Cartoucherie liegt mitten im Wald von Vincennes im Osten von Paris. Von Paris
aus kann man mit der Metrolinie 1 bis zum Château de Vincennes fahren, von dort fährt
man entweder weiter mit dem Bus bis in die Nähe der Cartoucherie, oder man geht zu
Fuß.150 Vom Stadtkern aus berechnet, muss man mindestens eine Stunde vor Beginn der
Vorstellung die Metro nach Vincennes erreicht haben. Autofahrer müssten wegen nicht
seltener Abend-Staus im Durchschnitt mit eineinhalb Stunden Anfahrtszeit rechnen. Die
148
vgl. Schmieding 1974: 2.
149
vgl. Féral 2003: 199.
150
vgl. Öffentlicher Personenverkehr Paris. www.ratp.fr Zugriff: 15.4.16
!
!
!40
Rückfahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist umso schwieriger, als nur am
Wochenende die Metro die ganze Nacht fährt. Unter der Woche muss man die letzte
Metro um ungefähr 00.30 erreichen, was bei der langen Spieldauer einiger Stücke
unmöglich ist. Das ist mit Grund dafür, dass die Vorstellungen nur von einem
bestimmten Zuschauerkreis besucht werden, zu dem hauptsächlich Studenten und junge
Akademiker zählen. Durch die ungünstige Lage ist vor allem die werktätige
Bevölkerung und die ältere Generation vom Theaterbesuch ausgeschlossen.151
!
Um die Cartoucherie in Stand zu halten, übernehmen auch die Schauspieler neben den
Proben und Aufführungen verschiedene Arbeitsbereiche. Das hat einerseits damit zu
tun, dass es aus finanziellen Gründen keine andere Möglichkeit gibt, andererseits geht
es hierbei auch um die Ideologie des Theaters: Im Theater, so wie es Mnouchkine
versteht, macht jeder alles, wie in einer Art Genossenschaft.152 Es sind keine riesigen
Arbeiten, die die Schauspieler machen müssen, aber es geht darum, den Ort für das
Publikum vorzubereiten. Dazu gehört es, die Toiletten zu säubern, in der Küche zu
helfen, die Bar herzurichten, den Empfang vorzubereiten, Sitzreihen in Ordnung zu
bringen, die Bühne zu putzen, Reparaturen an den Requisiten vorzunehmen, Tourneen
vorzubereiten, die Garderoben zu reinigen und die ganze Arbeit zu organisieren.153
Das führt dazu, dass Schauspieler, die in das Théâtre du Soleil eintreten, sich unter
anderem zeitlich völlig hingeben müssen. Wohl bekommen alle Mitglieder (gleichviel)
bezahlt, jedoch sind es sehr niedrige Gagen.154 Nach den beiden Revolutionsstücken
begannen im Herbst 1973 die Proben zu L’age d’or. Im ersten Probenjahr bezogen die
Schauspieler Arbeitslosengeld, was jedoch so gering war, dass man nur jeden zweiten
Tag proben konnte, um Nebenjobs zu ermöglichen. Als das nicht wirklich funktionierte,
machte die Truppe im Mai 1973 eine öffentliche Aktion, die sich gegen die
Kulturpolitik der Pompidou-Regierung wendete. Der zuständige Minister Maurice
151
vgl. Paul, Arno (1975) „Ein goldenes Zeitalter des Theaters?“, in: Theater Heute 1975/13. Berlin:
Friedrich GmbH, 88.
152
vgl. Azencot, zit. nach Féral 2003: 94f.
153
ebd.
154
vgl. Simhandl 2007: 454.
!
!
!41
Druon reagierte darauf, indem er alle Subventionen einfrieren ließ. Infolgedessen
solidarisierten sich eine Menge Pariser Künstler, verkauften Werke zugunsten des
Théâtre du Soleil und viele Unterstützer des Theaters kauften im Voraus Karten für die
bis dahin unvollendeten Vorstellungen. Als 1974 Georges Pompidou verstarb
verdoppelte die neue Regierung unter Valéry Giscard d’Estaing die Subventionen und
versprach dem Théâtre du Soleil die Schulden des Theaters zu übernehmen. Dies
geschah in erster Linie aufgrund von großem Druck der Öffentlichkeit. Für die
Instandsetzung und Unterhaltung der Cartoucherie musste die Truppe trotz
überwiegender Eigenarbeit 1970 über 600.000 Franc Schulden auf sich nehmen, was
trotz der zahlreichen Besucher von 1789 und 1793 nicht wieder herein gespielt werden
konnte.155 Durch die hinzukommenden Subventionen die fast eine Million Franc
umfassten, war es möglich, den Raum für L’age d’or noch einmal komplett
umzubauen.156
Trotz der Zuschüsse der Stadt Paris und privater Förderer können die Schauspieler mit
dem niedrigen Gehalt gerade überleben. Die Förderungen haben sich zwar im Laufe der
Jahre erhöht, entsprechen aber bis heute nicht dem Standard in Deutschland. bzw.
Österreich. Philippe Hottier beschrieb 1984 - kurz nach seinem Austritt aus dem Soleil in der Zeitschrift Theater Heute folgendes:
!
Man kann nur dann wirklich zum Théâtre du Soleil gehören, […] wenn man Junggeselle
ist, ohne Familie, ohne Kinder, ohne Liebesgeschichten woanders. Es nimmt unsere
ganze Zeit, unsere ganze Energie, und gleichzeitig verdammt es uns zu einem
eingeschränkten Leben, materiell meine ich.157
d.) L’age D’or
!
L’age d’or (Das goldene Zeitalter) war vorerst die letzte Stückentwicklung ohne
Textvorlage. Das Stück drehte sich um das Leben eines algerischen Gastarbeiters
155
vgl. Paul 1975: 87f.
156
ebd.: 89.
157
Hottier, Philippe (1984) „‚Ariane ist mein Meister, auch wenn ich heute alles beschissen finde‘ Falstaff
geht - ein Schauspieler über seine Gründe, das Théâtre du Soleil zu verlassen“, in: Theater heute 1984/13.
Berlin: Friedrich GmbH, 21.
!
!
!42
(Abdallah): von seiner Ankunft in Frankreich über die Ausbeutung bis zum Tod auf
einer Baustelle.158
Hierfür baute die Truppe zwei der ehemaligen Munitionsschuppen der Cartoucherie
komplett um. So entstanden - aus Vogelperspektive beschrieben - vier Mulden, die rund
um ein Damm-Kreuz in der Mitte lagen. Von diesem Kreuz aus konnte man den
gesamten Raum überblicken. Dafür wurde als Untergrund Erde verwendet - da sie leicht
zu modellieren war - die mit einer dünnen Spannbetondecke überzogen wurde. Darüber
wurde ein gelblich-brauner Sisalteppich von insgesamt 1700 Quadratmetern gelegt. Er
sollte den Eindruck von Sanddünen erwecken. Die Decke wurde mit einem Kupferblech
bezogen und man montierte 4000 Glühbirnen, die den Raum durch ihre zahllosen
Spiegelungen mit warmem, weichem Licht fluteten. An den Wänden wurden 72
Lautsprecher aufgebaut.159 Die Eingangshalle blieb, wie sie für 1793 gestaltet wurde.
Dort begann das Stück.160
Nach dem Empfang, als alle Zuseher angekommen waren, trat Arlequin auf die Bühne,
stellte sich an die Rampe, zog seine schwarze Ledermaske über sein Gesicht und
begann mit seiner Einführung. „Wir befinden uns in Neapel im Jahre 1720“161 Die erste
Szene war an die Commedia dell’arte angelehnt und handelte davon, wer der Schuldige
an der vor kurzem in Neapel ausgebrochenen Pest sei, da der Prinz einen
Verantwortlichen suchte. Arlequin sollte ihm bei der Suche helfen. Es stellte sich
heraus, dass der Schiffsreeder Pantalon und der Bürgermeister dafür verantwortlich
waren, da sie ein pestverseuchtes Schiff im Hafen anlegen ließen. Als Arlequin den
beiden auf die Schliche kam, zwangen sie ihn, einen anderen Schuldigen zu finden, um
selbst der Bestrafung zu entgehen. Arlequin versuchte daraufhin, einen gerade aus
Algerien gekommenen Gastarbeiter - Abdallah - auszutricksen, der jedoch naiv
antwortete, dass es gar nicht möglich sei, denn er lebe im 20. Jahrhundert. Mit dieser
überraschenden Wende endete das Vorspiel. Die Vergangenheit wurde zur Gegenwart.
158
vgl. Simhandl 2007: 454.
159
vgl. Paul 1975: 89.
160
ebd.
161
Paul 1975: 90.
!
!
!43
Das Publikum wurde nun in die neue Halle geführt und durfte sich auf den Hängen der
ersten Mulde niederlassen.162
Diese historische Darstellung der Szenerie provoziert gleichzeitig Verfremdung und
Nähe. Genau wie die ganz offensichtlich theatralische Lösung des Problems.163
Nach dieser Neapel-Episode kamen sieben lose aneinander gehängte Szenen in den vier
Mulden, die den Lebenskampf des algerischen Gastarbeiters in Frankreich erzählten.
Sein wichtigster Gegenpart war der Kapitalist Marcel Pantalon. Nach jeder Szene
wechselte man die Mulde, wobei die erste Mulde als Trägerin des Haupthandlungsstrangs diente und die drei anderen eher für Nebenhandlungen verwendet wurden.
Eine Erzählerin teilte den Schauspielern - welche wie das Publikum locker an den
Rändern der Mulde saßen - immer wieder Rollen zu, die diese wie ein Werkzeug
übernahmen. Die Schauspieler trugen Commedia dell’arte-Masken.164
Diese neue Dramaturgie unterscheidet sich deutlich von den eindeutig parteiergreifenden Revolutionsstücken 1789 und 1792. L’age d’or entwarf kein geschlossenes
Zeitfenster, sondern war vielmehr ein Kaleidoskop verschiedener Szenen, die mehr oder
weniger miteinander zu tun hatten und die unterschiedliche Themen ansprachen. Dies
begründete Mnouchkine damit, dass wir in einer „schrecklich zerstückelten und
zersplitterten Welt“ leben und dass die „Wirklichkeit heute für uns viel komplexer, viel
schwerer zu fassen“ sei.165
Zwei Szenen dienen besonders gut zur Beschreibung der Spielweise der Schauspieler:
162
ebd.
163
Die zwei wichtigsten Figuren aus der Commedia dell’arte sind die Pantalones und die Arlequins. Der
Unterschied liegt nicht unbedingt in ihren Charaktereigenschaften, sondern mehr in ihrer Stellung in
sozialen Beziehungen und den daraus resultierenden Möglichkeiten. Im übertragenen Sinn gehören die
Pantalones zu den Produktionsmitteleigner, während die Arlequins den gesellschaftlichen Reichtum
schaffen, aber als Arbeiter, also Lohnabhängige, keine Vorteile davon haben. Die Konflikte der Stücke
laufen aber freilich nicht nur zwischen diesen beiden Klassen ab, sondern auch innerhalb derselben. Die
klassische italienische Figur des Pantalone leitet sich vom venezianischen Kaufmann ab, dessen
Charaktereigenschaften man als lüstern, geizig und ohne viele Talente beschreiben könnte. Der Arlequin
ist hingegen lebenstüchtig und naiv und schlägt sich meist als Diener des Pantalone durch. Das Publikum
lacht aber Großteils über den einen anders als über den anderen, was allerdings nicht unbedingt mit Gut
und Böse zusammenhängt. Man lacht gewissermaßen über die Pantalones und mit den Arlequins (vgl.
Paul 1975: 90). Abdallah gehörte zur Gruppe der Arlequin-Figuren.
164
vgl. Paul 1975: 89f.
165
vgl. Brauneck 2007: 153.
!
!
!44
Die eine Szene handelte davon, dass Abdallah in einer billigen Herberge seine erste
Nacht in Frankreich verbringt. Der Schlafsaal, in den er geführt wird, ist jedoch derart
vollgestopft von orientalischen Gastarbeitern, dass er nur ein taschentuchgroßes Stück
Platz findet, auf dem er sich mühsam versucht hinzulegen und zuletzt in einem
artistischen Kopfstand einschläft. Das Antirealistische der Szene folgte daraus, dass
Abdallah die gesamte Szene auf einer leeren Bühne spielte, indem er versuchte,
möglichst niemanden anzustoßen und aus dem Schlaf zu wecken und sich so, ängstlich
bedacht, durch die Menge schlängelte. Die Überfüllung des Schlafsaals blieb also in der
Imagination und wurde nur durch das Spiel des Schauspielers dargestellt.166
Die zweite Szene war der Sturz Abdallahs von der Gerüstspitze der Baustelle.
Hinaufgeklettert war er nur, weil er auf den versprochenen Zuschuss nicht verzichten
konnte. In diesem Moment der größten Hoffnung stürzte Abdallah zum Requiem von
Verdi in die Tiefe. Dargestellt wurde dies dadurch, dass Abdallah vom obersten Punkt
der Mulde in die Tiefe rannte, immer wieder anhielt und mit Armen, Händen, Beinen,
Mund und Augen die eigentliche Geschwindigkeit des Fallens ausdrückte und zugleich
die Reaktion und das Entsetzen veranschaulichte. Unten angekommen, raste er wieder
hinauf und stellte das gleiche von der Seite und beim dritten Mal von vorne dar. Die
Glühbirnen gingen langsam aus und durch die Fenster drang, wie schon bei 1793, das
fahle Licht des Morgens.167
Daraus kann man zwei typische Merkmale des Théâtre du Soleil erkennen: einerseits
das antirealistische, imaginierende Spiel und andererseits die Dominanz der
Körpersprache, die in den Folgejahren eine noch größere Rolle spielen wird.
Mnouchkine wollte ein Stück über die Gegenwart, speziell über den Alltag der
Gesellschaft entwickeln. Ein besonders wichtiges Mittel neben der Verfremdung ist die
Komik. Sie dient zur emotionalen Entlastung des Zusehers über die unerträglichen
Entwürdigungen der Menschen, speziell der Person des algerischen Gastarbeiters. Das
Lachen soll jedoch keineswegs die kritisierten sozialen Verhältnisse kompensieren.
166
vgl. Floeck 1988: 30.
167
vgl. Paul 1975: 96f.
!
!
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In der Cartoucherie erreichte das Stück ca. 96.000 Zuseher und auf Tourneen, die die
Truppe über Warschau, Venedig und Louvain-la-Neuve bis nach Mailand führte, noch
einmal 102.000 Zuseher.168
!
e.) Molière - Ein Filmepos über das Leben von Molière
!
1978 kam der Spielfilm Molière in die französischen Kinos, an dem das Théâtre du
Soleil seit 1976 arbeitete. Die Dreharbeiten begannen im Jänner 1977 und sollten bis
Juli abgeschlossen sein, um den Film im Oktober 1977 in die Kinos zu bringen. Doch es
verlief anders als geplant: die Dreharbeiten zogen sich bis in den Herbst und erst bis
zum Jahresende war die Rohschnittfassung fertig. Mnouchkine beschloss dann jedoch
den Film nochmals völlig neu zu schneiden, sodass Molière erst im Mai 1978
veröffentlicht wurde, gerade noch rechtzeitig um bei den Filmfestspielen von Cannes
als Wettbewerbsfilm anzutreten.169
Molière besteht aus zwei Teilen, die insgesamt eine Länge von über vier Stunden haben.
Der erste Teil erzählt sein Leben bis zu dem Punkt, an dem Molière eine lange
Wanderschaft mit seiner Schauspielertruppe durch die französische Provinz antritt. Der
zweite Teil beschäftigt sich mit seinem Leben am Hofe von Ludwig XIV. bis hin zu
seinem Tod auf der Bühne.170
Als sich das Théâtre du Soleil für das Stück L’age d’or intensiv mit der Commedia
dell’arte beschäftigte, gehörte auch eine intensive Auseinandersetzung mit Molières
Theater dazu. Vermutlich entstand aus diesen praktischen Studien der Plan für den
Molière-Film.171 Als literarische Vorlage für das Drehbuch - welches Mnouchkine
168
vgl. Féral 2003: 199.
169
vgl. Paul, Arno (1978) „Ein großes Scheitern. Ariane Mnouchkines Filmepos über das Leben
Molières.“, in: Theater Heute 1978/13. Berlin: Friedrich GmbH, 131.
170
vgl. Mnouchkine, Ariane - Théâtre du Soleil: Molière. Collectors Mine GmbH 1978.
171
vgl. Paul 1978: 136.
!
!
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schrieb - diente der Roman Das Leben des Herren de Molière von Michail Bulgakow.172
Inspiriert von Bulgakow nutzt auch Mnouchkine Molières Leben und seine
Begeisterung für das Theater, um ihr eigenes Leben und die Entwicklung des Théâtre du
Soleil zu erzählen:
Der Film beginnt mit einem alten, kranken Molière, der trotz seines Zustands am Abend
eine weitere Vorstellung von Der eingebildete Kranke spielen will. Nach dieser kurzen
Einstellung springt die Kamera auf einen Dachboden, in dem der ca. neunjährige JeanBaptiste Poquelin mit seinen Freunden und Geschwistern kindlich herumtollend Theater
spielt. Die Kindheit Molières wird auf liebevolle Weise Phase für Phase wiedergegeben.
Eine besonders einprägsame Situation ist die, in der Jean-Baptiste von einem Streit auf
der Straße nach Hause kommt und seinen kleinen Bruder vom Schoß der Mutter
geschickt weglockt, um es sich selbst dort gemütlich zu machen. Nach wenigen
Minuten kommt der Vater herein und schickt wiederum Jean-Baptiste gebieterisch weg,
nur, um sich selbst in den Schoß seiner Frau zu legen. Es ist eine liebevolle Szene über
die sozialpsychologische Ableitung zärtlicher Bedürfnisse und deren Durchsetzung.173
Es gibt zwei Schlüsselszenen für Molières Entschluss zum Theater zu gehen. Die erste
Szene beginnt mit dem Fest der Heiligen drei Könige und einem traditionellen Spiel,
wodurch ein Familienmitglied für eine Nacht zum König wird. Mitten aus der heiteren
Atmosphäre heraus springt die Kamera in einer langen Einstellung auf die
schweißnasse, offensichtlich schwer kranke Mutter. Im nächsten Moment ist die Mutter
bereits verstorben und der hilflose Großvater geht mit den verlorenen Kindern auf den
Jahrmarkt, um sie abzulenken. Dort spielt eine Theatertruppe eine Komödien-Szene
zwischen dem wütenden Pantalone und dem als Gevatter Tod verkleideten Arleccino.
Völlig fasziniert von diesem Spiel erhellen sich die Züge von Jean-Baptiste wieder. Er
172
ebd.
Bulgakows - als Roman verpackte - Biographie setzt den Schwerpunkt darauf, ein intimes
sozialpädagogisches Portrait von einem Künstler, seinem Theater und seinem Verhältnis zum Publikum
zu schildern. Inhaltliche und dramaturgische Beschreibungen von Molières Stücken werden außen vor
gelassen. Bemerkenswert ist hier vor allem Bulgakows großes Interesse an Molière als Mensch, welches
darauf zurückzuführen ist, dass sein eigenes Leben vergleichbare Züge hatte. Molière, der von vielen
Zeitgenossen angefeindet wurde, hatte plötzlich das Glück in die Gunst des Königs Ludwig XIV. zu
geraten. Bulgakow lebte in der Sowjetunion und war in einer ähnlichen Situation, bis Stalin ihn
unterstützte und ihm eine Stelle als Regie-Assistent vermittelte, von der aus er sich Stück für Stück
hocharbeiten konnte (vgl. Russlandjournal 2016. http://www.russlandjournal.de/russische-literatur/
michail-bulgakow/ Zugriff: 10.5.16).
173
!
vgl. Paul 1978: 132.
!
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schaut in die Höhe zu einem mit Flügel ausgestatteten Menschen, der über die Köpfe
der Menschen fliegt, steigt bildlich mit ihm in die Höhe, sieht aus der Vogelperspektive
das Treiben, und landet als junger Mann wieder am Boden. Diese Einstellung geschieht
ohne Schnitt. In dem Moment, als die Kamera wieder auf den Boden zurückkehrt, steht
dort statt Frédéric Ladonne, der Molière als Knaben spielt, Phillipe Caubère, der von
nun an den Protagonisten verkörpert.174
Die zweite Schlüsselszene, die Jean-Baptiste endgültig vom Theater überzeugt, erlebt er
als ca. 18-jähriger Student der Rechtswissenschaften in Orleans: Die Rektorenschaft
entscheidet im Einvernehmen mit der Polizei, dass alle Studenten vom alljährlichen
Karneval ausgeschlossen sind, um unzüchtiges Verhalten zu vermeiden. Die Studenten
sammeln sich jedoch und revoltieren gegen diese Bestimmung mit einem Faschingszug
der - im Gegensatz zu den vorgegangenen Jahrmarktsszenen - durch eine bedrohlich
geballte Masse dargestellt wird. In dämonischen Teufels- und Tiermasken stürmen die
Studenten gegen die verschlossenen Türen des Collège, schaffen es diese zu öffnen und
teeren und federn die faschingsfeindlichen Verwalter ein. Der Aufstand wird jedoch von
der Staatsmacht brutal niedergeschlagen, welche ein Blutbad unter den Masken
anrichtet. Jean-Baptiste kann sich nur in letzter Sekunde retten und gerät zufällig in ein
Theater, in dem gerade eine Vorstellung stattfindet. Zerschlagen und müde betrachtet er
zuerst nur die Gesichter der Zuseher und bemerkt erst am Ende der Vorstellung die
Schauspielerin auf der Bühne.175 Die Textstelle, die Mnouchkine am Ende dieses
zerschlagenen Studentenaufbegehrens auswählt, ist folgende:
Wir haben nicht die blutigen Tage vergessen, da der Tyrann nach seinem Ermessen
töten und foltern lies. Ohne Gnade, als das Volk erlitt seine Niederlage. Anstatt den
Mördern entgegenzutreten gab es Feiglinge, die um ihr Leben flehten. […] Tränen
wurden vergossen und Ströme von Blut. Auch die tapferen Männer verloren den Mut.
[…] Der Dolch ist geschliffen, der uns befreit, wir wollen endlich Gerechtigkeit. Durch
die Straßen gellt ein einziger Schrei: Nieder mit der Tyrannei. Freiheit dem Volk und
Tod dem Tyrannen! […]176
!
Danach stirbt die Schauspielerin eines Märtyrertodes. Dieser Text ruft das Volk auf wie schon im Stück 1789 - mehr Mut für die Vollendung der Aufstände zu finden.
174
vgl. Molière 1978.
175
ebd.
176
Madeleine Béjard (Joséphine Derenne) in Molière 1978.
!
!
!48
Nach dem Ende der Vorstellung geht Jean-Baptiste traumverloren hinter die Bühne, wo
er Stimmen und Gelächter hört. Er entdeckt die nackten Schauspieler, die sich
gegenseitig waschen und miteinander scherzen. Die Schauspielerin, die er auf der
Bühne bewundert hat, fordert ihn freundlich auf, einzutreten. Schüchtern lässt sich JeanBaptiste auf den Rand eines Waschbeckens sinken und fällt prompt hinein. Dieser
lächerliche Zwischenfall löst zwischen den beiden ein spontanes Einverständnis aus.
Die Schauspielerin ist Madeleine Béjard, seine Lebensgefährtin für die nächsten
zwanzig Jahre. Diesem Erlebnis folgt der Entschluss Jean-Baptistes Schauspieler zu
werden.177 Dementsprechend entscheidet sich Jean-Baptiste nicht aufgrund der
unmittelbaren Darstellung auf der Bühne, sondern vor allem, weil er sich vom Leben
hinter der Bühne angezogen fühlt.
Nach Molières Eintritt in die Truppe, folgt die erste erfolglose Aufführung und ein
Gespräch mit Gläubigern, die ihnen kein Geld mehr geben wollen.178 Diese Szene
erinnert an die anfänglich vielmals gescheiterten Versuche Mnouchkines, Geld von
Sponsoren zu bekommen.
In unterschiedlichen Momenten weist Mnouchkine durch die Schauspielertruppe auf
ihre eigenen Vorstellungen von Theater hin. Zum Beispiel in einer Szene, als die Truppe
ihr erstes Stück einstudiert und gerade dabei ist, die Bühne herzurichten: Es werden
viele Luster mit Kerzen an die Decke gehängt und alle im Raum staunen über die
Schönheit des Lichtes, das diese Kerzen verströmen.179
Ein Bild, das als die dreizehnjährige Wanderschaft Molières durch die französische
Provinz widerspiegelt, ist folgendes: Eine Wanderbühne wird vom Wind weggefegt und
kommt ins Rollen, bis sie knapp vor einem Abgrund glücklicherweise stehen bleibt. Die
Schauspieler schaffen es, sich irgendwie auf der Bühne zu halten, aber nachdem die
Bühne endlich zum Stillstand kommt, beginnt eine Schauspielerin einen Anderen
anzubrüllen:
177
vgl. Molière 1978.
178
ebd.
179
ebd.
!
!
!49
Weiterspielen! Das Spiel geht weiter was auch immer geschieht. Wir stehen auf den
Brettern, wir trotzen den Gefahren. […] Der Wind wird die Meere beherrschen, aber den
Komödiant wird er nie beherrschen!180
!
Kurz danach endet der erste Teil des Films.
Zusammenfassend erkennt man vor allem im ersten Teil, dass Mnouchkine die
Geschichte(n) durch Schauspieler so zu erzählen versucht, dass sowohl die konkrethistorischen Theaterverhältnisse, als auch die subjektiven Erfahrungen der eigenen
Existenz veranschaulicht werden.181
Mnouchkine vermied es, einerseits Beweise für die besonderen künstlerischen
Fähigkeiten Molières zu suchen und sie über die der anderen in der Truppe zu stellen,
setzte allerdings durchaus seine Überredungsgabe und seinen Willen in den
Vordergrund.182 Andererseits kennzeichnete sie Molières Vorrangstellung als Leiter der
Truppe nicht durch individuelle Allüren, sondern zeigte, wie sich große geschichtliche
Leistungen oftmals unbewusst anbahnen, indem Molière als eher stille, unauffällige
Person dargestellt wurde.183 Diese zwei Entscheidungen ließen den enormen
Entwicklungsprozess und die Entschlossenheit seiner eigenwilligen Entscheidungen,
schwer erkennen.
Mnouchkine schrieb zwar ein Drehbuch, versuchte aber, den im Film herrschenden
Zwängen zur Ökonomisierung und Hierarchisierung zu trotzen und diese Produktion als
gemeinschaftliches Projekt anzusehen.184 Soweit es möglich war, versuchte sie auch
hier die gemeinschaftliche Erarbeitung der Szenen zu realisieren.185 In einem Interview
mit Renate Klett 1978 beschrieb Mnouchkine die Vorgehensweise folgendermaßen:
Bei unserem Film hatten wir eine ganz andere Ausgangslage als in der Theaterarbeit, weil
ich das Drehbuch geschrieben hatte, die Dialoge also nicht wie sonst kollektiv entstanden
sind. Schauspieler und Techniker waren in der Situation von Interpreten, die meine Vision
von Molière annehmen oder ablehnen konnten. Sie haben sie angenommen und auf der
180
ebd.
181
vgl. Paul 1978: 136.
182
ebd.: 134.
183
ebd.
184
vgl. Klett, Renate (1979) „Ein großer Reigen als deutsches Geschichtspanorama.“, in: Theater Heute
1979/7. Berlin: Friedrich GmbH, 137.
185
!
ebd.
!
!50
!
Basis habe dann die Kollektivarbeit angefangen. Ich schlug also Philippe Caubère meine
Version von Molière vor und er bereicherte sie […] auf eine Weise, die ich nicht zu
hoffen gewagt hätte. Und so war es auf allen Ebenen, […] alles, was ich im Drehbuch
vorgeschlagen hatte, wurde von den Künstlern aufgenommen und verwandelt, sodass es
schließlich viel schöner wurde als das, was ich ursprünglich geplant hatte. […] Und so
wurde auch beim Film, der unter ganz anderen Umständen entstanden ist als unsere
sonstige Arbeit, schließlich eine Kollektivarbeit daraus.186
Das Théâter du Soleil baute für dieses Projekt das Paris der Zeit von Ludwig XIV. nach,
und zwar nicht - wie üblich - mit Straßenfront-Attrappen, sondern aus festen
Materialien, sodass bei den massiven Häusern nicht einmal die Dächer fehlten.187 In
eine Halle der Cartoucherie wurde das originale Theater der Petit Bourbon mitsamt der
dem Original entsprechenden Zuschauergalerie nachgebaut. Diese Rekonstruktion
umfasste selbst die ursprüngliche Bühnenmaschinerie und das Dekor auf der Bühne.188
Dadurch, dass der Film eine französisch-italienische Koproduktion war, wurden
beträchtliche Mittel zur Verfügung gestellt, womit nicht nur die hohen Materialkosten
des Films übernommen werden konnten, sondern wodurch die Truppe zum ersten Mal
seit fast zehn Jahren schuldenfrei wurde.189
In der Kritik wurde der erste Film überwiegend positiv aufgenommen, allerdings
machte man besonders im zweiten Film auch auf schwache Stellen aufmerksam. Paul
Arno schrieb 1978 in einer Nachbesprechung des Films in der Zeitschrift Theater Heute
folgendes:
!
Einerseits war man fasziniert von der Mischung aus optischer Wucht und Behutsamkeit
der bildnerischen Gestaltung. Andererseits stieß man sich an der Detailverliebtheit und an
der streckenweise additiven Erzählung und Illustration der Fabel.190
Allgemein kann man sagen, dass es Mnouchkine weniger darauf ankam, Molières
theatrealische Leistungen zu erzählen, sondern seine sozialen, familiären, psychischen
und ästhetischen Ansätze zu durchforschen. „Die Ausgewogenheit von komposi-
186
ebd.: 137.
187
vgl. Paul 1978: 131ff.
188
ebd.
189
ebd.: 133.
190
Paul 1978: 130f.
!
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!51
torischem Mut und erzählerischem Feingefühl - vor allem im ersten Teil - macht dabei
den außergewöhnlichen Reiz des Films aus.“ 191
!
Direkt nach Drehschluss, im Herbst 1977 inszenierte der 27-jährige Philippe Caubère
Don Juan von Molière, wobei er selbst die Titelrolle übernahm. Das Stück fand in jener
Halle der Cartoucherie statt, in der das für den Film nachgebaute Theater des Petit
Bourbon stand.192
Caubère inszenierte das Stück mit viel komödiantischem Spaß und einer großen
Verspieltheit, ließ allerdings das geschichtlich-soziale Engagement, das sonst das
Théâtre du Soleil besonders auszeichnet, außen vor.193 Caubère interpretierte die Rolle
des Don Juan als Vorläufer eines modernen Lebemanns, der sich durch Charme,
Klugheit und Neugierde soziale Privilegien verschafft, die er nur aufgrund des
persönlichen Vergnügens anstrebt.194
!
f.) Mephisto - nach dem Roman von Klaus Mann
!
Das Stück Mephisto war die erste Produktion, in der das Théâter du Soleil nach der
Phase der création collective mit einem vorgefertigten Text arbeitete.195 Es leitete die
nächste Phase im Entwicklungsprozess der Truppe ein: die Rückkehr zum literarischen
Text.
Mnouchkine fand den Roman von Klaus Mann zufällig in einer Pariser Buchhandlung
und beschloss, daraus einen Theatertext zu verfassen.196 Sie schrieb - ähnlich wie bei
Molière - einen ersten Textentwurf, der während der Proben durch Improvisationen
191
ebd.: 132.
192
vgl. Féral 2003: 199.
193
vgl. Paul 1978: 134.
194
ebd.
195
vgl. Dort, Bernhard (1979) „Das Sonnentheater im Stählernen Zeitalter. 1979 mit ‚Mephisto‘ am Ende
einer Utopie“, in: Theater Heute 1979/7. Berlin: Friedrich GmbH, 8.
196
!
vgl. Seym 1992: 103f.
!
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ergänzt, gekürzt und verändert wurde. Somit hielt der Text die Truppe nicht davon ab,
kollektiv zu arbeiten.197
In den Mittelpunkt dieser Inszenierung trat die Frage, warum sich Intellektuelle und
Künstler oft so bedenkenlos von Machthabern unterwerfen lassen.198 Darüber hinaus
wurde auch die Problematik der Verantwortung von Künstlern und Intellektuellen
gegenüber der Gesellschaft, in der sie leben, thematisiert.199 Die Angst eines
überfallartigen Übergangs von einer Demokratie zu einer Diktatur war zu jener Zeit in
Frankreich ein durchaus brisantes Thema.200 Die Wahlen vom März 1978 brachten den
Linken eine schlimme Niederlage. Die Hoffnung auf einen Sieg des Volkes, wie es im
Stück 1789 noch so optimistisch propagiert wurde, schien damit vorerst gestorben zu
sein.201
Der Roman von Klaus Mann handelt vom Schauspieler Hendrik Höfgen, der von der
intellektuellen Linken der Weimarer Republik aufgrund seines Strebens nach Erfolg
zum Nazitum überläuft.202 Vorbild für die Rolle ist der Schauspieler und Intendant
Gustaf Grüngens, der während und durch das Nazi-Regime seine größten Erfolge
feierte.203 Höfgen gegenüber steht Otto Ullrich, der Leiter der Kaberett-Bühne
‚Sturmvogel‘, der sich bis zu seiner Ermordung durch die Nazis nicht von seiner, dem
Kommunismus zugewandten, politischen Meinung abbringen lässt. Die beiden sind
Freunde.204
Im Vergleich zum Roman versuchte Mnouchkine in ihrer Inszenierung der Rolle des
Hendrik Höfgen die eindeutige Verbindung zu Gründgens zu nehmen und machte ihn zu
197
ebd.
198
ebd.
Im Film Molière wurde auf diese Frage auch schon ein Augenmerk gelegt, in diesem Stück wurde sie nun
zum Hauptgedanken (vgl. Seym 1992: 103).
199
vgl. Klett 1979: 13.
200
vgl. Brauneck 2007: 153.
201
vgl. Dort 1979: 8.
202
vgl. Mann, Klaus (2015): Mephisto. Roman einer Karriere. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt
Taschenbuch Verlag.
203
ebd.: 2.; Dort 1979: 9.
204
vgl. Dort 1979: 9f.
!
!
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einer allgemeineren, alltäglicheren Figur. Weder stellte sie seine schauspielerischen
Fähigkeiten aus noch ging sie auf die Charakterzüge ein, die ihn unmittelbar mit
Gründgens in Verbindung brachten. Durch Höfgens ‚Normalität‘ und Alltäglichkeit
sollte sich der Zuseher besser mit ihm identifizieren können und leichter von der
spezifischen Nazi-Zeit auf eine Allgemeingültigkeit schließen können.205 Was
Mnouchkines Inszenierung besonders thematisierte war der „große Ehrgeiz“ und die
„noch größere Skrupellosigkeit“, mit der Höfgens seine Karriere ankurbelte.206 Ein
besonderes Augenmerk legte Mnouchkine auf die Rolle des Mitläufers Hans Miklas, der
sich zu Beginn enthusiastisch für das Nazitum ausspricht, jedoch mit der Zeit mehr und
mehr von den Taten der Nationalsozialisten enttäuscht wird und schlussendlich,
nachdem er eine Rolle im Faust nur durch Bespitzelung seiner Kollegen bekommen
würde, dem Nazitum abschwört.207 Auch er wird ermordet.208
In zwei Punkten kehrte Mnouchkine in dieser Inszenierung zu ihrer früheren Ästhetik
zurück: Zum ersten Mal seit La Cuisine verwendete Mnouchkine die Form der
Guckkastenbühne. Der Raum bestand aus zwei gegenüberstehenden Bühnen, zwischen
denen die Zuschauer auf Holzbänken saßen. Die Bänke waren mit verschiebbaren
Lehnen ausgestattet, sodass die Zuschauer sich je nachdem zur einen oder zur anderen
Seite wenden konnten. Auf der Längsseite befand sich ein Zaun und dahinter ein karger,
leerer Raum. Dieser Raum wurde manchmal als Bahnsteig und manchmal als Gefängnis
genutzt.209 Politisches Kaberett und etabliertes Staatstheater standen sich somit bildlich
gegenüber.
Die Spielform der Schauspieler war mit Ausnahme der ‚Theaterszenen‘ (Szenen, in
denen auf den Bühnen Theaterszenen nachgespielt wurden) ungewohnt realistisch und
naturalistisch.210
205
vgl. Seym 1992: 104.
206
Klett 1978: 15.
207
vgl. Dort 1979: 9.
208
vgl. Mnouchkine (1980): Mephisto. Bad Homburg: Stefani Hunzinger Bühnenverlag GmbH.
209
vgl. Dort 1978: 11.; Klett 1978: 13.
210
vgl. Klett 1978: 16f.
!
!
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Die Aufführung endete mit einer Projektion, die zuerst Bilder aus Konzentrationslagern
zeigte und dann mit einer Namenliste deutscher Künstler und Intellektueller, die durch
das Nazi-Regime umkamen, sei es durch Mord oder Selbstmord.211 Dieses Schlussbild
wurde in der Kritik kontrovers aufgenommen. Die Zeitschrift Theater Heute
veröffentlichte 1979 zwei Kritiken zu Mnouchkines Inszenierung, die beide
unterschiedliche Meinungen zum Ende des Stücks vertreten: Bernhard Dort, der zu
Beginn des Artikels seine Begeisterung für die vergangenen Inszenierungen
Mnouchkines betont, schrieb über das Schlussbild der Vorstellung folgendes:
Dieser Sprung von der Geschichte einer Gruppe zum Martyrologium deutscher
Intellektueller und Künstler hat etwas Gezwungenes, übertrieben Pathetisches. War es
wirklich nötig, nach geschehener Tat das Tribunal der Geschichte aufzurufen, als wolle
man den Zuschauer noch einmal von der Authentizität und Ernsthaftigkeit des Spektakels
überzeugen?212
!
Renate Klett beschrieb das Gefühl, das sie bei dieser Projektion bekam, als
unvergesslich:
!
Es ist ein Schock, der tief unter die Haut geht, lähmt, sprachlos macht. Es ist auch ein
Schock, der aufrüttelt, Entsetzen in Wut verwandelt, der lange nachklingt […]213
Am 4. Mai 1979 fand die Premiere in der Cartoucherie statt. Durch den Erfolg und die
große öffentliche Aufmerksamkeit des Stücks wurde der noch immer verbotene Roman
von Klaus Mann in Deutschland wieder veröffentlicht und rückte in wenigen Wochen
auf die Bestsellerlisten.214 Damit hatte Mnouchkine durch ihre Inszenierung ein Ziel
erreicht, welches sie im Prolog des Stücks formulierte: Eine Stimme aus dem Off ließt
211
vgl. Klett 1978: 17.
212
Dort 1979: 12.
213
Klett 1979: 17.
214
Nachdem Gründgens 1963 verstorben war, klagte sein Adoptivsohn und einziger Erbe Peter Gorski
erfolgreich gegen die Veröffentlichung des Romans. In der DDR wurde er bereits 1956 im Aufbau Verlag
veröffentlicht. 1980 veröffentlichte der Rowohlt Verlag das Buch erneut. Da der Erfolg so groß war und
die Entscheidung des Gerichtshofes ohnehin umstritten war, wurde nicht mehr gerichtlich dagegen
vorgegangen (vgl. Seym 1992: 106.; Rowohlt Verlag Online: http://www.rowohlt.de/tschenbuch/klausmann-mephisto.html Zugriff: 19.5.16).
!
!
!55
den Brief eines Verlegers an Klaus Mann vor.215 Der Verleger bedauert in dem Brief
Klaus Manns Roman aus folgenden Gründen nicht veröffentlichen zu können:
!
Es wird Ihnen nicht entgangen sein, dass Herr Höfgen in Deutschland bereits wieder
eine erhebliche Rolle spielt. Ihr Roman könnte den Eindruck erwecken, er wolle ihn
(Höfgen) angreifen. […] ich kann das Risiko eines Verbots nicht eingehen, […] das mir
angesichts der politischen Lage unvermeidbar scheint.216
Klaus Mann reagiert darauf außer sich vor Wut:
!
Warum? Weil Herr Höfgen bereits wieder eine erhebliche Rolle spielt. Das nenne ich
Logik! Zivilcourage! […] Nur kein Risiko eingehen! Immer mit der Macht… […] Wir
wissen ja, wohin das führt: geradewegs in die Vernichtungslager, von denen es hinterher
heißt, man habe nichts von ihnen gewusst.217
Damit öffnete Mnouchkine schon zu Beginn des Stücks die historische Klammer, die
sich am Ende schloss.
Das Stück hatte insgesamt 160000 Zuseher und tourte zu Festivals nach Avignon,
Louvain-la-Neuve, Lyon, Rome, Berlin, Munich und Lons-le-Saunier.218
!
!
5. Die Rückkehr zum Text
!
a.) Der Shakespeare-Zyklus
!
Die Auseinandersetzung von 1981 bis 1984 mit Shakespeare wird als der eigentliche
Beginn der dritten Phase in der Entwicklung des Théâtre du Soleil angesehen.219 Zum
215
Am 5.Mai 1949 schrieb der Verleger Langenscheidt diesen Brief an Klaus Mann. Am 21. Mai 1949
beging Klaus Mann Selbstmord. (vgl. Marko, Martin (1999) „Wer sein Leben verliert, der wird’s
behalten. Vor 50 Jahren beging Klaus Mann Selbstmord - eine sentimentale Reise nach Cannes.“, in: Die
Welt 15/5/99. Berlin: WeltN24 GmbH. http://www.welt.de/print-welt/article571602/Wer-sein-Lebenverliert-der-wirds-erhalten.html Zugriff: 29.7.16).
Mnouchkine verwendete diesen Original-Brief und tauschte nur den Namen Gustav Gründgens mit der
Figur Henrik Höfgen aus.
216
Mnouchkine 1980: 5.
217
ebd.: 6.
218
vgl. Féral: 199.
219
Peter Simhandl sieht den Beginn der dritten Phase des Soleil bereits mit dem Stück Mephisto (vgl.
Simhandl 2007: 455).
!
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ersten Mal seit 1968 arbeitete die Truppe wieder mit einem von einem Autor
geschriebenen Werk. Kein im Kollektiv entwickelter Text, keine Bearbeitung eines
vorhandenen Stoffes wie es bei Mephisto der Fall war: ein vorgegebener Text, der von
Mnouchkine ‚nur’ selbst übersetzt wurde.220 Auch erlebte das Soleil mit dem
Shakespeare-Zyklus eine weitreichende Erneuerung im Ensemble. Für diese Stücke
wurde die Truppe erweitert und verjüngert. Nicht durch Vorsprechen, sondern in
mehrwöchigen Workshops bzw. Lehrgängen wählte Mnouchkine unter den Bewerbern
aus. Die Teilnehmer arbeiteten in diesen Lehrgängen mit den Schauspielern gemeinsam
an verschiedenen Aufgaben. Die Arbeit mit der Maske stand im Mittelpunkt.221
Der Zyklus zum 20. Gründungsjubiläum des Théâtre du Soleil bestand aus den beiden
Historien Richard II (Premiere 1981) und Henry IV, première partie (Henry IV, erster
Teil, Premiere 1984) und der Komödie La Nuit des Rois (Was ihr Wollt, Premiere
1982).222 Mnouchkine übersetzte den gesamten Text selbst. Sie wollte dem Original in
Rhythmus und Melodie der Sprache möglichst treu bleiben. Da sie die Übersetzung des
Textes teilweise erst während der Probenzeit fertig stellte, ließ sie sich automatisch auch
von der Arbeit mit den Schauspielern beeinflussen.223
Die Ästhetik der Aufführungen war neben europäischen Volkstheatertraditionen von den
traditionellen asiatischen Theaterformen beeinflusst.224
220
vgl. Dort, Bernhard (1982) „Frankreich: Das reine Theater und die rohe Wirklichkeit. Das Théâtre du
Soleil spielt Shakespeare, Georges Lavaudant inszeniert Pirandello“, in: Theater Heute 1982/13. Berlin
Friedrich GmbH, 106.
221
vgl. Simhandl: 456.
222
Brauneck 2007: 153.
223
vgl. v. Becker, Peter (1984) „Die Theaterreise zu Shakespeare: Aufbruch in das ferne, fremde Land,
das wir selbst sind. Ein Gespräch mit Ariane Mnouchkine nach Abschluss ihres Shakespeare-Zyklus’“, in:
Theater Heute 1984/13. Berlin: Friedrich GmbH,13f.
224
!
vgl. Brauneck 2007: 154.
!
!57
Die Anlehnung an das indische Kathakali225 wurde für den Bereich Liebe und Spiel
verwendet. Zur Vorbereitung auf das Shakespeare-Projekt engagierte Mnouchkine
Kathakali-Lehrer um ihre Schauspieler mit dieser Theaterform bekannt zu machen und
auf den gleichen Stand zu bringen. Was Mnouchkine besonders an dieser
Theatertradition inspirierte, war der rituelle Festcharakter der Aufführungen, die
Kostüme und die Maskenarbeit. Imagination und Improvisation werden hier mit
typischen Spiel- und Bewegungsabläufen zusammengefügt. Diese Kombination ergibt
eine besondere Präsenz des Schauspielers, die es für Mnouchkine zu erreichen galt.226
225
Das Kathakali entstand im 15. Jahrhundert in Indien und ist eine hochstilisierte Kunstform, die aus
Tanz, Pantomime, Mudras (symbolische Handbewegungen) und Instrumentalmusik besteht. Die Themen
und Geschichten der Aufführungen werden hauptsächlich der Mythologie entnommen. Die Schauspieler
tragen entweder symbolische Masken oder kunstvolle Schminkmasken, deren Anfertigung drei bis vier
Stunden dauert und in absoluter Stille vom Schauspieler selbst gestaltet wird. Darüber hinaus tragen die
Schauspieler - deren Ausbildung bis zu zehn Jahre dauert - prunkvolle, farbenprächtige Kostüme. Eine
Aufführung dauert normalerweise die ganze Nacht, findet unter freiem Himmel statt und wird von LiveMusik begleitet. Die Sprache besteht nur aus Lauten, da alle Geschichten durch die Mudras erzählt
werden. Dazu kommentiert der Schauspieler die Geschichten mit bestimmten Miminken (ausgebildete
Kathakali-Schauspieler können bis zu siebenundvierzig Gesichtsmuskeln isoliert bewegen).
Zusammenfassend wird in dieser Theaterform die Geschichte mit Hilfe des Körpers erzählt und zugleich
durch Mimik kommentiert. Für das orientalische Publikum steht hierbei die Geschicklichkeit und
Virtuosität des Schauspielers im Mittelpunk. (vgl. Seym 1992: 29ff) Alle Rollen - auch Frauenrollen werden nur von Männern gespielt. (ebd.)
226
!
vgl. Seym: 32f.
!
!58
Das japanische Nō-Theater227 und das Kabuki-Theater228 wurden für den Bereich Macht
und Herrschaft verwendet.229
Aus dem Nō-Theater nahm Mnouchkine in ihrer Arbeit vor allem auf die Bewegungen
im Raum Bezug. Das Gehen wurde in den Shakespeare-Stücken zu einem wichtigen
Element.230
Aus dem Kabuki-Theater benutzte Mnouchkine das Element der Auftritte und Abgänge
und die schwarz gekleideten Bühnenhelfer. Die oft rasanten Auftritte führten über, an
der rechten Seite der Bühne liegende Stege. Diese Stege führten zu kleinen, mit
schwarz-weiß gestreiften Vorhängen eingefassten Kabinen.231 Vor jedem Auftritt wurde
ein Vorhang aufgerissen.232 Die Bühne war, wie bei L’age d’or, mit einem sandfarbenen
Teppich überzogen, der durch acht schwarze Streifen in Bahnen unterteilt war.233
227
Das Nô-Theater stammte ursprünglich aus religiösen Ritualen, die zu Unterhaltung der Götter
praktiziert wurden. Es hat eine über sechshundert Jahre alte - vom Vater zu Sohn übertragene Geschichte. Es besteht aus Wort, Musik und Tanz. Ein wichtiger Bestandteil des Nô-Theaters ist das
Gehen. Dabei geht es besonders um die Erfahrungen, die die Figur beim Gehen mit ihrer Umgebung
macht. Der leere Raum - denn das Nô-Theater findet auf einer leeren Bühne statt - wird dadurch zum
Leben erweckt. Das Nô-Theater hat im Vergleich zum Kathakali kein einheitliches Alphabet von
Symbolen, durch die die Geschichten erzählt werden. Es erschließt sich dem Zuschauer nicht unmittelbar,
jedoch werden Gefühle auch durch bestimmte symbolische Bewegungen beschrieben (vgl. Seym 1992:
33ff). Es sind langsame Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen. Zwei Schritte rückwärts heißt zum
Beispiel Enttäuschung, drei bis vier Schritte vorwärts ist Höhepunkt der Erregung (vgl. ebd.: 35). Jedoch
ist trotz dieser Regeln wie beim Kathakali Raum für Improvisation (ebd.). Ein wichtiges Requisit des NôTheaters ist der Fächer. Auch hier werden Masken verwendet, die im Zusammenhang mit den Kostümen,
ganz bestimmten Figuren-Typen entsprechen (ebd.).
228
Das japanische Kabuki stellt - im Gegensatz zum minimalistischen Nô-Theater - Gedanken und
Gefühle in übertriebener Weise dar (vgl. Seym: 39). Die Aufführungen des Kabuki haben immer eine
ästhetisch ansprechende Komposition. Es wird auch als ‚visuelles Theater‘ bezeichnet (vgl. Yasunore
Gunji, zit. nach Seym: 39). Wieder kommt den Bewegungsformen eine zentrale Bedeutung zu:
Bewegungen sollen hier nicht durch das Gehirn gesteuert werden, sondern durch ein
Gleichgewichtszentrum - ein bestimmter Punkt am Ende der Wirbelsäule. Durch die Energie, die von
diesem Punkt ausgeht, werden die Bewegungen gesteuert. Dadurch ist keine Bewegung im Kabuki
zufällig, sondern selbst das Rollen der Augen werde kontrolliert und sorgfältig ausgeführt (vgl. Seym:
39). Für besonders wirkungsvolle Bilder, wie zum Beispiel die Darstellung einer Meeresbrandung,
werden - um beispielsweise bemalte Tücher wie Wellen zu bewegen - schwarz gekleidete Bühnenhelfer
hinzugezogen. Das sichtbare Auftreten und Abgehen der Schauspieler über einen Steg ist ein wesentlicher
Bestandteil, da der Schauspieler dabei vor den Augen des Publikums in die Rolle ‚eintritt’ (ebd.: 41). Im
Kabuki werden ausschließlich Schminkmasken verwendet, die den Figuren typische Züge geben (ebd.).
229
vgl. Seym: 155.
230
ebd.: 34
231
ebd.: 152.
232
vgl. Oehler, Dolf (1982) „Dasselbe Stück wie unter Giscard? Theater und Kritik in Paris 1982. Eine
Philippika von Dolf Oehler“, in: Theater Heute 1982/3. Berlin: Friedrich GmbH, 8.
233
!
vgl. Seym: 158.
!
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Riesige, seidene Vorhänge waren auf der Hinterseite der Bühne angebracht. Bei den
Masken und Kostümen wurden asiatische und elisabethanische Elemente vermischt.234
Tatsächlich haben wir Kostüme des japanischen Mittelalters und Elemente der
europäischen Renaissance optisch vermischt, und das Erstaunliche war: es wurde zu
einem triftigen Ausdruck von Mittelalter, Mittelalter des Menschen, gleich wo.235
!
Nur die ältere Generation trug durchgehend Masken. Das hatte damit zu tun, dass Erhard
Stiefel236 für die Alten Masken schuf, die Mnouchkine zufrieden stellten, ihm für die
Jungen jedoch keine Masken gelangen, die wirklich gepasst hätten.237
Geprobt wurden zunächst drei Monate lang alle drei Stücke. Dies diente als praktische
Einführung in „Shakespeares Welt“.238 Danach begannen die Proben für jedes einzelne
Stück. Richard II. wurde viereinhalb Monate probiert, Was ihr wollt ungefähr sechs
Monate und Heinrich IV. fünf Monate.239 Zusätzlich bekamen die Schauspieler einige
Lektüre-Empfehlungen und anderes Inspirations-Material wie Abbildungen von
Gemälden, Photographien, Gedichte und Epen. Zusätzlich spielten einige Filme eine
wichtige Rolle in der Vorbereitung, wie japanische Filme von Misogushi und Filme von
Kurosawa.240
Begleitet wurden die szenischen Geschehnisse von einer permanenten musikalischen
Untermalung.241 Diese Musik, deren Basis aus Trommelschlägen und einem asiatischen
Gong bestand,242 entstand nicht in einem individuellen Kompositionsprozess, sondern
während der Proben in Zusammenarbeit des Ensembles mit dem Musiker Jean-Jacqes
234
vgl. Simhandl: 456f.
235
Mnouchkine, zit. nach von Becker 1984: 18.
236
Erhard Stiefel ist ein Schweizer Bildhauer, der seit 1967 mit Ariane Mnouchkine zusammenarbeitete.
Nach seiner Ausbildung in bildender Kunst in Zürich und Paris, trat er in die Schule von Jacques Lecoq
ein und erlernte dort das Maskenspiel. Seine Kunst als Bildhauer und Maskenbildner wurde von
Balinesischen und japanischen Masken beeinflusst und besonders von den Masken der Commedia
dell’arte (vgl. Féral 2003: 148).
237
vgl. von Becker 1984: 18.
238
ebd.
239
ebd.
240
ebd.: 14.
241
vgl. Brauneck 2007: 153.
242
vgl. Oehler: 8.
!
!
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Lemêtre.243 Die Shakespeare Stücke waren das zweite Projekt, die Lemêtre begleitete.
Während er in Mephisto - seiner ersten Produktion im Soleil - hauptsächlich damit
beschäftigt war, den Schauspielern Musikinstrumente beizubringen, wollte er nun
unterschiedliche Möglichkeiten der musikalischen Begleitung von gesprochenem Text
finden.244 Die Frage, die Lemêtre sich stellte, war, wie man die Sprechstimme wie
Gesang hören konnte. Während der Proben entwickelte er mit den Schauspielern eine
Technik, die Sprechstimme der Schauspieler mit Musik so zu begleiten, dass sie wie
Gesang klang. Das funktionierte, indem die Schauspieler ihre Stimmen derart laut und
kraftvoll einsetzten, als wären sie kurz vor der Singstimme. „In dem Moment liegt über
dem Gesprochenem Musik, doch sie ist transponiert. Sie ist nicht realistisch,
naturalistisch oder alltäglich.“ beschrieb Lemêtre diese Methode in einem Interview mit
Josette Féral.245 Dafür baute Lemêtre einige Instrumente selbst, die besonders gut zu
den Stimmen der Akteure passten.246
Dabei spielen die Materialien eine bedeutende Rolle: mit Kunststofffell bespannte
Instrumente passen nicht so zum Menschen, wie die tierische Materie, die am schönsten
ist, da sie so lebt, wie der Schauspieler lebt.247
!
An der rechten vorderen Bühnenkante befand sich das Musikfoyer, auf dem alle
Instrumente aufgebaut waren. Dort hielt sich Lemêtre während der Aufführung auf, da
er von dort aus einen guten Blick auf die Bühne hatte und so auf die szenischen
Geschehnisse direkt und unmittelbar eingehen konnte.248 Für jedes der Stücke gab es
eigene Instrumente, die hauptsächlich aus dem asiatischen Raum stammten, es wurden
jedoch auch lateinamerikanische, afrikanische und europäische Instrumente verwendet.
Die Instrumente kann man in vier Typen einteilen: Die Idophone (selbst klingende
Instrumente ohne gespannte Saiten wie z.B. Triangel, Becken, Gong, Glocken,
Rasseln.), Membranophone (der Klang entsteht durch die gespannte Membran wie bei
243
vgl. Seym: 155
244
vgl Féral 2003: 140f.
245
Lemêtre, zit. nach Féral 2003: 141.
246
ebd.
247
ebd.
248
vgl. Seym: 160.
!
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Trommeln und Pauken.), Chordophone (Saiteninstrumente) und Aerophone
(Blasinstrumente wie z.B. Trompeten, Posaunen, Flöten, Orgeln und die
Harmonika.).249 Als Klangbasis verwendete Lemêtre für alle drei Aufführungen
verschiedene Trommeln, einen thailändischen Gong und die indische viersaitige Laute
Tânpûrâ. Die Musik für Was ihr wollt unterschied sich von den anderen beiden Stücken
insofern, als verschiedene Flöten und drei Harfen dazukamen. In Henry IV setzte
Lemêtre zusätzlich den Klang eines Piano Nu, eines abendländischen Klaviers, ein.250
Die Schauspieler vermochten, unterstützt durch diese Mittel, eine durchgängige Einheit
von Körper und Handlung zu schaffen. Die temporeiche, dynamische Abfolge von
szenischen Bildern und rhythmischen Bewegungseinlagen wurde immer wieder durch
Ruhepunkte unterbrochen.251 Jede Form von Realismus wurde vermieden und durch
theatrale Ausdrucksformen ersetzt.252 Ziel von Mnouchkine war es, durch die
Kombination von extremer Wahrheit und extremer Künstlichkeit ein hyperrealistisches
Spiel zu schaffen. Präzise Gesten und deutliche Ausdrucksformen trugen ihren Teil dazu
bei.253
In der Kritik wurde durchgängig eine Steigerung vom ersten Stück, Richard II., bis zum
letzten, Henry VI., beschrieben. Wenn in Richard II. die Form und die Stilmittel im
Vordergrund standen, wurde Henry IV. viel mehr als sinnliches Erlebnis beschrieben mit
verletzbaren, fragilen, menschlichen Figuren. In einem Interview im Jahre 1984 mit
Peter von Becker in der Zeitschrift Theater Heute bestätigte das Mnouchkine und
erklärte es damit, dass auch Shakespeare in Heinrich IV. weitergekommen sei als in
Richard II.:
[…] er [Shakespeare] ist freier, hier wagt er alles, macht und kann alles, was er will.
Und bei uns wurde die Form auch geschmeidiger, reicher, freier, da ist durch die
Mischung der Elemente in den Fallstaff-Szenen mehr ‚Varieté‘ drin. Ich denke wir sind
vorangeschritten von Richard II. über Was ihr wollt bis zu Heinrich IV.254
249
ebd.
250
ebd.: 161.
251
vgl. Brauneck 2007: 154.
252
ebd.
253
vgl. Mnouchkine, zit. nach v. Becker 1984: 23.
254
ebd.: 15.
!
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!
Insgesamt erreichte der Zyklus 153.000 Zuseher und wurde zu den Münchner
Festspielen, nach Los Angeles, nach Avignon und zu den Berliner Festspielen
eingeladen.255 Nachdem ein Mitglied der Truppe, Phillippe Hottier256, 1984 das
Ensemble verließ, wurde der Zyklus abgesetzt und die Proben zu einem neuen Stück
begannen.
!
b.) Sihanouk, L’Indiade und die Begegnung mit Hélène Cixous
!
Das Stück L’histoire terrible mais inachevée de Norodom Sihanouk, roi du Cambodge
(Die schreckliche aber unvollendete Geschichte von Norodom Sihanouk, König von
Kambodscha) - im Folgenden nur Sihanouk genannt - von Hélène Cixous, schildert in
fünfzig Szenen die leidvolle Geschichte des Volkes von Kambodscha. Es beginnt mit
der Abdankung des Königs Sihanouk 1955, woraufhin der General Lon Nol die Macht
ergreift. Darauf folgt die Eroberung durch die Roten Khmer, die die Schreckensherrschaft Pol Pots mit sich bringt. Am Ende wird das Land endgültig von seinem
vietnamesischen Erzfeind besetzt.257 Der Text hatte ursprünglich über 400 Seiten, wurde
allerdings während der Proben immer wieder gekürzt und umgeschrieben.258 Die
Inszenierung war sehr nah am Dokumentartheater, da der Text zu einem großen Teil aus
allgemeinen Informationen über Kambodscha und Asien bestand. Aufgelockert wurde
dies durch stilisierte, präzise Körpersprache, rasante Auftritte und Luftsprünge und einer
allgemeinen Überhöhung der Figurengestaltung der Schauspieler. Sihanouk wurde oft
auf zwei Abende aufgeteilt, da das Stück insgesamt mehr als acht Stunden dauerte.259
255
vgl. Féral 2003: 199.
256
Hottier war neun Jahre Mitglied des Théâtre du Soleil (vgl. Hottier 1984: 22). Er wirkte in L’age D’or,
Molière, Mephisto und dem Shakespeare-Zyklus mit. Hottier spielte in Richard II. den York, in Was ihr
Wollt den Sir Toby und in Heinrich IV. den Fallstaff (vgl. Seym 1992: 220ff).
257
vgl. Ortolani, Oliver (1986) „Schreckliche Geschichte? Das Théâtre du Soleil spielt ein SihanoukDrama im ‚Shakespeare-Stil‘, in: Theater Heute 1986/1. Berlin: Friedrich GmbH, 38.; Simhandl 2007:
457.
258
vgl. Ortolani 1986: 38.
259
ebd.
!
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Wenn es zum Beispiel an einem Sonntag komplett gespielt wurde, gab es eine
einstündige und zwei halbstündige Pausen.260
!
Zu Mittag kam das Publikum. […] Wenn ich die Bühne verließ, war es elf Uhr abends.
Wir standen von ein Uhr mittags bis elf Uhr abend [sic.] auf der Bühne. […] Es war
phantastisch! Natürlich war es anstrengend, aber das war uns vollkommen egal!261
1972 lernten Mnouchkine und Cixous einander kennen, als Cixous mit einem Freund,
Michel Foucault, nach Paris kam, um mit Mnouchkines Hilfe einen kurzen Sketch
einzustudieren, der vor einem Gefängnis gezeigt werden sollte. Die Aufführung kam nie
zustande, da die Gruppe schon beim Auspacken von der Polizei vertrieben wurde,
allerdings entstand aus dieser Begegnung eine langjährige Freundschaft zwischen
Mnouchkine und Cixous. Von 1972 bis 1981 gingen sie immer wieder gemeinsam zu
politischen Demonstrationen.262
1981 fragte Mnouchkine Hélène Cixous, ob sie ein Stück für das Soleil schreiben
könne. Cixous beschloss, das Angebot anzunehmen, jedoch nicht ohne Bedenken: Ein
Stück für das Théâtre du Soleil zu schreiben ist eine enorme Herausforderung, nicht
zuletzt wegen der großen Anzahl an Schauspielern.263 Sihanouk war das erste Stück, das
Cixous für das Théâtre du Soleil schrieb. Direkt danach (1987/88) folgte ein zweites:
L’Indiade ou l’Inde de leurs rêves (Indiade oder das Indien ihrer Träume).
1994/95schrieb sie La ville parjure, ou le révail des Erinyes (Die meineidige Stadt oder
das Erwachen der Erinnyen), welches in Zusammenarbeit mit den Wiener Festwochen
produziert wurde. 1997 wurde kollektiv das Stück Et soudain, des nuits d’éveil
(Plötzlich wache Nächte, M.W.) erarbeitet, wobei Cixous die Textfassung während der
Proben entwickelte. 1999 schrieb Cixous das Puppenspiel Tambours sur la digue
(Trommeln auf dem Deich).264 2010 wurde das Stück Les naufragés du Fol Espoir (Die
260
vgl. Bigot, zit. nach Féral 2003: 80.
261
Bigot, zit nach Féral 2003: 80.
Georges Bigot spielte die Titelrolle: Sihanouk
262
vgl. Cixous, Hélène (2003) „Das Theater tritt auf“, in: Féral (2003): Ariane Mnocuhkine & Das
Théâtre du Soleil. Berlin: Alexander Verlag, 111.
263
ebd.
264
vgl. Brauneck 2007: 154.; Féral 2003: 200.
!
!
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Schiffbrüchigen der Fol Espoir) veröffentlicht, welches auch in Zusammenarbeit mit
Cixous entstand.265
!
2003 schrieb Cixous den Text „Das Theater tritt auf“, in dem sie einen Überblick über
die gemeinsame Arbeit mit Mnouchkine gab: Zu Beginn wird ein Thema gesucht. Der
Anspruch bei Sihanouk war, ein zeitgenössisches Ereignis zu finden, das „uns grausam
trifft, (uns - das Publikum, die Bürger) […] uns verletzt, entsetzt, hilflos lässt.“266
Danach entscheidet man sich für einen Ort, an dem das Stück stattfinden sollte. „Aus
der Vision eines Ortes wird Arianes ganze Arbeit entstehen.“267 Wenn der Ort definiert
wird, heißt es für Cixous, die Figuren zu entwickeln. Das kann mehrere Monate, bis zu
einem Jahr dauern. Wenn die Figuren gefunden sind, geht der Rest schnell: „Nachdem
ich sechs Monate oder ein Jahr verirrt verloren in Erwartung und Unruhe gewesen bin
[um nach den Figuren zu suchen, M.W.], wird mich die Aktion des Schreibens zwei
Monate kosten.“268 Während der Proben wird der Text immer wieder überarbeitet,
gekürzt und ergänzt. Eine Besonderheit, die sich über alle gemeinsamen Arbeiten
erhalten hatte, ist, dass Cixous die letzte Seite des Stücks nicht vor dem letzten
Probentag schreibt, sodass die Schauspieler bis einen Tag vor der Premiere nicht wissen,
wie das Stück enden wird.269 Dies soll dazu führen, dass die Schauspieler „nicht
projizieren, schummeln“ können. „Sie sind in der Gegenwart.“270
!
Sihanouk wurde 1986 nach Amsterdam (Holland Festival), Brüssel, Madrid und
Barcelona eingeladen und erreichte insgesamt ungefähr 108.500 Zuseher.271
!
265
vgl. Théâtre du Soleil Online. http://www.theatre-du-soleil.fr/thsol/nos-spectacles-et-nos-films/nosspectacles/les-naufrages-du-fol-espoir-2010/?lang=fr Zugriff: 28.6.16
266
Cixous 2003: 112.
267
ebd.
268
ebd.: 116.
269
ebd.: 118.
270
ebd.
271
vgl. Féral 2003: 200.
!
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Das Stück L’Indiade ou l’Inde de leurs rêves (Indiade oder das Indien ihrer Träume) im Folgenden nur L’Indiade genannt - wurde nach einer Forschungsreise durch Asien
und zwei Jahren Probenzeit am 30. September 1987 in der Cartoucherie uraufgeführt.272
L’Indiade handelte vom Übergang der Inder zur Unabhängigkeit von der Kolonialmacht
Großbritannien. Als sich die Inder von den Briten losgelöst hatten, zerstörten bald
Machtkämpfe innerhalb Indiens, zwischen verschiedenen Völkern, das Land. Gründe
dafür waren ethnische, soziale und religiöse Widersprüche. Die Moslems wollten unter
ihrem Führer Jinnah einen eigenen Staat, die Hindus kämpften für die Einheit des
Landes, allerdings unter ihrer Partei Nehru.273 Dies führte zum Bruderkrieg und
schlussendlich zur Teilung des Landes.274
In den ersten zwei Stunden folgten die Zuseher hauptsächlich verbalen Gefechten
zwischen Engländern und Indern, vor allem aber unter den Indern selbst, bis zur
‚Konferenz von Simla‘, bei der der Übergang zur Unabhängigkeit von allen politischen
Lagern beraten wurde.275 Zwei Figuren stellten einen Gegensatz zu den politischen
Verhandlungen, Streitigkeiten und Gefechten dar: Mahatma Gandhi, der sich für eine
gewaltlose Einigung einsetzte, vor allem im Hinblick auf die Zukunft der Menschen, die
Religions- und Kasten-Konflikte. Und Haradisi, eine Figur, die die Aufgabe hatte, die
‚eigentlichen‘ Bedürfnisse und Probleme der Menschen Indiens aufzudecken: Hunger
und Armut. Darüber hinaus war sie das Verbindungsglied von Bühne und Publikum:
Sie empfing die Zuseher und stellte ihnen die verschiedenen Personen vor.276
Die Bühne bestand aus einem hochgemauerten marmorgefliesten Backsteinpodest, das
durch schnelle Wechsel von Polstern und Teppichen immer wieder zu unterschiedlichen
Räumen wurde.277 Dadurch, dass die Geschichte Indiens sehr schnell dargestellt wurde,
272
vgl. Merschmeier, Michael (1987) „Vergesst Gandhi nicht. Saisonauftakt: Paris“, in: Theater Heute
1987/11. Berlin: Friedrich GmbH, 10.; Féral 2003: 200.
273
vgl. Merschmeier 1987: 12.
274
vgl. ebd.: 13.; Simhandl 2007: 457.
275
vgl. Merschmeier 1987: 12.
276
ebd.: 12f.
277
ebd.
!
!
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gab es im Programmheft eine Datentafel und Kurzbiographien der handelnden
Personen, um das Verständnis der Geschichte zu erleichtern.278
Die Ästhetik der Aufführung war wieder an asiatische Theaterformen angelehnt. Wenn
dies allerdings im Shakespeare-Zyklus Mittel zur Abstraktion war, wurde alles
‚Asiatische’ nun zum unmittelbaren Thema.279
Nach der Premiere in Paris wurde L’Indiade nach Jerusalem eingeladen (Festspiele von
Jerusalem). Insgesamt erreichte das Stück 86.000 Zuseher.280 Die Einladung nach Israel
spaltete die Gruppe in zwei Lager. Die einen fanden es notwendig, nach Israel zu
fahren, da es sich um ein Schauspiel über die indische Teilung handelte und sie es als
sinnvoll erachteten, dieses Thema in Jerusalem zu präsentieren, der andere Teil der
Schauspieler wollte die Einladung nicht annehmen, teils aus Angst, teils aus politischen
Gründen.281 Nach langen Diskussionen entschied sich die Truppe, die Einladung doch
anzunehmen. Dies war vor allem durch die Araber in der Truppe beeinflusst, welche es
für wichtig empfanden, dieses Stück in Israel zu spielen und die Debatte besänftigten.282
!
c.) Les Atrides
!
Ursprünglich war als nächstes Projekt ein Stück über die französische Résistance
geplant, das wieder von Hélène Cixous geschrieben werden sollte. Das Problem war
allerdings, dass Mnouchkine keine theatralische Form jenseits des „Fernsehrealismus“
fand.283 Daher beschloss sie zu den Ursprüngen des Theaters zurückzukehren und von
dort aus die Schauspielkunst neu zu erlernen.284 Die Folge war, dass 1990 die Arbeit am
Atriden-Zyklus begann, der vier große antike Tragödien beinhaltete: Iphigénie à Aulis
278
ebd.
279
ebd.: 13.
280
vgl. Féral 2003: 200.
281
1987 begannen die Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und der israelischen Armee: die
erste Intifada (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, Online: http://www.bpb.de/internationales/
asien/israel/45071/intifada-und-oslo Zugriff: 18.7.16).
282
vgl. Mnouchkine, zit. nach Féral 2003: 65.
283
vgl. Mnouchkine, zit. nach Spreng 1991: 8.
284
ebd.
!
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(Iphigenie in Aulis) von Euripides, welches von den Ursachen der Rachemorde in der
Trilogie von Aischylos handelt, und die Orestie von Aischylos (Agamemnon; Les
Choéphores und Les Eumenides).285 Die Stücke erzählen vom Familienkrieg des
griechischen Heerführers Agamemnon und seinen Nachkommen am Anfang und am
Ende des zehnjährigen Kriegs zwischen Griechen und Trojanern. Ein Rachemord folgt
auf den Nächsten. (Agamemnon opfert seine Tochter Iphigenie; Klytaimnestra rächt den
Mord ihrer Tochter, indem sie mit ihrem neuen Liebhaber Ägisth den vom Krieg
heimgekehrten Agamemnon ermorden, was dazu führt, dass ihr Sohn - Orest Klytaimnestra und Ägisth umbringt.) Von Rachegöttinnen verfolgt, flieht Orest in den
Tempel der Göttin Athene, die ihn beschützt und durch eine Abstimmung schlussendlich
die Umwandlung von der üblichen Eigenjustitz in einen Rechtsstaat erreicht. Die
Erinnyen (Rachegöttinnen) werden besänftigt und in Eumeniden (Wohlwollende)
verwandelt.
Dass Mnouchkine die Iphigenie des Euripides der Orestie voranstellte, hatte
pädagogische Gründe: Sie nahm an, dass das Publikum nicht das Vorwissen der ganzen
Geschichte der Atriden haben würde und somit die Figur der Klytaimnestra nicht
verstehen könnte.286 Erstaunlich ist, dass Mnouchkine Euripides’ Iphigenie in Aulis als
Vorgeschichte wählte, da dieses Stück aufgrund eines möglicherweise offenen Schlusses
als Fragment gilt und daher fast nie gespielt wird.287 Euripides Iphigenie steht meist im
Schatten der Iphigenie auf Tauris von Johann Wolfgang von Goethe, welche häufiger
gespielt wird.288
Für dieses Projekt wurden alle Stücke neu übersetzt: Jean Bollach übersetzte Iphigenie,
Mnouchkine selbst übernahm die Übersetzung von Agamemnon und den Choëphoren
und Hélène Cixous übersetzte die Eumeniden. Grund dafür war, dass die vorhandenen
285
vgl. Brauneck 2007: 154.
286
Mnouchkine, zit. nach Spreng 1991: 8.
287
Ein vermutlich nach Euripides’ Tod hinzugefügtes Nachspiel klärt Klytaimnestra darüber auf, dass
Iphigenie von den Göttern gerettet wurde. Diese Information schwächt die Motivation Klytaimnestras zu
den Rachemorden an Agamemnon und Kassandra erheblich. Mnouchkine löste dieses Problem insofern,
als der Opferer (Georges Bigot) die Auflösung dem Publikum erzählte und besonders auf die Folgen der
Ermordung hinwies: Dadurch wurde der trojanische Krieg ermöglicht. (vgl. v. Becker 1991: 4.)
288
vgl. v. Becker, Peter (1991) „Der Tanz der Tragödie. Wie Ariane Mnouchkine und ihr Sonnentheater
die Mord-Dramen der Antike erleuchten: ‚Les Atrides‘ - ‚Iphigenie in Aulis‘, ‚Agamemnon‘, ‚Die
Choephoren‘.“ in: Theater Heute 1991/6. Berlin: Friedlich GmbH, 4.
!
!
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Texte oft vom Originaltext abwichen und Mnouchkine keine Bearbeitungen verwenden
wollte.289
Das Herzstück der Inszenierungen bildete der Chor, der in aufwendigen Kostümen teils in rot-goldenen weiten Reifröcken, orientalischen Schmuckstücken und
phantasievollen Hauben, teils ganz schwarz gekleidet; manchmal bärtig, manchmal
weiß geschminkt mit tiefen schwarzen Augenringen und zuletzt in Lumpen gehüllt über die Bühne ‚schwebte‘.290 Da Mnouchkine das Element des Chors weder
vereinfachen noch auf eine Person reduzieren oder diesem gar ganz aus dem Weg gehen
wollte, war zu Beginn der Probenzeit die Arbeit mit dem Chor das größte Problem.291 In
der originalen antiken Form der Darstellung wurde gesungen, psalmodiert und
moduliert, worauf nicht zurückgegriffen werden konnte, da diese Art der Darstellung
Jahre der Vorbereitung in Anspruch genommen hätte. So musste eine gleichwertige
Alternative gefunden werden: Tanz und Musik.292 Die Chorführerin Catherine Schaub
entwickelte artistische Choreographien293, bei denen die Schauspieler wie schwerelos
über die Bühne wirbelten.294 Diese Artistik und Schwerelosigkeit entwickelte sich von
Stück zu Stück bis zu den Eumeniden zu Schwerfälligkeit, bei der jeder Schritt mühsam
schien.295 Schaub führte den Chor während der Vorstellung mit schnellen Zeichen und
kurzgerufenen „Ta!“ an.296 Wieder wurde die gesamte Arbeit von Jean-Jacques Lemêtre
musikalisch begleitet.297 Peter von Becker lobte in einem Artikel der Zeitschrift Theater
heute 1991 besonders die immer wechselnde Gestalt des Chores:
Manchmal sinken die Chorspieler mit den fallenden Helden der Stücke mitleidig nieder,
kauern wie neugierige Kinder am Boden, […] werden immer mehr auch zu Zeugen,
289
Mnouchkine, zit. nach Spreng 1991: 8.
290
vgl. v. Becker 1991: 3.
291
vgl. Azencot, zit. nach Féral 2003: 91.
292
ebd.
293
vgl. Théâtre du Soleil (1993): Les Atrides. Programmheft der Wiener Festwochen.
294
vgl. v. Becker 1991: 3.
295
vgl. v. Becker 1992: 8.
296
vgl. v. Becker 1991: 3.
297
ebd.: 7.
!
!
!69
Vertrauten und Mitverschwörern am Atridenhof. Kein menschlicher Ausdruck bleibt
diesem Chor fremd.298
!
Die Ästhetik des Stücks erinnerte wieder sehr an orientalische Theaterformen.
Politische Szenen folgten auf emotionale. Ein Beispiel einer politischen Szene war ein
Moment, in der Agamemnon und Menelaos über das Für und Wider des bevorstehenden
Angriffs auf Troja debattierten. Verschiedene Varianten politischer Überlegungen
wurden vorgeführt: Versprechungen im Wahlkampf und den möglichen späteren Betrug
der Wähler, Gesichtsverlust bei Umentscheidungen und die menschlichen Konflikte
Agamemnons als Politiker, Ehemann und Vater, bzw. Menelaos als Offizier und
betrogener Gatte.299
Handlungen für die Emotionalität der Figuren zu finden, um ihre Entscheidungen zu
verstehen, erwies sich allerdings als schwieriger. Die Atmosphäre dieser Tragödienwelt,
die das Théâtre du Soleil auf der Bühne ausdrücken wollte, sollte gleichermaßen
„Schrecken und Verzückung“ transportieren.300 In einem Interview mit Eberhard Spreng
in der Zeitschrift Theater Heute reflektierte Mnouchkine über die Erfahrungen der
Arbeit mit der griechischen Tragödie wie folgt:
[…] dass wir während der gesamten Proben aufhören mussten, alles begreifen zu
wollen. Wir mussten vielmehr die Fähigkeit entwickeln, einerseits alles, was unserem
Verständnis zugänglich ist, zu verstehen und andererseits zuzulassen, dass es für
Augenblicke wichtig ist, nicht zu begreifen, sondern uns ergreifen zu lassen.301
Einer der Momente, der sich als außerordentlich schwer zu begreifen zeigte, war der
Augenblick, als Iphigenie (Nirupama Nityanandan) begriff, dass sie geopfert werden
soll, sofort im Schoß des Vaters schmerzlich um ihr Leben flehte und plötzlich, von
einem Moment auf den anderen, aufstand, anfing zu tanzen und als Jüngste die Führung
des Frauenchors übernahm. Als Retterin des griechischen Kriegsglücks tanzte sie dem
Tod entgegen.302
298
ebd.: 3.
299
ebd.: 4.
300
Mnouchkine, zit. nach Spreng 1991: 9.
301
ebd.
302
vgl. v. Becker 1991: 4.; Spreng 1991: 9.
!
!
!70
Laut Mnouchkine hat nicht jeder Schauspieler und jede Schauspielerin die Fähigkeit,
solche Umschwünge zu spielen.303 Dies spiegelte sich auch in der Besetzung des
Atriden-Zyklus wieder. Wenige Schauspieler spielten hier viele Rollen - so spielte etwa
Simon Abkarian Agamemnon, die Amme, Achill und Orest oder Nirupama
Nitynanandan spielte Iphigenie, Kassandra, Elektra, die Seherin und im vierten Teil
neben Catherine Schaub eine der beiden Protagonistinnen des Erinnyen-Chors304 andere durften ‚nur‘ im Chor auftreten. Die Schauspielerin Myriam Azencot begründete
dies in einem Interview mit Josette Féral so:
!
Ich denke es ist eine Frage der persönlichen Kultur. Wenn ich Kultur sage, dann meine
ich das im weitesten Sinne. Simon ist Armenier, ein Emigrant. Er trägt jenes Armenien
wie ein Brandgeschoß im Herzen. Es ist ein Volk mit Sinn für Legenden. Er trug die
Dimension der Sagen und Legenden in sich. Ich behaupte nicht, dass dies ausreicht,
aber ich denke, dass es eine Hilfe für ihn war.305
Die Bühne, entwickelt von Guy-Claude Francois, gestaltete sich schlicht. Ein offener
Platz vor niedrigen Mauern. Auf der rechten Seite ein Stein-Hügel, auf dem Lemêtre
mit allen Instrumenten positioniert war.306 Die Bühne sollte möglichst leer sein, um den
Zusehern die Möglichkeit zu geben, sie mit ihrer eigenen Phantasie zu füllen.307
Zusammenfassend beschrieb Peter von Becker die insgesamt neun Stunden AtridenDramen als „geisterhaft fortlebendes Zeugnis einer Welt, in der Geschichte und Mythos,
Politik und Religion unauflöslich selbstverständlich miteinander versponnen sind.“308
Während die beiden ersten Stücke, Iphigenie (Premiere 16.11.1990) und Agamemnon
(Premiere 24.11.1990), regelmäßig gespielt wurden, mussten die Proben zu den
Chorëphoren noch beendet werden, bis die Premiere am 21.2.1991 stattfand. Über ein
Jahr später, am 26.5.1992 folgte die letzte Premiere der Eumeniden, die den Atriden-
303
vgl. Mnouchkine, zit. nach Spreng 1991: 9.
304
vgl. Théâtre du Soleil 1993: Programmheft.
305 Azencot,
zit. nach Féral 2003: 91.
306
vgl. v. Becker 1992: 7.
307
Mnouchkine, zit. nach Spreng 1991: 10.
308
v. Becker 1991:
!
!
!71
Zyklus abschloss.309 Mit diesen Stücken tourte das Théâtre du Soleil von Amsterdam
(Holland Festival), Essen (Theater der Welt), Sizilien (Orestiadi de Gibellina),
Montpellier (Le Printemps des Comédiens) und Bradford (European Art Festival) über
Montréal (Festival de Théâtre des Amériques) und New York (B.A.M.) bis nach Wien
zu den Wiener Festwochen. Insgesamt war der Artriden-Zyklus mit einer Zahl von
286.700 Zusehern die am häufigsten besuchte Arbeit des Théâtre du Soleil.310
!
d.) Moderne Tragödie/Hélène Cixous und französische Klassik/Molière
!
Das Stück La ville parjure ou Le Réveil des Erinys (Die meineidige Stadt oder das
Erwachen der Erinnyen) von Hélène Cixous behandelte den 1991 aufgedeckten
Blutskandal in Frankreich - bei welchem über tausend Menschen durch verseuchte
Blutkonserven mit der Krankheit Aids infiziert wurden311 - in Form einer klassischen
Tragödie. Cixous ließ in diesem Stück die Erinnyen aus dem letzten Stück des AtridenZyklus wiederauferstehen und kritisiert durch sie zunächst die Ärzte am Centre national
de transfusion sanguine - die über Jahre wissentlich aidsinfizierte Blutpräperate an
Krankenhäuser verkauften - und die darauf folgende Vertuschung bzw. Verschiebung
der Verantwortung zwischen Staat, Verwaltung und Ärzteschaft.312 Das Stück spielte auf
einem Friedhof, auf den die Mutter zweier an Aids verstorbener Söhne flüchtet und
unterschiedlichen, teils abstrakten Figuren begegnet (z.B. die Nacht, gespielt von
Sharokh Moshin Ghalam, oder Aischylos selbst, Myriam Azencot, der hauptberuflich
Friedhofswärter ist).313 Das sieben-Stunden-Stück kam 1994 in der Cartoucherie in
Paris zur Aufführung und war eine Co-Produktion mit den Wiener Festwochen.314
!
309
vgl. Féral 2003: 199.
310
ebd.
311
vgl. Der Spiegel Online: „Aids-Viren auf Rezept“, in: Der Spiegel 48/1992. http://www.spiegel.de/
spiegel/print/d-13691469.html Zugriff: 21.6.16
312
vgl. Müry, Andreas (1994) „Staatsunrecht, Tragödiendämmerung, Aids & Antike - und Preußen in
Paris.“, in: Theater Heute 1994/7. Berlin: Friedrich GmbH, 18.
313
ebd.
314
vgl. Féral 2003: 200
!
!
!72
Ein Jahr später, 1995, entschied sich Mnouchkine für den französischen Klassiker
Tartuffe von Moliére.
!
‚Tartuffe‘ steht in einem tieferen Zusammenhang mit der Inszenierung des Gegenwartsstücks ‚La Ville parjure‘ von Hélène Cixous im vergangenen Jahr, worin sehr aktuelle
Probleme - Aids, Blutverschmutzung, öffentliches Vertuschen - in Form der klassischen
Tragödie behandelt wurden. Und jetzt die Umkehrung: ein klassisches Stück in einen
gegenwärtigen Bezug gesetzt. Es ist diese Kreuzung, die mich interessiert hat.315
mit diesen Worten verglich Mnouchkine 1995 in einem Interview mit Ernst Schumacher
in der Berliner Zeitung diese zwei Inszenierungen. Die Kreuzung fand in Tartuffe
insofern statt, als Mnouchkine versuchte, einen Ort für das Stück zu finden, der ein
ähnliches fanatisiertes, religiöses Klima hat, wie es 1664 in Frankreich herrschte, als das
Stück geschrieben wurde.316 Sie entschied sich für ein Land in Nordafrika, ohne dieses
näher zu bestimmen. Hätte sie das Stück zwanzig Jahren zuvor (also ca. 1975)
inszeniert, hätte sie die Sowjetunion oder Ostdeutschland als Ort ausgewählt, erklärte
Mnouchkine.317 1995 wurde die Inszenierung allerdings zu einer Absage an dem
islamistischen Fundamentalismus.318
Das Stück begann mit einem regen Treiben in einem gartenseitigen Hof des Anwesens
der Familie Orgon, in dem das gesamte Stück spielte. Mnouchkine fügte bereits zu
Beginn eine neue Figur hinzu: Le Marchant, ein orientalischer Straßenhändler, der seine
Ware vom Karren durch den Zaun verkaufte, manchmal mit Kastagnetten-Geklapper die
Kunden anlockte, manchmal mit einem Ghettoblaster die Frauen der Familie Orgon
315
Mnouchkine, zit. nach Schumacher, Ernst (1995) „Ariane Mnouchkine über ihre Inszenierung der
Molierschen Komödie im Théâtre du Soleil. In allen Epochen gibt es neue Tartuffes.“, in: Berliner
Zeitung 12/7/1995. Berlin: Verlag GmbH. http://www.berliner-zeitung.de/ariane-mnouchkine-ueber-ihreinszenierung-der-moliereschen-komoedie-im-theatre-du-soleil-in-allen-epochen-gibt-es-neuetartuffes-17505196 Zugriff: 21.6.16
316
vgl. Löffler, Sigrid (1995) „Der Schwarze Tugendterrorist. Ariane Mnouchkine und ‚Le Tartuffe‘ von
Molière - eine Koproduktion des Théâtre du Soleil, Vincennes, und der Wiener Festwochen.“, in: Theater
Heute 1995/8. Berlin: Friedrich Verlag, 6.
Nach der Uraufführung von Tartuffe 1664 forderte die Kirche die öffentliche Hinrichtung Molières, da sie
das Stück als Gotteslästerung ansahen. Erst nach zweifacher Bearbeitung durfte die dritte Fassung
aufgrund des Zuspruchs Ludwig des XIV. 1667 aufgeführt werden. Diese Fassung ist die heute geläufige,
die beiden anderen Fassungen gelten als verloren (ebd.; vgl. Henrichs 1995, Online)
317
vgl. Mnouchkine, zit. nach Schumacher 1995
318
vgl. Zander, Peter (1996) Gastspiel des Théâtre du Soleil mit Molières ‚Tartuffe‘. Molière hat ein Fax
geschickt.“, in: Berliner Zeitung 07/09/96. Berlin: Verlag GmbH. http://www.berliner-zeitung.de/
gastspiel-des-theatre-du-soleil-mit-molieres--tartuffe--moliere-hat-ein-fax-geschickt-16117214. Zugriff:
21.6.16
!
!
!73
zum Tanzen aufforderte.319 Erst nach der Pause kam der Auftritt, der „dem Stück die
ganze politische Explosionskraft zurück(gibt), die es bei seiner umkämpften, zensierten,
[…] verbotsbelasteten Uraufführung gehabt haben muss“, schrieb Sigried Löffler im
Jahre 1995 in einem Artikel der Zeitschrift Theater Heute.320 Tartuffe trat als
Fundamentalist mit einer Gefolgschaft von sieben Männern, also als ganze MoslemBruderschaft, auf.321 Damit verdeutlichte sich auch die Situation des Familienvaters
Organ, der in Mnouchkines Inszenierung in Panik handelte und sich durch Anpassung
mit dieser politischen Macht zu arrangieren versuchte. Er hatte Angst vor dem
Tugendterror der islamistischen Fundamentalisten und noch viel mehr Angst davor, sich
mit dieser politischen Bewegung anzulegen.322 Gleich nach dem Auftritt Tartuffes
offenbarte sich, wogegen sich die von ihm vertretenen Gesinnungen hauptsächlich
richten: gegen die selbstbewussten, nicht domestizierten Frauen.323 In dieser ersten
Szene des dritten Aktes konterte die resolute Magd Dorine (Juliana Carneiro da Cunha),
eine der wenigen die sich gegen Tartuffe zur Wehr setzte, und lehnte die von ihm
geforderte züchtige Bedeckung ihrer Arme ab.324
Auch die Obrigkeit in Form des Beamten L’Extemp, der aufgrund der Besetzung des
Hauses durch die Miliz der Mullahs gerufen wurde, kritisierte Mnouchkine in dieser
Inszenierung stark. L’Extempt brachte zwar im Namen des Königs alles wieder in
Ordnung, wurde aber als unverschämter und vor allem korrupter Beamter dargestellt.325
Gut kamen nur die Frauen, besonders Dorine und Elmire weg, deren Vernunft und
319
vgl. Löffler 1995: 6.
Die Musik, die gespielt wurde, war vor allem von Cheb Hasni, einem nord-afrikanischen Pop-Musiker,
der von Islamisten ermordet wurde (vgl. Löffler 1995: 6).
320
ebd.: 8.
321
vgl. Henrichs, Benjamin (1995) „Molières Satanische Verse“, in: Die Zeit 1995/25. Hamburg: Zeit
Online GmbH. http://www.zeit.de/1995/25/Molia%CC%88res_Satanische_Verse. Zugriff: 21.6.16
322
vgl. Löffler 1995: 10.
323
vgl. Jaschke, Alfred (1996) „Berliner Festwochen: Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil spielt ‚Le
Tartuffe‘. Mit Molière gegen die Mullahs.“ , in: Berliner Zeitung 09/09/96. Berlin: Berlin Verlag GmbH.
http://www.berliner-zeitung.de/berliner-festwochen--ariane-mnouchkines-theatre-du-soleil-spielt--letartuffe--mit-moliere-gegen-die-mullahs-16118054. Zugriff: 21.6.16
324
Löffler 1995: 10.
325
ebd.
!
!
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Courage am Meisten dazu beitrugen, den Fundamentalismus aus dem Haus zu
vertreiben.326
Die Inszenierung stieß in Frankreich auf starke Kritik. Der Truppe wurde religiöse
Intoleranz vorgeworfen.327 In einem Interview mit Ernst Schumacher in der Berliner
Zeitung 1995 betonte Mnouchkine, dass die Kostüme zwar an Mullahs denken lassen,
jedoch auch an andere Vertreter des neuen Fundamentalismus. Auch betonte sie, dass
sie nicht Religion an sich kritisierte, sondern die damit verbundene Unterdrückung.328
Bedenkt man, dass das Théâtre du Soleil 1996 über 300 aus einer Pariser Kirche
vertriebene, von der Abschiebung bedrohte Afrikaner329 beherbergte und dass
Mnouchkine während der Festspiele in Avignon mit algerischen Intellektuellen in den
Hungerstreik trat, 330 kann man hier wohl schwer von Intoleranz sprechen.
Tartuffe war eine Koproduktion des Théâtre du Soleil, Vincennes und der Wiener
Festwochen, weshalb die Premiere in Wien stattfand.331 Danach ging das Stück auf
Tournee nach Avignon, Saint-Jean d’Angely, Lüttich, Kopenhagen, Berlin und natürlich
nach Paris in die Cartoucherie. Insgesamt erreichte es 122.000 Zuseher.332
!
6. Neue Texte - Neue Formen
a.) Et soudain, des nuits d’éveil und Tambours sur la dique - von Hélène Cixous
!
1997 kehrte das Théâtre du Soleil wieder zur Arbeitsweise der création collective
zurück, mit dem Unterschied, dass nun zwar Inhalte und Themen im Kollektiv
326
ebd.
327
Zander 1996: Online.
328
vgl. Mnouchkine, zit. nach Schumacher 1995: Online.
329
vgl. Zitzmann, Marc (2014) „Lebende Zeichen in Bewegung. Fünfzig Jahre Théâtre du Soleil.“, in:
Neue Zürcher Zeitung 26/05/14. Zürich: NZZ Libro (Verlag neuer Zürcher Zeitung). http://www.nzz.ch/
feuilleton/buehne/lebende-zeichen-in-bewegung-1.18309478 Zugriff: 28.6.16
330
vgl. Zander 1996: Online
331
vgl. Löffler 1995: 6.
332
vgl. Féral 2003: 200.
!
!
!75
erarbeitet wurden, der Text jedoch in Übereinstimmung mit Hélène Cixous entstand.333
Et soudain, des nuits d’eveil (Plötzlich wache Nächte, M.W.) behandelte das Thema
Tibet. Das Stück begann mit dem Ende der Vorstellung eines tibetanischen Tanztheaters,
nach welcher der Theaterdirektor ein paar Worte an das Publikum richtete: eine
tibetanische Delegation soll die Lieferung französischer Kampfflugzeuge, die an die
chinesische Regierung des besetzten Tibets verkauft werden soll, verhindern. Nachdem
diese Delegation aber von der französischen Regierung abgewiesen wurde, kamen 300
tibetanische Flüchtlinge vor die Tür des Theaters und drohten mit Selbstverbrennung,
sofern das Theater sie nicht aufnehmen würde, was dazu führte, dass sie hinein
durften.334 Die Mitglieder der Theatertruppe und das immer noch anwesende Publikum
der Vorstellung reagierten unterschiedlich auf die Belagerung des Theaters, zum Teil
positiv, zum Teil negativ, wodurch man die verschiedenen Charaktere besser
kennenlernte.335 Verschiedenste Probleme traten durch die 900336 sich nun im Theater
befindenden Menschen auf, wie beispielsweise verstopfte Toiletten und andere
logistische Probleme. Dann flogen plötzlich Kampfflugzeuge über das Theater Richtung
Asien, die Polizei stürmte die Bühne und schlussendlich wurden alle Tibeter
ausgewiesen.337
Als Inspirationsquelle bezeichnete Mnouchkine im Programmheft den Kampf der ‚Sans
Papier de Saint Bernard‘ 1966, als das Théâtre du Soleil über 300 Flüchtlinge, die aus
einer Kirche in Paris vertrieben wurden, in seinen Räumen aufnahm.338 Sie wollte ein
333
vgl. Féral 2003: 200.
334
vgl. Wetzel, Johannes (1998) „Ariane Mnouchkines neues Stück in Paris engagiert sich für Tibet.
Asylspiele unterm Theaterdach.“, in: Berliner Zeitung 10/01/98. Berlin: Verlag GmbH. http://
www.berliner-zeitung.de/ariane-mnouchkines-neues-stueck-in-paris-engagiert-sich-fuer-tibet-asylspieleunterm-theaterdach-16034060 Zugriff: 28.6.16
335
vgl. Hammerstein, Dorothee (1998): „Das Glück macht, was es will. Kleist und Brecht, der Holocaust,
Armenier und Tibet - ein Streifzug durchs Pariser Theater.“, in: Theater Heute 1998/3. Berlin: Friedrich
Verlag GmbH, 29.
336
Flüchtlinge, Mitarbeiter und Zuseher.
337
vgl. Wetzel 1998: Online.
338
ebd.
!
!
!76
Theater über ihr Theater machen. Die in Wirklichkeit afrikanischen Flüchtlinge tauschte
sie gegen Tibeter aus, um auf die prekäre Situation in Tibet aufmerksam zu machen.339
In der Kritik wurde das vier Stunden dauernde Stück eher negativ aufgenommen, was
Johannes Wetzel in der Berliner Zeitung damit in begründete, dass sich beinahe das
gesamte Ensemble nach Tartuffe neu formatiert hatte, um einer beginnenden
Vorrangstellung einzelner Schauspieler zu entgehen, und die neu zusammengestellte
Truppe erst wieder zusammenfinden müsse.340
Et soudain, des Nuits d’eveil feierte 1997 in der Cartoucherie Premiere und fuhr 1998
auf ein Gastspiel nach Moskau (Tschechow-Festival). Insgesamt erreichte das Stück
55.000 Zuseher, und war neben La ville Parjure das am wenigsten besuchte Stück des
Théâtre du Soleil seit dem Einzug in die Cartoucherie.
!
Mit dem Stück Tambour sur la digue (Trommeln auf dem Deich) kehrte das Théâtre du
Soleil wieder zu einem von Hélène Cixous im Vorfeld verfassten Stück zurück, welches,
wie der Untertitel - Sous forme de pièce ancienne pour marionettes jouée par des
acteurs - schon sagt, ein von Schauspielern dargebotenes traditionelles Puppenspiel
war.341 Einzelne Schauspieler stellten hier Puppen dar, die von ihren Kollegen schwarzen Gestalten im Dunkeln - geführt wurden. Nichts bewegten die
Puppendarsteller aus eigener Kraft, jede Bewegung wurde von den ‚Schwarzen‘
geführt, sie wurden sogar herein- und hinausgetragen.342 Dieses Puppentheater erinnerte
339
vgl. Hammerstein 1998: 29.
340
vgl. Wetzel 1998: Online.
341
vgl. Féral 2003: 200.
342
vgl. Hammerstein, Dorothee (1999) „Völkerkunde und Nudelsuppe. Ariane Mnouchkine serviert ein
neues Stück von Hélène Cixous im Pariser Théâtre du Soleil.“ in: Theater Heute 1999/11. Berlin:
Friedrich GmbH, 13.
vgl. Wetzel, Johannes (1999) „Anleihen beim Bunraku-Theater: Ariane Mnouchkine inszenierte
‚Trommler auf dem Damm‘ von Hélène Cixous. Als wärs ein Märchen von Greenpeace.“, in: Berliner
Zeitung 28/09/99. Berlin: Verlag GmbH. http://www.berliner-zeitung.de/anleihen-beim-bunraku-theater-ariane-mnouchkine-inszenierte--trommler-auf-dem-damm--von-h%C3%A9l%C3%A8ne-cixous-alswaer-s-ein-maerchen-von-greenpeace-16386850
343
!
!
!77
an das japanische Marionettentheater Bunkaru.343 In der Vorbereitungszeit verbrachte
die Truppe drei Monate in Asien, danach wurde ein Jahr lang geprobt.344
Das Stück handelte von einem Land, welches durch den vom Regen angeschwollenen
Fluss überflutet zu werden drohte. Der Grund dafür war, dass der Fürst die Wälder, die
das Wasser hätten aufhalten sollen, gefällt und das Holz verkauft hatte. Damit nicht das
ganze Land ertrinken würde, wollte der Fürst einen der zwei Dämme öffnen und so nur
einen Hälfte des Landes vernichten. Er entschied sich nicht für die Stadt, sondern für
das Land, was bedeutete, dass die Bauern ertrinken würden. Die Bauern wehrten sich
aber, es kam zum Kampf und schlussendlich brachen beide Dämme und alle starben in
den Fluten.345 Am Ende stiegen die ‚Schwarzen‘, die nun keine Puppen mehr tragen
mussten, ins Wasser und sammelten kleine Figuren, Abbilder der Puppen, heraus und
stellten diese auf die Bühnenrampe.346
Dieses Bild rief bei den Zusehern die Frage hervor, ob die Schwarzen auf der Seite der
Puppen gestanden waren oder nicht. Waren sie nur Diener oder waren doch sie es, die
die Puppen beherrscht hatten347
Dieses Stück war die Weiterentwicklung der Maskenarbeit, mit der sich das Soleil
schon in vielen Inszenierungen beschäftigt hatte. Die Entpsychologisierung wurde
durch die Fremdbestimmtheit von außen auf die Spitze getrieben.348 Die Verfremdung
durch die Puppen führte dem Zuseher die ganze Zeit die Theatersituation klar vor
Augen, Identifikation war schwer möglich. Zusätzlich wurde beispielsweise für die
344
vgl. Hammerstein 1999: 13.
345
vgl. Wetzel 1999: Online.
346
vgl. Hammerstein 1999: 13.
347
ebd.
348
ebd.
!
!
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Darstellung von Blut rote Wolle verwendet, die aus der Wunde heraus rollte, was die
Verfremdung noch einmal vergrößerte.349
Tambour sur la Dique war nach der Premiere im Jahre 1999 von 2000 bis 2002 auf
Tournee und wurde in Basel (Kaserne Basel), Antwerpen (DeSingel), Lyon, Montreal
(Festival de Théâtre des Amériques) Tokyo Seoul (Nationaltheater Korea) und Sydney
gespielt. Es erreichte insgesamt 154.000 Zuseher.350
b.) Le derniere caravanserail
!
Das Stück Le deniere caravanseráil (Der letzte Karavnserai), welches im November
2003 Premiere hatte, beinhaltete Flüchtlingsgeschichten aus Kriegs- oder
Krisengebieten. Dafür führten Mnouchkine und die Mitglieder der Truppe zwischen
2001 und 2003 über 400 Interviews in Flüchtlingslagern, aus denen eine Vielzahl von
Szenen entstand.351 Diese Vorgehensweise war für die damalige Zeit eher neu und
ungewöhnlich. Das Stück hatte keinen linearen Handlungsverlauf, sondern setzte sich
aus unterschiedlichen kurzen Geschichten zusammen, die jeweils Anfang und Ende
hatten. Schauspieler des Théâtre du Soleil, die teilweise selbst als Flüchtlinge nach
Frankreich kamen, halfen bei den Übersetzungen.352 Der erste Teil Le fleuve cruel
wurde 2003 für das Theaterfestival in Avignon produziert, da aber eine große Menge an
Material übergeblieben war, entstand im selben Jahr noch der zweite Teil Origines et
destins. Ungefähr hundert Szenen waren vorhanden, wobei an einem Abend etwa
zwanzig Szenen gespielt wurden.353 Die Szenen wurden immer wieder anders
zusammengesetzt, die Geschichten laufend geändert und erweitert, demnach war die
349
vgl. Wetzel 1999: Online.
350
vgl. Féral 2003: 200.
351
vgl. Berliner Zeitung (2005) „Das Woher und Wohin. Ariane Mnouchkine/Le Théâtre du Soleil: ‚Le
derniere Caravaserail - Odyssées‘“‚ in: Berliner Zeitung 27/05/05. Berlin: Verlag GmbH. http://
www.berliner-zeitung.de/das-woher-und-wohin-ariane-mnouchkine--le-th%C3%A9%C3%A2tre-dusoleil---le-dernier-caravans%C3%A9rail---odyss%C3%A9es--15707142 Zugriff: 30.6.16
352
ebd.
353
vgl. Hammerstein, Dorothee (2003) „Zwischen Grand Lit und Munitionsfabrik. Pariser Sommertheater
mit Ipsens ‚Klein Eolf‘, Roland Schimmelpfennig auf französisch, Goya-Miniduren, einem ‚Onkel
Wanja‘ von Julie Brochen und Emigrantenschicksale, nacherzählt von Ariane Mnouchkine.“, in: Theater
Heute 2003/7. Berlin: Friedrich GmbH, 35.
!
!
!79
Möglichkeit, das gleiche Stück ein zweites Mal zu sehen, unwahrscheinlich.354 Die
Bühne war karg gestaltet, die Szenen spielten nicht auf dem Holzboden, sondern auf
rollbaren Spielflächen, die mit hohem Tempo, begleitet von akrobatischen Einlagen,
herbei- und wieder weggeschoben wurden.355 Auch die Darsteller wurden - ähnlich wie
in Tambour sur la digue - auf rollenden Brettern hereingeschoben und konnten sich erst
selbstständig bewegen, als sie die rollenden Flächen erreicht hatten.356 Diese Mittel
sollten einerseits den Ablauf vorantreiben, andererseits standen sie als Sinnbild dafür,
wie Menschen von Schleppern und Politikern hin- und hergeschoben werden.357 Da die
Szenen auf echten Erzählungen beruhten und die Schauspieler für das Théâtre du Soleil
ungewöhnlich naturalistisch spielten, sollte dadurch auch ein zu Hohes Maß an
Realismus vermieden werden.358
An der Rückwand der Bühne befand sich eine große Weltkarte, auf der die
Flüchtlingsströme aufgezeichnet waren.359
Alle biographischen Daten, Namen, Herkunft und Lebenswege der interviewten
Flüchtlinge waren im Programmheft festgehalten.360 Mnouchkine beschränkte sich nicht
auf eine Gruppe von Flüchtlingen, sondern erzählte von Flüchtlingen aus Afghanistan,
Tibet, Australien, Palästina, Algerien, Russland, Irak und Afrika.361 Darunter (waren)
beispielsweise eine Russin, die zur Prostitution gezwungen wurde, da sie einen falschen
354
vgl. Berliner Zeitung 2005: Online.
355
vgl. Hammerstein 2003: 36.
356
ebd.
357
vgl. Wetzel, Johannes (2003) „Ariane Mnouchkines Dokumentartheater ‚Die letzte Karavanserail‘.
Limonade in der Wüste.“, in: Berliner Zeitung 16/4/03. Berlin: Verlag GmbH. http://www.berlinerzeitung.de/ariane-mnouchkines-dokumentartheater--die-letzte-karawanserei--limonade-in-derwueste-15967344 Zugriff: 1.7.16
358
vgl. Wilink, Andreas (2004) „Der geteilte Himmel. Ariane Mnouchkines ‚Le derniere caravaserail‘ und
Peter Brooks ‚Tierno Bokar‘ bei Gerard Mortiers Ruhrtriennale, die nach drei Jahren endet.“, in: Theater
Heute 2004/08-09. Berlin: Friedrich GmbH, 34.
359
vgl. Weltzel 2003: Online.
360
vgl. Wilink 2004: 34.
361
vgl. Bazinger, Irene (2005) „Die Sonnenkönigin: Ariane Mnouchkine und ihr Théâtre du Soleil. Ehre,
wem Ehre gebührt.“, in: Berliner Zeitung 3/6/05. Berlin: Verlag GmbH. http://www.berliner-zeitung.de/
die-sonnenkoenigin--ariane-mnouchkine-und-ihr-th%C3%A9%C3%A2tre-du-soleil-ehre--wem-ehregebuehrt-15939416 Zugriff: 5.7.2016
!
!
!80
Pass hatte; ein Schlepper aus Rumänien, der durch ein Loch im Zaun Geld verdiente,
dafür sogar mordete und schlussendlich selbst umgebracht wurde; Liebespaare aus
Afghanistan, die ermordet wurden; Taliban, die sich unter die Flüchtlinge mischten;
Menschen, die in Flüchtlingslagern Geld für die Weiterfahrt verdienten, indem sie
andere zum Beispiel zur Prostitution zwangen;362 Bei all diesen Erzählungen wurde nie
geurteilt, denn es gab immer zwei Seiten, nie nur Gut oder nur Böse. Flüchtlinge,
Schlepper, Politiker sowie Zivilbevölkerung hatte wenig Anlass und noch weniger
Gelegenheit zu guten Taten.363
Le derniere caravanseráil war das erste und bislang einzige Dokumentartheater-Stück
des Théâtre du Soleil, da die realen Geschichten weder in einen anderen Kontext
gestellt wurden, noch durch andere Mittel, außer den fahrbaren Bühnenelementen,
verfremdet wurden. Jedoch gab es immer wieder Szenen, die über die Realität hinaus
bis ins Absurde getrieben wurden.364
Nach der Premiere tourte das Stück nach Rom, Avignon, Quimper (Theater Cornwall),
Bochum (Ruhrtriennale), Lyon (Célestins Theater), Berlin (Theater Arena), New York
(Lincoln Center), Melbourne und Athen. Diese Tour zog sich insgesamt über zwei
Jahre. Alles in allem erreichte Le derniere caravanseráil 185.000 Zuschauer. 2006
entstand ein Film von Le dernière caravanseráil, der in der Cartoucherie aufgezeichnet
wurde.365
!
2005 sollte Mnouchkine den mit 25.000 € verbundenen Goethe-Preis der Alfred Toepfer
Stiftung für ihr Lebenswerk erhalten, wies diese Ehrung aber zurück. Sie begründete die
Zurückweisung damit, dass Toepfer Kulturpolitik des Dritten Reichs gefördert und
mitfinanziert habe.366
362
vgl. Weltzel: Online.
363
ebd.
364
vgl. Wilink 2004: 34.
365
vgl. Théâtre du Soleil, Online: http://www.theatre-du-soleil.fr/thsol/nos-spectacles-et-nos-films/nosspectacles/le-dernier-caravanserail-2003/?lang=fr Zugriff: 1.7.2016
Mnouchkine, Ariane/Théâtre du Soleil: Le Derniere Caravansérail (Odyssee). Coproduction Théâtre du
Soleil, ARTE France, Bel Air Media 2006.
366
!
vgl. Theater Heute 2006/5: „Notizen“. Berlin: Friedrich GmbH, 68.
!
!81
c.) Les Ephémère nach einem Vorschlag von Ariane Mnouchkine
!
Das Stück Les Ephémère (Die Eintagsfliegen), welches im Dezember 2006 in der
Cartoucherie Premiere feierte, wurde wieder ohne Textvorlage aufgrund eines
Vorschlags von Mnouchkine erarbeitet.367 Es sollte vom Alltag erzählen und basierte auf
unterschiedlichsten Lebensumständen und -momenten, die die Schauspieler in der
mehrmonatigen Probenzeit368 entwickelten.369 Wieder hatte das Stück keinen
Handlungsstrang, sondern setzte sich aus unterschiedlichen, kurzen Szenen zusammen.
Wieder war die Bühne leer und wieder wurden die vielen Spielorte auf rollbaren
Flächen hereingeschoben, nun aber nicht (wie in Le derniere caravanseráil) schnell und
akrobatisch, sondern ganz langsam, bedacht und vorsichtig.370 Außerdem wurden diese
kleinen, sehr detailliert gestalteten Bühnen während der ganzen Szenen händisch
gedreht.371 Die Spielweise der Schauspieler war nun - noch mehr als in Le dernière
caravanseráil - auf leise, echte und naturalistische Töne fokussiert. Beinahe filmisch
waren die Szenen aufgebaut, an die ehemals große und theatrale Gestik (wie etwa Les
Atrides oder dem Shakespeare-Zyklus) erinnerte nichts mehr.372 Die einzigen
verfremdenden Faktoren waren die drehenden Bühnen und die sich geschmeidig
bewegenden Bühnenhelfer.373
Die Zuseher saßen auf zwei sich gegenüberstehenden Tribünen und konnten sich somit
gegenseitig in die Augen sehen. Zwischen den beiden Tribünen war die Spielfläche.374
367
vgl. Théâtre du Soleil, Online: http://www.theatre-du-soleil.fr/thsol/nos-spectacles-et-nos-films/nosspectacles/les-ephemeres-2006,227/?lang=fr Zugriff: 4.7.2016
368
Die Premiere musste um mehrere Wochen verschoben werden.
369
vgl. Hahn, Thomas (2007) „‚Les Ephémères‘ sind sechs Stunden Glück. Ariane Mnouchkines
Theatertruppe begibt sich in ihrem neuen Stück im Pariser Théâtre du Soleil auf historische
Erkundungsfahrt.“, in: Die Welt 13/01/07. Online: http://www.welt.de/kultur/theater/article708469/LesEphemeres-sind-sechs-Stunden-Glueck.html Zugriff: 4.7.2016
370
ebd.
371
vgl. Heidegger, Gerald „Das 20. Jahrhundert als Interieur.“ ORF.at: http://newsv1.orf.at/
080430-24555/ Zugriff: 4.7.2016
372
ebd.
373
ebd.
374
vgl. Hahn 2007: Online.
!
!
!82
Das Stück setzte sich aus zwei dreistündigen Teilen zusammen, die entweder an zwei
aufeinanderfolgenden Abenden gespielt wurden, oder am Wochenende in Einem.375
Erinnerungen an Eltern und Großeltern sowohl von Mnouchkine, als auch von älteren
Mitgliedern der Truppe, dienten als Ausgangspunkt für die Szenen. Thema war
einerseits die Besetzung Frankreichs durch die Nationalsozialisten, andererseits
Episoden aus dem damaligen Alltag.376 Figuren waren in einzelnen Szenen zu sehen, die
teilweise abgeschlossene Geschichten waren, teilweise tauchten sie in späteren Szenen
wieder auf, beispielsweise zuerst als Kinder mit Großeltern und in einer späteren Szene
als Erwachsene mit eigenen Problemen.377 Ein durchgängiges Mittel war das Telefon,
das immer wieder - ähnlich wie der Boten einer antiken Tragödie - auftauchte. Das
Telefon brachte in einer Vielzahl der Szenen einen Wendepunkt im dargestellten
Leben.378 Zusätzlich zu den Mitgliedern der Truppe spielten auch Kinder
unterschiedliche Rollen.379
Mnouchkine hatte in diesem Stück mit großen Erzählungen abgeschlossen und widmete
sich ihrer eigenen Vergangenheit.380 Sie hatte sich entschieden, für dieses Stück einen
völlig anderen Weg einzuschlagen, um Geschichte darzustellen: mit Intimität und
Direktheit.381 Sie stellte die Frage nach einzelnen Schicksalen. Genauer, die Frage,
wann eine individuelle Erfahrung zu einer Aussage über kollektive Erfahrungen wird,
bzw. wann ein Einzelner für sich steht und wann er zu einem Teil einer historischen,
geschichtlichen Begebenheit wird.382 Beantwortet wurde diese Frage nicht direkt. Im
375
vgl. Isherwood, Chrales (2009) „Everyday Intimacies, and the Intensity of a Ringing Phone“, in: The
New York Times 9/7/09. Online: http://www.nytimes.com/2009/07/10/theater/reviews/10ephemeres.html?
_r=0 Zugriff: 4.7.2016
376
vgl. Hahn 2007: Online.
377
vgl. Isherwood 2009: Online.
378
vgl. Hahn 2007: Online.
379
ebd.
380
Eine der Hauptfiguren, Jeanne, die sich auf die Suche nach ihren Vorfahren machte und erfuhr, dass
ihre Großeltern nach Auschwitz deportiert wurden, erinnerte sehr stark an Mnouchkines persönliche
Vergangenheit. (Information aus einem Dokumentationsgespräch in Wien am 22.5.2016 mit Andreas
Simma, einem langjährigen Mitglied des Théâtre du Soleil.)
381
vgl. Heidegger: Online.
382
ebd.
!
!
!83
Vergleich zu Mnouchkines Anfängen allerdings - als sie beispielsweise 1798 inszenierte
und das Publikum sehr direkt und eindeutig über ein Stück Geschichte aufklärte versuchte sie in Les Ephémères durch ganz individuelles, persönliches Theater die
Zuseher zum Nachdenken zu bringen.
Das Stück wurde in der Kritik sehr gut aufgenommen und tourte nach der Premiere
nach Quimper, Athen (Festival d’Athènes), Avignon, Argentinien (Festival de Buenos
Aires), Brasilien (Festival Poa em Cena, Porto Alegre und Sao Paulo), Taipeh, Wiener
Festwochen, Saint-Etienne und New York (Lincoln Center Festival).383 2008 wurde das
Stück gefilmt und unter anderem im Fernsehsender Arte ausgestrahlt.384
2009 gewann Mnouchkine als erste und bisher einzige Frau den Internationalen IbsenPreis, der alle zwei Jahre von der norwegischen Regierung vergeben wird. Der Preis, im
Wert von rund 300.000 €, soll eine Person, Institution oder Organisation ehren, die dem
Theater neue künstlerische Dimensionen eröffnet hat.385 Unter anderen zählen Peter
Brook, Peter Handke und seit 2016 die Gruppe forced entertainment zu den
Gewinnern.386
!
d.) Les nauphragés du fol espoir
!
Fast das gesamte Preisgeld floss in die nächste Produktion: Les nauphragés du fol
espoir (Die Schiffbrüchigen der verrückten Hoffnung).387 Die Romanvorlage von Jules
Verne Die Schiffbrüchigen der Jonathan diente als Grundlage. Hélène Cixous wurde
383
vgl. Théâtre du Soleil, Online: http://www.theatre-du-soleil.fr/thsol/nos-spectacles-et-nos-films/nosspectacles/les-ephemeres-2006,227/?lang=fr Zugriff: 4.7.2016
384
ebd.
385
vgl. The international Ibsen Award, Online: http://www.internationalibsenaward.com/about Zugriff:
5.7.2016
„The International Ibsen Award honours an individual, institution or organization that has brought new
artistic dimensions to the world of drama or theater.“ (ebd.).
386
ebd.
387
vgl. Gibbons, Fiachra (2010) „Les Naufragés du Fol espoir. Cartoucherie, Paris.“, in: TheGuardian
9/3/2010. London: Guardian News & Media Ltd. Online: https://www.theguardian.com/stage/2010/mar/
09/les-naufrages-du-fol-espoir Zugriff: 5.7.2016
!
!
!84
wieder zur Bearbeitung der Texte hinzugezogen.388 Das Stück war in drei
Handlungsebenen aufgeteilt. Zunächst gab es eine Studentin, die ihre Dissertation
schrieb und dafür altes Filmmaterial von ihrer Großmutter suchte. Diese Ebene fand in
der Jetzt-Zeit statt.389
Die zweite Ebene spielte kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs im Jahr 1914. Die
Großmutter der Studentin beschloss mit einer bunt zusammengewürfelten Gruppe in
einer Tanzkneipe (Guinguette) den Roman von Jules Vernes Die Schiffbrüchigen der
Jonathan als Stummfilm zu drehen.390 Da der Ausbruch des ersten Weltkriegs
unmittelbar bevorstand, wirkten verschiedene Provokationen, Hoffnungen und Ängste
auf die Gruppe ein, was dazu führte, dass sich Szenen verselbstständigten und die
Fertigstellung des Film immer schwieriger wurde.391
Die dritte Ebene war der Inhalt des gedrehten Films: Der Roman von Jules Verne
handelt davon, dass sich nach einem Schiffsunglück die meisten Passagiere auf eine
patagonische Insel retten können. Sie haben dort als Inselbewohner die Möglichkeit,
eine neue, freie, gerechte, friedliche und glückliche Gesellschaft aufzubauen, was
jedoch eine Utopie bleibt und nach unterschiedlichen Versuchen scheitert.392 Das Stück
von Mnouchkine endete damit, dass die Überlebenden der ‚Jonathan‘ einen Leuchtturm
bauten, damit sich künftige Schiffe durch das Licht besser zurechtfinden würden.393
Damit wurde die Botschaft gesetzt: Das Theater kann Licht in die Krisen und Kriege
der Gesellschaft bringen.394
388
vgl. Théâtre du Soleil, Online: http://www.theatre-du-soleil.fr/thsol/nos-spectacles-et-nos-films/nosspectacles/les-naufrages-du-fol-espoir-2010/?lang=fr Zugriff: 5.7.2016
389
vgl. Klaeui, Andreas (2010) „Schmetterlingskunde. Man muss auch mal schwärmen dürfen: über Paris
im Sommer mit Isabelle Huppert in Krysztof Warlikowskis Williams-Inszenierung ‚Endstation
Sehnsucht‘ und Ariane Mnouchkines neuestes Zauberstück ‚Les Naufragés du Fol Espoir‘, in: Theater
Heute 2010/07. Berlin: Friedrich GmbH, 41.
390
ebd.
391
ebd.
392
Projekt Gutenberg: Die Schiffbrüchigen der Jonathan von Jules Verne. Online: http://
gutenberg.spiegel.de/buch/-8966/1 Zugriff: 5.7.2016
393
vgl. Klaeui 2010: 41.
394
vgl. Wetzel, Johannes (2010) „Bei Ariane Mnouchkine macht sogar ein Schiffbruch Hoffnung. In Paris
zeigt sie ‚Les Naufragés du Fol Espoir’“, in: Die Welt 22/2/10. Berlin: WeltN24 GmbH. http://
www.welt.de/kultur/theater/article6499294/Bei-Ariane-Mnouchkine-macht-sogar-ein-SchiffbruchHoffnung.html Zugriff: 5.7.2016
!
!
!85
Die Dreharbeiten fanden für das Publikum gut sichtbar statt, alles wurde händisch
erzeugt. Der Sturm wurde etwa dadurch hergestellt, dass sich ein Statist unter die Röcke
der Darsteller schlich und sie flattern ließ, der Ozean wurde durch ein
überdimensionales Leintuch gezeigt.395 Mnouchkine wollte durch diese Einfachheit der
Mittel die Phantasie der Zuseher anregen.396 Das Auf- und Abbauen verschiedener
Kulissen, sowie die Bedienung der Kamera wurde mit großer Geschwindigkeit
durchgeführt, denn die Zeit drängte, man spürte den Ausbruch des Krieges. Thomas
Hahn schrieb in einer Besprechung des Stücks in der Zeitschrift Tanz: „Temporeicher ist
keine Tanzinszenierung.“397 Um den Eindruck eines Stummfilms zu erzeugen, wurden
die Stummfilm-Szenen untertitelt, die Stimmen der Darsteller hörte man nur außerhalb
der ‚Drehzeiten’.398
Das Stück stieß auf unterschiedliche Kritiken, großteils wurde es aber positiv
aufgenommen.399 Wolfgang Kralicek kritisierte in einem Artikel der Zeitschrift Theater
Heute jedoch die banale Botschaft, die unfreiwillig komischen Dialoge und den
ausgestellten Spielgestus des Stummfilms, welchen die Schauspieler seiner Meinung
nach auch nach Drehschluss „fatalerweise“ nicht ablegten.400 Auffallend ist hier jedoch,
dass Kralicek in seiner Kritik über diverse Stücke der Wiener Festwochen vorwiegend
negative Aspekte hervorhob und den, für ihn, gelungenen Momenten weniger Platz
einräumte. Andreas Klaeui lobte in einem Artikel der Nachtkritik die Spielfreude und
395
vgl. vgl. Hahn, Thomas (2010) „Ariane Mnouchkine ‚Les Nauphragés…‘“, in: Tanz 2010/05. Berlin:
Friedrich GmbH, 46. Online: http://www.kultiversum.de/Tanz/Ariane-Mnouchkine-Les-NaufragesParis.html Zugriff: 5.7.2016
396
vgl. Wetzel 2010: Online.
397
Hahn 2010: Online.
398
ebd.
399
vgl. Hahn 2010: Online.; Klaeui 2010: 41.; Gibbons 2010: Online.;
400
vgl. Kralicek, Wolfgang (2012) „Von indischen Elefanten und armen Hunden. Wiener Festwochen
2012: Inszenierungen von Christoph Martaer und Kornél Mundruczó, das erste Stück von Paulus
Hochgatterer, Star-Theater und eine Überraschung aus Australien.“, in: Theater heute 2012/8-9. Berlin:
Friedrich GmbH, 13.
!
!
!86
szenische Phantasie. „Es ist eine Hommage an die Kinematografie, den Zauber der
bewegten und bewegenden Bilder.“401
Les nauphragés du fol espoir wurde insgesamt über 300 Mal gespielt und tourte um die
halbe Welt, u.a. nach Lyon, Nantes, Athen, São Paulo, Rio de Janeiro, Wien, Edinburgh
und Taipeh.402
!
e.) Macbeth von William Shakespeare
!
Bevor Mnouchkine mit den Proben zu einem neuen Stück anfing, erhielt sie 2011 die
Goethe Medaille, welche jedes Jahr vom deutschen Goethe-Institut vergeben wird. Die
Medaille zeichnet Persönlichkeiten aus den Bereichen Wissenschaft, Kunst und Kultur
aus, die sich in besonderer Weise um die Vermittlung der deutschen Sprache sowie den
internationalen Kulturaustausch verdient gemacht haben.403 Diese Ehrung hatte
einerseits damit zu tun, dass Mnouchkine mit zahlreichen Inszenierungen zu Gast in
Deutschland war, andererseits sollte Mnouchkines politisches Engagement außerhalb
des Theaters geehrt werden.404
!
Zum 50. Geburtstags des Théâtre du Soleil kehrte Mnouchkine 2014 zu William
Shakespeare zurück und inszenierte Macbeth. Wieder übersetzte Mnouchkine den Text
selbst, um etwaigen Abweichungen aufgrund der Übersetzung zu entgehen.405
Diesmal setzte Mnouchkine das Stück vollkommen in die Jetzt-Zeit. Von orientalischen
Formen wie im Shakespeare-Zyklus vor etwa 30 Jahren war 2014 nichts mehr zu
spüren. Die Hexen hatten Notebooks und Macbeth bekam die Prophezeiung direkt
401
Klaeui, Andreas (2010) „Gefahren! Liebe! Hoffnung! Les Naufragés du Fol Espoir (Aurores) – Ariane
Mnouchkine verzaubert in Paris eine Robinsonade.“, auf: Nachtkritik. Online: http://www.nachtkritik.de/
index.php?option=com_content&view=article&id=3960&Itemid=40 Zugriff: 5.7.2016
402
vgl. Théâtre du Soleil, Online: http://www.theatre-du-soleil.fr/thsol/nos-spectacles-et-nos-films/nosspectacles/les-naufrages-du-fol-espoir-2010/?lang=fr Zugriff: 5.7.2016
403
vgl. Goethe Institut, Online: https://www.goethe.de/de/uun/ver/gme.html Zugriff: 6.7.2016
404
ebd.: https://www.goethe.de/de/uun/ver/gme/prt/20400649.html Zugriff: 6.7.2016
405
vgl. Billington, Michael (2014) „Macbeth review – Ariane Mnouchkine’s modern-dress marathon.“,
in: The Guardian 30/11/2014. London: Guardian News & Media Ltd. Online: https://
www.theguardian.com/stage/2014/nov/30/macbeth-review-cartoucherie-paris-black-tie-bunker Zugriff:
6.7.2016
!
!
!87
online zugeschickt.406 Das Haus der Macbeths war mit Barwagen, Ledergarnitur und
Fernseher ausgestattet, Lady Macbeth trat mit Bluse und Designer-Jeans auf. Neue
Kommunikation und Medien spielten eine große Rolle. So erwartete etwa ein ganzes
Fernsehteam die Rückkehr Macbeths aus der Schlacht, um ein Interview zu ergattern.
Auch die Morde Macbeths im Hause Macduff wurden von einem Fotographen begleitet
und so für die Nachwelt festgehalten.407 Kostüme und Bühne waren in der Gegenwart
angesiedelt, die Spielweise der Schauspieler war dennoch von großen Gefühlen
durchdrungen. Die Schauspieler spielten Shakespeare mit einer kompromisslosen
Ernsthaftigkeit, sodass die Gefahr gebannt war, ins Banale abzurutschen.408 Kein
Moment wurde übergangen, sondern jede kleinste Wendung von den Schauspielern und
dadurch auch vom Publikum mit Staunen wahrgenommen.409 Aus den Berichten und
Kritiken über dieses Stück ist es schwer herauszulesen, was diese Inszenierung
besonders auszeichnete. Viele positive Kommentare lobten das Spiel der Schauspieler,
hielten sich jedoch bei der Beschreibung dieser Inszenierung zurück.
Macbeth wurde nur in der Cartoucherie gespielt und erreichte knapp 82.000 Zuseher.
Die letzten Aufführungen fanden im Dezember 2015 statt.410
!
Macbeth ist das bislang letzte Stück Mnouchkines und des Théâtre du Soleil. Seit
kurzem ist allerdings schon der Termin der nächsten Premiere festgelegt: der 12.
Oktober 2016.411 Folgender Artikel auf der Homepage des Théâtre du Soleil bietet
darüber genauere Auskunft:
406
vgl. Klaeui, Andreas (2014) „Hingetuschte Möglichkeiten. Seit 50 Jahren praktiziert Ariane
Mnoukines Théâtre du Soleil den naiven Kinderblick – jetzt auch auf Shakespeares ‚Macbeth‘“, in:
Theater Heute 2014/7. Berlin: Friedlich GmbH, 22. Online: http://www.kultiversum.de/Theaterheute/
Ausland-Ariane-Mnouchkine-Macbeth.html Zugriff: 6.7.2016
407
vgl. Stadelmaier, Gerhard (2014) „Mord ist Sport im Tal des Staunens. Zwei große, alte WelttheaterGenies unternehmen in Paris tolle Reisen ins Gehirn: Ariane Mnouchkine mit Shakespeares ‚Macbeth‘,
Peter Brook mit seinem „Valley of Astonishment“, in: Frankfurter Allgemeine 08/05/14. Frankfurt:
Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH. Online: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-undkonzert/theater-in-paris-mord-ist-sport-im-tal-des-staunens-12929988.html Zugriff: 6.7.2016
408
ebd.
409
ebd.
410
vgl. Théâtre du Soleil, Online: http://www.theatre-du-soleil.fr/thsol/nos-spectacles-et-nos-films/nosspectacles/macbeth-2014/ Zugriff: 6.7.2016.
411
!
vgl. Théâtre du Soleil, Online.
!
!88
!
Paris, den 22. Mai 2016
Berechtigte Neugier
!– Wie weit seid ihr denn nun?
– Wir? Wir sind in Indien.
– Immer noch? Aber nach euren letzten Nachrichten kamt ihr gerade daher zurück.
– Ja. Wir sind zurückgekommen, das stimmt. Aber wir haben Indien mitgebracht.
– Dann wird es noch einmal ein Stück über Indien geben?
– Es wird nicht über Indien sein, aber es wird in Indien spielen. In einem Zimmer in Indien. Das
wird übrigens der Titel des Stücks sein.
– Das? Das heißt? Was spielt denn in Indien, was nicht Indien ist?
– Visionen, Träume, Alpträume, Heimsuchungen, Paniken, Zweifel, Offenbarungen. Alles, was
die Schauspieler und Techniker einer armen Theatertruppe heimsucht, die verzweifelt auf der
Suche nach einem entschlossen zeitgenössischen und politischen Theater ist und dort durch
Ereignisse blockiert wird, die sie übersteigen und erschüttern, so wie sie uns übersteigen, auch
uns, und uns erschüttern, ohne dass wir bisher die Art und Weise fänden, wie wir ihnen ins Auge
sehen könnten, wie wir sie ertragen, ohne zu resignieren oder durch unsere Worte oder Taten
zum Übel noch Übles hinzufügen.
– Und weiter?
– Das ist im Augenblick alles. Und das ist schon gar nicht schlecht. Ach, eins vergaßen wir!
Wenn die Götter des Theaters so wollen, dann ist es am 12. Oktober 2016.
!Le Théâtre du Soleil
!
!
!
412
7. Die Arbeit mit dem Schauspieler
!
Im Laufe der Jahre hat Mnouchkine neben ihrem ganz eigenen Regiestil einen ganz
eigenen Stil in der Arbeit mit den Schauspielern entwickelt. Ihre Ausbildung hatte sie
bei Jaques Lecoq genossen, dessen Schauspielschule sie ein Jahr besucht hatte. Vieles
davon ist in Mnouchkines Arbeit mit den Schauspielern eingeflossen. Bevor darauf
näher eingegangen wird, bedarf es einer Erläuterung der Lecoq-Schule, ihrer Ursprünge
und Arbeitsweisen. Der zweite große Einfluss waren die asiatischen Theaterformen, die
zum Teil auch in der Lecoq-Schule auftauchen, die sich Mnouchkine jedoch von
unterschiedlichen Lehrern und auf ihren Reisen durch Asien aneignete.413
In einem Interview in der Zeitschrift Theater Heute aus dem Jahr 1984 meinte
Mnouchkine in Bezug auf die Frage, ob sie Artaud gelesen habe: „Nein, […] Ich will,
412
Théâtre du Soleil, Online.
413
Eine kurze Beschreibung dieser Theaterformen wurde in Zusammenhang mit dem ShakespeareZyklus in Kapitel 5.a. versucht.
!
!
!89
was ich finde, selbst finden.“414 Diese Aussage bestätigt sich durch den Blick auf
Mnouchkines Werdegang. Die von ihr geprägten Arbeitsmethoden haben ihre
Ursprünge in unterschiedlichen Entwicklungen der französischen Schauspieltradition.
Auf die Ursprünge und deren Einflüsse auf das Théâtre du Soleil soll nun näher
eingegangen werden.
!
a.) Copeau - Lecoq - Mnouchkine
!
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschte auf den Bühnen in Frankreich - wie auch in
anderen Ländern - die Spätepoche des Naturalismus. Das bedeutete einen möglichst
realistischen Stil im Spiel der Schauspieler und einen enormen Aufwand an Kulissen,
Bühnenbild und Requisiten.415 Der Zuschauer sollte unterhalten werden, der Phantasie
wurde wenig überlassen.416 Dies als Auslöser veranlasste eine neue Forderung an das
Theater, besonders an die Schauspielkunst: Ein Schauspieler sollte nicht mehr nur
Nachahmer und Interpret, sondern selbst Künstler sein. Er sollte - wie in anderen
Kunstrichtungen auch - Techniken beherrschen, um unterschiedliche Formen des
schauspielerischen Ausdrucks zu ermöglichen. Weiters sollte er die Fähigkeit haben,
dies im eigenschöpferischen Sinne zu erarbeiten. Diese Forderung führte dazu, dass der
Ausbildung zum Schauspieler - besonders die Entfaltung der körperlichen
Ausdrucksformen - mehr und mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde.417
Drei Namen sind im Hinblick auf die Suche nach neuen körperlichen Ausdrucksformen
besonders hervorzuheben: Emile Jaques-Dalcroze und seine ‚Rhythmisch-musikalische
Gymnastik‘, Edward Gordon Craig, der in Florenz die ‚Arena Goldoni‘ gründete, eine
414
vgl. v. Becker, Peter (1984) „Die Theaterreise zu Shakespeare: Aufbruch in das ferne, fremde Land,
das wir selbst sind. Ein Gespräch mit Ariane Mnouchkine nach Abschluss ihres Shakespeare-Zyklus’“, in:
Theater Heute 1984/13. Berlin: Friedrich GmbH, 14.
415
vgl. Matthies, Roland (1996): Wege zu einer neuen Schauspielausbildung - Wege zu einem neuen
Theater?. Von der Schule des Vieux Colombier zu den Schulen von Etienne Decroux und Jaques Lecoq.
Frankfurt am Main: Haag und Herchen, 24.
416
ebd.
417
ebd.: 9f.
!
!
!90
Forschungs- und Ausbildungsstätte des Theaters, und der Russe Meyerhold und seine
Biomechanik.418
Einen wichtigen Einschnitt in der Entwicklung des französischen Theaters brachte
Jacques Copeau. Mitte der 1920er Jahre wurde Copeau Leiter der Reformbühne Théâtre
de Vieux-Colombier. Die an dieses Theater angeschlossene Schule war der erste Schritt
zu einer methodischen Schauspielschulung.419
1909 wurde Copeau am Théâtre des arts unter der Leitung von Jacques Rouché
engagiert. Rouché, nach einer langen Reise durch Europa von den verschiedenen
Eindrücken angeregt, entwickelte am Théâtre des arts einen eigenen, fortschrittlichen
Regiestil: Er setzte einerseits auf leise, verinnerlichte Ausdrucksmittel und verband dies
andererseits mit einem hohen Maß an Stilisierung.420 Zusätzlich arbeitete er mit Malern
zusammen, mit denen er für damalige Zeit ungewöhnlich bildnerische Elemente in seine
Inszenierungen einbaute. Weiters schrieb er das Buch L’art théatrale moderne, in
welchem er Tendenzen und Entwicklungen des europäischen Theaters und praktische
Anleitungen zu verschiedenen Theatermethoden beschrieb. Dieses Buch bildete den
Ursprung der systematisch ausgearbeiteten Schauspielkunst und Bühnenästhetik
Copeaus.421
Nach drei Jahren am Théâtre des arts gründete Copeau seine eigene Theatertruppe und
veröffentlichte in der Nouvelle Revue Française den ausschlaggebenden Artikel ‚Un
essai de rénovation dramatique‘, in dem er seine künstlerischen Vorstellung maßgeblich beeinflusst von Rouché - beschrieb.422 Dieser Essay richtete sich gegen die
Kommerzialisierung der Bühnenkunst und die damit verbundene inhaltliche
Verflachung, und gegen das Übergewicht bühnentechnischer Elemente.423 Seine Vision
war ein ‚Théâtre pur‘, welches aus Elementen des Improvisationstheaters, der
418
ebd.: 10f., 22.
419
ebd.: 11.; vgl. Brauneck, Manfred (2003): Die Welt als Bühne. Vierter Band. Stuttgart/Weimar: Verlag
J.B. Metzler, 9.
420
vgl. Brauneck 2003: 17.
421
ebd.
422
ebd.: 18.
423
ebd.: 19f.
!
!
!91
Commedia dell’arte, des Mimus und der dramatischen Dichtung bestehen und mit
einfachsten Bühnenmittel aufgeführt werden sollte.424 Sein Ziel war es den ganzen
Menschen in seinem Leben darzustellen.425 Zusätzlich betrachtete Copeau das
Zusammenwirken von Autor, Bühnenkünstler und Publikum als ‚Gemeinschaft
Gleichgesinnter’.426 In seiner ersten Spielzeit als Leiter des Théâtre Vieux-Colombier
erreichte er mit dem Stück Was ihr Wollt von Shakespeare große Erfolge und wurde
vom Pariser Publikum enthusiastisch gefeiert. 427
In der Schule des Vieux-Colombier, die 1921 ihre Tore öffnete, unterrichtete Copeau
neben dem Schauspiel- und Körperunterricht auch ein fundiertes kulturelles
Hintergrundwissen.428
Im Schauspielunterricht - im Hinblick auf einen natürlichen Ausdruck im Spiel verwendete Copeau zwei Vorbilder: einen Handwerker, der bei jedem Schritt in seiner
Arbeit immer genau weiß, was er erreichen will und somit jede Bewegungen gezielt und
ökonomisch ausführt und ein Kind im Spiel. Den kindlichen Spieltrieb wieder zu
entdecken und von dort ausgehend Haltepunkte und Ausdrucksmittel zur Ermunterung
der Phantasie zu finden, sollte einer der Punkte in seiner Ausbildung sein.429 Doch
zuerst musste der Schüler Herr über seinen Körper werden, was, neben den GymnastikÜbungen von Dalcroze, durch die neutrale Maske erreicht werden sollte.430 Jeden
Morgen mussten die Schüler Übungen mit der neutralen Maske praktizieren,431 durch
welche sie vor allem die Stille im Spiel entdecken sollten.432 Der nächste Punkt waren
424
ebd.
425
M. Brauneck 1082: 62, zit nach Brauneck 2003: 20.
426
Brauneck 2003: 22.
427
ebd.: 19.
428
vgl. Matthies 1996: 36.
Neben Theatergeschichte von ihren Anfängen bis Stanislawski, gingen die Schüler auch oft gemeinsam
ins Theater, in Museen und zu Konzerten (vgl. Matthies 1996: 38).
429
vgl. Matthies 1996: 34f.
430 Auf
die neutralen Maske und ihre Bedeutung wird später noch genauer eingegangen.
431
Die Masken stellten die Schüler mit Hilfe eines Bildhauers selber her (vgl. Matthies 1996: 36).
432
ebd.: 36.
!
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!92
die antiken Mythen, die zunächst theoretisch bearbeitet und dann gemimt wurden.
Durch das Mimen bestimmter Figuren der antiken Mythen entstand die Überleitung zu
einem Spiel im Sinne der Commedia dell’arte.433 Copeau versuchte durch den
Rückbezug auf die alte italienische Form der Commedia (mit ihren typisierten Figuren)
neue, feste Typen zu erfinden und durch diese neuerlich eine Spiegelung der Gegenwart
zu erreichen.434
Diese erste Belebung der alten italienischen Commedia ermöglichte die Entstehung der
‚création collective‘ nach 1968. Die Commedia wurde insofern zum Vorbild der
‚création collective‘, als sie
sich in der Umsetzung nicht nur auf einen Autor oder
Regisseur stützt, sondern durch gemeinschaftliches Improvisieren und vor allem durch
die Bedeutung des körpersprachlichen Spiels, den Schauspieler in den Schaffensprozess
direkt miteinbezieht.435 Für die Revolutionäre der Theaterbewegung nach 1968 waren in
dieser Theaterpraxis ideale Proben- und Produktionsstrukturen verwirklicht.436
Das Bedürfnis Copeaus in den 1920er Jahren, das Theater aus der naturalistischpsychologischen ‚Sackgasse‘ herauszuführen und deshalb auf die italienische
Commedia zurückzukommen, hatte also kulturrevolutionäre Möglichkeiten eröffnet, auf
die auch Mnouchkine stieß. Mnouchkine und das Théâtre du Soleil wurden in der
Vorbereitung zu L’Age D’or auf Copeau aufmerksam. Nach der gemeinsamen Lektüre
fand die Truppe in den Schriften Copeaus Bestätigung für den eigeschlagenen Weg, aus
der alten Praxis der Commedia Erneuerungen für das zeitgenössische Theater zu
finden.437
Copeau gab 1924 die Leitung des Vieux-Colombier ab und zog sich mit einer kleinen
Gruppe von Schauspielern in seinen Geburtsort Marteuil im Burgund zurück, um dort,
in Einfachheit und asketischer Strenge, seine Bemühungen für eine neues Theater
433
ebd.: 37.
434
vgl. Neuschäfer 1983: 166.
435
ebd.: 168.
436
ebd.
437
vgl Neuschäfer 1983: 165.
Das Stück L’Age D’or war sehr stark an die Commedia dell’arte angelehnt. (vgl. Kapitel 4.d.)
!
!
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fortzusetzen.438 Die ‚Copiaux‘, wie die Truppe von Einheimischen genannt wurde,
führten einerseits den Unterricht fort und spielten andererseits auf Marktplätzen und zu
Festen eine Vielzahl kleiner Stücke. Dies war wiederum ein erster großer Schritt in
Richtung Volkstheater, der die Volkstheaterbewegung des zwanzigsten Jahrhunderts
einleitete.439
Aus der Schule Copeaus kamen einige wichtige Bühnenkünstler hervor, die das
französische Theater nachhaltig beeinflussen sollten. Vier Persönlichkeiten - Charles
Dullin (Schauspieler, Schauspiellehrer, Theaterleiter und Regisseur), Louis Jouvet
(Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter), Gaston Baty (Autor und Produzent) und
Georges Pitoëff (Regisseur und Produzent) - gründeten 1927 das Cartel des quatres.
Ziel dieser Union war es, die Forderungen des Vieux-Colombier insofern
weiterzuführen, als sie sich konsequent für eine Humanisierung im Theaterbetrieb
einsetzten und die Erneuerung der Schauspielkunst im Sinne von Copeau forderten.440
Etienne Decroux, der ein Jahr an der Schule des Vieux-Colombier lernte, entwickelte
neben Lecoq die zweite wichtige französische Schauspielschule, nämlich die Schule des
Mime Corporel. Aus dieser Schule wiederum gingen Künstler wie Marcel Marceau, der
durch seinen eigenen Stil der Pantomime weltweiten Erfolg erreichte, Jean-Luis
Barrault, Direktor der Comédie Francaise, und Gründer der Companie Jean-Luis
Barrault - Madeleine Renaud‘, hervor.441
Einer der größten Schauspieler des Vieux-Colombier war Jean Dasté.442
Dasté öffnete nach dem Zweiten Weltkrieg das erste Centre dramatique in der
französischen Provinz. Als er die Gruppe ‚Companie des Comédiens de Grenoble‘
438
vgl. Matthies 1996: 41.; Brauneck 2003: 21.
439
vgl. Matthies 1996: 42f.
440
vgl. Brauneck 2003: 22.; Matthies 1996: 48.
Konkreter beinhalteten die Forderungen des ‚Cartel des quatres‘ die Unabhängigkeit des Theaters von
kommerziellen Interessen, die Öffnung gegenüber Theaterentwicklungen im Ausland, die Freiheit der
Kunst gegenüber der Presse und die Dezentralisierung des französischen Theaterwesens zur Förderung
des Volkstheaters (vgl. Brauneck 2003: 22f).
441
vgl. Matthies 1996: 48f.
442
ebd.: 47.
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gründete, lud er Jaques Lecoq ein, sich ihm anzuschließen. Lecoq spielte drei Jahre
unter Dasté und entwickelte in dieser Zeit die Grundlagen seiner Pädagogik.443
„Durch Dasté entdeckte ich zwei Quellen, die mich sehr stark prägen sollten: das
Maskenspiel und das japanische Noh-Theater.“444, beschrieb Lecoq seinen Werdegang.
Nach drei Jahren verließ er Dasté und ging nach Italien, um an der Universität in Padua
zu unterrichten. Dort stieß er auf die Commedia dell’arte, als er von einem berühmten
Arleccino-Darsteller, Carlo Ludovico, die Grundhaltungen dieser Figur lernte.
Ausgehend von diesen Bewegungen entwickelte die Arleccino-Gymnastik.445 Auf
Einladung von Giorgio Strehler ging Lecoq nach Mailand ans Piccolo Teatro, um dort
eine an das Theater angeschlossene Schule zu gründen. Zusätzlich sollte Lecoq
Choreographien von Chören in unterschiedlichen Inszenierungen übernehmen, was ihn
zur griechischen Tragödie brachte.446
Diese drei Theaterpraktiken - das Maskenspiel, die Commedia dell’arte und die
griechische Tragödie - bildeten die ersten drei Grundsäulen seiner Theaterschule, die am
5.12.1956 in Paris eröffnet wurde. Erst 1962 fügte Lecoq eine vierte grundlegende
Säule hinzu: Die Clowns. Hierbei ging es vor allem um „die Suche nach dem eigenen
Clown“. Diese Suche sollte dem Schauspieler eine große Freiheit geben. Findet der
Schauspieler einen Clown, öffnet ihm das zusätzlich ein weiteres dramatisches Feld.447
Der Unterricht entwickelte sich in den Folgejahren immer weiter, das grundlegende Ziel
Lecoqs blieb jedoch dasselbe:
!
Ein Teil meines Interesses richtet sich auf das Theater, ein anderer auf das Leben. Ich
habe immer versucht, Leute auszubilden, die in beidem gut sind. Vielleicht ist das eine
Utopie, aber ich wünsche mir, dass der Schüler ein Lebendiger im Leben und ein
Künstler auf der Bühne ist.448
443
vgl. Lecoq, Jaques (2012): Der poetische Körper. Eine Lehre vom Theaterschaffen. Berlin: Alexander
Verlag, 17.
444
Lecoq 2012: 17.
445
ebd.: 18f.
446
ebd.: 19.
447
ebd.: 22f.
448
Lecoq 2012: 29.
!
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An der Lecoq-Schule werden bis heute Künstler jeder Art ausgebildet: Autoren,
Regisseure, Schauspieler, Bühnenbildner aber auch Architekten, Erzieher und
Psychologen besuchen den Unterricht.449 Es gibt keine Aufnahmeprüfung sondern eine
Probezeit von einem Trimester. Von den Bewerbern wird Erfahrung erwartet, die sich
nicht nur auf das Theater bezieht, sondern auch eine gewisse Reife der Persönlichkeit
beinhaltet. Schüler unter 23 Jahren werden nur in Ausnahmefällen angenommen.450 Die
zweijährige Ausbildung verfolgt zwei Wege: einerseits die Regeln des Spiels und der
Improvisation, andererseits die Technik und Analyse von Bewegungen. Diese beiden
Punkte sollen in den auto-cours451, in denen die Schüler das Erlernte selbstständig
verarbeiten müssen, verbunden werden.452
Im ersten Jahr beginnen nach einer Reihe von realistischen Improvisationen zum
näheren Kennenlernen die Übungen mit der neutralen Maske. Lecoq bezeichnet die
neutrale Maske selbst als Kernpunkt seiner Pädagogik.453 Es geht darum, durch die
Maske in einen neutralen Zustand zu kommen, der jeder Handlung vorausgeht. „Einen
Zustand der Empfänglichkeit für das, was uns umgibt, frei von innerem Konflikt.“454
Durch die neutrale Maske soll sich in erster Linie die Präsenz des Schauspielers im
Raum erweitern. Sie soll es dem Schauspieler ermöglichen, Dinge anzusehen, zu
berühren, zu hören und zu fühlen, als sei es das erste Mal und somit seine
Empfangsbereitschaft erhöhen. Da das Gesicht unter der Maske verschwindet, wird der
Körper des Schauspielers stärker wahrgenommen. „Die Maske ist sein Blick, der
Körper sein Gesicht.“455 Ziel ist es, den Schauspieler dazu zu bringen, keine erklärenden
449
vgl. Carasso, Jean Gabriel / Lallias, Jean-Claude (2012) „Ein Fixpunkt in Bewegung“, in: Lecoq
(2012): Der poetische Körper. Eine Lehre vom Theaterschaffen. Berlin: Alexander Verlag, 9.
450
vgl. Matthies 1996: 86.
451
Selbstunterricht
452
vgl. Lecoq 2012: 27.
453
ebd.: 55.
454
ebd.
455
ebd.: 58.
!
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oder unnötigen Gesten mehr zu verwenden und aufgesetzte bzw. angelernte
Gewohnheiten abzulegen.456
Zudem wird ein intensives Training des Körpers betrieben, das aus Tanz, Gymnastik,
Pantomime und asiatischen Sportarten besteht. Es soll das Körperbewusstsein, die
Flexibilität und die Reaktionsfähigkeit fördern. Später wird der Unterricht durch
Akrobatik, Jonglieren und Kampfsportarten ergänzt.457
Der zweite Grundpfeiler im Bezug auf die Körper-Ausbildung ist das Fach ‚Analyse der
Bewegung‘. Hierbei geht es darum, Bewegungsabläufe spielerisch zu analysieren.
Inspirationen werden beispielsweise aus Bildern von antiken Vasen geholt (z.B. der
Diskuswerfer, der Speerwerfer). Bewegungsabläufe werden nachgeahmt und in ihre
Einzelheiten zerlegt. Die Dynamik des Körpers soll erforscht und die Möglichkeiten
von Bewegungen erprobt werden.458
Wenn der Unterricht mit der neutralen Maske beendet ist, nimmt die Improvisation den
größten Raum der Ausbildung ein. Es geht um die Entdeckung der Dynamiken der
Natur.459 Um Charaktere und Situationen zu entwickeln, wird mit den Elementen und
Stoffen, Tieren und Pflanzen, Farben, Licht und Worten gearbeitet.460 Hilfsmittel ist
wieder die Maske, nun aber expressive Masken und Charaktermasken bis hin zu
abstrakten Masken. Begleitet wird dieser erste Teil der Ausbildung von Poesie, Malerei
und Musik, indem man Inhalte und Formen dieser Künste auf das Theater überträgt.
Das kann der Rhythmus von Gedichten oder Musik sein, die Farbverteilung von einem
Bild oder die Bewegung einer Statue, die sich in Tanz umwandelt.461
456
vgl. Lecoq 2012: 57f.; Matthies 1996: 86.
Die neutrale Maske, mit der in der Lecoq-Schule gearbeitet wird, ist eine Ledermaske von Amleto
Santori. Sie hat nichts mit den weißen Totenmasken zu tun, die man gewöhnlich bei Umzügen sieht. Es
soll eine Maske der Ruhe sein, ohne bestimmten Ausdruck, in einem Zustand der Ausgeglichenheit.
Weiters soll sie größer als das Gesicht sein und darf nicht am Gesicht kleben, sondern muss mit einer
gewissen Distanz zum Gesicht verwendet werden (vgl. Lecoq 2012: 56f).
457
vgl. Matthies 1996: 86.
458
ebd.: 87f.
459
vgl. Lecoq 2012: 17.
460
vgl. Matthies 1996: 88.
461
ebd.:
!
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Besonders wichtig nun für Mnouchkine waren die wöchentlichen auto-cours, deren
Arbeitsweise sie sehr stark bei der Entwicklung ihrer eigenen Stücke einsetzt.462
Für den Unterricht der auto-cours wird jede Woche ein Thema an die Schüler verteilt,
das in kleinen Gruppen, ohne Hilfe der Lehrer, bearbeitet werden muss und am Ende
der Woche der versammelten Schulde szenisch präsentiert wird. Zur Erarbeitung haben
die Schüler jeden Tag eineinhalb Stunden Zeit. Die Themen sind an die
Improvisationsthemen des Unterrichts gekoppelt. Diese kleinen Etüden werden in
unterschiedlich großen Gruppen vorbereitet und dauern durchschnittlich zwischen fünf
und zwanzig Minuten.463 Ausgewertet und kommentiert wird nur die Struktur des Spiels
und die dramatische Bewegung der Improvisation.464 „Alles muss für das Publikum
lesbar sein.“465 Hinzu kommen im Laufe des ersten Jahres enquêtes466 in
unterschiedlichen Einrichtungen, bei denen die Schüler Material für eine szenische
Darstellung sammeln sollen.467 Gegen Ende des ersten Jahres wird dies in Recherche
umgewandelt. Hierbei müssen die Schüler ein ihnen unbekanntes Arbeitsmilieu wählen.
Dann haben sie vier Wochen Zeit, dieses zu beobachten und sich dort hineinzuleben.
Es geht dabei nicht um Recherche im journalistischen Sinn des Wortes, […] sondern um
die tatsächliche Eingliederung in einen Lebensbereich, mit dem Ziel, am eigenen Leib
zu erfahren, was dort geschieht.468
!
Die Auswahl des Ortes ist groß, manche Schüler gehen beispielsweise in ein
Krankenhaus, andere in eine Feuerwehrkaserne, in ein Altenheim oder in eine
Großküche. Anhand der Erfahrungen, die dort gemacht werden, stellen die Schüler
462
ebd.: 92.
463
Vorgabe hierzu gibt es jedoch keine. Allerdings, schreibt Lecoq, „nach zwanzig Minuten wird es
immer zu lang“ (Lecoq 2012: 132)
464
vgl. Lecoq 2012: 132.
465
ebd.
466
Befragungen
467
vgl. Matthies 1996: 89.
468
Lecoq 2012: 133.
!
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kleine Vorstellungen zusammen, die in einer öffentlichen Veranstaltung am Ende des
Jahres gezeigt werden.469
In den auto-cours steht nicht unmittelbar das Spiel im Mittelpunkt, sondern der Akzent
liegt auf der Regie, der schriftlichen Erarbeitung einer Szene und der EnsembleFähigkeit. Oft kommt es, gerade zu Beginn des ersten Jahres, wenn sich die Schüler
noch nicht gut kennen, zu Spannungen und Krisen, die jedoch laut Lecoq Kreativität in
Gang bringen und Ensemble-Erfahrung vermitteln.470
Den Abschluss des ersten Jahres bilden die realisierten Recherchen und eine TechnikPrüfung, bei der die Abfolge von zwanzig Bewegungen geprüft wird. Danach wird
ungefähr ein Drittel der Schüler für das zweite Jahr ausgewählt.471
Das zweite Jahr ist insofern andersartig, als es nicht die logische Fortsetzung des ersten
Jahres beinhaltet, sondern einen qualitativen Sprung in eine andere Dimension birgt.472
Das einzige Ziel ist: „die dramatische Kreation“.473 Dies basiert, wie schon beschrieben,
nunmehr auf fünf Hauptbereichen: das Melodrama (die großen Gefühle), die Commedia
dell’arte (die großen Betrügereien der menschlichen Natur), die Bouffons (Mysterium,
Groteske und das Phantastische), die Tragödie (der Chor und der Held, das
Gleichgewicht der Bühne, die Notwendigkeit der Texte) und der Clown (die Suche nach
dem eigenen Clown, das Burleske, Absurde und die komischen Varietés).474
Dramatische Texte werden hinzu genommen.475 Sogenannte commandes476 schließen
das zweite Jahr ab, die, ähnlich wie die Recherche im ersten Jahr, selbstständig
469
vgl. Matthies 1996: 89.; Lecoq 2012: 133.
470
vgl. Lecoq 2012: 133.
471
ebd.: 29, 137.
472
ebd.: 137.
473
ebd.: 138.
474
Die Commedia dell’arte und die griechische Tragödie bilden den Schwerpunkt.
475
vgl. Lecoq 2012: 137.
476 Aufträge
!
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erarbeitet werden, wobei hier die Möglichkeit besteht, Mitschüler als Mitwirkende zu
beauftragen. Die Themen und Aufgaben sind individuell unterschiedlich.477
!
Das Theaterverständnis von Lecoq hat immer mit einer Überhöhung der Wirklichkeit zu
tun. Das psychologische Theater nach Stanislawski grenzt er von seiner Ausbildung
großteils aus. Es begrenzt für ihn den Schauspieler in seinen Möglichkeiten, da es nur
den inneren Raum des Menschen integriert. Der äußere Raum ist für ihn jedoch von
allgemeinerer und größerer Bedeutung.478
!
Wir versuchen immer die Situation über die Wirklichkeit hinauszutreiben, ein Spiel zu
erfinden, das im Leben nicht mehr wiederzuerkennen ist, um gemeinsam festzustellen,
dass das Theater weiter reicht. Es versetzt das Leben in andere Dimensionen und
erweitert es auf diese Art. Eine wesentliche Erkenntnis!479
Mnouchkine besuchte nur das erste Jahr an der Lecoq-Schule, zählt aber neben Peter
Brook und Giorgio Strehler zu den Theaterleitern bzw. Regisseuren, die die Pädagogik
von Lecoq am meisten in ihre eigene Arbeit integrieren.480
Statt ein zweites Jahr an der Schule verschiedenen Theaterformen zu widmen, wählte
Mnouchkine den Weg der Selbstständigkeit und gelangte durch ihre Inszenierungen zu
Erfahrungen hinsichtlich der Clowns (1969: Les Clowns), der Commedia dell’arte
(1975: L’age D’or) und der griechischen Tragödie bzw. dem Chor (1990-93: Der
Atriden-Zyklus). Ob sie damals für das zweite Jahr zugelassen worden wäre, ist
allerdings nicht bekannt.
!
!
!
!
!
477
vgl. Matthies 1996: 91.
478
vgl. Matthies 1996: 81.
479
Lecoq 2012: 52.
480
vgl. Matthies 1996: 92.
!
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!100
b.) Die Arbeit im Théâtre du Soleil
!
Wie Lecoq sieht auch Mnouchkine das Erlernen des Maskenspiels als Grundlage für die
Bühnenpräsenz. Daher spielt bei jedem ihrer Lehrgänge die Arbeit mit der Maske eine
wesentliche Rolle.481
!
Genauso ist die Improvisation ein grundlegender Bestandteil der Arbeit am Théâtre du
Soleil. Monatelang wird zu bestimmten Themen oder Szenen aus den Stücken
improvisiert. Nach einem gemeinschaftlichen Training in der Früh482 müssen die
Schauspieler jeden Tag zu einem bestimmten Thema oder einer Szene aus dem Stück
eine szenische Umsetzung finden. Es wird nicht zwingend chronologisch gearbeitet,
jeder darf Vorschläge machen.483 Wer selbst keine Ideen hat, schließt sich den
Vorschlägen der anderen an. Dann wird in Kleingruppen gearbeitet. Rollen für die
Szene werden verteilt, Kostüme gesucht, eventuell Masken probiert, Requisiten gebaut
und eine mögliche Bühne wird erfunden. Nach dem Mittagessen spielen alle, die bereit
sind, ihre Szenen der gesamten Truppe vor.484 Manchmal funktionieren die
Improvisationen, manchmal scheitern sie. Alles wird aufgezeichnet, damit man
eventuell zu einem späteren Zeitpunkt wieder darauf zurückgreifen kann.485 Hierbei ist
die Rollenverteilung noch völlig offen. Jeder Schauspieler hat die Möglichkeit, alle
Rollen, die ihn interessieren, auszuprobieren.486 Wenn man etwas Gutes gefunden hat,
stellt man seine Entdeckungen an der Rolle den anderen zur Verfügung. Dieser Prozess
dauert sehr lange, manchmal Monate, teilweise wird erst kurz vor der Premiere
festgelegt, wer welche Rolle spielen wird. Für jede Rolle setzt sich der Beste durch.487
Das führt immer wieder zu Spannungen in der Gruppe und zu einem erhöhten
481
vgl. Féral 2003: 8, 10.
482
Beginn ist normalerweise neun Uhr Morgens (vgl. Mnouchkine, zit. nach Féral 2003: 58).
483
vgl. Azencot, zit. nach Féral 2003: 93.
484
vgl. Mnouchkine, zit. nach Féral 2003: 59.
485
ebd.
486
ebd.: 34.
487
vgl. Azencot, zit. nach Féral 2003: 91.
!
!
!101
Konkurrenzverhalten. „Bei Les Atrides war dieses Vorgehen sehr hart. Es führte zwar zu
großartigen Aufführungen, war aber auch für alle eine Zeit fürchterlichen Leidens.“
beschrieb Myriam Azencot, ein langjähriges Mitglied des Théâtre du Soleil, die
Situation in einem Interview mit Josette Féral.488
Die Probenzeiten steigern sich von Monat zu Monat. Wird im ersten Probenmonat
bereits um 19.00 Uhr aufgehört, dauern die Proben vor der Premiere meist bis 24.00
Uhr oder länger.489
!
Bei Stücken mit vorhandener Textvorlage wird zu Beginn mit dem Text in der Hand
gearbeitet.490 Die Schauspieler lesen, verstehen, was sie gelesen haben, legen das Papier
beiseite und sprechen jeweils die Wörter, die ihnen im Gedächtnis geblieben sind. Sie
wissen also nicht immer, welches Wort folgen wird. Dann kehren sie zum Text zurück.
Sie lesen wieder einige Wörter, verstehen sie, verlassen den Text und sprechen.
Mnouchkine fordert die Schauspieler niemals auf, den Text auswendig zu lernen, denn
dadurch besteht die Gefahr, dass sich die Schauspieler gekünstelte Mechanismen
aneignen und nur nach Intonationen lernen. Durch diese Art von Improvisationen um,
über und mit dem Text, dringen die Worte in den Körper.491
!
Die drei wichtigsten Elemente einer gelungenen Improvisation im Soleil ist die Präsenz
des Schauspielers, das Zuhören und der Muskel der Phantasie. Disziplin wird als
Grundlage vorausgesetzt.492
Der Begriff der Präsenz kommt in vielen theatertheoretischen Texten vor, wird jedoch
immer etwas anders beschrieben. Mnouchkine erklärt in einem Interview mit Josette
Féral ihre Vorstellung von Präsenz folgendermaßen:
488
ebd.
489
vgl. Mnouchkine, zit. nach Féral 2003: 59.
490
vgl. Azencot, zit. nach Féral 2003: 92.
491
ebd.
492
vgl. Mnouchkine, zit. nach Féral 2003: 32f.
!
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!102
!
Präsenz ist die Kunst der Gegenwart. Für den Schauspieler gibt es keine Vergangenheit,
keine Zukunft. Es gibt nur die Gegenwart, den gegenwärtigen Akt.493
Der Schauspieler soll demnach in seiner Handlung und in seinem Gefühl in der
Gegenwart sein.494 Bei einem Text von Shakespeare beispielsweise folgen oft sehr
gegensätzliche Gefühle in nur wenigen Versen aufeinander. Es braucht daher die
„Gegenwart der Sekunde“.495 Der Schauspieler sollte in jedem Moment gegenwärtig
sein, ohne einen Schritt zu überspringen oder zwei Dinge gleichzeitig zu spielen. Wenn
er zwei Gefühle gleichzeitig fühlen will, heben sie sich auf und der Zuseher sieht
keines.496 Trainiert wird die Präsenz durch Übungen mit Masken. In allen Lehrgängen
spielt die Maske eine bedeutende Rolle.497 Wie in der täglichen Probenarbeit des Soleil,
müssen sich auch in den Lehrgängen die Teilnehmer in kleinen Gruppen zu bestimmten
Themen, die Mnouchkine vorgibt, Improvisationen überlegen und diese dann vor allen
probieren. Sie dürfen den gesamten Kostüm- und Maskenfundus des Soleil benutzen.
Auch Requisiten werden zur Verfügung gestellt.498 Bevor die Arbeit mit den Masken
beginnt, gibt es zwar eine kurze Einführung, Mnouchkine erklärt jedoch die Herkunft
der verschiedenen Masken - die teilweise aus der Commedia, teilweise balinesische
Masken sind, teilweise keine bestimmte Zugehörigkeit haben - den Teilnehmern nicht,
da sie von einer gewissen Grundkenntnis ausgeht und gleichzeitig die Schüler nicht
einengen will.499 Die Beziehung des Schauspielers zu der ausgewählten Maske spielt für
Mnouchkine jedoch eine bedeutende Rolle:
Die Maske ist keine Schminke. Sie ist kein Gegenstand unter anderen. Alles steht in
ihrem Dienst. […] Ihr solltet der Maske nachgeben, sie wird niemals nachgeben. […]
Man arbeitet nicht mit einer beliebigen Maske. Die Beziehung zur Maske ist eine
493
ebd.: 31.
494
ebd.: 32.
495
ebd.
496
ebd.
497Ariane
Mnouchkine gibt in regelmäßigen Abständen gratis Lehrgänge, an denen Bühnen-künstler aus
aller Welt teilnehmen. (vgl. Féral 2003: 37f)
498
vgl. Féral 2003: 40.
499
vgl. Mnouchkine, zit. nach Féral 2003: 39, 125.
!
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!103
Größenbeziehung. […] Ich spüre, dass ihr hinter der Maske gerne eine
Gebrauchsanweisung hättet. Nein!500
!
Wenn ein Stück mit Masken aufgeführt werden soll, ist die Vorgehensweise so, dass
zunächst Erhard Stiefel, der Maskenbauer des Théâtre du Soleil, Masken herstellt. Bei
der Herstellung weiß Stiefel nicht, für welchen Schauspieler oder welche Figur er die
Maske baut. Wenn er eine Maske fertiggestellt hat, bringt er sie dem Soleil und
möglicherweise entscheidet sich ein Schauspieler oder eine Schauspielerin für diese
Maske.501 „In dem Augenblick geht es darum, ob diese Maske einer Figur der
Aufführung oder einem Schauspieler oder einer Schauspielerin der Aufführung
begegnet.“ beschreibt Mnouchkine.502
!
Der zweite Punkt einer gelungenen Improvisation ist das Zuhören. „Wenn man aufhört,
sich um sich selbst Sorgen zu machen, und wenn man dem Anderen zuhört, dann wird
vieles möglich.“503 Mnouchkine bestärkt ihre Schauspieler in der Arbeit besonders,
ihren Partnern zuzuhören. Eine Grundregel ist es, nicht zu überlegen oder sich eine
Antwort zurechtzulegen, ehe man die Frage bis zum Ende gehört hat. „Du darfst nicht
Recht haben auf der Bühne. Du musst da sein. Um da zu sein musst du den anderen
wirklich empfangen [sic.]“504 Eine Hilfestellung, die Mnouchkine in diesem
Zusammenhang immer wieder verwendet, ist die imaginäre Gegenüberstellung eines
Schauspielers mit einem Bogenschützen. Der Schauspieler soll versuchen, den
Bogenschützen insofern zu imitieren, als sein Körper und seine Stimme der Bogen sind
und die Worte die Pfeile, die es abzuschießen gilt. Bevor der Schauspieler den
‚Wortpfeil’ abschießt, muss er selbst von dem Pfeil verletzt worden sein. Er empfängt
und schießt zurück.505 Ein schwieriger, aber wichtiger Aspekt der Improvisation ist es,
500
ebd.: 41.
501
ebd.: 63.
502
ebd.
503
vgl. Abkarian, zit. nach Féral 2003: 87.
504
ebd.
505 Azencot,
!
zit. nach Féral 2003: 96.
!
!104
Unbeständigkeit während der Improvisation hinzunehmen und auf das, was man
möglicherweise vorgesehen hat, zu verzichten, um mit dem umzugehen, was
auftaucht.506
!
Der dritte Punkt ist die Phantasie. Wenn Mnouchkine einen ihrer Lehrgänge beginnt,
stellt sie immer dieselbe erste Frage: „Was ist der wichtigste Muskel für einen
Schauspieler? […] Es ist die Phantasie.“507 Das heißt, dem Schauspieler muss es
gelingen, das, wovon er spricht, wirklich zu sehen. Er muss sehen, wohin er geht, wo er
ist. Er muss seine Umgebung wahrnehmen, wie beispielsweise den Untergrund, über
den er geht. Und er muss den momentanen Zustand seiner Umgebung wahrnehmen, wie
beispielsweise den Regen. Weiters muss er die Gefühle und Zustände der anderen
begreifen und an sie glauben. Der Schauspieler muss also an alles glauben, was er
spielt. Einerseits an das, was er selbst ist, spielt und verkörpert und andererseits an das,
was sein Spielpartner verkörpert. Denn nur so kann es zu einem Austausch auf der
Bühne kommen, der insofern funktioniert, als er dem Publikum ermöglicht, an der
Geschichte bzw. Spielsituation wirklich teilhaben zu können.508
Zwei Vorraussetzungen sind für Mnouchkine in dem Zusammenhang besonders
notwendig: Es muss auf der einen Seite eine Situation geben, worin sich der
Schauspieler ausprobieren kann: Die Theatersituation. Dazu gehört ein Raum, in dem er
sich ohne Angst und Scham entfalten kann. Diese Voraussetzung muss von außen
geschaffen werden, also vom Regisseur. Auf der anderen Seite muss vom Schauspieler
selber der Ehrgeiz da sein, eine Figur zu schaffen.509
Die Arbeit an einer Figur findet im Soleil nie in Form von Diskussionen oder ‚am
Tisch‘ statt. Zu Beginn der Proben wird das Stück zwar einmal gemeinsam gelesen, die
Schauspieler stehen jedoch schon am nächsten Tag kostümiert auf der Spielfläche. Alles
wird unmittelbar auf der Bühne probiert.510 „Theater braucht man vom ersten Tag
506
vgl. Féral 2003: 43.
507
Mnocuhkine, zit. nach Féral 2003: 33.
508
ebd.
509
ebd.: 33f.
510
ebd.
!
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!105
an.“511 Im besten Fall sieht das so aus, dass die Schauspieler bei Mnouchkine durch ihre
Handlungen Bilder erzeugen. Gleichzeitig schlägt Mnouchkine den Schauspielern
unterschiedliche Bilder bzw. Welten vor. So lange, bis etwas für beide stimmig ist512.
!
Wenn Improvisationen nicht gelingen, wenn es kein Vorankommen gibt, ermahnt
Mnouchkine zu folgenden Dingen:
• Bewegungslosigkeit. Damit ist kein äußerliches Erstarren gemeint, sondern ein
Innehalten.513 In einen reinen und offenen Zustand zu kommen, der es dem
Schauspieler ermöglicht, wieder auf das, was um ihn geschieht, reagieren zu
können.514 Weiters wirken Bewegungen erst durch die Pausen. Wenn Schauspieler auf
der Bühne immer unruhig sind, gibt es laut Mnouchkine ein durchgängiges
Durcheinander, welches für den Zuseher schwer zu deuten ist und folglich schwer zu
verstehen ist.515 Daraus folgt, dass sich der Schauspieler Zeit nehmen muss, seine
Umgebung, also Raum und Spielpartner, aufzunehmen. Der Zuseher verfolgt den
Schauspieler beim Sehen und sieht somit durch seine Augen.516 Dieses Innehalten
bedeutet aber nicht Langsamkeit, die wie Tiefe aussehen möchte. Oft passiert es
Schauspielern, dass sie ihre Handlungen zu langsam ausführen. Wenn Handlungen zu
langsam sind, um stimmig zu sein, wirken sie theatral.517
• Nachahmung. Mnouchkine glaubt fest an die Pädagogik der Nachahmung.
Nachahmen heißt für sie nicht plagiieren, sondern anerkennen. Der Schauspieler
versucht hierbei einen anderen Schauspieler bzw. die Figur, die der andere
Schauspieler entwickelt hat, von innen heraus nachzuahmen. Es geht darum, nicht das
zu imitieren, was der andere Schauspieler gemacht hat, sondern das nachzuahmen,
511
ebd.: 34.
512
ebd.: 45.
513
vgl. Féral 2003: 41.
514
ebd.
515
vgl. Mnouchkine, zit. nach Féral 2003: 63.
516
ebd.: 42.
517
ebd.: 41.
!
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!106
was er gewesen ist.518 Das hat mit dem Gefühl zu tun, welches mit bestimmten
Gebärden, Gehweisen oder Haltungen verbunden ist. Dieses Gefühl gilt es
nachzuahmen und daraus seine eigene Interpretation zu schaffen.519 Diese Pädagogik
der demütigen Nachahmung ist vor allem eine orientalische Tradition. Im Kabuki
oder Nō-Theater folgt der Schüler am Anfang der Ausbildung dem Meister und macht
es genauso wie er.520
• ‚Nicht kreieren‘. Oft haben die Schauspieler durch ihr Talent die Möglichkeit,
besondere Dinge hervorzubringen, Purzelbäume zu schlagen. Es wird zur Virtuosität
anstatt zu etwas Wesentlichen und führt zu einer Einlage, anstatt zu einer konkreten
Handlung.521
• ‚Nicht kommentieren‘. Der Schauspieler sollte seine Handlungen nicht erklären,
sondern dem Publikum die Möglichkeit geben, den Weg kennenzulernen. Dies
passiert sehr oft dann, wenn ein Schauspieler nicht in der Gegenwart ist und sich
somit nicht die Zeit nimmt, eine Handlung nach der anderen auszuführen.522
!
Zu Beginn der Probezeit geht Mnouchkine immer von einer leeren Bühne, einem
nackten Raum aus: ein weißes Blatt. Auf der Grundlage der Improvisationen der
Schauspieler und des Raums, den sie dafür brauchen, entsteht langsam das Bühnenbild.
Mnouchkine hat immer eine grobe Vorstellung, in welche Richtung die Ästhetik des
Stücks gehen soll und bringt dies auch im Laufe der Arbeit ein. Zu Beginn entsteht
allerdings alles aus der Phantasie.523
Das heißt zusammenfassend, am Anfang der Inszenierung kümmert sich niemand weder
um die Zeit, noch um die Bühne, noch welche Rolle man spielen wird: Die einzige
518
ebd.: 40.
519
ebd.: 40, 64.
520
ebd.: 64.
521
ebd.: 42.
522
ebd.
523
ebd.: 51.
!
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!107
Frage, die im Raum steht, ist: wie wird man von der Welt erzählen, von der Welt des
Stücks sowie von der Welt allgemein?
!
c.) Vorbereitungen auf eine Vorstellung
!
Im Théâtre du Soleil können die Zuseher vor der Vorstellung bei den Vorbereitungen der
Schauspieler zusehen.524 Das Grundprinzip der Verfremdung von Brecht besteht darin,
dass die erste Wahrheit im Theater darin bestehe, offen zu zeigen, dass es sich um
Theater handelt.525 Dieses Prinzip hat Mnouchkine für ihre Theaterarbeit in
unterschiedlichen Weisen übernommen; eine Umsetzung ist, die Vorbereitungen
öffentlich zu machen.526 Da es in der Cartoucherie freie Sitzwahl gibt, wird das
Publikum geradezu gezwungen, früher zu kommen, was völlig in Mnouchkines
Interesse ist. Sie möchte, dass sich das Publikum vorbereitet.527 Das hat einerseits mit
Mnouchkines Bemühungen zu tun, einen Bildungsauftrag zu erfüllen,528 andererseits
geht es um eine Einstimmung auf die Reise, die mit dem Stück unternommen wird.529
Dafür gibt es im Eingangsbereich unterschiedliche Quellen und Informationen zum
Stück - beispielsweise Bücher, Landkarten, Bilder oder Familienstammbäume - die es
dem Zuseher erleichtern sollen, sich auf das Stück einzustellen und wichtige
Informationen einzusehen.530 Zusätzlich servieren die Schauspieler selbst Essen, das aus
der traditionellen Küche des jeweiligen Landes stammt, in welchem das Stück spielt.531
524
vgl. Féral 2003: 26.
525
ebd.
526
Bei diesen öffentlichen Vorbereitungen handelt es sich vor allem um das Schminken der Schauspieler.
527
vgl. Mnouchkine, zit. nach Féral 2003: 67.
528
vgl. Féral 2003: 26.
529
vgl. Mnouchkine, zit. nach Féral 2003: 67.
530
ebd.
531
ebd.
!
!
!108
Diese Vorbereitungen sind auf Tourneen nicht immer möglich, da viele Spielstätten
nicht gleichermaßen ausgestattet sind wie die Cartoucherie.532
Die Vorbereitungen der Schauspieler beginnen allerdings schon zu Mittag oder am
frühen Nachmittag. Juliana Carneiro du Cunha beschreibt in einem Interview mit
Josette Féral den Tagesablauf eines Schauspielers während der Zeit der Vorstellungen
folgendermaßen:
Wir kommen schon frühzeitig ins Theater. Wenn das Stück zum Beispiel um halb acht
beginnt, kommen wir um vier, oder um zwei, um andere Arbeiten wie Putzen und so
weiter zu erledigen. Und von vier bis halb acht unternehmen wir unsere kleine Reise in
die Erinnerung. Von dem Augenblick an, da wir uns zu schminken beginnen, reden wir
uns sofort mit Sie an. Wir können uns nicht mehr Juliana, Myriam, Renata und so weiter
nennen. Wir tragen die Namen unserer Figuren: Madame Pernelle, Dorine. Keiner nennt
mich Juliana, denn sie wissen sehr gut, dass sie, wenn sie mich so nennen, mich
zerstören, weil ich gerade dabei bin, in eine Rolle einzutreten.“ 533
!
Diese Vorbereitung der Schauspieler auf die Vorstellung hängt vom Stück ab und davon,
was jeder einzelne Schauspieler braucht. Zu Beginn gibt es jedoch immer ein
gemeinsames körperliches Aufwärmen. Das sieht bei jedem Stück anders aus, da es
immer im Zusammenhang mit der Aufführung steht.534 Ist es ein sehr artistisches Stück,
wird das Aufwärmen so ausgerichtet, dass es die Schauspieler vor Muskelzerrungen
schützt. Wenn die Schauspieler zwei Vorstellungen hintereinander gespielt haben, sieht
das Aufwärmen am nächsten Tag wiederum anders aus. Dann wird besonders darauf
geachtet, sanfter vorzugehen, um eine neue Sammlung der Kräfte zu ermöglichen.535
Ungefähr zwei Stunden vor Beginn des Stücks, fangen die Schauspieler an, sich
individuell vorzubereiten. Das sieht bei jedem Schauspieler anders aus, Manche
meditieren, andere trinken Kaffee, lesen Zeitung, schlafen oder machen Joga, wiederum
andere wiederholen Texte.536 Kurz bevor die Türen für das Publikum geöffnet werden,
findet noch einmal eine kleine ‚Zusammenkunft‘ der Schauspieler mit Mnouchkine
statt, in der ein paar Worte gewechselt werden und die Mnouchkine mit dem Satz
532
ebd.
533
Carneiro in Bezug auf das Stück Tartuffe von Molière, zit. nach Féral 2003: 103.
534
vgl. Mnouchkine, zit. nach Fèral 2003: 71.
535
ebd.: 71f.
536
ebd.: 65.
!
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abschließt: „Das Publikum tritt ein.“537 Ab diesem Moment herrscht der Anspruch, alles
hervorragend zu erledigen, um eine gewisse Feierlichkeit herzustellen.538
!
d.) Auswahl der Schauspieler
!
Das gängigste Verfahren, um im Théâtre du Soleil aufgenommen zu werden, ist die
Teilnahme an einem Lehrgang.539 Meist finden die Lehrgänge vor Probenbeginn des
neuen Stücks statt, um - wenn nötig - passende Schauspieler zu finden.540 Welche
Schauspieler Mnouchkine auswählt, beschreibt sie folgendermaßen:
Ich weiß nicht, wie ich Schauspieler aussuche. Ich wähle Leute, die mich menschlich
berühren, ehe sie mich künstlerisch berühren. Leute, die mich bewegen. Ich mag die,
deren Kraft, Unschuld, Einfallsreichtum, Fröhlichkeit, auch deren anspruchsvolles Wesen
ich zu erahnen glaube.541
!
Als wichtigste Voraussetzungen für den Beruf als Schauspieler nennt Mnouchkine zwei
Dinge: einen möglichst freien, durchtrainierten Körper und ein möglichst freies und
geschultes Vorstellungsvermögen.542 Zusätzlich braucht es für sie außerordentlich viel
Mut und das Verlangen, über sich selbst hinauszuwachsen.543
Aufnahmekriterien gibt es keine, jedoch sind Vorkenntnisse besonders in Bezug auf die
Arbeit mit der Maske von Vorteil, da in jedem Lehrgang mit Masken gearbeitet wird.544
Wenn man an einem Lehrgang teilnehmen möchte, muss man an das Théâtre du Soleil
einen Lebenslauf und ein Motivationsschreiben schicken. Die Lehrgänge finden in sehr
unregelmäßigen Abständen statt, manchmal muss man bis zu sechs Monate auf eine
Antwort warten. Da die Anzahl der Bewerbungen zwischen 800 und über 1000 liegt,
537
ebd.
538
ebd.
539
vgl. Mnouchkine, zit. nach Féral 2003: 35.
540
ebd.
541
ebd.
542
ebd.: 44.
543
ebd.
544
ebd.: 53.
!
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!110
müssen vor Beginn eines Lehrgangs Gespräche stattfinden, für alle gibt es nicht genug
Platz. Von den Bewerbern werden 100 bis 200 Schauspieler ausgewählt, die teilnehmen
dürfen.545 Die Lehrgänge sind gratis, finden in der Cartoucherie statt und dauern
zwischen fünf Tagen und zwei Wochen.546
Ein anderer Weg im Théâtre du Soleil spielen zu können ist es, als Koch oder
Küchenhilfe anzufangen. Meist lässt Mnouchkine diese Helfer nach einiger Zeit beim
Proben zusehen und kleine Parts übernehmen. Dies ist vor allem für Leute, die nicht
französisch sprechen ein geeigneter Weg zunächst die Sprache zu lernen und dann über
den ‚Hintereingang‘ hinein zu kommen.547
Sowohl die viele Arbeit und als auch die Bewerberzahl wirkt zunächst abschreckend,
allerdings wird von allen derzeitigen oder ehemaligen Mitgliedern der Truppe, die
Interviews gegeben haben, das Glücksgefühl und die Befriedigung hinsichtlich der
künstlerischen und schauspielerischen Arbeit als unvergleichlich beschrieben. Viele
meinen, man hält es, besonders wegen der körperlichen Anstrengung, nur ein paar Jahre
durch, aber diese Jahre werden durchgehend als etwas ganz besonderes beschrieben.
Das lässt einen schon überlegen, es zu versuchen und eine Bewerbung zu verschicken.
!
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545
vgl. Mnouchkine, zit. nach Féral: 53,; Telefongespräch mit einer Mitarbeiterin des TdS.
546
vgl. Féral 2003: 37f.
547
Information aus einem Dokumentationsgespräch in Wien am 22.5.2016 mit Andreas Simma, einem
langjährigen Mitglied der Truppe.
!
!
1! 11
8. Schluss
!
Mit dieser Arbeit wurde der Versuch gestartet eine ausführliche Beschreibung des
Weges, den Mnouchkine mit ihre Truppe gegangen ist, vorzunehmen. Es wurde
versucht, die Erfolge zu ergründen und deren Beständigkeit näher zu beleuchten.
Ariane Mnouchkine ist ein vielseitiger Mensch und eine faszinierende Persönlichkeit,
die es nun schon seit mehr als 50 Jahren schafft, so viele Schauspieler dazu zu bewegen,
mit ihr mitzuziehen, sie auf ihrem Weg zu begleiten. Und das trotz aller materieller
Einschränkungen. Stets ging Mnouchkine einen kompromisslosen Weg, sei es bei
Verhandlungen von Fördergeldern, sei es bei ihren Inszenierungen, die alle von einem
hohen Maß an Mut zeugen. Nie hat sie sich durch Politiker, Zuschauerzahlen oder
Abonnenten, die die deutschsprachigen Stadttheater oftmals zu konventionellen,
‚leichten‘ Inszenierungen zwingen, beirren lassen. Immer war ihre Devise:
!Was ich Ihnen sagen kann, ist, dass ich den Beruf wechseln würde, wenn es dazu käme,
!
dass ich gezwungen wäre, meine Anforderungen aufzugeben. Ich würde etwas anderes
machen, das ist ganz klar. Ich könnte nicht etwas machen, was nach meinem
Dafürhalten kein Theater ist.548
Mnouchkines Stücke sind geprägt vom Glauben an das Theater und seine
gesellschaftliche Relevanz. Theater ist für Mnouchkine ein Ort der Sprache, des
Denkens, des Geistes und der Geschichte. Es ist ein Ort an dem Gegenwärtiges wie
Vergangenes erlebbar gemacht werden kann. Es soll sinnvoll sein, vom Menschen
sprechen, von Seelen, Leidenschaften und Träumen. Mittlerweile hat sie ihr Glauben an
das Theater weit gebracht. Auch der Glauben daran, dass der Faktor Zeit in der
künstlerischen Arbeit eine wichtige Rolle einnimmt. Erst durch die monatelangen
Vorbereitungen und Proben kann das hohe Maß an Qualität des Théâtre du Soleil
erreicht werden.
!
Ob und inwiefern es heutzutage möglich ist ein Kollektiv gleicher Art zu gründen, ist
schwer zu beantworten, aber auch hier rät Mnouchkine:
!
548
!
Mnouchkine, zit, nach Féral 2003: 58.
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!112
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.. ich glaube, für junge Männer und Frauen, die Theater machen wollen, wird der Traum
stets lebendig bleiben. Es wird immer jemanden geben, der daherkommt und
unverblümt verkündet: ‚Ja, aber ich, ich will das machen.‘ Dann also vorwärts! Es ist
nicht möglich, dass alle scheitern. Es wird Leute geben, die eine Truppe bilden und
durchhalten.549
!
- Ende -
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!
!
549
!
Mnouchkine, zit. nach Féral 2003: 59.
!
!113
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Dokumentationsgespräch in Wien am 22.5.2016 mit Andreas Simma, ein langjähriges
Mitglied des Théâtre du Soleil. Audiodatei vorhanden.
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